Aki Kaurismäkis "I hired a contract killer". Bildsprache in der Eröffnungssequenz

Distanzierter Blick auf eine leblose Welt


Studienarbeit, 2010

13 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Blick auf eine leblose Welt - das Verhältnis von Held und Umfeld
2.1. Die Darstellung von Personen und Bewegungen
2.1.1. Geisterstadt London: die einführenden Establishing Shots
2.1.2. Allein unter vielen: Henri Boulanger und sein soziales Umfeld
2.2. Haltlose, begrenzte Welt: die Linienführung in der Bildkomposition

3. Fazit

LITERATUR

1. Einleitung

Aki Kaurismäkis Film I HIRED A CONTRACT KILLER erzählt die Ge- schichte von Henri Boulanger, einem Mann mittleren Alters, der seinen Job in den Londoner Wasserwerken verliert und daraufhin beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Da die Selbstmordversuche scheitern, engagiert er einen Auf- tragskiller. Doch just nachdem er den Vertrag mit seinem Killer abgeschlossen hat, verliebt sich Henri Boulanger. Ironie des Schicksals: den Killer wird er nicht mehr los und ist nun auf der Flucht. Kaurismäkis grotesk anmutender Film spielt im Londoner Angestelltenmilieu der späten 80er Jahre (der Film wurde 1990 fer- tig) und greift ein zu diesem Zeitpunkt höchst aktuelles Problem der britischen Gesellschaft auf: die hohe Arbeitslosigkeit, eine Folge der harten Politik Margaret Thatchers, die vor allem durch eine Liberalisierung der Wirtschaft gekennzeich- net war. Aus dieser Liberalisierung resultierten zahlreiche Privatisierungen vor- mals staatlicher Konzerne - so auch der Londoner Wasserwerke - deren Folge wiederum waren große Entlassungswellen. Kaurismäkis Film ist eine Kritik am bestehenden System und am fortschreitenden Wandel der Gesellschaft, die er in I HIRED A CONTRACT KILLER als angestelltenfeindlich, ja geradezu als men- schenfeindlich darstellt. Jegliche zwischenmenschliche Wärme scheint in dieser Welt verloren gegangen zu sein, sie bietet ihren Bewohnern keinerlei Halt mehr. Kaurismäkis London ist kalt, entmenschlicht und monoton - erst durch die Ro- senverkäuferin, die plötzlich in Henri Boulangers Leben tritt, lernt er Wärme und Liebe kennen, und stellt fest, dass das Leben auf einmal doch noch lebenswert scheint.

Bereits in der Exposition des Films wird diese Haltung Kaurismäkis deut- lich. Schon die ersten Bilder vermitteln die Stimmung des Films und geleiten den Zuschauer in das menschenfeindliche London, das Kaurismäki uns zeigen will. Die ersten Minuten des Films kommen gänzlich ohne Text aus - weder ausge- sprochene Gedanken, noch Dialoge, noch ein Erzähler führen in das Geschehen ein, einzig über die Musik wird Text vermittelt. Ansonsten vertraut Kaurismäki allein auf die Kraft seiner Bilder um den Protagonisten Henri Boulanger und sein Umfeld einzuführen.

Diese Arbeit widmet sich ebendieser Kraft der Bilder in Kaurismäkis Expo- sition zu I HIRED A CONTRACT KILLER und analysiert die Bildkomposition ex- emplarisch anhand eines inhaltlichen Merkmals - der Darstellung beziehungsweise des Fehlens von Personen und Bewegungen - und eines rein formalen - der Linienführung innerhalb der einzelnen Bilder. Bereits diese beiden Kriterien zeigen, wie verloren und vereinsamt der Held, Henri Boulanger, und wie abstoßend, unnahbar und distanziert sein Umfeld wirken soll. Außerdem wird in diesen ersten sechseinhalb Minuten der Frage nachgegangen, wie sich die Ka- mera selbst zu Henri Boulanger und seinem Umfeld positioniert.

2. Blick auf eine leblose Welt - das Verhältnis von Held und Umfeld

2.1. Die Darstellung von Personen und Bewegungen

2.1.1. Geisterstadt London: die einführenden Establishing Shots

Der Schauplatz unserer Geschichte ist London. Eine Millionenstadt, die niemals schläft. Doch statt uns Bilder des geschäftigen Londons mit seinen vol- len Straßen, den Touristen und all dem multikulturellen Leben zu zeigen, beginnt Kaurismäki seinen Film mit menschenleeren Establishing Shots: Das erste Bild, das wir sehen, ist eine Totale eine Industrielandschaft an der Themse im Mor- gengrauen. In dunklen, fast gemalt wirkenden Farben sehen wir Schlote, re- gungslose Kräne und im Dunklen daliegende Häuser. Wir sehen nicht nur Industrie statt menschenfreundliche Natur, wir sehen leblose Industrie. Kein Licht hinter den Fenstern und keinerlei Bewegung deutet darauf hin, dass sich hier Menschen bewegen und arbeiten. Der von der hinter den Wolken aufgehenden Sonne leicht rot gefärbte Himmel hat einerseits etwas Romantisches an sich - doch zugleich geht von ihm eine noch nicht greifbare Bedrohung aus. Dieses Gefühl wird von den in roten Buchstaben eingeblendeten Titeln noch verstärkt. Auch die Farbkomposition dieser Exposition könnte man ausführlich analysieren, doch das würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. So konzentrieren wir uns darauf, festzustellen, dass die düsteren, gedeckten Farben, den tristen, trüben und monotonen Eindruck unterstreichen. Wir konzentrieren uns zunächst auf die gegenständliche Bildkomposition, genauer auf die Darstellung beziehungsweise das Fehlen von Menschen und Bewegung - und damit von Leben.

Im zweiten Bild sind wir etwas näher am Motiv, wir sehen zwei Lastkräne, doch auch hier: kein Mensch innerhalb des Bildausschnittes zu sehen. Das Lon- don, das Kausrismäki uns in diesen ersten Sekunden seines Films zeigt, scheint völlig bewegungslos und starr, von Maschinen bevölkert, die ebenfalls erstarrt sind. Kein Vogel kreist am Himmel, kein Arbeiter zieht seine Runden. Erst im drit- ten Bild - wir befinden uns immer noch auf der Themse - scheint London zu er- wachen, hinter einzelnen Fenstern ist ein Lichtschein zu erkennen, erste Boote befahren den Fluss. Doch dabei bleibt es fürs erste. Wir bleiben als Beobachter weit entfernt von diesem erwachenden Leben, die Kamera springt nicht hinein, sondern wahrt ihre Distanz zum Geschehen und zum Leben. Einstellung für Ein- stellung bewegen wir uns langsam hinein in die Stadt, befinden uns jedoch sofort wieder an unbelebten Orten. Wir sehen eine erste Straße mit parkenden Autos und Schienen im Hintergrund - doch auch hier: kein Mensch im Bild. Fahrzeuge, die ohne Menschen still und nutzlos sind, Bahnschienen, die ohne Lokführer, der eine Bahn führt, ohne Sinn bleiben. Autos und Schienen erinnern an Bewegung, sie stehen für ein Fortkommen. Doch diese Bewegung ist auch hier vollkommen erstarrt. Ebenso erstarrt wie die Kamera selbst, die die ausgestorbene Stadt wei- terhin nur in festen Einstellungen und aus großer Distanz beobachtet. Sie ist ebenso regungslos wie die tristen Motive, die sie einfängt. Mit jedem Bild dringen wir tiefer in die Stadt ein, doch näher kommen wir ihr nicht. Was wir sehen, sind menschenleere Straßen. Verfallene Häuserfassaden und Schuttberge, wo früher Menschen lebten; verlassene und zugenagelte Schaufenster, wo zuvor Pubs und Geschäfte waren; eine Stahltüre, die keiner mehr benutzt. Fast meint man, in einer Geisterstadt zu sein. Die geschäftige Millionenmetropole ist weit weg in diesen Bildern.

Die erste bewegte Kameraeinstellung ist ein Schwenk auf das Schild „Her Majestys Waterworks“, ein Hinweis darauf, wo wir uns nun befinden. Die Bewe- gung der Kamera lässt bereits erahnen: hier sind Menschen. Hier im Inneren die- ses Gebäudes, von dem wir bisher nur vergitterte Lüftungsschächte sehen konnten, ist Leben und Bewegung. Zumindest lässt die Kamera das hoffen. Zum ersten mal sehen wir hier außerdem, wenn auch nur in der Spiegelung des Mes- singschildes, ein sich bewegendes Fahrzeug vorbeirauschen. Man kann das Fahrzeug als weitere Ankündigung des Lebens und der Bewegung sehen, gleich- zeitig vermittelt die Spiegelung uns nur eine Idee und kein konkretes Bild dieser dieser Bewegung - nichts anders wird uns, wie wir in den folgenden Bildern ler- nen, drinnen erwarten: die Idee von Leben und Bewegung, doch mehr als eine Ahnung wird es nicht werden.

Alles in allem sind diese ersten Bilder von großer Distanz und Fremdheit geprägt. Wir werfen einen Blick auf London, den man nicht unbedingt erwartet hätte. Werner schreibt über Kaurismäkis Blick auf die Stadt: „Er präsentiert eine Cockney-Landschaft abseits der Postkartenmotive von Towerbridge, Big Ben oder Buckingham Palace, die häufig gewählt werden um in die Filmstadt London einzuführen.“1 Das Interesse Kaurismäkis und seines Kameramannes Timo Sal- minen gelte stets den Hinteransichten des Urbanen, jenen Seitenwelten und Randgebieten, in welchen sich der Zustand der Verzweiflung und der Hoffnungs- losigkeit schon in der modrigen Qualität des Mauerwerkes manifestiere, schreibt Werner weiter2. Diese Hoffnungslosigkeit begegnet uns nicht nur in den Stra0en, sie ist auch hinter den Mauern omnipräsent. Das sehen wir im nächsten Teilkapi- tel, das die Darstellung Henri Boulangers sozialem Umfeld, im Beruf einerseits, im Privatleben andererseits, analysiert.

2.1.2. Allein unter vielen: Henri Boulanger und sein soziales Umfeld

Im Inneren des Wasserwerksbüros, genauer: vor der Türe des „Registry office“ begegnen wir zum ersten Mal einem Menschen. Die bewegte Kamera hat uns nicht zuviel versprochen. Doch das Erste, was wir von ihm sehen, ist der Ak- tenwagen, den er vor sich her und durch die Tür schiebt. Die Kamera bleibt auf der Höhe seines Bauches, macht sich nicht die Mühe, seinen Kopf zu zeigen - wer dieser Mensch ist, scheint völlig unwichtig, ein Angestellter, ein anonymer Mann, von der Kadrierung enthauptet und seiner Individualität beraubt. Durch die von ihm aufgestoßene Türe sehen wir in das Büro hinein, lauter Hinterköpfe von weiteren anonymen, arbeitenden Männern, jeder an seinem Schreibtisch unter den Neonröhren. Ein Mann ist an seinem Tisch eingeschlafen, keinen kümmert, was mit ihm los ist, wieso er schläft. Unser Protagonist, Henri Boulanger ist im Hintergrund zu erkennen, aus der Ferne.

[...]


1 Werner, Jochen (2005): Aki Kaurism ä ki. Mainz: Bender, S. 148.

2 Vgl. Werner (2005: 148).

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Aki Kaurismäkis "I hired a contract killer". Bildsprache in der Eröffnungssequenz
Untertitel
Distanzierter Blick auf eine leblose Welt
Hochschule
Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
13
Katalognummer
V266613
ISBN (eBook)
9783656567486
ISBN (Buch)
9783656567479
Dateigröße
427 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Aki Kaurismäki, Sequenzanalyse, Bildsprache, Kamera, Filmtheorie, Filmwissenschaft
Arbeit zitieren
Simone Catharina Gaul (Autor:in), 2010, Aki Kaurismäkis "I hired a contract killer". Bildsprache in der Eröffnungssequenz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/266613

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