Der Aufstieg der `Ndrangheta. Aus dem Abseits Italiens zu einem Phänomen von nationaler Bedeutung


Magisterarbeit, 2011

106 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


1. Einleitung

״Not so much the empty quarter, rather the forgotten quarter of Italy both under the Bourbons and the Piedmontese, Calabria has only come into its own over the last decade and a half as an object of journalistic and scholarly interest, government intervention, expansion of mafia and tourism."[1]

Was für Kalabrien zutraf, galt erst recht für die dort beheimatete Mafia: die 'Ndrangheta. Als der Soziologe James Walston die oben zitierten Worte 1988 nieder­schrieb, war sie längst zu einem Machtfaktor geworden, der zwar zentrale Teile des so­zialen, kulturellen und ökonomischen Lebens der ärmsten Region Italiens kontrollierte, dabei jedoch weitgehend im Verborgenen agierte und vom Staat nicht effizient ver­folgt wurde. Die herrschenden Kräfte Italiens zeigen seit der Gründung des National­Staates ein auffallend geringes Interesse an einer nachhaltigen Entwicklung des ״ver- gessenen Kalabrien", das nicht einmal der Massentourismus wirklich erreichte. In die­sem rückschrittlichen Ambiente entfaltete sich die 'Ndrangheta zur mächtigsten aller italienischen Mafias, wobei sie ihr archaisches Muster erfolgreich auf das kriminelle Potenzial des Nachkriegskapitalismus übertrug. So wurden die kalabrischen Clans zu einem kriminellen Konglomerat von internationaler Bedeutung. Ihre Darstellung als mafiose Organisation ist trotz ihres inzwischen höheren Bekanntheitsgrades noch im­mer kompliziert.

Entgegen dieser Schwierigkeit unternimmt die folgende Studie den Versuch ein Ge­samtbild der 'Ndrangheta zu konstruieren, das jedoch unvollständig bleiben muss. Allein aus Platzgründen bleibt dies allerdings auf bestimmte Teilaspekte reduziert. Manche Perioden wie der Faschismus werden vollständig ausgespart, um stattdessen diejenigen Aspekte zu berücksichtigen, die für das Verständnis der modernen Ent­Wicklung der kalabrischen Mafia bedeutsam sind. Denn der Fokus der Arbeit ist auf ih­ren Aufstieg konzentriert, der in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts seinen Ausgang nahm. Sie vernetzte sich mit der Lokalpolitik, unterwanderte die regionalen Institutionen, profitierte von staatlichen Mitteln, wurde zu einem zentralen Akteur des illegalen Marktes und expandierte aus ihrem Kerngebiet in andere Landes­teile. Das Jahrzehnt bildet demnach eine Ausgangsphase, daran anschließend der wei­tere Aufstieg der 'Ndrangheta in und außerhalb Kalabriens untersucht wird. Die Dar­Stellung ist von einem starken Gegenwartsbezug geleitet, da die kalabrischen Mafia­Clans seit einigen Jahren einen Höhepunkt ihres soziokulturellen Einflusses auf regio­naler und nationaler Ebene erreicht haben. Aus diesem Grund verfolgt die Studie das Ziel, die Entwicklung der 'Ndrangheta aus den entlegenen Gebieten der äußersten Stiefelspitze Italiens zu jenem Machtgebilde darzustellen das sie heute repräsentiert.

Für den Aufbau der Arbeit wurde eine weitgehend systematische Gliederung gewählt. Insofern möglich verlaufen die einzelnen Teilbereiche aber chronologisch, um den Auf­stieg der 'Ndrangheta historisch aufeinanderfolgend abzubilden. Zunächst werden einleitend einige ihrer Charakteristika in der traditionellen Phase der Mafia (1860­1950) vorgestellt. Im Anschluss daran bildet die Transformation der Nachkriegsgesell­schaft (1950-1970) den Übergang zum Hauptteil, der vor allem in den siebziger Jahren situiert ist. Die letzten Kapitel behandeln jeweils Themenblöcke, die sich bis zur Ge­genwart erstrecken und wegen ihres komplexen Charakters etwas isoliert Stehen. Sie beschreiben den weiteren Aufstieg der 'Ndrangheta. Insgesamt sind die einzelnen In­halte eng ineinander verzahnt. Da eine differenzierte Betrachtung der traditionellen Mafias manchmal nicht durchführbar oder sinnvoll ist, sind einige Abschnitte der Ar­beit relativ allgemein gehalten. Häufig werden Vergleiche zur sizilianischen Cosa Nostra angestellt, welche die Entwicklung der 'Ndrangheta teilweise vorwegnahm. Ein besonderer Akzent der Studie liegt auf Rolle des Staates, der den Aufstieg der Mafia entscheidend mittrug.

2. Mafia - EIN THEMATISCHES Problem

Die Probleme, die sich dem Historiker im Rahmen einer Studie über die Mafia eröff­nen, sind offenkundig und für die in der bisherigen Forschung nur vereinzelt beschrie­bene kalabrische 'Ndrangheta noch komplexer, als im Fall des bekannteren ״Nach- barn" - der sizilianischen Cosa Nostra. Letztere trägt diese Problematik bereits im Na­men: La Cosa Nostra (wörtlich: unsere Sache) bedeutet nichts anderes, als die Inten­tion der Geheimgesellschaft interne Information unter keinen Umständen nach außen dringen zu lassen. Wie im Verlauf dieser Arbeit noch deutlich werden wird, ist es ge­rade der 'Ndrangheta in äußerst effizienter Weise gelungen, dieses Prinzip in die Tat umzusetzen.

2.1 Die Problematik der historischen Darstellung

Dem Historiker mangelt es aufgrund des klandestinen Charakters der Mafia an seinem ersten Arbeitsmittel: verwertbaren historischen Quellen. Aus nachvollziehbaren Moti­ven verfügen die Mafias über keine Geschichtsschreibung, die ihre Ursprünge oder Entwicklungen dokumentieren. Schriftlichte Primärquellen sind daher selten. Polizeili­che Ermittler stellten zwar einige Regelwerke sicher.[2] Sie besitzen jedoch vor allem juristischen Wert. Aufschlussreiche Prozessakten sind von Deutschland aus schwer ein­sehbar, insofern sie bis ins 20. Jahrhundert überhaupt einen Unterschied zwischen mafioser und sonstiger Kriminalität feststellen. Aus diesen Gründen müssen lange Ep¡- soden der Geschichte der traditionellen Mafias Italiens, und besonders der 'Ndran- gheta, im Dunkeln verbleiben. Es kam zu Spekulationen und Legendenbildung. Erst die Aussagen von Pentiti (wörtlich: Reumütige) gewährten später neue Einblicke.[3]

Seit einigen Jahren ist ein steigendes Interesse an der 'Ndrangheta zu verzeichnen. Zahlreiche Publikationen vor allem aus dem journalistischen Bereich und aus dem La- ger der Antimafia-Bewegurig (Staatsanwälte, Politiker, Wissenschaftler, Journalisten, etc.) waren die Folge. Doch die Zunahme an Informationen bedeutet für den Historiker nicht unbedingt eine Arbeitserleichterung. Viele Argumente sind voreingenommen, kontrovers oder stereotypisiert. Daher können manchmal lediglich Tendenzen aufge­zeigt oder selbst Vermutungen angestellt werden. Als spezielles Problem dieser Arbeit erwies sich der unzureichende Zugang zu fachspezifischer Literatur, die teilweise nur in Italien verfügbar ist. So stützte und verließ sich der Autor auf soziologische, politikwis­senschaftliche und juristische Untersuchungen sowie auf journalistische Artikel, aus deren divergierenden Perspektiven und Interpretationen des Phänomens 'Ndrangheta er seine historische Darstellung abgeleitet hat.

2.2 Die Definitionsproblematik Mafia

״Mafia ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum heutigen Tag ein überaus häufig gebrauch­tes Wort. Es handelt sich jedoch um einen vielschichtigen Begriff, der sich auf unterschiedliche Dinge bezieht, je nachdem in welchem Zusammenhang, unter welchen Umständen, mit welchen Intentionen und mit welchem Interesse er gebraucht wird. Es ist schwierig, eine Typologie oder eine Abfolge von in sich homogenen Phänomenen unter den Begriff Mafia zu bringen; und es ist genauso schwierig, sich dem Eindruck zu entziehen, dass gerade diese Weite und die Unbe­stimmtheit den Begriff so beliebt machen."[4]

Die Begriffsbestimmung des Historikers Salvatore Lupo verweist auf die Bedeutungs­Vielfalt der Bezeichnung Mafia und auf die verschiedenen Ansätze, von denen die das Phänomen behandelnden wissenschaftlichen Disziplinen ausgehen. Daraus resultiert für Mafia eine Definitionsproblematik, der sich eine Studie über das Thema nicht ent­ziehen kann. Angelehnt an die etwas versteiften Ansichten des deutschen Soziologen Henner Hess (1970), der Mafia durch mafioses Verhalten definierte, das um die beiden in der Gesellschaft des Mezzogiorno verankerten Schlüsselbegriffe Ehre und omertà kreiste, statt eine feste Organisationsstruktur anzunehmen, stellte sein italienischer Sozius Pino Arlacchi 1983 fest:

״Im Gegensatz zu dem, was von einem großen Teil der literarischen und journalistischen Publizis­tik zum Thema suggeriert wird, gibt es keine (und hat es auch nie gegeben) hierarchische und zentralisierte Organisationen, die mafia, 'ndrangheta oder ehrenwerte Gesellschaft genannt wird und deren Mitglieder durch Schwüre gegenseitiger Treue und gegenseitigen Beistands miteinan­der verbunden sind, die während finsterer Zeremonien ausgeführt werden."[5]

Entgegen mehrerer Studien die besonders die sizilianische Cosa Nostra aber auch die einzelnen 'ndrine der kalabrischen Mafia als streng hierarchisch gegliederte Gebilde mit genau definierten Initiationsriten darstellten,[6] hält Arlacchi seine These bis heute sozialwissenschaftlich für unumstößlich.

Lupo hat in diesem kontroversen Fall versucht die verschiedenen Forschungsansätze zusammenfassend darzulegen. Seine Betrachtungen, die sich auf die sizilianische Mafia konzentrieren, besitzen für die 'Ndrangheta jedoch die gleiche Gültigkeit. Er nennt vier Kategorien von Mafia, auf die im Verlauf dieser Arbeit teilweise noch näher eingegan­gen wird: Die Mafia als Spiegel der traditionellen Gesellschaft, als Unternehmen, als Organisation und als Rechtsordnung oder Staat im Staat.[7] Diese Vielschichtigkeit sollte man sich immer vor Augen halten, wenn im Folgenden von 'Ndrangheta, Mafia, Ca­morra, organisierter Kriminalität oder kriminellen Vereinigungen (Begriff die eigentlich einer ausführlicheren Definition bedürften, jedoch an dieser Stelle mangels Alternat¡- ven verwendet werden) die Rede ist.

Die Judikative hingegen braucht eine klar bestimmte Definition von Kriminalität, um sie über die ihr zur Verfügung stehenden Mittel gesetzlich zu verurteilen. Seit 1982 ist bei­spielsweise schon die ״Vereinigung mafiosen Typs" strafbar. In ihrem Antimafia-Kampf zielt die Rechtssprache auf ״klare Verhältnisse". Aus juristischer Sicht eine nachvoll­ziehbare Intention, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es der Antimafia-Kommission (Commissione Antimafia) erst innerhalb ihrer zehnten Legislaturperiode von 1988 bis 1992 gelang, die bis dahin auf Sizilien beschränkten Kompetenzen auf Kalabrien aus- zuweiten.[8] Ein erster ausführlicher Bericht über die 'Ndrangheta wurde vom italien¡- schen Parlament erst im Jahr 2006 verabschiedet.

3. Die 'Ndrangheta in der traditionellen Phase (1860-1950)

Die folgenden Kapitel sind - als ausführliche Hinführung verstanden - dem Hauptteil der Arbeit vorangestellt. Sie umfassen verschiedene Aspekte der 'Ndrangheta, die größtenteils in den Zeitraum von 1860 bis 1950 fallen. Diesen bezeichnete Arlacchi als die ״traditionelle" Phase der Mafia.[9] Auf einen allgemeineren Entstehungskontext der Mafias folgt eine Definition des Begriffs 'Ndrangheta. Daraufhin werden unter Einbe­Ziehung aktueller Debatten einige zentrale Funktionsweisen und Charakteristika der traditionellen kalabrischen Mafia beleuchtet. Ihre Darstellung ist wegen Berücksicht¡- gung der verschiedenen disziplinären Perspektiven nicht immer homogen. Dass die In­halte der nächsten Kapitel manchmal etwas wahllos aneinandergereiht erscheinen, ist einerseits dem Umstand zuzuschreiben, dass der Mangel historischer Daten und Fak­ten ein klarer strukturiertes Bild der kalabrischen Mafia bis 1950 verhindert. Anderer­seits wurden nur diejenigen Wesenszüge der 'Ndrangheta untersucht, deren Betrach­tung der Autor für seine gegenwartsbezogene Arbeit für unerlässlich befindet.

3.1 Entstehungskontext und -Mythos

Die Ursprünge der traditionellen italienischen Mafia-Organisationen, der kalabrischen 'Ndrangheta, der sizilianischen Cosa Nostra und der kampanischen Camorra, sind an­ders als etwa bei den mit ihnen verwandten Freimaurern nicht klar feststellbar. Es er­scheint daher sinnvoll zunächst den historischen Kontext für die Entstehung der kalab- rischen Mafia zu ermitteln, in dem die strukturellen Voraussetzungen für die Bildung der ״modernen" 'Ndrangheta in den siebziger Jahren liegen.[10] Im Folgenden wird des­halb auch auf nationale Besonderheiten eingegangen, die für die Mafia von Einfluss waren.

Als gemeinsamer kultureller Hintergrund für die Entstehung der drei klassischen italie­nischen Mafias wirkte die jahrhundertelange Herrschaft der spanischen Krone über Unteritalien und Sizilien. Die Bedeutung des daraus entwachsenen Feudalsystems für die Mafia ist zwar mittlerweile nicht mehr unumstritten.[11] Ein kultureller Einfluss lag je­doch schon im Gründungsmythos der drei spanischen Ritter Osso, Mastrosso und Car- cagnosso, die nach in ihrer Heimat begangener Blutrache zu Beginn des 15. Jahrhun­derts nach Italien auf die Insel Favignana geflüchtet sein sollen, wo sie 'Ndrangheta, Camorra und Mafia sowie das ihnen eigene Wertesystem schufen. Solche Mythen ho­ben den vermeintlich noblen Ursprung der Mafias hervor und dienten später als Legi­timation ihrer Verhaltenskodizes.[12] Gleichzeitig beschwört der Mythos eine frühe Ge­meinsamkeit der drei großen kriminellen Vereinigungen des Landes.

Eine entscheidende Systemverfestigung mafioser Macht wird in Kalabrien, Sizilien und Kampanien etwa zurzeit des Risorgimento, des nationalstaatlichen Einigungsprozesses Italiens, angenommen.[13] Das frühere ״Königreich beider Sizilien" schloss sich dem 1861 durch den Norden aufoktroyierten Königreich Italien nur widerwillig an. Die Einigung machte danach auch den Süden sukzessive mit der kapitalistischen Rechtsordnung und Wirtschaftspolitik des neuen liberalen Staates vertraut und schuf damit erste Ökono­mische Räume für die Mafias.[14] Doch die Nationalidee basierte in Italien auf brüchige­ren Fundamenten als in anderen Staaten, was bis in die Gegenwart nachwirkt. Wäh­rend die Führungseliten des Nordens um das Königreich Sardinien-Piemont, das die Speerspitze bei der Vereinigungsbewegung gebildet hatte, im nordeuropäischen Wirt­Schaftsliberalismus ihr geistiges und kulturelles Vorbild erblickten, blieb der Süden über die Jahrhundertwende hinaus in vom latifondismo gezeichneten Strukturen ver­haftet.

Unter der Herrschaft der spanischen Bourbonen hatten sich die Mafias oder ihre Vor­läufer zunächst mit dem Regime arrangiert. Als sich jedoch die Bildung des National- Staates abzeichnete, wechselten die opportunistischen Mafiosi die Seiten. Durch den Zusammenschluss Italiens vervielfältigten und expandierten die Klientelverhältnisse zwischen Angehörigen des liberalen Staates, dessen Regime sich als genauso illiberal wie sein Vorgänger erwies, und der Mafias bis in den Norden des Landes. Eine ähnliche Form politischer Einspannung fand parallel mit dem im Süden populären Sozialband¡- tentum statt, indem Hobsbawn lediglich ein weniger komplexes Phänomen als die Maffia[15] erkannte und zwischen denen er nicht eindeutig unterschied.[16]

Ein struktureller Einfluss auf die Frühformen organisierter Kriminalität des Stadtgebie­tes von Reggio Calabria - Metropole Kalabriens und vermutlicher Ursprung der späte­ren 'Ndrangheta - schien von der neapolitanischen Camorra ausgegangen zu sein.[17] Von dort stammten die ״ersten paradigmatischen Beispiele mafioser Tätigkeiten."[18] Ihr Organisationsmodell verbreiteten die Camorristi[19] während Armee- und Gefängnis­aufenthalten über ihre Heimat hinaus weiter.[20] So saßen Anfang der 1860er Jahre mehrere Camorristi im Gefängnis von Reggio Calabria, wo kurz darauf erste mafiose Handlungen registriert wurden.[21] 1869 kam es bei Wahlen in der Stadt zu massiven Einschüchterungen und blutigen Vorfällen, die nach mafiosem Muster verliefen.[22]

Andere Mafia-Zentren Kalabriens entstanden ebenfalls auf dem Gebiet der heutigen Provinz Reggio Calabria: in der fruchtbaren Ebene von Gioia Tauro (La Piana di Gioia Tauro) nördlich von Reggio an der tyrrhenischen Küste, im Aspromonte-Gebirge und am ionischen Meer.[23] Damit blieben die kriminellen Gruppen der 'Ndrangheta, ähnlich der Cosa Nostra in Westsizilien, zunächst auf eine Zone beschränkt. Einige einflussrei­che 'ndrine (Familien bzw. cosche) dehnten ihre Macht in den entlegenen und unzu­gänglichen Gegenden des Berglandes aus, einer ״vorpolitischen Region" in der konkur- nerende soziale Organisationsformen wie Bauerligen oder sozialistische Verbände kei­nen entscheidenden Einfluss gewannen. Besonders in der Locride, einem Gebiet der Provinz Reggio Calabria, das sich von den Ausläufern des Aspromonte zur ionischen Küste erstreckt, bildeten sich zahlreiche historische Zentren der 'Ndrangheta: San Luca, das religiöse Zentrum der kalabrischen Mafia, Piatì, Locri, Africo oder Siderno. Hier wo das Brigantentum[24] im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts noch eine bezeichnend späte Hochzeit hatte, führte die mangelhafte soziale Organisation in der Gesellschaft zu einer dichten Ausbreitung des mafiosen Systems. Die fortschrittsfeind­liehen Landstriche festigten zudem das Bild der 'Ndrangheta von einer archaischen und gegenüber der Cosa Nostra primitiveren Form der organisierten Kriminalität.

Das geeinte Italien verband solche Extreme miteinander und integrierte im Mezzo­giorno so archaische Gebiete in sein Staatsgefüge, dass im späten 20. Jahrhundert so­gar ein Diskurs über einen inneren Orientalismus entstand.[25] Ohne diese Kontroverse zu vertiefen soll mit den Worten des italienischen Historikers Corrado Vivant¡ festge­stellt werden, ״daß [in der Vergangenheit Italiens] stets so starke Brüche und zentrifu­gale Kräfte wirksam waren, daß sie bis in unsere Zeit jeden Einigungsprozeß überlager- ten."[26] Der manchmal als Einheitsmythos bezeichnete Zusammenschluss der unter­schiedlichen Landesteile etablierte ein Tributsystem, das unverhältnismäßig stark auf der Ausbeutung der ärmsten Klassen sowie der Abschöpfung des Inlandsmarktes basierte. Demzufolge profitierte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts allein die schmale privilegierte Klasse von den neuen Verhältnissen.[27]

Der konzeptlose überbau des Risorgimento, das Italien erst spät zu einer Nation einte, verfehlte es, die für einen starken staatlichen Zusammenhalt notwendige politische Stabilität sowie die erforderlichen ökonomischen und sozialen Strukturen zu schaffen. Statt einen föderalistischen Ansatz für die Regionen zu verfolgen, setzten die liberalen und fortschrittsgläubigen Politiker wie Camillo Cavour[28] auf ein autoritäres zentralist¡- sches Herrschaftssystem, das den ״unterentwickelten" Süden durch militärische Stärke erziehen und in das neue Italien integrieren sollte. Dabei wurden die heterogene Struk­tur und die historisch gewachsenen Unterschiede des Mezzogiorno völlig außer Acht gelassen, ein Fehler, den man erst durch die verfassungsmäßige Regionalisierung von 1947 zu korrigieren versuchte.[29]

Nur wenige Jahre nach der Einigung Italiens war die Südfrage geboren, mit der die so­zia le Ungleichheit des Landes eine Bezeichnung fand. Meridionalisti wie der Kommu­nist Antonio Gramsci verfolgten ein Entwicklungskonzept für den Süden, das seine Io- kalen Eigenheiten berücksichtigte. Nach ihrer Auffassung war ein ״historie bloc" - ein Bündnis der aufstrebenden nördlichen Industriellen mit den südlichen Großgrundbe­sitzern - für das Elend des kolonialistisch ausgebeuteten Mezzogiorno verantwortlich. Beide Seiten bildeten ein für das geeinte Italien typisches Interessenbündnis, das die Mafias integrierte, sobald sie im Süden zu einem Machtfaktor geworden waren.[30] Sol­che Verflechtungen zwischen Interessen des Staates, der Eliten und der Mafias funktionierten bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts relativ offen und direkt.

3.2 'Ndrangheta - Begriffliche Unklarheit als Spiegel der Unkenntnis

Für die Etymologie des Begriffes 'Ndrangheta hat sich ein Konsens gebildet, der von einer Ableitung aus dem klassischen Griechisch ausgeht.[31] In dem vom Altgriechisch beeinflussten und in Kalabrien noch punktuell gesprochenen Dialekt, bedeutet 'Ndrangheta eine ״Gesellschaft von Ehrenmännern". 'Ndranghetista bezeichnet dementsprechend eine Person, die sich durch besondere Tapferkeit und Tatkraft auszeichnet.[32] Der Ausdruck onorata società (wörtlich: Ehrenwerte Gesellschaft) ist ebenfalls unter den Mitgliedern der Cosa Nostra gebräuchlich.

Über einen langen Zeitraum herrschte begriffliche Unsicherheit in Kalabrien, wenn es um die Definition des regionalen kriminellen Phänomens ging. Es bestand keine diffe­renzierte Verwendung der Bezeichnungen Mafia und Camorra, die beide willkürlich ar­tikuliert wurden. Die 'Ndranghetisti, das heißt die Angehörigen der 'Ndrangheta, sollen den Terminus der onorata società bevorzugt haben.[33] Anfang des 20. Jahrhunderts entstand unter dem Einfluss mehrerer Schriftsteller der Begriff picciotteria, übersetzt etwa ״Clan der jungen Männer", der sich über die erste Jahrhunderthälfte hielt. La famiglia Montalbano bezog sich hingegen auf die lokale Herkunft einer einflussreichen Mafiagruppe.[34] Neben den genannten Namen kursierten weitere, welche die Zusam­menfassung des organisierten Verbrechens in Kalabrien unter einen gemeinsamen Nenner verzögerten.

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschwanden all diese verwirrenden Bezeichnungen unter dem Einfluss journalistischer Berichterstattung, die vermehrt das heute gebräuchliche 'Ndrangheta verwendete.[35] Im Corriere della Sera durch den Schriftsteller Corrado Alvaro und in L'Unità durch Riccardo Longone erschienen 1955 Artikel über die 'Ndrangheta bzw. 'Ndranghita.[36] In Analogie zur begrifflichen Unkennt- nis kursierten einige seltsame Hypothesen über die Entstehungsgeschichte der kalabri- sehen Mafia. So verwiesen einige Datierungen ihre Ursprünge in die sechziger Jahre, nur weil in jener Zeit erstmals ein breiteres öffentliches Interesse durch die Entführun­gen auf sie gelenkt wurde.[37] Frühere Darstellungen reduzierten das Bild der 'Ndran- gheta auf einen ״gelegentlichen Hinweis auf Geheimgesellschaften in Kalabrien und dem Clientogebiet (südlich des Golfs von Salerno)"[38], die in der Vergangenheit scheinbar nicht registriert worden waren. Solche Aussagen reflektierten das sozial-poli­tische Desinteresse und das fehlende Wissen jener Zeit. Interpretationen, welche die Entstehung der 'Ndrangheta mit dem Sozialbanditismus oder Brigantismus gleichsetz­ten, vereinfachten aus juristischer Perspektive den Charakter einer Organisation, wel­che die beiden anderen Phänomene überdauert hatte.[39]

Als die sizilianische Cosa Nostra auch aufgrund ihres überseeischen Ablegers bereits ein international bekanntes Phänomen war, hatte man für die kalabrische Mafia noch immer keinen einheitlichen Namen. In der Region verübte Verbrechen wurden oft mit verschieden kriminellen und nicht mafiosen Gruppen in Zusammenhang gebracht. Gleichzeitig erschwerte die große Autonomie der einzelnen Clans eine einheitliche Er­fassung. Diese begrifflichen Schwierigkeiten und die daraus resultierende Defini­tionsproblematik wirkten wie eine zusätzliche omertà, die solange anhielt, bis sich der Terminus 'Ndrangheta in der täglichen Berichterstattung schließlich durchsetzte.

3.3 Das Parallelsystem 'Ndrangheta

Nach der Einigung Italiens regte sich im Süden massiver Widerstand gegen die Versu­che der Regierung hier einen modernen Staat zu gründen. Plötzlich anfallende Steuer- Zahlungen sowie die allgemeine Wehr- und Schulpflicht empfand man als unpassend. Das neue Italien hatte die politische und ökonomische Dominanz des Adels auf die Großgrundbesitzer übertragen und setzte auch über das Jahrhundert hinweg auf die Ausbeutung der unteren Klassen. Ungerechte Herrschaftsverhältnisse und Perspektiv- losigkeit waren bezeichnend für den gesamten Mezzogiorno. Dem Staat gelang es in vielen südlichen Gegenden wenigstens bis zum Faschismus nicht, sein Gewaltmonopol flächendeckend durchzusetzen. In dieser Situation knüpften ״die traditionellen Mafia­Organisationen an die antistaatlichen Traditionen und die romantisierte kollektive Er­innerung an die Briganten und andere Banditen an."[40] Sie entwickelten sich zu Gegenmodellen oder Parallelsystemen.[41]

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts verhielt sich die Macht der Mafias äquivalent zur Schwäche des Staates. Ähnlich der sizilianischen Mafia operierte die 'Ndrangheta als ein Netz örtlicher cosche (Familien bzw. 'ndrine), welche die Kontrolle über ein lokales Territorium vereinnahmten. Paoli bezeichnete diesen Zustand als eine ״de facto- Machtteilung zwischen Staat und Mafia."[42] Beide Systeme existierten jedoch nicht separat voneinander, sondern waren über klientelische Strukturen miteinander ver­netzt. Zu einer autonomen Organisation innerhalb des Nationalstaates konnte und wollte die ״Industrie der Gewalt" (Franchetti 1877) ohnehin nicht werden.

Während der traditionellen Phase wuchsen die mafiosen Organisationen zu einem pa­rasitären Machtfaktor, der gewisse Probleme (z.B. gestohlenen Besitz) wirksamer und schneller zu lösen vermochte als der fremde, ferne und abstrakte Staatsapparat, dem die lokale Bevölkerung ohnehin skeptisch bis ablehnend gegenüber Stand.[43] In ihren Hoheitsgebieten Übernahmen die Mafias die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ord­nung. Ihre Werte (Ehre, omertà) waren mit denen der lokalen Bevölkerung weitgehend identisch oder wurden von dieser sogar idealisiert. Begünstigt durch die unzureichende und in den mafiosen Domänen Kalabriens bis heute ausbleibende Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, konnte die 'Ndrangheta in einigen Gegenden der Provinz Reggio Calabria (bspw. der Ebene von Gioia Tauro) zur alles dominierenden Kultur werden.[44] Sie drängte in sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und empfahl sich damit als einflussreicher Bündnispartner im meridionalen Klientelismus, der vor allem an den Orten wirkte, wo ein Leck staatlicher Präsenz zu verzeichnen war.

Das Machtpotenzial der cosche wurde an den Meistbietenden verkauft: in der traditio­nellen Situation Gutsherren, Geschäftsleute oder Regierungsparteien.[45] So bildete die Mafia ihre traditionellen Methoden und Betätigungsfelder heraus, die im Wesentlichen mit den aktuellen übereinstimmen. Ausgehend von ihrem territorialen Machtfaktor erpresste sie, bot ״Schutz" für vermögende Personen, die sie selbst bedrohte, schlich­tete Streitigkeiten oder wirkte über ihr ״Netz von Freundschaften" als vermittelnde In­stanz zwischen den herrschenden Kräften und der einfachen Bevölkerung. Als Produ­zent trat sie noch nicht in Erscheinung. Ihr überlegenes Mittel bestand in notfalls rück­sichtsloser Gewaltanwendung - einer Konstante der kalabrischen Gesellschaft.[46]

Bis in die neunziger Jahre dominierte unter Soziologen (Hobsbawn 1959, Hess 1973, Dalla Chiesa 1983) die Ansicht, Mafia-Organisationen als Produkte sozialer und Ökono­mischer Rückschrittlichkeit zu betrachten. Nach Hobsbawn war die kalabrische Mafia stärker als die sizilianische von den Armen gefärbt, daher sozialer Protest ihr Gesamt­bild bestimmte. Diese These bezog sich auf Longone, der die ״Ehrenwehrte Gesell­schaft" 1955 als einen ״Verein gegenseitiger Hilfe für Leute, die sich gegen die feudale, staatliche oder polizeiliche Macht oder gegen private Machtäußerungen zu schützen suchten",[47] bezeichnet hatte. Ob die 'Ndrangheta jedoch tatsächlich in größerem Aus­maß den Charakter einer volkstümlichen Organisation zum Zweck der Selbstverteidi­gung und Erhaltung der calabresità - der kalabrischen Lebensweise - bewahrt hat als die Cosa Nostra ist zweifelhaft.[48] Vielmehr basierte dieses Robin Hood-Image auf dem staatlichen Unvermögen die gravierenden Probleme wie die Landfrage, die ungerech­ten Herrschaftsverhältnisse oder die Perspektivlosigkeit des Südens zu lösen.

Modernere Studien (Gambetta 1993, Varese 2001) betonen hingegen das mafiose Pa­rallelsysteme in ökonomisch expandierenden Gesellschaften entstanden und entste­hen, die einen Mangel legaler Strukturen aufweisen und keinen zuverlässigen Schutz bestimmter Rechte (z.B. Besitzrechte) gewährleisten.[49] Die positive Entwicklung der cosche aus der Ebene von Gioia Tauro zeigte, dass Mafia auch in funktionierenden Wirtschaftsräumen prosperierte.[50] Als die Landwirtschaft des Mezzogiorno in den Weltmarkt integriert wurde, bildete sich in Gioia in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Einigung Italiens von 1860 bis 1880 eine dynamische Export-Agrikultur.[51] Es kristallisierten sich erste Züge einer (agrar-)unternehmerischen Mafia heraus, die es verstand das ökonomische Potenzial des Gebietes für ihre Zwecke umzuwandeln.[52] Das Beispiel widerspricht damit der Darstellung einer rein archaischen 'Ndrangheta, wie es bis zur Entdeckung ihres wirtschaftlichen Potenzials häufig propagiert wurde.

Wie heterogen die Beschreibung der kalabrischen Mafia im Frühstadium ausfällt, ver­deutlichte der erste vom Parlament verabschiedete Bericht über die 'Ndrangheta von 2006. Aus seiner juristischen Perspektive wird das Wesen der Mafia hier als komplexer Organismus beschrieben:

״Seit der frühen Entwicklung der 'ndrangheta ist deutlich, dass diese keine Organisation einfacher

Leute darstellt; sondern vielmehr eine komplexe und dynamische Struktur besitzt, zusammenge- setzt aus Elementen, die sich selbst als Träger besonderer positiver Werte definieren. Sie betrachtet sich als Elite, die dahin tendiert, die hohen Positionen des gesellschaftlichen Systems zu besetzen."[53]

Eine ähnliche Argumentation vertritt der Historiker und ehemalige Antimafia-Berater Enzo □conte, demzufolge eine bloße Vereinigung armer Leute nicht bis in die Gegen­wart hätte Bestand haben können. Er bezeichnet die 'Ndrangheta als einen Komplex, der sich aus mehreren sozialen Schichten zusammensetzte und als solcher bereits im 19. Jahrhundert präsent war.[54]

3.4 Ein archaisches und modernes System

Nach Longone setzte sich die onorata società in den fünfziger Jahren bereits aus zwei gegensätzlichen Profilen zusammen. Demzufolge koexistierte eine volkstümliche, ein­faltige und romantische 'Ndrangheta mit einer anderen im Dienst der Mächtigen und Wohlhabenden.[55] Mit seinen Worten schlägt er eine Brücke zu ihrer aktuellen Be­Schreibung als einer Organisation, die sich durch die Parallelität stark familiärer und territorial verwurzelter Strukturen auf der einen, sowie einem modernen globalen Netzwerk auf der anderen Seite, auszeichnet. Der erste Typ sei

״eine Form primitiver, sozusagen vorpolitischer Vereinigung aus Bauern, Hirten, kleineren Handwerkern und Handlangern, die im unzugänglichen und zurückgebliebenen Ambiente man­eher kalabrischer Dörfer den Respekt und die Würde erlangten, die ihre miserablen Lebensum­stände unter anderen Bedingungen nicht zuließen."[56]

Diese Konditionen nannte Longone einen dauerhaften ״stato d'animo in una società ostile."[57] Demnach ersetzte die 'Ndrangheta eine Form politischer Organisation, die sich in der Region noch nicht entwickelt hatte. Sie wurde zu einem Zufluchtsort, inner­halb dessen Grenzen persönliche Rechte nach dem legge dell'onore galten. Hier wird sowohl die soziale Komponente als auch der Auslöser des Parallelsystems Mafia - die staatliche Schwäche - deutlich. Die von Sozilogen (Hess 1970, Arlacchi 1983) vertre­tene Ansicht, dass sich der Mafioso Respekt und Ehre innerhalb dieses traditionellen und durch das mafiose Rechtssystem geprägten Umfelds noch über echtes Kavaliers- tum statt durch die bloße Anhäufung von Reichtum erwarb, entspricht nicht unbedingt den realen Verhältnissen. Doch bildete die 'Ndrangheta in ihren Zentren bis weit über den 2. Weltkrieg hinaus ein System, das sich auf das komplementäre Verhalten ihrer Umgebung verlassen konnte.[58] Als die sizilianische Mafia während ihres finanziellen Aufstiegs der sechziger Jahre einen allgemeinen ״process of criminalization"[59] durch­lief, griff diese Wahrnehmung zunächst weniger auf Kalabrien über.

Den zweiten Typ der 'Ndrangheta charakterisierte Longone als eine Mafia die Bünd­nisse mit Gutsbesitzern und Politikern einging. Protegiert durch diese hohen Person- lichkeiten des öffentlichen Lebens, die im Bedarfsfall intervenierten, konnte sie ihre ¡I- legalen Handlungen über Drohungen und Einschüchterungen durchsetzen und sich da­bei einer relativen Straffreiheit versichern.[60] Fünfzig Jahre später sind die Abweichun­gen bei der Darstellung der 'Ndrangheta gering: Wenn Experten sie heute als global¡- siertes und expansives Phänomen beschreiben, das sich mit seiner ״Tentakel-Struktur" über den Globus verzweigt, über die beste Infrastruktur zu den Drogenproduzenten in Kolumbien verfügt, als legale Unternehmen auftritt und in einem Ausmaß an moder­nen ökonomischen Prozessen beteiligt ist, welches sie zu einer der mächtigsten krimi­nellen Vereinigungen macht, dann wird gleichzeitig das Bild einer archaischen Mafia gezeichnet, die tief verwurzelt in den rückständigen und entlegenen Gebieten Kalabri­ens nach alten Traditionen und Codizes lebt und sich gegenseitig in blutigen Fehden bekämpft.[61]

Nach Arlacchi war der ״Idealtyp" des klassischen Mafioso durch seine volkstümliche Herkunft, die Zugehörigkeit zur Mittelschicht und den Besitz einer genau umschriebe­nen Territorialmacht definiert.[62] Der kalabrische Staatsanwalt Nicola Gratter¡ verwen­dete den Begriff der agropastoralen (landwirtschaftlich orientierten) Mafia für die Be­Zeichnung einer traditionellen 'Ndrangheta, die noch nicht über große Kapitalmengen verfügte.[63] Seit einigen Jahren lassen Behörden verlauten, dass es gerade dieses Span­nungsverhältnis zwischen archaischer Basisstruktur und moderner Attitüde im Zeichen der Globalisierung ist, das die kalabrischen cosche so erfolgreich macht.[64]

3.5 Die Struktur der 'Ndrangheta

In der Berichterstattung über die 'Ndrangheta wird die Konservierung archaischer Werte bei gleichzeitig globalorientiertem Handeln demnach als Schlüssel zum Erfolg hervorgehoben, der sie von den anderen traditionellen Mafias unterscheidet. Tatsäch- lieh tragen einige Elemente mit der die Clans der Moderne begegnen noch deutlich mediavaie Züge.[65] Die Basisstruktur der kalabrischen Mafia bildet die 'ndrina, auch cosca oder famiglia, die in einer bestimmten Gemeinde oder einem Stadtviertel ver­wurzelt ist. Entstanden mehrere 'ndrine in einer Gemeinde, wurden diese zu einem locale zusammengefasst. Im Kern besteht jede 'ndrina aus Blutsbanden. Ihr Oberhaupt wird als capobastone bezeichnet.[66] An die Ursprungsfamilie können sich weitere an­gliedern und durch föderative Pakte zu einem Konsortium verbinden. Die angeschlos­senen Familien sind in der Regel über ein verwandtschaftliches Verhältnis mit der des capobastone verbunden. In benachbarten Gemeinden wie Africo, San Luca und Piatì, in der Ebene von Gioia Tauro oder dem Stadtgebiet Reggio Calabrias bildeten sich kleinere ״Kartelle", so die in die Morde von Duisburg verwickelte 'ndrina Nirta-Pelle- Romeo.

Mit der Zeit entstanden regelrechte ״Mafia-Dynastien" die durch ihre engen Bande starken inneren Zusammenhalt gewährleisten.[67] Aus diesem Tatbestand erklärt sich die Justiz die gegenüber Camorra und Cosa Nostra deutlich geringere Anzahl an Kolla- borateuren.[68] □conte sieht in den familiären Beziehungen neben der strategischen Ex­pansion den Hauptgrund für den Erfolg der kalabrischen Clans.[69] Eine besondere Bedeutung kommt dem locale San Luca zu, das in der Geschichte der 'Ndrangheta über die Einhaltung der Regeln und Traditionen wachte und damit als ״moralische Autor¡- tat" wirkte.[70] Dies bezeugten die jährlichen Versammlungen hoher Repräsentanten der locali im Umland des nahe gelegenen Pols¡, an denen auch Mitglieder der cosche aus der Lombardei, Piemont und dem Ausland teilnahmen.[71] Seit den Entwicklungen der siebziger Jahre scheinen die traditionellen Zusammenkünfte jedoch an Bedeutung ver­loren zu haben oder erfüllen allenfalls noch einen folkloristischen Aspekt.

Traditionell ist die kalabrische Mafia durch eine starke Autonomie der einzelnen 'ndrine auf ihren jeweiligen Territorien charakterisiert: ״Während einer langen histori­sehen Phase hat der 'Ndrangheta eine einheitliche Struktur wie sie für Cosa Nostra gilt gefehlt."[72] Im Oktober 1969 soll bei einem der jährlichen Gipfeltreffen nahe Pols¡, dem summit del Montalto, darüber beraten worden sein, die einzelnen 'ndrine unter die Führung einer vereinigten Organisation zu stellen. Aufgrund des fehlenden Konsenses unter den Teilnehmern und einer Intervention durch die Carabinieri habe man den Vorschlag jedoch nicht umgesetzt.[73] In der ausbleibenden Einheit der 'Ndrangheta ist immer wieder der Auslöser für die Häufigkeit von Fehden unter den cosche gesehen worden. Diese bilden eher ein Netz von Organisationen (rete di organizzazione), wo­hingegen die Struktur der Cosa Nostra seit der Errichtung einer ״Kommission" im Ge­folge des beginnenden Heroinhandels Ende der fünfziger Jahre durch ein zentralist¡- scher organisiertes Netzwerk (organizzazione di rete) bestimmt ist.[74]

Bei allen späteren Modifikationen innerhalb der 'Ndrangheta blieb die Familie ihr un­antastbares Zentrum, das auch staatliche Repressionen bis heute nur unzureichend gefährden.[75] So erwies sich das archaische Konzept einer famiglia di sangue[76] als adä­quates Konzept, um den Herausforderungen der Globalisierung, der Expansion und der Bedrohung durch die Behörden zu begegnen. Insgesamt muss man den flüchtigen Cha- raktér solcher Strukturbeschreibungen berücksichtigen, da mafiose Phänomene durch äußere Entwicklungen permanenten Transformationsprozessen unterliegen.

4. Krise und Transformation der 'Ndrangheta (1950-1970)

Nach der Gründung der Ersten italienischen Republik als parlamentarische Demokratie 1946 erfuhr das Land eine Reihe tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen. Die Auswirkungen von Modernisierung und Industrialisierung machten auch vor dem Sü­den nicht halt. Nach Arlacchi führte das zu einer schweren Krise des traditionellen ma­fiosen Systems, aus der es sich erst im Verlauf der sechziger Jahre langsam wieder er­holte. Er sah einen Bruch in der Entwicklung der Mafias, den er auf die ״große Trans­formation" der Nachkriegsgesellschaft zwischen 1950 und 1970 zurückführte. Wäh­rend dieser Übergangsphase vollzog sich demnach der Wechsel von der traditionellen zur modernen Mafia.[77] Kontroverse Studien stellen die Geschichte der Mafia stattdes- sen als eine kontinuierliche Entwicklung dar (Lupo 1993).[78] [79] Doch welche Betrachtungs­weise man auch annimmt - nach Italien erlebten auch die traditionellen Mafias nach dem Zweiten Weltkrieg eine revolutionäre sozialökonomische Neugestaltung, die im Fall der 'Ndrangheta während der siebziger Jahre kulminierte.

4.1 Soziale und ökonomische Veränderungen der Nachkriegszeit

Die Unterstützungszahlungen der USA nach dem Krieg leiteten in Italien einen nachhal­tigen Wirtschaftsaufschwung ein, der mit der Umorientierung zum Weltmarkt hohe Wachstumsraten folgten. Die Jahre 1953 bis 1963 markierten das miracolo economico italiano, das italienische Wirtschaftswunder: Der Außenhandel florierte, die Stahlpro­duktion und die großen Konzerne des Nordens vervielfachten ihren Absatz und die wachsende Konsumkraft der Bevölkerung zeugte von der Zirkulation enormer Kapital­mengen. Die gute Konjunktur der Industrie führte zu einer großen Inlandsnachfrage nach Arbeitskräften, daraufhin regelrechte Massenauswanderungen aus dem Mezzo- giorno einsetzten.79 Ziel waren die reichen Regionen des Nordens, besonders das Industriedreieck Genua-Turin-Mailand. Die italienische Gesellschaft erfuhr durch die gewaltigen Emigrationswellen enorme strukturelle Veränderungen.

Kalabrien verzeichnete als eine der ärmsten Regionen zwischenzeitlich die höchsten Emigrationsraten. Entvölkerte Landstriche resultierten aus der wirtschaftlichen Misere. Von 1936 bis 1965 emigrierten ca. 776000, davon allein von 1950 bis 1965 ca. 556000 Menschen. Dies entsprach einem Mittelwert von 27 Prozent der regionalen Bevölke- rung.[80] Da auch zahlreiche 'Ndranghetisti dem Strom in den Norden folgten, wurden die personellen Ressourcen und Rekrutierungsmöglichkeiten der Mafia reduziert.[81] Eine erste frühe Emigrationsphase in die transozeanischen Länder (1876-1906) war dadurch bestimmt, dass der Großteil der Auswanderer in den Zielländern verblieb.[82] Damit besaß die 'Ndrangheta dort möglicherweise einen Anknüpfungspunkt im Aufbau ihrer späteren Drogenringe.

Die Entwicklung des Mezzogiorno sollte durch großangelegte Investitionen in den Agrarbereich, die Infrastruktur sowie die Industrialisierung vorangetrieben werden. 1950 wurde aus diesem Grund die Cassa per il Mezzogiorno[83] gegründet, eine Sonder­behörde für regionale Entwicklungspolitik. Die Zuschüsse aus dem ״wichtigsten Wirt­schaftpolitischen Instrument für den Süden"[84] sorgten zwar für einen deutlichen An­stieg des Pro-Kopf-Einkommens in Kalabrien[85], bewirkten jedoch keine nachhaltige Verbesserung der desaströsen regionalen Ökonomie. Zudem verwandelte sich die Cassa zu einem Instrument der Misswirtschaft, indem man Posten für die Klientel der Regierungsparteien reservierte. Eine eigenständige Entwicklung des Südens kam zu kurz und die typischen Probleme Kalabriens blieben bestehen. Eine Modernisierung der Landwirtschaft fand nur unzureichend statt und die Gebiete des Inlandes blieben von jeder sozialen oder ökonomischen Entwicklung ausgeschlossen.86 Lediglich in Einzelfällen führten die Investitionen zu einer Vermehrung sozialer Perspektiven, wel­che die Präsenz der 'Ndrangheta zurückdrängten. Häufiger profitierten gerade die cosche und korrupte Staatsdiener von den Subventionen.

Die Krise der Mafia in den fünfziger und sechziger Jahren äußerte sich vor allem in ih­rer soziokulturellen Ausgrenzung. Sie wurde vielerorts wieder aus den gesellschaftlich- integrativen Positionen gedrängt, zu denen sie nach dem Krieg durch die Übernahme politischer Ämter gekommen war. Ein allgemein im Zuge der Modernisierung festge­stellter Bedeutungsverlust des kulturellen Wertesystems der Mafia87 gilt für Kalabrien aber nur teilweise. In den traditionellen Hoheitsgebieten der 'Ndrangheta, in San Luca, Piatì, Locri, Siderno oder Bezirken von Reggio Calabria, wo ein bedeutender Teil der Io- kalen Bevölkerung bis heute als Mitglied, durch parentale Bande oder ein Ökonom¡- sches Abhängigkeitsverhältnis mit der onorata società verbunden ist und diese ein his­torisches Phänomen darstellt, das nicht auf der Schlechtigkeit der Menschen sondern auf pervertierten Werten basiert, bestimmen Mafia und omertà noch immer den All­tag.[86]

4.2 Anzeichen des Aufschwungs

Die Bodenreform (Riforma agraria) von 1950 sollte neben der Cassa zum wichtigsten Mittel werden, um das Wohlstandsgefälle zum Norden zu verringern. Ihre Wirkung blieb zwar begrenzt und sie wurde ebenfalls zur personalistischen und klientelistischen Vergabe neuer Verwaltungsposten missbraucht. Doch Auflösung und Bedeutungsver­lust des Latifondo trugen dazu bei, dass sich die Mafias nach neuen Betätigungsfeldern umsahen.

[...]


[1] Walston, James: The Mafia and Clientelism. Roads to Rome in post-war Calabria. London and New York 1988, s. 92.

[2] 1931 wurden in Reggio Calabria einige Papiere sicher gestellt, auf denen Regeln, Rechte und Pflichten der Mitglieder der Camorra (damalige Bezeichnung) ihrem jeweiligen hierarchischen Grad zur Folge ver­zeichnet waren. 1963 tauchte ein weiteres Dokument in der Provinz Reggio Calabria auf, das sich inhalt­lich weitgehend identisch mit dem Ersten verhielt. Ähnliche Regelwerke wurden an anderen Orten ge­funden, so in Kanada in der Wohnung eines ursprünglich aus Siderno stammenden Kalabresen. (Vgl.: Gratter¡ / Nicaso 2007: s. 81f.)

[3] Innerhalb der 'Ndrangheta kam es zu deutlich weniger Überläufern als bei den anderen Mafias (siehe Kap.3.5).

[4] Lupo, Salvatore: Die Geschichte der Mafia. Düsseldorf 2005, s. 7.

[5] Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus. Die unternehmerische Mafia. Frankfurt a.M. 1989, s. 56.

[6] Vgl.: Gratter¡, Nicola / Nicaso, Antonio; Fratelli di sangue. La 'ndrangheta tra arretratezza e modernità: da mafia-agropastorale a holding del crimine. Cosenza 2007 s. 90. Vgl.: Oberdörfer, Julian David: Die Erfolge der 'Ndrangheta. Diplomarbeit, Wien 2010, s. 69f.

[7] Vgl.: Lupo, Salvatore: Die Geschichte der Mafia. Düsseldorf 2005, s. 14-39.

[8] Vgl.: Cpm XV/5: 2006: Relazione annuale sulla 'ndrangheta. Relatore: Francesco Forgione. s. 27.

[9] Vgl.: Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus. Die unternehmerische Mafia. Frank- furta.M. 1989, s. 57.

Während der traditionellen Phase hat Arlacchi keinen wesentlichen Unterschied zwischen der siziliani- sehen und der kalabrischen Mafia ausgemacht, die er beide untersucht hat.

[10] Wie im Folgenden noch deutlich werden wird, ist es lange Zeit kompliziert, die mafiose Kriminalität in Kalabrien als einheitliches Gebilde oder ihre Geschichte als die einer festen Organisation zu betrachten.

[11] Vgl.: Fußnote 52.

[12] Vgl.: □conte, Enzo: 'Ndrangheta. Soveria Mannelli 2008, s. 20ff.

[13] Die Frage zu welchem historischen Zeitpunkt die traditionellen Mafias in Italien entstanden und wel­che Ursachen dazu führten, werden in der italienischen Literatur nicht klar beantwortet. Dieser Umstand ist auf das Fehlen historisch fundierter Dokumente zurückzuführen. Denn Geheimorganisationen wie die Mafias zeichnen sich seit ihrem Erscheinen durch die Abwesenheit jeglicher schriftlicher Aufzeichnungen aus und so resultieren Mutmaßungen über den genauen Zeitpunkt des Auftretens dieses Phänomens mehr aus Legenden als aus geschichtlichen Quellen.

[14] Vgl.: Flobsbawn, Eric J.: Soziairebeiien. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Neu­Wied und Berlin 1971, s. 40.

[15] Bei Maffia handelt es sich um die Schreibweise Hobsbawns für die sizilianische Mafia.

[16] Vgl.: Hobsbawn, Eric J.: Soziairebeiien. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Neu­Wied und Berlin 1971, s. 47 bzw. s. 17.

[17] Seit der Entstehung mafioser Gruppen in Kalabrien konzentrierte sich ein Großteil ihrer Aktivitäten auf die Stadt Reggio Calabria, die im zurückliegenden Jahrhundert höchst instabile politische Strukturen entwickelte.

[18] Krauthausen, Ciro: Moderne Gewalten. Organisierte Kriminalität in Kolumbien und Italien. Frankfurt a.M./New York 1997, s. 71.

[19] Als Camorristi werden im 19. Jahrhundert nicht nur die Mitglieder der Camorra bezeichnet.

[20] Krauthausen, Ciro: Moderne Gewalten. Organisierte Kriminalität in Kolumbien und Italien. Frankfurt a.M./New York 1997, S.71.

[21] Vgl.: Gratter¡, Nicola / Nicaso, Antonio: Fratelli di sangue. La 'ndrangheta tra arretratezza e moder­nità: da mafia-agropastorale a holding del crimine. Cosenza 2007 s. 21. Vgl.: Cpm XV/5: 2006: Relazione annuale sulla 'ndrangheta. Relatore: Francesco Forgione. s. 134.

[22] Vgl.: Cpm XV/5: 2006: Relazione annuale sulla 'ndrangheta. Relatore: Francesco Forgione. s. 26.

[23] An dieser stelle muss auf die unterschiedliche Topographie Kalabriens hingewiesen werden. Der Aspromonte beginnt oft direkt hinter den Küstenlinien und bedeckt den Großteil der Provinz Reggio Calabrias. Die gesamte Region Kalabrien weist nur wenig Flachland auf (9%), so dass die günstigen land­wirtschaftlichen Bedingungen der Ebene von Gioia Tauro als Ausnahmen zu betrachten sind. Zu 49% ist Kalabrien von Hügelland und zu 41% von Bergland bedeckt.

[24] Unter dem Begriff Briganten werden bewaffnete Banden von Räubern und Rebellen zusam­mengefasst, die im 18. Und 19. Jahrhundert im Mezzogiorno existierten. Teilweise waren sie politisch motiviert. In der volkstümlichen Erinnerung symbolisieren sie den Widerstand des Südens gegen die vom Norden aufgezwungene und als ungerecht empfundene Ordnung.

[25] Vgl.: Schneider, Jane: Introduction: The Dynamics of Neo-orientalism in Italy (1848-1995). In: Schneider, Jane (Hg.): Italy's ״Southern Question". Orientalism in One Country. Oxford 1998.

[26] Vivanţi, Corrado: Zerrissenheit und Gegensätze. In: Maek-Gérard (Hg.): Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Fünf Studien zur Geschichte Italiens. Frankfurt a.M. 1980, s. 139.

[27] Vgl.: Vivant¡, Corrado: Zerrissenheit und Gegensätze. In: Maek-Gérard (Hg.): Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Fünf Studien zur Geschichte Italiens. Frankfurt a.M. 1980, s. 192.

[28] Als Ministerpräsident Sardinien-Piemonts (1852-1861) und danach sehr kurz Italiens, war Cavour (1810-1861) der Politiker, der den Einheitsweg des Landes von oben, liberal, pragmatisch und zugleich autoritär verkörperte.

[29] Vgl.: Jansen, Christian: Italien seit 1945. Göttingen 2007, s. 91.

[30] Vgl.: Schneider, Jane: Introduction: The Dynamics of Neo-orientalism in Italy (1848-1995). In: Schnei­der, Jane (Hg.): Italy's ״Southern Question". Orientalism in One Country. Oxford 1998, s. 14.

[31] Vgl.: Martino, Paolo: storia della parola 'ndrangheta. In: Faeta, Francesco и.a.: Le ragioni della mafia. Studi e ricerche di ״Quanderni calabresi". Milano 1983, s. 124.

[32] Vgl.: Ebd. s. 124.

Ganz ähnliche Interpretationen existieren um die Bedeutung des Begriffs Mafia.

[33] Vgl.: Krauthausen, Ciro: Moderne Gewalten. Organisierte Kriminalität in Kolumbien und Italien. Frank­furt a.M./New York 1997, s. 71.

[34] Vgl.: Ciconte, Enzo: 'Ndrangheta. Soveria Mannelli 2008, s. 13.

[35] Vgl.: Ebd. S. lOff.

[36] Vgl.: Nicaso, Antonio: Senza Onore. Antologia di testi letterari sulla 'ndrangheta. Cosenza 2007, s. 14. Nicaso schreibt Alvaro den Verdienst zu, den Begriff als Erster verwendet und die kalabrische Mafia da­durch vor der Versenkung in der öffentlichen Wahrnehmung bewahrt zu haben. Die Artikel Longones wurden etwa zur gleichen Zeit publiziert. 'Ndranghita ist die von Longone verwendete Schreibweise.

[37] Vgl.: Cpm XV/5: 2006: Relazione annuale sulla 'ndrangheta. Relatore: Francesco Forgione. s. 27. Solche Thesen dürften entstanden sein, da sich die 'Ndrangheta in den 1960er Jahren Schritt für Schritt aus ihrer traditionellen Struktur heraus entwickelte, um fortan durch Entführungen, Schutz­gelderpressung und Drogenhandel in Bereiche vorzustoßen, die größere Gewinne versprachen.

[38] Hobsbawn, Eric J.: Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Neuwied und Berlin 1971, s. 48.

[39] Vgl.: Ebd. S.16. Hobsbawn hingegen verglich die beiden Phänomene Maffia und Sozlalbandltlsmus miteinander, da er ihre Organisation und Ideologie als rudimentär betrachtete. In der Maffia sah er lediglich eine etwas komplexere Entwicklung des Sozlalbandltlsmus. (Vgl.: Hobsbawn 1971: s. 17.)

[40] Jansen, Christian: Italien seit 1945. Göttingen 2007, s. 92.

[41] Gegenmodell meint nicht, dass die Mafia in klare Opposition zum Staat trat. Seit ihrem Bestehen kam es immer wieder zu Bündnissen oder einem Einvernehmen zwischen beiden. Ab den siebziger Jahren kann in Kalabrien eine engere institutioneile, politische und unternehmerische Verflechtung mit der Mafia festgestellt werden.

[42] Vgl.: Paoli, Letizia: Die italienische Mafia: Paradigma oder Spezialfall organisierter Kriminalität? In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. Nr. 6, 1999, s. 430.

[43] Vgl.: Müller, Peter: Die politische Macht der Mafia: Bedingungen, Formen und Grenzen. (= Beiträge zur Politikwissenschaft, Bd. 48). Frankfurt a.M./Bern 1991, s. 125.

[44] Vgl.: Arlacchi, Pino: Mafia, peasants and great estates. Cambridge 1983, s. 111.

[45] Vgl.: Hobsbawn, Eric J.: Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Neu­Wied und Berlin 1971, s. 72.

[46] Vgl.: Walston, James: The Mafia and Clientelism. Roads to Rome in post-war Calabria. London and New York 1988, s. 34.

[47] Longone, Riccardo: Leggenda e realtà della ״'ndranghita". I legami politici e sociali della mafia cala­brese. In: L'Unità, 8.9.1955, s. 2.

[48] Vgl.: Longone, Riccardo: Leggenda e realtà della ״'ndranghita". I legami politici e sociali della mafia calabrese. In: L'Unità, 8.9.1955, s. 2.

[49] Vgl.: Varese, Federico: How Mafias Migrate: The Case of the 'Ndrangheta in Northern Italy. In: Law & Society Review. Volume 40, 2006, Number 2, s. 411f.

[50] Vgl.: Arlacchi, Pino: Mafia, peasants and great estates. Cambridge 1983, s. 70.

[51] Bereits unmittelbar nach der Einigung Italiens war das Gebiet aufgrund seiner weit ausgedehnten fruchtbaren Fläche für die Landwirtschaft äußerst attraktiv. Durch den Flandel mit öl, Wein und Orangen entwickelte sich in dieser Zeit eine exporttreibende Agrarbourgeoisie, der die Mafia als Vermittler von Arbeitskräften diente und dadurch in der Ebene früh zu einem Machtfaktor wurde.

[52] Die These, das Mafia vor allem in modernisierten Gesellschaften entstehe, in denen ökonomische Ex­pansion stattfindet, stellt die Bedeutung von Latifundismus und Feudalsystem für die Entstehung von Mafia in Frage. Der Historiker Salvatore Lupo hält die Gleichung Mafia = Latifundium für gefährlich, da sie das Phänomen zu sehr als feudales Relikt betrachte. Dadurch verordne man es zu stark in einer dunklen Vergangenheit und entlaste damit die Zukunft von ihrer düsteren Flypothek. (Vgl.: Lupo 2005: s. 16.)

[53] Cpm XV/5: 2006: Relazione annuale sulla 'ndrangheta. Relatore: Francesco Forgione. s. 15. (Übersetzung des Autors)

[54] Vgl.: Ciconte, Enzo: 'Ndrangheta. Soveria Mannelli 2008, s. 35.

[55] Vgl.: Longone, Riccardo: Leggenda e realtà della ״'ndranghita". I legami politici e sociali della mafia calabrese. In: L'Unità, 8.9.1955, s. 2.

[56] Ebd. (Übersetzung des Autors)

[57] Dt.: Ein Gemütszustand innerhalb einer feindlichen Umwelt.

[58] Vgl.: Fritzsche, Peter: Die politische Kultur Italiens. Frankfurt a.M., New York 1987, s. 55.

[59] Vgl.: Paoli, Letizia: An underestimated criminal phenomenon: The Calabrian 'ndrangheta. In: European Journal of crime, criminal law and criminal justice. Voi. 2, 1994, Nr. 3, s. 212.

[60] Vgl.: Longone, Riccardo: Leggenda e realtà della ״'ndranghita". I legami politici e sociali della mafia calabrese. In: L'Unità 8.9.1955, s. 2.

[61] Vgl.: Cpm XV/5: 2006: Relazione annuale sulla 'ndrangheta. Relatore: Francesco Forgione. s. 10. Vgl.: Flaver, Flavio: La 'ndrangheta riesce a sfruttare l'indifferenza della società civile. In: Corriere della Sera 24.6.2006, s. 3. Vgl.: Ulrich, Stephan: Im Schattenreich der Krake. In: Die Süddeutsche Zeitung 3.2.2006, s. 3. Vgl.: Cariucci, Davide: Le mani dei boss sul business dell'edilizia per la sanità. In: La Repubblica 11.8.2010, s. 10.

[62] Vgl.: Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus. Die unternehmerische Mafia. Frankfurt a. M. 1989, s. 59.

[63] Vgl.: Gratter¡, Nicola / Nicaso, Antonio: Fratelli di sangue. La 'ndrangheta tra arretratezza e moder­nità: da mafia-agropastorale a holding del crimine. Cosenza 2007, s. 55.

[64] Vgl.: Cpm XV/5: 2006: Relazione annuale sulla 'ndrangheta. Relatore: Francesco Forgione. s. 23.

[65] Nach Ciconte besitzen zeremonielle Bräuche, wie der Initiationsritus, für die 'Ndrangheta einen große- ren Wert, als für die anderen Mafia-Organisationen. (Vgl.: Ciconte 2008: s. 57.)

[66] Vgl.: Cpm XIII/42: 2000: Relazione sullo stato della lotta alla criminalità organizzata in Calabria. Relatore: Michele Figurelli. s. 92. Es ist anzumerken, dass auch für die anderen Mafias verwandtschaftliche Verhältnisse keine Ausnahme bildeten. Im Fall der 'Ndrangheta sind sie jedoch besonders charakteristisch.

[67] Vgl.: Ciconte, Enzo: 'Ndrangheta. Soveria Mannelli 2008, s. 51f.

[68] Vgl.: Cpm xv/5: 2006: Relazione annuale sulla 'ndrangheta. Relatore: Francesco Forgione. s. 16.

[69] Vgl.: Ciconte, Enzo: 'Ndrangheta. Soveria Mannelli 2008, s. 65.

[70] Vgl.: Cpm XI11/42: 2000: Relazione sullo stato della lotta alla criminalità organizzata in Calabria. Rela­tore: Michele Figurelli. s. 95f.

[71] Das Santuario della Madonna di Polsi ist ein Wallfahrtsort im Aspromonte in der Gemeinde San Luca. Jährlich im September zieht eine Prozession zu der heiligen Stätte. Für die 'Ndrangheta besaß der Ort die Bedeutung eines ״religiösen" Zentrums. Ihre hohen Mitglieder hielten anlässlich des Festes, das zwi- sehen September und Oktober an verschiedenen Orten im Umkreis stattfand, eine Versammlung ab.

[72] Vgl.: Cpm XIII/42: 2000: Relazione sullo stato della lotta alla criminalità organizzata in Calabria. Rela­tore: Michele Figurelli. s. 94.

[73] Vgl.: Ciconte, Enzo: 'Ndrangheta. Soveria Mannelli 2008, 91f. Vgl.: Cpm XI11/42: 2000: Relazione sullo stato della lotta alla criminalità organizzata in Calabria. Relatore: Michele Figurelli. s. 94f.

[74] Vgl.: Sciarrone, Rocco: Mafie vecchie mafie nuove. Radicamento ed espansione. Roma 2009, s. 43. Die einzelnen 'ndrine beschreibt Sciarrone als kompakter und in sich geschlossener als die Clans der sizi- lianischen Mafia, die dafür als Gesamtkomplex über größere Macht und Ressourcen verfügte. Die 'Ndrangheta besaß auch nach der Reform von 1991 keine absolut einheitliche Struktur. Ihre Macht kon­zentrierte sich stärker auf die einzelnen cosche und erhöhte sich im Fall eines Gleichgewichtes zwischen den verschieden Gruppen. Diese konnten zwar dominante Koalitionen bilden, jedoch nicht das Gesamt­potenzial der Cosa Nostra erreichen. Dementsprechend war die sizilianische Mafia besonders bis zum Fall der ersten Republik Italiens eher in der Position, mit höchsten politischen Entscheidungsträgern des Landes direkt zu verhandeln. Beispielhaft dafür sind die Christdemokraten Giulio Andreotti, sein ״Unter- handler" Salvatore Lima oder Marcello Dell'utri.

[75] Vgl.: Ciconte, Enzo: 'Ndrangheta. Soveria Mannelli 2008, s. 55. Frauen spielen im System der kalabrischen Mafia eine entscheidende Rolle. Sie vermitteln die 'Ndrangheta-Kultur an ihre Söhne und Töchter und übernehmen das Regiment, wenn der Clanführer, der capobastone, durch Flucht oder Gefängnis verhindert ist. Innerhalb der 'Ndrangheta konnten Frauen den Rang einer ״sorella d'umiltà" erreichen, nach Gratter¡ und Nicaso die höchste Position, die Frauen innerhalb aller Mafias gestattet war.

[76] Auf Blutsverwandtschaft basierende 'ndrina.

[77] Vgl.: Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus. Die unternehmerische Mafia. Frank- furta.M. 1989, s. 65. Die Begriffspaare traditionelle und moderne Mafia, bzw. neue und alte Mafia, wiederholen sich in der Geschichte der Mafia periodisch.

[78] Dem liegt die Kontroverse ״Transformation VS. Kontinuität" zugrunde. Der von Arlacchi beschriebene Wandel der traditionellen in die moderne und unternehmerische Mafia geht von einem begleitenden radikalen Umbruch innerhalb der Mafia aus. Arlacchi steht dabei in der Tradition einer ganzen Reihe von Forschern, die seit den fünfziger Jahren mit einer gewissen Regelmäßigkeit das Aussterben einer ״alten" und die Geburt einer ״neuen" Mafia feststellten. Heute weiß man, dass sich solche Wechsel periodisch wiederholen. Vertreter der kontinuierlichen Entwicklung beurteilen diesen Umbruch als zu schematisch. Demnach ließe sich Mafia-Geschichte nicht in allgemeingültige Transformationsmuster pressen.

[79] Vgl.: Jansen, Christian: Italien seit 1945. Göttingen 2007, s. 69ff.

[80] Vgl.: laquinta, Mario; Mezzogiorno, emigrazione di massa e sottosviluppo. Cosenza 2002, s. 138-140.

[81] Vgl.: Arlacchi, Pino: Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus. Die unternehmerische Mafia. Frankfurt a.M. 1989, s. 65.

[82] Vgl.: laquinta, Mario: Mezzogiorno, emigrazione di massa e sottosviluppo. Cosenza 2002, s. 138-140.

[83] Insgesamt flossen über die Cassa und ihre Nachfolgeorganisation Agensud (1986-1992) ca. 170 Milliar­den Euro in den Mezzogiorno. Dieser scheinbar enorme Betrag machte jedoch nur einen verschwindend geringen Anteil des Bruttonationaleinkommens aus. Das Nord-Süd-Gefälle konnten die Subventionen aus der Cassa nicht entscheidend verringern.

[84] Hausmann, Friederike: Kleine Geschichte Italiens von 1943 bis heute. Berlin 1999, s. 60.

[85] Der wachsende Wohlstand basierte vor allem auf finanziellen Rücksendungen der Emigranten, staatli­chen Sozialleistungen oder finanziellen Vorteilen, die aus Patronage-Beziehungen resultierten.

[86] Vgl.: Walston, James: The Mafia and Clientelism. Roads to Rome in post-war Calabria. London and New York 1988, s. 205.

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Der Aufstieg der `Ndrangheta. Aus dem Abseits Italiens zu einem Phänomen von nationaler Bedeutung
Veranstaltung
Neuer Geschichte
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
106
Katalognummer
V266454
ISBN (eBook)
9783668706835
ISBN (Buch)
9783668706842
Dateigröße
1001 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
aufstieg, abseits, italiens, phänomen, bedeutung
Arbeit zitieren
Alexander vom Dorp (Autor:in), 2011, Der Aufstieg der `Ndrangheta. Aus dem Abseits Italiens zu einem Phänomen von nationaler Bedeutung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/266454

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