Pragmatische Definitionen der Lüge


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

33 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Herangehensweisen an die Lüge in Linguistik und Sprachphilosophie

2. Die Lüge in der Pragmatik
2.1. Die Sprechakttheorie von Austin und Searle
2.1.1. Ist die Lüge ein Sprechakt?
2.1.2. Welche Sprechakte sind „lügentauglich“?
2.2. Implizite Lügen
2.2.1. Grice und die Konversationsmaximen
2.2.2. Präsuppositionen

Fazit

Bibliografie

Einleitung

In dieser Arbeit möchte ich die sprachlichen Mittel der Lüge untersuchen, es geht um eine Analyse der Sprache als Mittel der Täuschung. Sprachliche Handlungen, mit deren Hilfe es uns gelingt, zu lügen, sollen genau untersucht und klassifiziert werden. Ich werde mich hierbei auf eine Betrachtung der Sprache im Sinne der Pragmatik beschränken, das heißt, dass ich die kontextabhängige Bedeutung von Sprache und Äußerungen in bestimmten Äußerungssituationen untersuchen werde. Ich stütze mich dabei insbesondere auf die pragmatische Sprechakttheorie von John L. Austin und John Searle sowie Paul Grices Theorie der konversationellen Implikatur, mit deren Mitteln ich versuchen möchte, eine Definition der Lüge als sprachlicher Handlung aufzustellen.

Um den Begriff der Lüge oder des Lügens weiter einzugrenzen, komme ich jedoch nicht umhin, zunächst im zweiten Kapitel Definitionsversuche aus der Philosophie bzw. Sprachphilosophie mit in meine Betrachtung einfließen zu lassen. Hier soll auch betrachtet werden, was im allgemeinen Sprachgebrauch als „Lüge“ oder „lügen“ verstanden wird. Dafür stützte ich mich auf Untersuchungen aus der Prototypensemantik. Allgemein gilt es bei der Begriffsbestimmung, einen Mittelweg zwischen wissenschaftlichen Explikationen des Terminus “lügen” und Intuition und Sprachgefühl, kurz: unserem Alltagsverständnis, zu finden.

Im dritten Kapitel möchte ich versuchen, die Lügenhandlungen mit den Mitteln der Pragmatik weiter einzugrenzen.

Dazu gebe ich zunächst einen Überblick über die Sprechakttheorie John L. Austins und John Searles, und untersuche dann, ob die Lüge als eigenständiger Sprechakt gelten kann.

Im vierten Kapitel gehe ich der Frage nach, ob auch implizite Lügen möglich sind. Dies wird anhand von Grices Kooperationsprinzip und seinen Konversationsmaximen zu beweisen sein. Als letzten Punkt werde ich untersuchen, ob auch mit Präsuppositionen sprachliche Lügenhandlungen vollzogen werden können.

1. Herangehensweisen an die Lüge in Linguistik und Sprachphilosophie

Bevor damit begonnen werden kann, zu untersuchen, in welchem sprachlichen Gewand Lügen daher kommen, gilt es, den Terminus „Lüge“ bzw. „lügen“ weiter einzugrenzen und die notwendigen und hinreichenden Merkmale des Analysandums herauszuarbeiten.

Dazu müssen wir uns die Beschäftigung mit der Lüge in Philosophie und Sprachwissenschaft

genauer ansehen.

Ein fast universelles Interesse an der Lüge bzw. dem Lügen kann man der Philosophie bescheinigen. Erste detaillierte Studien über die Lüge machten bereits Demokrit, Sokrates, Platon und Aristoteles. Der große Held der Antike, Homers “Odysseus”, gilt als Meister in der Kunst der Täuschung und schmort deshalb in Dantes “Göttlicher Komödie” auf ewig in der Hölle. Besonders ausführlich und systematisch beschäftigte sich Aurelius Augustinus mit der Lüge. Augustinus geht in seiner Argumentation davon aus, dass die Sprache dem natürlichen Zweck diene, die inneren Gedanken mitzuteilen. Durch die Lüge werde dieser -gottgegebene- Zweck zerstört. Repräsentativ für das christliche Weltbild des abendländischen Mittelalters lehnt er jegliche Form von Lüge als Sünde und Gotteslästerung ab. Aus seinem Werk (“Über die Lüge” (395) und “Gegen die Lüge” (420)) möchte ich vor allem seine viel zitierte Lügendefinition hervorheben:

„Mendacium est ennuntiation cum voluntate falsum enuntiandi”(Augustinus 395, 7).

Frei übersetzt: „Die Lüge ist eine Äußerung mit der Absicht, falsch auszusagen.” In dieser Definition hebt Augustinus also als bedeutendstes Lügenmerkmal die Täuschungsabsicht des Sprechers hervor.

Zahlreiche Übereinstimmungen mit dem Werk von Augustinus weist die die Beschäftigung Thomas von Aquins mit der Lüge auf. Neu führt Aquin den Begriff der Wahrhaftigkeit ein, die er nebst anderen als Tugend anführt. Ihm und Augustinus ging es in erster Linie darum, den sündhaften Charakter von Lügen hervorzuheben.

Auch für Immanuel Kant ist die Wahrhaftigkeit eine Tugend, jedoch nicht, wie bei Augustinus, in der Relation der menschlichen Seele zu Gott, sondern vielmehr in der Relation zur Vernunft. Für Kant war die Wahrhaftigkeit eine Rechtspflicht, die ihrem Wesen nach keine Ausnahmen verträgt.

Denn [...] [die Lüge] schadet jederzeit einem anderen, wenngleich nicht einem anderen Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht. (Kant 1797, 202-203)

Für die linguistische Fragestellung dieser Arbeit möchte ich jedoch moralisch-ethische Fragen möglichst nicht eingehender betrachten.

Es soll nicht um ein moralisches Verständnis der Lüge gehen, sondern um die Fragen, welche Bedingungen notwendig und hinreichend sind, damit von einer Lüge gesprochen werden kann, was für eine sprachliche Handlung das Lügen ist und wie diese in die Sprechakttheorie und Grices Theorie der konversationellen Implikatur einzugliedern ist.

Was wir jedoch von Augustinus mit auf den Weg nehmen, ist seine Lügendefinition, die nahe legt, dass die Täuschungsabsicht ein wichtiges Merkmal der Lüge sei – so war es jedenfalls zu Zeiten des Augustinus. Untersuchungen aus der Prototypensemantik zeigen, dass dies so auch noch in unserem heutigen Sprachgebrauch zu sein scheint. In der Prototypensemantik geht man zunächst davon aus, dass jeder sprachliche Ausdruck eine endliche Liste von Eigenschaften hat. Das Zutreffen aller Eigenschaften auf dieser Liste sagt jedoch nicht unbedingt etwas über den Grad der Kategorienzugehörigkeit aus[1]. Die Linguisten Linda Coleman und Paul Kay haben die Semantik des englischen Wortes „to lie“ genauer untersucht. Ihre endliche Liste von Eigenschaften für den Ausdruck „to lie“ sieht folgendermaßen aus:

(i) p ist falsch
(ii) s glaubt, dass p falsch ist
(iii) Indem S p äußert, beabsichtigt er, A zu täuschen
(vergl. Coleman/Kay 1981, 28).

Eine prototypische Lüge wäre demnach durch (i) die Falschheit der Aussage, (ii) die Tatsache, dass sich der Sprecher dessen bewusst ist und durch (iii) seine Täuschungsabsicht charakterisiert.

In einer empirischen Untersuchung haben Coleman/Kay Probanden Geschichten vorgelegt, in denen verschiedenartige Lügenvorkommnisse beschrieben werden, um den Versuchspersonen anschließend die Frage zu stellen, bei welchem es sich um eine Lüge handle. Die Untersuchung ergab, dass für die Probanden das wichtigste Kriterium für eine Lügenhandlung das Merkmal (ii) (s glaubt, dass p falsch ist) war. Nicht ganz so wichtig beurteilten die Probanden (iii), also die Täuschungsabsicht des Sprechers, am unwichtigsten befanden sie schließlich das Merkmal (i) (p sei falsch).[2]

Eine der ersten linguistischen Annäherungen, die sich explizit mit der Lüge beschäftigt, legte Harald Weinrich im Jahr 1966 vor, zu einer Zeit also, als eine pragmalinguistische

Methodologie noch nicht zur Verfügung stand. Weinrichs “Linguistik der Lüge” ist eine Antwort auf eine Preisfrage der Deutschen Akademie der Wissenschaft “Kann Sprache die Gedanken verbergen?”. Seine Definition der Lüge stellt er bewusst in Gegensatz zu der von Augustinus:

Wenn hinter einem (gesagten) Lügensatz ein (ungesagter) Wahrheitssatz steht, der von jenem kontradiktorisch, d.h. um das Assertionsmorphem ja/-nein, abweicht. (Weinrich 1966, 41).

Hier nimmt Weinrich keine Differenzierung zwischen wahr und wahrhaftig vor, er nimmt also keinerlei Bezug auf die subjektive Einstellung und somit die Täuschungsabsicht des Sprechers.

Was Harald Weinrich mit seiner Lügendefinition nicht gelang, gelingt Paul Grice mit seinen Konversationsmaximen: Mit ihnen läßt sich die Lüge in ihren Abstufungen, wie wir sie im alltäglichen Sprachgebrauch finden, darstellen und vom Irrtum (oder auch von z.B. der Ironie) abgrenzen. In Kapitel 3.2. werden wir uns das genauer ansehen.

Obwohl weder Ludwig Wittgenstein noch John L. Austin und John Searle je ein Werk vorgelegt haben, das sich explizit mit der Lüge beschäftigt, haben sie sich dennoch intensiv mit der Lüge in sprachwissenschaftlicher Hinsicht beschäftigt.

Ihnen gemeinsam ist, dass sie sich nicht auf wissenschaftliche Wahr- oder Falschheitsbehauptungen stützen, sondern den Alltagsgebrauch der Sprache in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellen. Dabei gehen sie linguistisch unterschiedliche Wege.

Während, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, Austin und Searle eine systematische Klassifizierung des normalen Sprachgebrauchs versuchen, ist das Lügen für Wittgenstein zunächst ein „Sprachspiel, das erlernt sein will, wie jedes andere auch“[3]. Zwar gehört für Wittgenstein zur Lüge ein bestimmtes Verhalten, die Regeln dieses Lügenverhaltens sind für ihn jedoch unendlich und lassen sich nicht aufzählen, denn:

Regeln zu folgen lernen wir durch ihre Anwendung, dadurch, dass wir bestimmte Tätigkeiten ausführen. (Harras 1983, 101).

Erst durch ihren Gebrauch erlangen diese Regeln kommunikative Bedeutung. Erst durch das Erlernen dieser Regeln, oder, wie Wittgenstein sagen würde, „Sprachspiele“, können wir uns untereinander verständigen. Wittgenstein beschreibt die Lüge als Sprachspiel zweiter Ordnung:

Ein Kind muss viel lernen, ehe es sich verstellen kann. (Ein Hund kann nicht heucheln, aber er kann auch nicht aufrichtig sein.)

(Wittgenstein 1949, II. S. 577).

Ein Kind, das so tut, als hätte es Schmerzen, und laut schreit, muss zunächst einmal gelernt haben, dass die Eltern denken, es habe Schmerzen, wenn es schreit. Das Kind kann jedoch auch einfach gelernt haben, dass die Eltern sich um es kümmern, sobald es schreit. In diesem Fall läge keine Verstellung vor (das Kind tut nicht so, als habe es Schmerzen), es spielt nur das erlernte Spiel: Ich schreie, und das führt dazu, dass meine Eltern sich um mich kümmern. Das Kind muss erst lernen, dass die Eltern sich um es kümmern, wenn es Schmerzen hat, um so zu tun, als hätte es Schmerzen, damit die Eltern sich um es kümmern.

In “Lügen” (1982) versucht Gabriel Falkenberg eine detaillierte linguistische Begriffsbestimmung der Lüge, in der er Lügen als sprachliche Handlungen klassifiziert (vergl. Falkenberg 1982, 1 und 14). Falkenberg versucht, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu bestimmen, die den Lügenakt determinieren. Seine Begriffsbestimmung kann als Diskussionsgrundlage für diese Arbeit dienen. Falkenberg geht von der Proposition p aus, über die ein Sprecher S einem Hörer H gegenüber eine lügenhafte Aussage macht:

S sagt dass p, obwohl nicht-p. Im Gegensatz zu Weinrich muss hier nicht-p nicht zwangsläufig das Gegenteil von p sein, sondern nur nicht mit p identisch sein. Falkenberg stellt 5 Variablen einer pragmatischen Lügenhandlung auf, denen diese zu Grunde liegt.

Lügenhandlungen sind demnach:

(1)personal, d.h. Es ist immer jemand, der lügt
(2)sozial, damit sind Selbst- und Lebenslüge aus den Betrachtungen ausgeschlossen
(3)temporal und somit datierbar
(4)intentional, sie geschehen also absichtlich,
(5)verbal, also laut- oder schriftsprachlich; ggf. können nonverbale Äußerungen adäquat durch eine sprachliche Äußerung ersetzt werden.

(Falkenberg 1982, 14ff.)

Nicht in seine Lügenvoraussetzungen mit aufgenommen hat Falkenberg jedoch, dass die Lüge zweckgerichtet ist, d.h. dass der Sprecher ein Lügenmotiv hat und mit seiner Aussage ein weiterreichendes Ziel verfolgt.

Im Gegensatz zu Augustinus ist für Falkenbergs pragmatische Untersuchung der Lüge – und dies soll auch für die vorliegende Arbeit gelten – die Selbstlüge (oder auch die Lüge zu Gott) deutlich als Analysandum ausgeschlossen. Wir beschränken uns auf Lügenhandlungen in der Kommunikation, die die Absicht verfolgen, den Gesprächspartner mittels von Sprache zu täuschen.

Als weitere Werke aus der linguistischen Forschungsliteratur, die sich explizit mit der Lüge befassen, seien noch Bettina Gieses “Untersuchungen zur sprachlichen Täuschung” (1992) und Simone Dietz` “Der Wert der Lüge” (2002) genannt. Giese nimmt eine Typologie sprachlicher Täuschungen vor, bei der sie sich auf in vielen Punkten auf Falkenbergs theoretische Vorarbeit stützt. Die Lüge behandelt sie nur kurz als einen Spezialfall sprachlicher Täuschung.

Die Philosophin Simone Dietz hat sich auch in linguistischer Hinsicht umfassend mit der Lüge auseinander gesetzt: Ihr geht es in erster Linie um eine Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Moral. Im ersten Teil ihrer Arbeit nimmt sie jedoch Bezug auf den Sprechakt des Lügens, die Sprechakttheorie, Austin, Searle, Grice und Wittgenstein. Sie geht auch näher auf den von Thomas von Aquin eingeführten Begriff der Wahrhaftigkeit ein, wobei sie die Wahrhaftigkeit von der Wahrheit durch ihren Bezug auf das persönliche Bewusstsein abgrenzt.

Mimische oder lautmalerische Mittel unserer Kommunikation, wie ein verlogenes Lachen oder falsche Empörung, sind in dieser Arbeit aus der Betrachtung ausgeschlossen. Auch spricht man häufig von “Bildern, die lügen können”. Diese Bilder, die in unserer multimedialen Welt mittlerweile fast täglich über unsere Bildschirme flimmern (sei es um die strategische Kriegsführung ideologisch zu untermauern oder um unsere Konsumlust anzukurbeln) werde ich ebenfalls nicht in meine Untersuchungen aufnehmen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle eine terminologische Abgrenzung vornehmen: Für Bilder, Mimik oder Gestik verwende ich den allgemeineren Terminus “Täuschung”, erst wenn ich eine Täuschung verprachliche, spreche ich von einer „Lüge“ oder „Lügenhandlung“. Zwar ließen sich nach Paul Grices Analyse des Meinens[4]Gesten wie Nicken und Kopfschütteln oder bestimmte Zeichensprachen unter Umständen in unsere Betrachtungen mitaufnehmen, doch kann ich darauf leider nicht weiter eingehen, da dies den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde.

[...]


[1] Vergleiche: Harras/Haß/Strauß: Wortbedeutungen und ihre Darstellung im Wörterbuch, S. 58.

[2]Ebd.

[3]Vergleiche Wittgenstein 1949, §249.

[4]Vergleiche Grice 1957, 13.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Pragmatische Definitionen der Lüge
Hochschule
Universität zu Köln  (Philosophie)
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
33
Katalognummer
V266395
ISBN (eBook)
9783656565239
ISBN (Buch)
9783656565178
Dateigröße
765 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
pragmatische, definitionen, lüge
Arbeit zitieren
Eva Lippold (Autor:in), 2007, Pragmatische Definitionen der Lüge, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/266395

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