Scharnhorst, ein General des Fortschritts?


Essay, 2013

134 Seiten


Leseprobe


SCHARNHORST

Ein General des Fortschritts ?

“Meine Karriere ist ganz mein eigen Werk, vom zehnten Jahre an.”

(mit einem Bleistift auf einen Zettel für seine Tochter geschrieben,

als er im März 1809 wegen eines Nervenfiebers mit dem Tod rang.

Das Nervenfieber wurde ausgelöst durch ungerechtfertigte Verleum-

dungen durch den König anläßlich der sogenannten Pillauer Affäre).

Wie der spätere preußische Staatskanzler Freiherr von Hardenberg kam auch Scharnhorst aus

dem Hannoverschen, aber seine soziale Herkunft war eine ganz andere. Als Sohn des Kleinbauern (Brinksitzers) und Dragonerunteroffiziers Ernst Wilhelm Scharnhorst (7. Oktober 1723 bis 5. August 1782) am 12. November 1755 in Bordenau (Kreis Neustadt) geboren 1., nach seinem Großvater Gerhard Johann David getauft, wird er später in Offizierskreisen stets ein Fremdling bleiben, erst verachtet, dann beneidet. Es war damals und ist auch heute noch ungewöhnlich, dass ein Bauernsohn höchste Positionen bis zum General bekleidete. Das Bäuerliche blieb an ihm haften, noch 1812 schrieb Ernst Moritz Arndt: “Einen solchen Mann mag ich leiden, treu, grad, wahr wie ein Bauersmann, und lustig und fröhlich wie kein anderer. Ich sage Dir, ich habe lange nicht so Liebes und Tüchtiges gesehen als diesen alten Soldaten.” 2. Als Ernst Moritz Arndt diesen Eindruck gewann, war Scharnhorst bereits General geworden, aber bis dahin war es ein langer, oft beschwerlicher Weg. So hatte er zunächst keine geordnete Schulbildung erhalten. Mit sieben Jahren ging er zu einem kirchlichen Schulmeister in Anderten, der ihm die elementaren Anfänge des Lesens, Schreibens und Rechnens beibrachte, sodann betrieb er autodidaktische Studien und äußerte sich später bedauernd, dass er in fast keiner Wissenschaft einen mündlichen Vortrag genossen hätte. Mit zehn Jahren muß er miterleben, wie das elterliche Vorwerk Hämelsee völlig abbrannte. Als seine Eltern einen Erbstreit gewannen, hatten sie endlich etwas Geld, um ihrem Sohn Privatunterricht in Mathematik zu finanzieren. Diese zehn Jahre und sieben Monate dauernde „Kabale“ hatte ihm schon in jungen Jahren gezeigt, wieviel „Katzbalgerei“ - ein von ihm gebrauchtes Wort - es in dieser Welt gibt. Und auch in alten Jahren blieb er dabei, diese werde die Vernunft immer überwiegen. In Hannover kam er nach Aussage des Hannoverschen Historikers Pertz, der Biografien über den Freiherrn vom Stein und den Feldmarschall von Gneisenau geschrieben hatte, mit Rehberg, einem Sekretär der Hannoverschen Staatskanzelei, Dr. h.c. der Göttinger Universität und Brandes zusammen, politische Theoretiker, letzterer mit philosophischen Neigungen, die unter dem Einfluß des konservativen Ideologen Edmund Burke standen, der einer der schärfsten Kritiker der französischen Revolution war. Sein Widersacher Thomas Paine bezeichnete sein Wirken als “Darkness, attempting to illuminate Light“ (Dunkelheit, die versucht, das Licht zu erleuchten). Prägend wurde sein Aufenthalt in der Theoretischen Artillerieschule des Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe, die er mit 17 ½ Jahren nach einem Bittbrief an (und nach einer Prüfung am 29. April 1773, die beim Bauernsohn natürlich noch Lücken aufzeigte, durch) den Grafen bezog, verpflichtet hatte er sich beim Ingenieur- und Artilleriekorps für zehn Jahre, aber er wird nur fünf Jahre (von 1773 bis 1777) auf dem Wilhelmstein bleiben, auf dem zwölf Kadetten unterrichtet wurden. Vormittags war die Teilnahme am Unterricht Pflicht, nachmittags freiwillig. 3. Aus dem zunächst Mittelmäßigen wird bald ein Musterschüler. Der Freidenker Graf Wilhelm, der in Schaumburg-Lippe mit seinen 20 000 Seelen (davon 1200 Soldaten) von 1748 bis zu seinem Tode 1777 regierte, hatte auf einer in den Jahren 1761 bis 1767 künstlich angelegten Insel im Steinhuder Meer eine Liliputfestung bauen lassen, die als kleine Pflanzschule für die technischen Waffengattungen gedacht war. Über das Fachspezifische hinaus vermittelte er seinen Schülern, fremde Autorität stets auf ihren Gehalt zu prüfen, ihr nicht blind zu folgen. Da dieser Graf, den Goethe einen „wundervollen Mann“ nannte, der vielen als Sonderling vorkam und der das Außenseitertum an seinen Schüler vererben sollte, sehr bedeutsam für das Leben Scharnhorsts wurde, sollten wir etwas bei ihm verweilen. In London geboren, in Genf konfirmiert, in Leiden und Montpellier ausgebildet, hatte er durch Reisen nach England, Italien und Ungarn seine Weltkenntnisse erweitert. England durchstreifte er als Bettler, um Land und Leute wirklich kennenzulernen. Er beherrschte vier Sprachen fließend, las viel und wandte sich auch den Naturwissenschaften zu. Der bekannte, in Hannover praktizierende Arzt Zimmermann hatte durch sein Buch „Über die Einsamkeit“ überliefert, dass er bei seinem ersten Zusammentreffen mit dem Grafen einen zweistündigen Vortrag über Hallers große Physiologie über sich ergehen lassen musste. Er erkannte die zukünftige Bedeutung der Artillerie und sein Spitzname „Kanonengraf“ kam nicht von ungefähr, das Artilleriewesen wurde nach dem Buch von Struensee gelehrt. Im Siebenjährigen Krieg errang er mit britisch-hannoverschen Truppen, die auf der Grundlage der Konvention von Westminster fochten, bei Minden einen Sieg über die Franzosen. Bei der Belagerung von Kassel harrte er bei rauhem und schmutzigen Aprilwetter mit einfachen Soldaten aus und verzichtete auf das Privileg des Rasierens. 4. Als (vom englischen Kabinett) empfohlenen Organisator der portugiesischen Armee im Range eines „Generalissimus der Armeen Seiner Allergetreuesten Majestät des Königs von Portugal“ nimmt er noch heute einen bedeutenden Platz in der Geschichte Portugals ein. Das Land hatte sich damals der mit Frankreich verbündeten Spanier zu erwehren. Schon in Lissabon hatte der Graf, ab 1762 Oberbefehlshaber des portugiesischen Heeres, eine Offiziersschule für das portugiesische Heer gegründet. In seinem kleinen “Musterländle” Schaumburg-Lippe sorgte er für die Errichtung einer Seidenfabrik und einer Stückgießerei. Schon um 1760 gab es in seinem Duodez eine staatliche Armenfürsorge, Waisenhäuser, eine Brandversicherung sowie eine Krankenkasse, die die Rezepte beim Apotheker bezahlte. Von den militärtheoretischen Gedanken des Grafen wissen wir nur aus der einzig überlieferten Abhandlung: “Über die Kunst des Verteidigungskrieges”, die nur in wenigen Exemplaren erschienen war. Unter dem Einfluß der Aufklärung stehend, zum Beispiel durften auf dem Wilhelmstein Offiziersanwärter nicht mehr geschlagen werden, war auch für ihn nur noch der Defensivkrieg sittlich gerechtfertigt. (Mémoires pour servir à l‘ art militaire défensif 1775/76). 5. Jeder Angriff sei unter der Würde eines rechtschaffenden Mannes. Scharnhorst wird später immer vertreten, dass es sich im Krieg um die Vernichtung der Eindringlinge handelt, es gehe nicht um die Eroberung von Territorien. Die Abschaffung der Armee aber war tabu, den Ultrapazifismus der Aufklärung erachtete er als illusionär. Er betonte mehrmals, dass es für den fähigen Offizier darauf ankomme, den Ehrgeiz des je einzelnen Soldaten zu wecken, auf dass er mit einer inneren Anteilnahme kämpfe. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Graf Wilhelm neben dem stehenden Heer teilweise bereits die Bewaffnung seiner Bürger durchgeführt hatte und in seinem Kriegsplan auch den Bauern auf den umliegenden Feldern Verteidigungsaufgaben zuwies. Jeder 16. Bewohner in seinem Musterländle war Soldat. Die vorgesehene Kampfweise war der Tirailleurtaktik 6. gar nicht unähnlich, getragen wurde Wilhelms Konzept vom Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht. Seine soldatischen Gedanken kreisten um das Problem, wie verteidige ich mein kleines Land gegen ein größeres ? Und Scharnhorst hat sich oft an Schaumburg-Lippe erinnert, als er vor dem kolossalen Problem „Napoleon“ stand. Graf Wilhelm hatte rege Beziehungen zu den beiden bedeutendsten Vorkämpfern der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland im 18. Jahrhundert, zu Justus Möser (1720 bis 1794) und zu dem Philosophen Thomas Abbt (1738 bis 1766), der die Schrift „Vom Tode für das Vaterland“ verfasst hatte, stand über das rein Militärische hinaus auch in Kontakt mit Mendelssohn und Voltaire. Seine Position als Fürst begriff er im Sinne des Naturrechts als Auftrag zur Wohlfahrt im Sinne der Herderschen Beförderung der Humanität. Herder, der Abbt zugeneigt war und über ihn geschrieben hatte, war von Wilhelm als Pfarrer nach Bückeburg berufen worden. Ist es daher verwunderlich, dass auf der Feste Wilhelmstein Scharnhorst mit den Büchern von Lessing und Goethe bekannt wurde ? Mit den Gedichten Schubarts ( u.a. die Hymne über Friedrich den Großen)und mit Edward Youngs „Nachtgedanken“. Aber auch mit handwerklichen Fähigkeiten, auch das ein Zug der Aufklärung, in Frankreich hatten ja bekanntlich die Enzyklopädisten in ihrem großen Lexikon zum ersten Mal auch alle damaligen Handwerke abgehandelt und bildlich dargestellt. Es versteht sich von selbst, dass der Graf gar nicht auf den Gedanken kam, seine Soldatenkinder nach Amerika zu verkaufen, wie das damals in anderen deutschen Kleinstaaten gang und gäbe war. (30 000 Deutsche wurden von den englischen Kolonialherren mit 9,254 Millionen Pfund Sterling gekauft, Hessen-Kassels Landgraf Friedrich II. (1720 bis 1785) tat sich bei diesem schäbigen Geschäft besonders hervor, aber nicht nur Hessen-Kassel, auch Hanau, Waldeck, Braunschweig, Ansbach-Bayreuth und Anhalt-Zerbst). Bei einem friedlichen Gang der Dinge wäre dieses vielleicht alles Episode geblieben, aber durch die Turbulenzen der napoleonischen Ära wurde Scharnhorst später gezwungen, sich an die sich abzeichnenden Konturen einer Wehrverfassung für nur 1 200 Soldaten in Bückeburg zu erinnern. Diese Mikrotruppe sollte bald eine geschichtliche Bedeutung bekommen, die weltbewegend zu nennen ist. Wer konnte in den Jahren vor 1800 ahnen, dass das folgende Jahrhundert gleich zu Beginn eine blutige „große Menschenkonsumtion" (Scharnhorst) mit sich bringen würde ? Er hatte übrigens selbst zwei Aufsätze über seinen Wilhelmsteinaufenthalt verfasst, einen über den Grafen, dem noch Friedrich der Große den Schwarzen Adlerorden verliehen hatte, und einen 1781/82 in Professor Schlözers „Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts“ veröffentlichten über die Schule (Von den Militäranstalten des verstorbenen regierenden Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe). Scharnhorst rühmt an ihm vor allem, dass es des Grafen ständiges Bemühen war, sich und die Welt mehr aufzuklären. Er experimentierte ruhelos, legte großen Wert auf einen durch Wettbewerb zu steigernden persönlichen Ehrgeiz, auch das hatte sich bei Scharnhorst tief eingeprägt und wird noch der preußischen Armee zur Auflage gemacht. „Man wird selten so viel unbedingliche Güte des Herzens mit so vielen großen Eigenschaften des Geistes wie bei ihm vereint sehen...Er hat viele junge Leute glücklich gemacht...Ich kann ohne eine Art von Enthusiasmus mich nicht der Anordnungen dieses Herren erinnern“. 7. Auch der junge Jurist Theodor Schmalz, dessen Schwester Scharnhorst am 24. April 1785 in der Bordenauer Kirche ehelichen wird, ein Jahr, nachdem er Leutnant geworden war, hatte einen viel beachtete „Lebensbeschreibung des Grafen zu Bückeburg“ veröffentlicht. Er sah in dem Grafen eine Art „Friedrich der Große in Niedersachsen“. Einer der besten Schüler des Grafen war 22 Jahre alt, als die Schule auf der Wilhelmsfeste nach dem Tode des Grafen am 10. September 1777 nach 12jähriger Existenz geschlossen werden mußte. Er hatte gute Noten bekommen, im sprachlichen Zweig war er eine Nuance schlechter. Graf Wilhelm hatte keine direkten Erben. Als Gneisenau später in Bückeburg weilte, studierte er die Handschriften des Grafen und staunte nicht schlecht: „Unsere ganze Volksbewaffnung vom Jahr 1813, Landwehr und Landsturm, das ganze neue Kriegswesen hat der Mann ausführlich bearbeitet...Alles hat er schon gewußt, gelehrt, ausgeführt...Was ist das für ein Mann gewesen, dessen Geist der Zeit so weit voraus...die größten Kriegsgedanken sich entwickelt, an deren Verwirklichung zuletzt die ganze Macht Napoleons eigentlich zusammengebrochen ist“. 8.

Scharnhorst betätigte sich zunächst durch den Ruf des hannoverschen Generals Emmerich Otto von Estorff ab Oktober 1778 als Lehrer im Range eines Fähnrichs an der Militärschule in Northeim und nach vier Jahren ab Juli 1782 als zweiter Lehrer an der neugegründeten Artillerieschule Hannover, an der er zugleich auch einen Vertrag als Artillerie-Bibliothekar bekam. Rasch vermehrte er die Anzahl der Bücher. Er unterrichtete „nach der Methode des hochseligen Grafen“ in so verschiedenen Fächern wie Mathematik, Ingenieurswissenschaft, Zeichnen, Fortifikationslehre, Taktik, Geschichte und Geografie. Wert wurde auf die Zusammenarbeit der Schüler untereinander gelegt. In Northeim erfand er 1780 eine Neuerung am Mikrometer-Fernrohr, so dass jetzt auch zugleich die Entfernung eines jeden Objektes gemessen werden konnte und veröffentlichte ein dreiteiliges “Handbuch für Offiziere in den anwendbaren Theilen der Kriegswissenschaften” (1787 bis 1790). Aber er wies auch seine Schüler daraufhin, dass sie mehr als ein Handbuch zu Rate ziehen sollten, „was bei dem einen dunkel, wird bei dem anderen helle“. Dieser Lehrer lernte, er besuchte in der wegen ihrer Praxisbezogenheit fortschrittlichen Göttinger Universität Vorlesungen über die Kriegsgeschichte, u.a. bei dem Geschichtsprofessor Schlözer, bei dem er die Vorlesung „Lehre von den Staatsverfassungen“ hörte und hatte auch selbst kriegsgeschichtliche Vorlesungen auf Honorarbasis gehalten. Das „Göttingsche historische Magazin“ las er regelmäßig. Den in ihm erschienenen Aufsatz „Über den Wandel des Ehrbegriffs unter den Völkern“ von Christoph Meiners hatte er auch in seinem „Militärischen Journal“ abgedruckt, auch eine Rede, die Karl von Grothaus 1778 über das Militär in Gegenwart des hessischen Prinzen Carl, General en chef der dänischen Armee, gehalten hatte. 9. Die französische Geheimpolizei Fouchés führte ihn als „ancien professeur de Goettingen, homme savant“. Zudem fand er noch Zeit, eine Studienreise durch Deutschland zu unternehmen, während der er auch die preußische Armee unter die Lupe nahm, immerhin bemerkenswert die Äußerung, dass sich die preußischen Offiziere irren, alles durch Disziplin regeln zu wollen, man könne es auch zu weit treiben. In Spandau und Potsdam besuchte er Gewehrfabriken. Schwerpunktmäßig nahm Scharnhorst auf dieser Reise die Artillerie in Augenschein, auch die österreichische in Wien und Prag. Er war äußerst ehrgeizig, „... das Gefühl meiner Kräfte, etwas Außerordentliches tun zu können, wird nicht aufhören, mich zu quälen“. 10. In Hannover waren seine ab dem Herbst 1783 gehaltenen Vorlesungen so geschätzt, dass er sie geradezu halböffentlich hielt. Der Freiherr Knigge erwähnt seinen Namen ausdrücklich in seiner Reisebeschreibung. 11. Die Weiterbildung durch Theorie und Vorlesung fand im Winterhalbjahr statt, im Sommer praktizierten die Schüler draußen. Er überzeugte durch die Kraft des historischen Beispiels, die Kriegsgeschichte war ihm nicht nur Quelle der Erkenntnis, sondern auch überzeugender, sich aus Tatsachenzusammenhängen bildender Argumente. „Nichts ist...gefährlicher als eigene Erfahrung ohne Benutzung der Erfahrung, welche die Kriegsgeschichte uns darbietet“. 12. Sein Hausschatz an historischen Beispielen, aus dem er sich souverän bediente, war seine unbedingte Stärke. Er war also ein glänzender Militärhistoriker, aber ein nicht so glänzender Militärpädagoge. Einhellig wird überliefert, dass er in seiner Ausdrucksweise sehr unbehilflich wirkte, ein langsamer Hannoverscher Dialekt kam hinzu. Clausewitz überlieferte uns die Mängel: Weitläufigkeit, Unbestimmtheit und Langsamkeit, und fügte hinzu, dass er selbst diesen Mangel seines Geistes sehr gut kannte. Sein Schüler Strantz weiß zu berichten, sein Vortrag war nicht belebend, war eintönig. 13. Dieser „Mangel der Geläufigkeit der Sprache“ wirkte später auf seinen politischen und militärischen Missionen hemmend auf seinen Redefluß. Es klingt bitter, wenn er in einem Brief aus Memel vom 17. November 1827 an Clausewitz schreibt: „Ich bin nicht dazu gemacht, mir Anhang und Zutrauen durch persönliche Bearbeitung zu verschaffen“. Auch im Schriftlichen waren Unvollkommenheiten vorhanden. Er ließ sich in jungen Jahren von seinen Geschwistern jeden Tag eine Seite aus seinem Lehrbuch diktieren und verglich dann, unterstrich das Falsche. Liest man heute Texte von ihm, so sind sie stellenweise holprig. Er, jetzt weitgehend Autodidakt, ging mehreren militärwissenschaftlichen Zeitschriftenprojekten nach, so erschien 1782 die Zeitschrift „Militär-Bibliothek“, die sogar in Lissabon gelesen wurde und die 1785 in „Bibliothek für Offiziere“ umbenannt wurde. Ihr Erscheinen wurde noch im gleichen Jahr eingestellt. Ab 1788 erschien dann das “Neue Militärische Journal”, in dem er später die Siege der französischen Revolutionsarmeen als begründet in den rückständigen inneren Verhältnissen der royalistischen Staaten deutete. Schon in diesen Zeitschriften vertrat er die Auffassung, dass insbesondere die preußische Armee die Ursache staatlichen Wohlstands sei, diese blieb durchgehend in seinen Schriften erhalten. (Nebenbei schrieb er eine gründlich durchdachte Darstellung der Belagerung von Gibraltar). Schon hier zeigte sich eine Abkehr von der rein militärischen Denkweise. Die Offiziere belächelten den gelehrten Sonderling, der seinerseits von einer wahren „Geistessperre“ in unserem Land sprach. Dieser Kastengeist veranlaßte den Freiherrn vom Stein von Hannover als vom „deutschen China“ zu sprechen. Die „ (chinesisch-aristokratischen) Eliten“ ignorieren in ihrer Ständeverkalkung seine Studien völlig und diese geistige Mißhandlung des Bauernsohnes durch den Hannoverschen Adel mag der ausschlaggebende Grund gewesen sein, nach zwei Jahrzehnten in preußische Dienste zu treten, von der Provinz nach Berlin zu gehen. Eine Frucht der französischen Revolution war die Erkenntnis des engen Wechselverhältnisses zwischen Politik und Krieg, Napoleon äußerte sich noch auf St. Helena, dass die Politik unser Schicksal sei. Scharnhorst wußte, dass dort keine großen Dinge geschehen, wo nicht Politik und Kriegskunst innigst miteinander vereint sind. Der General hat tiefere Einsichten in das Militärwesen, muß aber auch politische haben, der Staatsmann hat tiefere Einsichten in das Wesen der Politik, muß aber auch militärische haben. Der Krieg genügt sich also nicht selbst, er folgt den gesellschaftspolitischen Konstellationen wie umgekehrt diese auf ihn wirken. Die Politik hatte die Religion als die die Menschen prägende Bestimmungsinstanz verdrängt, Rousseau erkannte dies als erster durch seine Machiavellistudien während seines Venedigaufenthaltes, 1743 und eine Folge der Säkularisation war die zunehmende Bedeutung der Gesellschaftswissenschaften, die mit der der Naturwissenschaften Hand in Hand ging. Aus einer Drillmaschine wurde der Soldat durch die Totalisierung des Krieges (Zugriff auch auf alle zivilen Kraftquellen) ein Gesellschaftswissenschaftler, primär ein Pädagoge. Nach den Niederlagen von Jena und Auerstädt wurde die Armee erneuert, statt stets fluchtwilligen Vagabunden und Abenteurern setzte sie sich sozial anders zusammen und die Stockdressur konnte entfallen. Offiziere wurden jetzt „Erzieher und Anführer“ eines „achtbaren Teils der Nation“. Insbesondere durch die Aufklärung gewann im politischen Leben ein Element zunehmend an Gewicht: die öffentliche Meinung und in der Tat gab es einen Erlaß des Pariser Konvents, auch einen antiroyalistischen Propagandakrieg zu entfachen. Die ersten „Ingenieure der Seele“ traten auf, denn die Messe wurde nicht mehr in lateinischer Sprache gelesen, stattdessen bildeten sich zivile und soldatische Lesegesellschaften. In Hannover gehörte Scharnhorst der Gansschen Lesegesellschaft im Hause der Buchhandlung Hahn an, er war auch an ihrer Umgestaltung zu einem „Museum“ beteiligt. Aufsätze und Übersetzungen besserten den kargen Sold des Leutnants auf. Zeitlebens vermißte man an ihm den soldatischen Habitus, er glich, nach einem Wort seines Freundes Professor Steffens mehr einem „Gelehrten in Uniform“, ja einem Rousseau in Uniform. Rousseau wird später in Berlin angerufen bei der Gründung der militärischen Gesellschaft. Dessen Pathos für Wahrheit teilte er. Der Wahlspruch des Philosophen lautete: „Vitam impendere vero“ („Sein Leben dem Wahren hingeben“). Scharnhorst schrieb an den General Georg Friedrich von Tempelhoff: „Ich habe einen außerordentlichen Enthusiasmus für Wahrheit und Gerechtigkeit, und ich liebe die, welche so wie ich denken, wie meine Brüder“. 14. Er las begeistert Matthias Claudius, der an seinen Sohn geschrieben hatte, dass sich die Wahrheit nicht nach uns, wir uns aber nach ihr richten müssen. Aber politisch log er viermal im Sinne einer Kriegslist: das Krümpersystem war aus Bauernschläue geboren, im Frühjahr 1811 ließ er Truppen in die Festungen Kolberg und Pillau einmarschieren, um angeblich eine Landung der Engländer abwehren zu können. Und dann zur Täuschung die falschen Angaben beim französischen Gesandten in Berlin, er sei immer ein Bewunderer Napoleons gewesen und trete deshalb aus dem preußischen Staatsdienst aus. In Wirklichkeit übernahm er nach seinem Ausscheiden Missionen, die geheim bleiben mussten. Seinem traditionsverhafteten König wollte er unterjubeln, dass die Franzosen in ihrer Revolution durch Carnot nur das preußische System des Kantonreglements des Soldatenkönigs von 1733 übernommen hätten. Klaus Hornung sieht Scharnhorst dagegen als einen entschiedenen Kritiker Rousseaus, der den Gesellschaftsvertrag als zu individualistisch ausgerichtete Fehlkonstruktion ablehnte und der das allgemein Beste nicht ermögliche - allein, Hornung schreibt selbst: „Jetzt, wo die Nation mit Unterjochung bedroht wird, bedurfte es des Aufrufs des allgemeinen Willens, der volonté generale, wie Scharnhorst ohne Bedenken formulierte, einer mündigen Staatsbürgernation. Eine Epochengrenze war zu überschreiten“.15. Allein, Scharnhorst sagt selbst: „Der einzelne muß oft dem Allgemeinen aufgeopfert werden...“ 16. Die Widersprüchlichkeit Rousseaus entzieht sich eben politischen Lagerzuweisungen, sein Denken ist viel zu eruptiv, sprunghaft und schlüpfrig und stellt noch heute der Rousseauforschung Aufgaben, die kaum zu lösen sind. Die Stellung von Scharnhorst zu Rousseau kann daher nur ambivalent sein. In der Einleitung seines Handbuchs der Artillerie finden sich wichtige Bemerkungen zur menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit: „...daß wir nie auf einmal zu einer großen Vollkommenheit gelangen und nur nach und nach uns derselben durch Theorie, Versuche und Erfahrungen nähern können, und daß wir nicht müde werden dürfen, diesen Weg zu verfolgen, indem wir auf demselben, wenn auch noch so langsam, dennoch weiter kommen, als wir anfangs zu glauben Ursache hatten“. 17. Es ist von einem Schneckengang die Rede und davon, dass wir uns einer großen Vollkommenheit nur annähern können. Beides steht im Gegensatz zu dem markantesten Theoretiker und zu dem markantesten Praktiker der französischen Revolution, zur Metanoia Rousseaus, der 1749 auf dem Weg nach Vincennes, plötzlich wie von tausend Lichter geblendet, erkannte, dass der Mensch von Natur aus gut ist und dass es nur die Institutionen sind, die ihn verderben - es ist ganz wichtig, die Plötzlichkeit zu betonen - und zur unbedingten, absoluten Perfektibilitätsgläubigkeit Robespierres. Von 1782 – 1793 ging Scharnhorst völlig in seiner bis ins 37. Jahr ausgeübten Lehrtätigkeit auf. Seinen Schülern vermittelte er, dass die Ausarbeitung eines kleinen Aufsatzes oft lehrreicher für den Verfasser sei als die Lektüre eines dicken Buches. Da haben wir den ganzen Scharnhorst als Pädagogen. 18. 1792 erschien das praxisorientierte „Militärische Taschenbuch zum Gebrauch im Felde“, in dem er die Infanterie zur bedachten Schießweise anhielt. 19. Der in diese Zeit fallenden bürgerlichen Revolution der Franzosen stand er reserviert gegenüber. In einem Brief an Clausewitz aus dem Jahr 1807 findet man die Äußerung, dass er eine “Abneigung gegen die ewige Umformung der Verhältnisse” 20. habe. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass Scharnhorst noch 1792 für den Fortbestand des friderizianischen Kriegswesens eintrat, ja dass er den Bürger sogar für unfähig hielt, Krieg zu führen. Er hielt den „Unterricht des Königs von Preußen an die Generale seiner Armee“ (Roy de Prusse Instructions à ses Generaux) zeitlebens für das beste Unterrichtswerk an Militärschulen. Für die Kriegführung waren der Große König und seine Soldaten für ganz Europa Muster. Es spielt hier mit hinein, dass sein Lehrer Graf Wilhelm König Friedrich verehrte. Aber natürlich konnte der intelligente Bauernsohn kein Anhänger des Adels sein, was im ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich sehr deutlich wurde. Die Revolution in Frankreich brachte ganz Europa in Bewegung, wertete alle Werte um, Jahrhunderte unhinterfragt Gültiges zerbrach fast über Nacht, sie warf die bisherigen Fesseln des Krieges beiseite und es bildeten sich wechselnde Koalitionen, um die Lava aufzuhalten, die aus dem revolutionären Krater in Paris schoß. Begeistert schrieb der Ehrenbürger der französischen Republik Friedrich Schiller in den „Räubern“: Das Gesetz hat zu Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus. Die Koaltionen wurden aus dem Hintergrund von dem finanzstarken England unter der Federführung von Pitt angestachelt. Schon im Siebenjährigen Krieg gab England auf der Grundlage des Subsidienvertrages vom 11. April 1758 Preußen 5,3 Millionen Taler. Insgesamt gab es sieben Koalitionskriege, die mehrere „Konstanten“ aufwiesen, Konstanten in Anführungszeichen, denn strenggenommen gibt es keine Konstanten in der Geschichte, der Historiker braucht aber diese, um vom lebendigen Tatsachenmaterial abstrahieren zu können. Also einmal der Finanzier Pitt, dann die immer vorliegende, durch Trafalgar (Seeschlacht am 21. Oktober 1805) bewiesene maritime Überlegenheit der Engländer und drittens der Koloss im Hinterland Europas: das Zarenreich, das quantitativ immer die große Masse an Soldaten für die europäische Reaktion stellte. England galt es zu schlagen, deshalb die Boulogne-Armee, auch bereits „Große Armee“ genannt, die den Ärmelkanal überqueren sollte, deshalb die Kontinentalsperre, deshalb die Strafaktion 1812 gegen den Zaren, um von Moskau nach Indien weiterzumarschieren. Nach der Kriegsordre König Georg III., König von England und Kurfürst von Hannover (diese Personalunion bestand seit 1714), mußte Hannover die Hälfte seiner Armee der anti-französischen Koalition stellen: fünfzehn Bataillone, acht Regimenter Reiterei und eine Abteilung Artillerie. Den Äußerungen Scharnhorsts ist zu entnehmen. dass er ungern in diesen Krieg in den österreichischen Niederlanden für die Aristokraten gezogen war. Er sprach verächtlich von der bloß verzehrenden Klasse. “Das dümmste Vieh kommt hier fast so gut durch wie der Einsichtsvollste…Wir werden von den Aristokraten zurückgesetzt und streiten für die Aristokraten”. 21. Das dumme Vieh erklärte sich unter anderem auch daraus, dass die meisten aristokratischen Familien ihre unfähigsten Söhne als Offiziere ausgeguckt hatten. Dennoch zeichnete er sich bei den Kämpfen um Hondschoote, dennoch zeichnete er sich am 30. April 1794 beim Durchbruch aus dem Belagerungsring der 20 000-Mann starken Moreau- und Vandammearmee bei Menin (flämisch Meenen) aus. Am 29. April hielt Moreau die Festung für übergabereif, aber der Kommandant von Hammerstein antwortete ihm: „Nous sommes habitués à faire notre devoir; on ne se rendra pas“. Der kühnen Initiative von Scharnhorst war es weitgehend zu verdanken, dass die bei Menin eingeschlossenen 1800 Koalitionssoldaten, darunter auch viele royalistische Emigranten („Loyal Emigrants“), trotz knapper Munition den nächtlichen Durchbruch gegen eine zehnfache Überlegenheit der Belagerer schafften. 14 Offiziere und 431 Soldaten aus den Mannschaften waren gefallen, 1510 Kombatanten, darunter 147 Verwundete, kamen durch und sammelten sich wieder in Brügge, vier Fünftel war der Ausbruch aus dem Kessel also gelungen, man hatte sogar noch zwei französische Geschütze erbeutet. Unter den tapfer kämpfenden Infanteristen hörte jede Subordination auf, man kämpfte kollektiv. Scharnhorst hielt fest: „Gemeinschaftliche große Gefahr und große Leiden verwischen alle gegenseitigen kleinlichen Verhältnisse, die sonst die Menschen beunruhigen und betrüben. - Daher die Herzlichkeit, die unbedingte Hilfeleistung, das große gegenseitige Vertrauen und die innigste Brüderschaft der Kriegsgefährten in und nach blutigen Auftritten“. 22. Menin blieb, wie später Stalingrad, wo der Ausbruch nicht gelang, als „Schutthaufen“ zurück. (Ein merkwürdiges Detail tauchte bei diesem gelungenen Ausbruch auf, man mußte eine Brücke überqueren, die den Namen „Beresina“ trug). Die meisten Emigranten sind so den Todesurteilen der Jakobinerkommissare entkommen. Bitter beklagte Scharnhorst sich in einem Brief an seine Frau, daß sein Sold in keinem Verhältnis zu seinen „Kapitänsdiensten“ stehe. Überhaupt sind anklagende Töne in seinen Briefen aus dem Koalitionskrieg zu vernehmen. „Der Mann ohne Bildung ist doch ein wahres Vieh, ein grausames Tier; überhaupt habe ich gefunden, daß nur wohlgebildete Leute die Greuel des Krieges zu mildern suchten und daß ungebildete Offiziere ebenso tierisch als die Gemeinen waren“. 23. Im Jahre 1803 erschien die von ihm verfasste „Beschreibung der selbsterlebten Verteidigung der Stadt Menin und der Selbstbefreiung der Garnison unter dem Generalmajor von Hammerstein im Jahre 1794". In der Einleitung schreibt er, dass man kein Beispiel in der Geschichte finde, wo eine sehr unbedeutende Garnison von Infanterie, aus einem Orte, der von einem acht- bis zehnmal stärkeren Feind eingeschlossen und belagert wurde, sich durchgeschlagen hätte. Generalmajor von Hammerstein, dessen Gehilfe Scharnhorst war, schrieb in seinem Gefechtsbericht an seinen Vorgesetzten General Graf Wallmoden, daß er bei allen Ausführungen der Erste und Letzte war und schwärmte geradezu von diesem einem Jedem zum Muster aufzustellenden Offizier 24., der im Kugelregen Stich hielt. Scharnhorst, begabt mit einem erstaunlichen Scharfblick für die Wirklichkeit, beobachtete in den Feldzügen neben den Fehlern seiner Truppe - unter anderem den Übermut (man sprach auf Grund des falschen Kriegsbildes durch die Emigranten von einem Spaziergang nach Paris) und von daher auch kein „gerader Gang zu großen Zwecken“ 25. - sehr genau die Kampfweise der Sansculotten, die völlig mit den alten Kriegsbräuchen gebrochen hatten. In sein Tagebuch notierte er: „Der jetzige französische Krieg wird das jetzt angenommene taktische System in einigen Punkten gewaltig erschüttern“. 26. Der Scharnhorst-Biograph Klaus T. Stark sieht die Ursache für die Überlegenheit der französischen Soldaten in einem „persönlichen Interesse“, für die Parolen „Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit“ zu kämpfen. Dafür kämpften sie nicht, wohl aber für ihre kleinen Landparzellen, die sie aus der Zerschlagung des feudalen Grundbesitzes erhalten hatten. Diese „petite culture“ war die Grundlage für die Siege der „Grande Armee“. Den gleichen Fehler wie Stark begeht auch Heribert Händel, der die Kraft der französischen Heere in ihrer geistigen Haltung ausmacht. 27. Es war viel einfacher: der Bauer, der gegen die feudalabsolutistischen Heere aufstand, war satt. Die neue französische Kriegführung wurde auf Grund dieser Erschütterung zum Schwerpunkt seiner Studien und es ist bezeichnend, dass der junge Mann, der sein erstes Kriegserlebnis zu verarbeiten hatte, sich bis in die inneren Beweggründe vertiefte, die Literatur, die er sich nach den Frankreichfeldzügen besorgte, läßt auf einen immensen Forschungsdrang schließen, nacheinander wurden Montesquieus “Geist der Gesetze” und Rousseaus “Gesellschaftsvertrag” gelesen, besonders interessierten ihn die beiden Hauptwerke des wichtigsten Gesellschaftstheoretikers des französischen Materialismus Helvetius: “De l´Esprit” und “De l`Homme”, in denen der Philosoph eine Psychologie der Menschenführung entwickelt hatte. (Ein Kerngedanke war, dass die Bedürfnisse der Ursprung der Tätigkeit und des Glücks der Menschheit seien). Bei Helvetius konnte er lernen, dass die Menschen oft nur durch versteckte Hebel von ihren Vorurteilen befreit werden können, eine Methode, die er später, wie wir sehen werden, am preußischen König anwandte. Mit Diderots „Hausvater“ (1758) lernte er übrigens französisch. Er las Werke von Voltaire und Edward Gibbons „Verfall und Untergang des römischen Reiches“, zugleich auch Fergusons „Geschichte der römischen Republik“ und auch eine Schrift des französischen Generals Dumouriez über die französische Revolution. Die wichtigste Frucht dieser Zeit war sicherlich seine auch heute noch für das Verständnis der bürgerlichen Umwälzung in Frankreich empfehlenswerte Studie: “Entwickelung der allgemeinen Ursachen des Glücks der Franzosen in dem Revolutions-Kriege und insbesondere in dem Feldzuge von 1794”, die das Resultat einiger Unterredungen mit seinem Freund Johann Friedrich Graf von der Decken war. Dieser war nun allerdings ein glühender Feind der Revolution in Frankreich und wir horchen auf, wenn Scharnhorst von Decken, dem späteren Generalleutnant in englischer Uniform, in einem Brief als den Besten meiner Freunde anspricht. Die Quellen der Ursachen mussten tief in den inneren Verhältnissen der Staaten liegen. Das Glück der Franzosen war ihre Revolution. Aus ihr erwuchs die revolutionäre Schöpferkraft, eine bis dahin ungekannte Energie. Durch sie wurde der Krieg einer der mobilen Massen. An den anderen Militärtheoretikern, die sich mit den Sansculottenkriegen auseinandersetzten, kritisierte er, dass sie die Tatsachen nicht ruhig erzählen konnten. Der Krieg aber als der große Lehrmeister des Soldaten zwingt ihn, die Wirklichkeit richtig widerzuspiegeln. Es war verkürzt, die Ursachen der Niederlagen der Koalition im Verrat, in Führungsfehlern und Mißgeschicken zu suchen. (Das ist ganz die Argumentationsstruktur, die Friedrich Engels über die Ursachen der Niederlage der 48er Revolution anwendet, diese sei nicht deswegen gescheitert, weil Bürger X oder Bürger Y sie verraten habe). Verrat gab es ja auch auf Seiten der Franzosen gleichermaßen, es war nicht nur der bekannte General Dumouriez, „die ersten Anführer ihrer Armeen wurden Verräter derselben“. 28. Mit der rein militärischen Betrachtungsweise war diesem Kriegsbild nicht mehr beizukommen, politische und moralische Faktoren galt es zu berücksichtigen. In den Koaltionskriegen wurden neue Kriegselemente deutlich: die aus Massen gebildeten Armeen waren in Divisonen eingeteilt worden, die als kleine, selbständig operieren könnende Armeen äußerst mobil waren und verschiedene Formationen der Gefechtsordnung kombinieren konnten: Schützen - Kolonnen - Linien. „Wenn sich in einer Schlacht die Armee trennen oder die Stellung wechseln müsse, wenn neue Angriffe zu unternehmen seien, wenn ein Rückzug die ursprüngliche Ordnung zerreiße, dann seien die Divisionen gewissermaßen kleine Armeen, die sich immer noch regieren ließen. Der Divisionsgeneral könne, da er über alle Waffen verfüge, alle Mittel des Widerstandes anwenden und dem Oberbefehlshaber die Zeit verschaffen, die Divisionen wieder in Verbindung zu bringen und zu einem gemeinschaftlichen Zweck in Wirksamkeit zu setzen. In der divisionsweisen Organisation der französischen Armeen sah Scharnhorst eine der Ursachen für ihre Erfolge auf allen Kriegsschauplätzen. Dieser vollkommene Mechanismus erkläre die Schnelligkeit ihrer kombinierten Angriffe und die Leichtigkeit, mit der sie in verwickelten Lagen immer die den Umständen angemessenen Maßregeln ergriffen“. 29. Aus den Elementen „Masse“ und „Mobilität“ ergab sich dann die Strategie, die rasche Vernichtung des Feindes durch entscheidende Schläge herbeizuführen. Die 1800 stattfindende Schlacht von Marengo im zweiten Koalitionskrieg gab von französischer Seite das Muster ab: nie konzentriert zu stehen - aber sich immer konzentriert zu schlagen. Es sei ein falscher Grundsatz, seine Armee nie zu teilen. Bedarf es noch näherer Erwähnung, dass Scharnhorst in der Militärgeschichte das Hauptaugenmerk auf die neuere legte ?

„Jede Koalition führt schon den Keim des heimlichen Betrugs mit sich“. 30.

Wie gesagt, die Emigranten bagatellisierten die Schlagkraft der revolutionären Truppen („Horden ohne Disziplin“), malten alles im rosigen Licht, man glaubte ihnen, denn wer konnte es besser wissen, und einige reaktionäre Staaten waren schnell zusammengetrommelt. Die Jakobiner seien eine verschwindend kleine Minderheit in Frankreich. Die französischen Royalisten wußten, ist der Krieg erst einmal erklärt, werden diese Staaten auch gezwungen sein, weitere neue Kräfte aufzubieten. Massendesertionen unter die Fahne der Lilie wurden in Aussicht gestellt, eine Annahme, die von ihrem alten Weltbild her sogar verständlich war. Aber die Umwälzung in Frankreich war gründlich, die Handwerker wurden „militarisiert“ und produzierten Waffen und Munition und organisierten deren Transport zur Truppe, die Frauen fertigten Bekleidung und Zelte an und dienten als Krankenschwestern. Das republikanische Fasten wurde eingeführt, auf Fleischnahrung wurde zugunsten der Armee verzichtet. Im September 1793 organisierte der Wohlfahrtsausschuß eine sogenannte Salpeterkampagne, man ging in die feuchten Keller und kratzte Salpeter von den Wänden, der bestimmte Nitrate zur Sprengstoffherstellung enthielt. 31. Der höhere Grad an Solidarität und Kollektivität war ein entscheidender Vorteil der revolutionären Seite. Die französische Nation hielt sich für allein „aufgeklärt, klug, frei und glücklich und alle anderen Nationen ungebildet, viehisch und unglücklich“. 32. Scharnhorst schrieb, dass es etwas noch nie Dagewesenes war, dass die Republikaner mit der Gesinnung in den Kampf zogen, von ihnen hinge das Glück der ganzen Menschheit ab. Menschheit war eines der Drogenworte jener Zeit, Hölderlin schrieb 1791 eigens eine „Hymne an die Menschheit“, die Sonderrolle der Kapitalisten und der Proletarier in der bürgerlichen Gesellschaft hatte sich noch nicht herausgeschält, so daß vom Weltbürgertum und von einer Weltrepublik (Anachasis Cloots) geträumt werden konnte. Die französische Revolution bildete in der Theorie einen Begriff universeller Humanität heraus: in seiner am 17. November 1793 gehaltenen Rede über die politische Lage der Republik führte Robespierre aus, "daß es nicht nur ein Volk ist, für das wir streiten, sondern das Weltall". Das Ziel sei, "so viele Freunde (zu) haben, als diese Erde Bewohner zählt." 33. Man vergleiche dieses noch nie bei einer Nation gefundene Ziel mit dem der Royalisten, in Frankreich die Bourbonenmacht zu restaurieren und zwar dadurch, dass man diese Nation in Bewegung, diese Nation in Solidarität aushungern wollte. „Der Kampf war in der Tat ungleich: Der eine hatte alles und der andere wenig zu verlieren. Das Verhältnis der Motive bestimmt das Verhältnis der Mittel“. 34. Den französischen Soldaten wurde Fleisch geschickt, den koalierten gab man nicht einmal Quartier. Die Revolution hatte die Gewichte verschoben und derjenige war im Vorteil, der das am ehesten erkannte. Die Franzosen führten bereits einen nationalen Krieg, dem alle Hilfsquellen der Nation zur Verfügung standen, die Reaktion konnte nicht mehr das nationale Motiv für sich reklamieren. „Die negativ-allgemeine Bedeutung des französischen Adels und der französischen Klerisei bedingte die positiv-allgemeine Bedeutung der zunächst angrenzenden und entgegenstehenden Klasse der Bourgeoisie“. 35. Diese Klasse konnte damals noch einen nationalen Enthusiasmus erwirken, einen Enthusiasmus, den der Reaktionär Johann Friedrich von der Decken als „eine Art von Fieber“ deutete. Es endigte dieser bürgerliche Enthusiasmus endgültig mit der Pariser Commune, die zeigte, dass sich der Bourgeois an die Stelle des Aristokraten gesetzt hatte. Diese Bourgeoisie war damals noch in der Lage, sich mit der ganzen Nation als in eins zu setzen und einen Enthusiasmus der Massen zu entfachen. Scharnhorst sah denn auch auf der einen Seite eine grausame Robespierresche Partei, die für eine reibungslose Kooperation zwischen der zivilen und militärischen Behörde sorgte, auf der anderen, auf der der Krieg als Privatunternehmung geführt wurde, „Laulichkeit“. Der Übermut der Koalierten hatte dazu geführt, dass keine Vorkehrungen für den Fall eines unglücklichen Ausganges getroffen worden waren. Eine Macht mit einem Gesetz und einem Kommando stand einer Koalition mit Pluralismen und daher mit erheblichen Koordinierungsschwierigkeiten, mit „Inkonvenienzen aller Art“, wie Scharnhorst es ausdrückte, gegenüber, mit Problemen auch sprachlicher Natur, denn die wenigsten beherrschten mehrere Sprachen. Und Unordnung erschlaffe den militärischen Geist. 36. „Man kann sich nichts Schrecklichers denken, als die Lage in alliierten Armeen bei unerwarteten Ereignissen und bei einem nicht vorhergesehenen Rückzuge sind. Da die Operationspläne auf solche Fälle keine Auskunft geben, so sind nun die Generale in der größten Verlegenheit. Es werden Kuriere über Kuriere abgeschickt, und alles dient oft zu nichts, denn da sie vierzehn Tage bis drei Wochen nach Wien und Berlin und nach England sechs Wochen zu ihrer Reise brauchen, so hat sich, wenn sie wiederkommen, die Lage der Dinge schon ganz verändert, und ihre neuen Verhaltungsbefehle schicken sich nicht zu den veränderten Umständen“ 37. So kam es zu dem verkehrten Schauspiel, dass die Republik den Krieg kräftig und diktatorisch, die Royalisten ihn schlaff und „republikanisch“ führten. 38. Es ergab sich in der französischen Revolution ein Wechsel zwischen grausamen Jakobinerregiment, schlaffen Direktorium und der Genialität Napoleons, der die Armee unter dem Dreigestirn Einheit, Konzert und Kraft zu vielen Siegen führte. Und Frankreich hatte noch den Vorteil, über ausgezeichnete natürliche und künstliche Hindernisse an der Grenze zu verfügen. Ausdrücklich hebt Scharnhorst den französischen Generalstab hervor, der dafür sorgte, „daß ein schlechter General nicht sehr große Fehler machte“. 39. Die Soldaten der Koalition legten ein „maschinenmäßiges Betragen“ an den Tag, die Soldaten der Revolution wurden dagegen immer versierter in der Kunst, das Terrain (jeden Graben, jeden Baum, jeden Hügel) zu benutzen und zerstreut mit Ordnung und in gegenseitiger Unterstützung zu agieren. Die kriegerische Aktivität der ungeübten Soldaten aus der levée en masse war zunächst limitiert, in kleinen Gefechten wurde ihnen unter Ausnutzung natürlicher Geländebegebenheiten immer mehr Kriegstauglichkeit angewöhnt. Dieses Ausnutzen ist zwar durch die bürgerliche Art, Krieg zu führen, immer obligatorischer geworden, zeichnet diese aber dadurch nicht besonders aus. Dieses Ausnutzen ist so alt wie das Kriegführen selbst. „Les petits cuissons épars dans ce tarrain, étaient d‘un usage merveilleux pour lacher des Corps de Cavallerie, qui venaient tomber à l‘imprévu sur l‘ennemie et le mettaient en déroute“. („Kleine, über die ganze Gegend verstreute Waldstücke dienten vortrefflich zur Verbergung von Kavallerieabteilungen. Sie fielen aus ihrer Deckung unvermutet über den Feind her und brachten ihn in Verwirrung“)...schrieb Friedrich der Große zur Schlacht von Liegnitz. Schon der alte chinesische Kriegsweise Sun Tzi wußte: „Vergiß nicht: Wenn der Feind steile Anhöhen vor dir besetzt hat, darfst du ihm nicht folgen, sondern mußt dich zurückziehen und ihn fortlocken“. 40. Es gibt gewisse Kriegsweisheiten, die eine relative Allgemeingültigkeit behalten, so Suns: „Erkenne Dich selbst und den Feind - Hundert Schlachten ohne Schlappe“, so Clausewitzens Erkenntnis, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Das „Ausnutzen natürlicher Geländebegebenheiten“ gehörte und gehört immer mehr dazu. Und dann der Kern des Krieges überhaupt, der darin besteht, sich selbst zu erhalten und den Feind zu vernichten. Diese gewiss nicht vollständig angeführten Elementarien durchwalten die ganze Kriegsgeschichte und sind auch nicht durch die Vertiefung des Epochenbegriffes zu erschüttern, durch den die Kriege unterschieden und auseinandergehalten werden. Es sind relative Wahrheiten, eingegrenzt auf die historische Periode der Klassenkämpfe, sie dürfen auf keinen Fall verabsolutiert werden. Schon von daher ist es unwissenschaftlich, wenn bürgerliche Offiziere unter Mißbrauch des Namens „Scharnhorst“ von ewigen soldatischen Werten sprechen. De Maizière sprach als Generalinspekteur der Bundeswehr von Soldatentugenden, die alle Wandlungen überdauert hätten. Diese Vertiefung des Epochenbegriffs ist sicherlich eines der Verdienste der Militärreformer um Scharnhorst und Clausewitz. Kann man es ihnen auf der anderen Seite so arg nachsehen, dass sie einen ähnlichen Fehler begingen wie der Philosoph Hegel. Für diesen vollendete sich Philosophie im einem, in seinem System, zugleich war seine Methode die dialektische, die ohne Abschluß bleiben mußte. Scharnhorst philosophierte über die Frage, ob sich das Absolute durch den Erkenntnisprozess verändere, Clausewitz will mit seinem Werk „Vom Kriege“ diesen abschlußhaft in allen seinen Gesetzen ausgeleuchtet haben. Der napoleonische Krieg war für ihn der eigentliche und Scharnhorst hätte diesen „eigentlichen Krieg“ gelehrt. Den Reformern war eben der Krieg eine unüberwindbare Konstante im zwischenmenschlichen Verkehr, etwas natürliches. „Selten ist in Europa überall Frieden, und nie geht der Krieg in den anderen Weltteilen aus“. 41. Dabei verweist der Epochenbegriff selbst auf gesellschaftliche Verhältnisse, die ohne Privateigentum, ohne die schrecklichen Worte „Mein“ und „Dein“ und damit ohne Krieg auskamen. Erst dann folgten die Epochen der Klassenkämpfe und der Kriege. Und seit dem Aufkommen des Gegensatzes zwischen Lohnarbeit und Kapital datiert die Fundamentalfrage der Weltgeschichte, ob sich nicht wiederum gesellschaftliche Zustände aus ihrem Verlauf herauskristallisieren können, die die traditionellen Kriegsweisheiten obsolet machen. Es gibt nichts ewiges, nicht einmal die preußische Armee. Scharnhorst irrte sich in seinem Brief an seinen Sohn Heinrich Wilhelm vom 29. November 1806 aus Danzig. 42. Franz Mehring wirft ihm dann auch vor, die Vergänglichkeit des Klassenstaates nicht erkannt zu haben.

Denn es hatte sich gezeigt, die französischen Tirailleurs hatten die Mehrheit der Kämpfe entschieden. Hier lag der Schlüssel für das zukünftige Soldatenbild, für die preußischen Reformen, für den Sieg Napoleons bei Austerlitz und seiner Niederlage bei Waterloo und der altpreußische Militäradel verkannte die Zeichen der Zeit, wenn er über das Bauchkriechen spottete und vom „Evangelium der Bauchkriecherei“ sprach. Das Verblüffende an diesen Bauchkriechern war, dass sie einzelnd kämpfen konnten. Die friderizianische Kriegführung ließ die Bürger noch weitgehend unbehelligt, die Armee war eine heilige und vollkommene Maschine, ein mechanischer Kriegsriese in einer Zwangsjacke, abhängig vom Magazinalsystem, eine hochkonzentrierte Maschine, die man auch im Krieg nicht in Entscheidungsschlachten opferte. Diese künstliche Maschine war viel zu kostbar: „Die Bataillon decidieren von dem Schicksal eines Staates“. (Friedrich der Große). Der Monarch, egal ob aufgeklärt oder nicht, dirigierte wie ein Archimedes von einem ruhenden Pol aus diesen Maschinenmechanismus, dessen Aktionsradius durch die Magazinverpflegung eingeschränkt war. Eine Entscheidungsschlacht galt eher als Notlösung und Folge von Fehlern. Man beschränkte sich zum Beispiel auf die Belagerung von Festungen, die Napoleon in seinem ganzen Kriegsleben nur zweimal vornahm: 1796 bei Mantua und 1807 bei Danzig. Die Revolution in Frankreich zerstörte mit dem archimedischen Monarchen auch die monotonen Schritte des Paradierens und verlagerte durch die Einführung von Divisonen, kleine, mobilere, in jeder Hinsicht in sich organisierte Armeen, die Kommandoverantwortung nach unten...ein Einzelner könne heute nicht mehr alles übersehen, weder im Heer noch im Staat (Scharnhorst)...bis, ja bis zum autonom operierenden Guerilla unserer Tage, der aus eigener Motivation heraus für sich und seine Sache kämpft. Es ist markant, dass die moralische Kraft im nichtuniformierten Soldaten, im Krieger, der im Nebel bleibt, größer ist als im regulären. Diese Totalisierung des Krieges, seine Vermassung, war zwar auch immer mit der kreativ-raschen Herausbildung von oft im Geheimen operierenden außerordentlichen Spezialeinheiten verbunden, aber die wuchtige Vermassungstendenz findet in der Totalisierung und Vergöttlichung der Volksmassen durch den Leninismus und auch Maoismus ihren Abschluß. Lenin schwebte eine radikale Volksbewaffnung vor, die den Volkskrieg zu einem Abgott sakralisierte. Eine Bewaffnung des Volkes bis auf den letzen Mann, bis auf die letzte Frau, bis auf die letzte Maus. Das mit der Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft aufkommende neue, heute überholte Soldatenbild ging Hand in Hand mit dem Entstehen eines neuen Menschenbildes überhaupt. So fortschrittlich die Konzeption des Arztes La Mettrie auch war, Descartes zu radikalisieren und den Menschen mechanistisch als eine in sich selbst tätige Maschine aufzufassen und damit die Medizin von occulten Mächten unabhängig zu machen - anthropologiegeschichtlich eine notwendige, eine bestimmte Entwicklungsstufe widerspiegelnde Variante - so hatte doch dieser materialistische Philosoph die Anthropologie in eine Sackgasse geführt. Gerade der Metaphysiker Leibniz erarbeitete unter seinem ganzen metaphysischen Wust ein dialektisches Menschenbild, dessen Verständnis auf allen Gebieten des Lebens, und eben auch auf dem militärischen, ein gewisses, relativ richtiges Erfassen der Zusammenhänge reziproker Produktivkraftentfaltungen ermöglichte. Leibniz behauptete, dass in jedem Tropfen Materie das ganze Universum ausgedrückt sei und dass es in jedem Lebewesen häufig Metamorphosen gäbe. Jedes Lebewesen hat mannigfaltige Bezüge zur Außenwelt und ist demnach ein Spiegel des Universums. 43. Alles Leben ist ein allseitiger Lebenszusammenhang. Und eben auf die sich universell durchdringende Konjunction des subjektiven Faktors und den objektiven Elementen der Wirklichkeit kommt es beim Erfassen der Außenwelt an. Und eben auf diese sich durchdringende Konjunction des subjektiven Faktors und den objektiven Elementen des Krieges kommt es beim Erfassen des Krieges als totalen an. Die Individualisierung des Krieges, seine Entmechanisierung, ist gegenläufig, eine Konkretisierung ins Totale, zumindest bewußtseinsmäßig, denn der ganz auf sich gestellte Guerilla operiert eben im Konzept vom Volkskrieg, sein Traum, der Einzelkämpfer will im Einssein mit dem Volk seine Subjektivität abwerfen. Die Geschichte des Krieges schleudert den emanzipierten Soldaten zunächst an seine Peripherie, denn diese ist das Operationsfeld des Partisanen, um von dieser her über die Phasen: Terrorakte - Attentate - Agitation, sodann übergehend in den Bürgerkrieg, in den Kern des totalen Volkskrieges zu stoßen. Das führt über die jakobinistisch-napoleonischen Kriege hinaus, denn in diesen blieben die Randgebiete des Krieges (die Vendée, die spanische Bauernguerilla, die Tiroler um Andreas Hofer, Kosakeneinsätze) welthistorisch sekundär. Landschlachten wie die von Borodino, Leipzig und Waterloo kündigten düster den Massenkrieg des nächsten Jahrhunderts an. Wenn Clausewitz im Krieg der Armee gegen den Guerilla den Krieg eines Automaten gegen einen Menschen sieht, so hat er schon im sechsten Buch seines Hauptwerkes angedeutet, dass die Zukunft der Guerilla gehört. Und das zwanzigste Jahrhundert hat trotz zweier Weltkriege gezeigt, dass die essentiellere Weiterentwicklung der Theorie des Krieges im kleinen, nicht im großen stattfand. (Schon bei Clausewitz eine Sympathiebezeugung für die „Kleine Armee“: „Mit einer allerliebsten kleinen Armee, an deren Spitze meine Freunde stehen, durch ein herrliches Land zu ziehen, für einen solchen Zweck, in der schönsten Jahreszeit, ist so ziemlich das Ideal einer irdischen Existenz...“. 44.) Die im Peripheren operierende Kleinmiliz hat in emanzipativer Hinsicht eine Ent-Randung des politischen Weltzusammenhangs gebracht, es genügt hier der Verweis auf den Bezwinger zweier Atommächte, auf den General Giap, wie Scharnhorst ein Bauernsohn, der zum Schlüsselsoldaten nach dem zweiten Weltkrieg avancierte. 45. Im kriegerischen Element der französichen Revolution und Napoleons steckt eben beides: die Kleinmiliz, die Individualisierung des Soldaten, und die „Große Armee", seine Vermassung. Die Qualität militärischer Führung dependiert entschieden von der Fähigkeit, beide Kriegsweisen ineinanderzuführen und sie dadurch zum Aufblühen zu bringen.

Da Scharnhorst zu der Erkenntnis gelangte, dass die neue Kampfweise überlegen sei, denn die Koalitionskriege bestätigten, welch ungeheures Potential in einer Revolution steckt - die Nachfolger der Jakobinerdiktatur mobilisierten fast eine Millionen Kombattanten, also zum einen waren es MASSENheere, die aufgeboten wurden, und charakteristisch für ihre Angriffsmittel war deren BEWEGLICHKEIT, waren große Artilleriemassen und starke Reserveverbände - machte er sich ab 1795 Gedanken über eine radikale Armeeumgestaltung – es waren drei Kernpunkte, um die seine Überlegungen kreisten: die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Schaffung eines zentralen Kriegsministeriums und der Aufbau eines praxisorientierten Generalstabs, der alles sofort erfasst, alles ersinnt, alle Vorfälle des Krieges übte. Massenbach, der einer kuriosen Topograhiemathematik anhing, hatte den preußischen Generalstab bereits 1803 reformiert, nach seiner Auffassung hatte der Stab dem König Pläne vorzulegen, rein wie gediegenes Gold). Eine Armee ohne Generalstab, ohne Planungstelle für alle möglichen Operationspläne bei kriegerischen Verwicklungen, sei wie ein Land ohne Regierung. In Preußen galt der Stab als Genieersatz, denn Friedrich der Große galt als Genie ohne adäquate Nachfolger. Bereits 1795 hatte Scharnhorst eine Denkschrift „Über die Einrichtung eines Generalstabes einer Armee“ verfasst. Stabsoffiziere und Truppenoffiziere sollten ständig ausgetauscht werden, so wollte Scharnhorst erreichen, dass eines Tages alle Generäle die Schule des Generalstabs durchgemacht hatten. Ohne diesen ständigen Austausch liege ein „Geistesdespotismus“ vor. Der Generalstabsoffizier sollte Forscher und Lehrer in einem sein. Seine spezifische Fähigkeit besteht darin, sich in den Feind hineinzudenken, sich in seinen Kreis der Stärke zu stellen, um in diesem Widersprüche zu ermitteln. Immer bedeutender wurde auch der Wettbewerb der einzelenen Truppenteile untereinander, das Anpassen der Ausbildungsinhalte an die sich ständig verändernden Kriegsformen und der Ausbau der Spionage, das Auskundschaften anderer Armeen. Die Spionage, diese vielleicht schillerndste, zugleich aber auch verborgendste Blume im dornigen Garten des Krieges hat von jeher fasziniert. Der alte chinesische Kriegsweise Sun, von dem Mao gern Zitate entlieh, sprach von der göttlichen Handhabung der Fäden. Informationen kann man nur durch Menschen erhalten. Der Krieg ist eine Wissenschaft, denn er hat seine Gesetze, und Kunst zugleich ohne eindeutige Trennungslinie, das einen gewissen Folgeablauf beinhaltende Gesetzmäßige und das ungeregelte Kreative stehen in mehr als einem Verhältnis bloßer Berührung zueinander. Das Apollinische und das Dyonisische des Krieges liegen gewiss nicht nur nebeneinander. Ihre Durchdringung ist der Humus für die Blume der Spionage. Ohne wertvolle Informationen kann der Krieg zu keiner Wissenschaft sich aufschwingen, aus Improvisation, ja aus erfolgreichen Experimenten (zum Beispiel in Manövern) erst ergibt sich eine Sättigung im Kriegsbild, aus der Konturen der Sukzession der Armeebewegung sich bilden. Der Krieg gedeiht im Verborgenen und drängt explosiv an das Tageslicht totaler Klarheit, die als Ideal der Wissenschaft diese antreibt. Totale Klarheit, ja Reinheit, die der Krieg als Wissenschaft sein muß, widerspricht seinen dyonisischen Wurzeln und seinem dyonisischen Hintergrund, so dass der Krieg als schmutziger in seinem Wesen liegt wie die Politik ein schmutziges Geschäft ist und den Charakter verdirbt. Das Kriegführen beginnt mit der Verleumdung der „Zehn Gebote“. Der Krieg ist pervers und bereits Sun sprach von „totgeweihten Agenten“, Spione, die der General mit Desinformationen in das Land des Feindes ausschickt, wohl wissend, dass sie gefangengenommen und getötet werden im Gegensatz zu den wertvollen Spionen, die unbedingt lebend mit wertvollen Informationen zurückkommen müssen. Der Krieg wird zur Kunst durch die Spionage und durch diese zur Wissenschaft. Damit aber stehen die Generalstabsoffiziere vor der intellektuell vielleicht schwierigsten Frage: was ist Wahrheit ?, denn der Krieg zeigt nie sein wahres Gesicht. „Alle Wissenschaften haben Grundsätze und Regeln, der Krieg allein hat keine“, pflegte der Marschall von Sachsen zu sagen. Der Krieg ist das Insichkreisend-Unendliche schlechthin im Wechsel von Wissenschaft und Kunst, von Situativem und Perspektivischem. Der Krieg ist die unendlich in sich kreisende Gewaltspirale, das zu planende Nichtplanbare. (Napoleon hatte keine Pläne, Wellington, von seinen Offizieren vor der Schlacht von Waterloo nach seinem Plan gefragt, sagte nur: die Franzosen zu besiegen). Der gesunde Menschenverstand ist nicht ausreichend, denn er reicht aus zu solidem Kriegshandwerk, nicht zum genialen Wurf. Bedenken wir, dass Scharnhorst von einer Verwandtschaft zwischen Kriegskunst und Dichtkunst ausging, die der Verstand gar nicht vermutet. Friedrich der Große und Mao schrieben Gedichte, bei Mao geht das Poetische ins Kriegerische, ja ins Militärästhetische hinein. „Die Aktionsbühne für die Befehlshaber eines Krieges muß auf objektiven Möglichkeiten gegründet sein; auf dieser Bühne aber können sie die Aufführung manch eines Dramas voller Klänge und Farben, voller Macht und Pracht in Szene setzen“. Erotische Motive sind kaum noch verborgen, wenn von der Pracht des Krieges geschwärmt wird. Schon für Rousseau war der kriegerische Patriotismus hundertmal tiefer, köstlicher, faszinierender als die Liebe zu einer Frau. 46. Der gesunde Menschenverstand ist praxisorientiert, Scharnhorst aber maß der Theorie einen hohen Stellenwert bei: „Solange wir keine Theorie haben, solange wir nicht aus der Natur der Sache die Regeln, welche die Kunst vorschreibt, entwickeln können: solange herrscht in derselben ein großer Widerspruch und solange wird es uns unmöglich, die wahren von den falschen zu unterscheiden“. 47. Er stand in etwa zwischen Berenhorst und Bülow, ersterer war theoriefeindlich, letzterer wollte jeden Soldaten zu einem Militärtheoretiker machen. 48. Während die Reformer Scharnhorst und Clausewitz noch vorsichtig waren, von Gesetzen des Krieges zu dozieren - sie zogen es vor, von Regeln, die nicht ein für allemal gültig waren, zu sprechen - so hat sich der Revolutionär Mao Tse tung eindeutig festgelegt, er verlangte nicht nur die allgemeinen Gesetze des Krieges, nicht nur die Gesetze des revolutionären Krieges, sondern auch die spezifischen Gesetze des revolutionären Krieges in einem Lande zu studieren. 49. Was ich also behaupte, ist, dass, wenn man die Spionage nicht als fundamental in die Kriegsgeschichte hineinzieht, man über die Kriegswissenschaft und über die Kriegskunst unklare Begriffe hat. Die Totalisierung des Krieges bedingt die Totalisierung der Spionage; vor dem allgemeinen Massenkrieg, als der Krieg noch exklusiv geführt wurde, bezog sich Spionagetätigkeit primär auf den militärischen Sektor, das tut sie zwar heute auch, aber heute ist alles wichtig, es ist erstaunlich, wie unvorsichtig Personen mit ihren eigenen Daten umgehen, die unbewußt in den Abfall oder ins Altpapier wandern. Man braucht nur mal diese Daten drei Monate sammeln und dann puzzeln, und man bekommt ein erstaunlich dichtes Personenprofil. Die Totalisierung der Spionage bedingt ihre Politisierung. Japanische und deutsche Spione haben im XX. Jahrhundert Weltgeschichte betrieben. Ganz ausgezeichnet funktionierte der japanische Spionagedienst Anfang des Jahrhunderts in Rußland, Informationen über die russische Flotte bei Port Arthur wurde von einem japanischen Spion, der sich als Hilfsarbeiter verkleidet hatte, an Admiral Togo weitergeleitet, die ihn veranlassten, überraschend die russische Festung Port Arthur anzugreifen und zu überrumpeln. Schon hier, nicht erst bei Tsushima, wurden der russischen Flotte erhebliche Verluste zugefügt. Lenin war begeistert und hoffte auf den Zusammenbruch des morschen Zarismus. Tatsächlich bekam dieser durch den Fall von Port Arthur seinen tödlichen Knacks. Im Zweiten Weltkrieg wurde ein deutscher Spion aus seiner Verstellung heraus eine Schlüsselfigur, die in das Kriegsgeschehen eingriff. Warum konnte die Wehrmacht nicht in Moskau eindringen ? Einen erheblichen Beitrag dazu und zum Zurückwerfen der deutschen Invasoren lieferte der in sowjetischen Diensten stehende deutsche Spion Dr. Richard Sorge, der sich in den faschistischen Kreisen Japans als Faschist reinsten Wassers ausgab, antikommunistische Hetzartikel in japanischen Zeitungen publizierte, eine steile faschistische Karriere machte, um an die für Stalin entscheidende Information heranzukommen: Es findet keine militärische Landung Japans auf dem Territorium der Sowjetunion statt. Damit war die sibirische Ostarmee frei und flexibel geworden und konnte nun nach Westen gegen die Wehrmacht geworfen werden. Man sieht, dass der gesunde Menschenverstand, der nicht wagt, die Identität mit sich aufzugeben, zu diesem schlangenartigen Verhalten gar nicht in der Lage ist. Die Generalstabsoffiziere als Offiziere einer besonderen Klasse müssen daher über den gesunden Menschenverstand hinaus sein. Manche Befehlshaber hätten tatsächlich nur geringe Kenntnisse und seien überfordert angesichts „der großen Ausdehnung, in denen meist agirt wird“. 50. Die Auslese unter den Anwärtern auf einen Posten als Generalstabsoffizier musste daher auch schon zu Zeiten Napoleons hart sein, schriftliche Prüfungen mussten in den Fächern Geometrie, Triognometrie, Fortifikation, Taktik, Kriegskunst und Kriegsgeschichte abgelegt werden. Scharnhorst war der Ansicht, dass eine schlechte Armee unter einem guten Stab leistungsfähiger als eine gute Armee unter einem schlechten sei. Das Ansehen des Stabes stieg, seine Mitglieder durften nun an der Tafel in Potsdam teilnehmen. Scharnhorst beließ es nicht bei grauer Theorie, sondern unternahm mit seinen Schülern sogenannte Generalstabsreisen ins Gelände. Stabsoffiziere sollen viel reisen, aber reisen mit dem historischen Blick, sich so bilden. Eine feine Ader zieht sich hier vom Grafen Wilhelm her. Sie unterlagen einer Teilnahmepflicht an Manövern. Seine starke historische Ader ließ die Schüler auch Schlachtfelder vergangener Kriege aufsuchen, um in der Phantasie Schlachtabläufe nachzuspielen, aber nicht um rein Vergangenes nachzuempfinden, sondern um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einen Punkt zu bringen. Wie war es in der Vergangenheit ? Wie ist die heutige Kampfsituation ? Wie könnte diese zukünftig aussehen ? So stellte sich ein Gespür für den ständigen Wandel der Gefechtsbedingungen ein. Die militärische Institution des Generalstabs bekam damit im Zuge der bürgerlichen Emanzipation eine Bedeutung, die sie in den absolutistischen Monarchien nicht hatte. Dadurch war natürlich eine Konkurrenzsituation mit dem kommandierenden General, in der Regel von aristokratischer Provenienz, gegeben, der bisher ohne Stab frei operierte und Adjudanten hatte, die er zurate zog. Schon in Friedenszeiten wurde der Stabsoffizier der Kommandostelle beigefügt, um die Kooperation einzuüben. Denn nicht mehr nur gehörten Geländeeinschätzungen zu seinem Metier, sondern er, der alle Umstände des Krieges in Erwägung zog, konzentrierte essentielle Aufgaben der ganzen Armeeführung, und diese Konzentration widerspricht in keiner Weise einer emanzipativen Bewegung, die auch immer eint. Hielt sich Friedrich II. nur einen bescheidenen Generalstab von sechs Offizieren, die keine strategischen und taktischen Kompetenzen besaßen, so hatte die preußische Armee 1808 bereits 34 Generalstabsoffiziere. In Frankreich hatte sich das Schattendasein des Generalstabs durch das Wirken Lazare Nicolas Marguerite Carnots 51. geändert, der ein Generalstabsbüro hatte einrichten lassen und dessen Überlegungen Scharnhorst bereits vor 1800 berücksichtigte. Aber erst 1810 wurde er in einer Kabinettsordre zum ersten Mal als Chef des neuen preußischen Generalstabs bezeichnet, zehn Jahre, nachdem er in preußische Dienste getreten war. In Preußen hatten bereits zwei gegen den Zeitgeist ankämpfende Militärtheoretiker den Weg für die Ideen Scharnhorsts geebnet. Der Brigademajor Georg Heinrich von Berenhorst, Sohn des Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau, ab 1760 Adjudant des großen Königs, hatte 1797/99 eine Schrift mit dem Titel: „Betrachtungen über die Kriegskunst, über ihre Fortschritte, ihre Widersprüche und ihre Zuverlässigkeit“ publiziert, 1802 dann dazu die Ergänzungsschrift: "Notwendige Randglossen“. Er faßte den Krieg nicht länger als kunstreiches Schachspiel auf, sondern betonte das Moment der Unberechenbarkeit, der Überraschung im Kriege. Er sprach vom Krieg als dem “großen Ungefähr”, ganz im Sinne der strategischen Devise Napoleons: “On s´engage et puis on voit !” 52. (Hans Delbrück hat in seiner „Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte“ darauf hingewiesen, dass diese Devise die Bedeutung der Reserven erhöht habe). Scharnhorst sprach von hundert Umständen im Krieg, die wir nicht beherrschen können, von dem Spielraum, den man dem Zufall lassen muß, dem Zufall, der für von Berenhorst sogar kriegsentscheidend war, von einer Mannigfaltigkeit der Kombinationen, dann endlich von der „Kunst zu kriegen. Die Kunst ist aber unendlich...“ 53. In dieser Unendlichkeit liegt das Schweigen des Feldherren, dass die Kriege stumm enden, Scharnhorst und Moltke, Wilhelm von Oranien und Prinz Eugen von Savoyen zählten zu den großen Schweigern. Das Schweigen gehört zur Kriegskunst wie das Schweigen der Waffen zum Frieden. Im Schweigen entzündet sich die Intuition. Entscheidungen im Kriege ergeben sich situativ als das Jähe aus dem Schweigen. Die Konturen eines Kriegsverlaufs lassen sich nicht einmal erahnen, deshalb kam in den Vorlesungen Scharnhorstens häufig der Satz vor: „In dieser Unbestimmtheit muß man die Sache lassen“. 54. In Lenins Überlegungen spielte die napoleonische Devise „On s' engage et puis on voit“ eine wichtige Rolle, sie barg das militärische Geheimnis der Oktoberrevolution in sich. Grob gesprochen: Mit dieser Taktik hatte Napoleon das bürgerliche Gesetzbuch europäisiert, mit den gleichen Mitteln hat Lenin in Rußland seine Annulierung durchgesetzt. Grob gesprochen, denn natürlich machen Männer keine Weltgeschichte. Berenhorst sah im Soldaten nicht länger einen seelenlosen Automaten, sondern appellierte an seine inneren seelischen Kräfte. Enthusiasmus müsse an die Stelle des Korpsgeistes treten. Der Soldat war eine Tötungsmaschine gewesen bzw. war zu einer solchen Maschine zurechtgeprügelt worden. Statt sturer Exerziererei befürwortete er Märsche mit Waffen und Gepäck und sprach sich gegen unmenschliche Strafen im Militärsystem aus. Sein Kernsatz: “Jeder Staatsbürger soll im Prinzip auch Staatsverteidiger sein”, beinhaltete nichts anderes als die allgemeine Wehrpflicht. Der Militärschriftsteller Dietrich von Bülow, ein ehemaliger preußischer Kavallerieoffizier, erkannte im Masseneinsatz den entscheidenden Faktor in künftigen Kriegen. Der Enthusiasmus der Massen muß geweckt werden, die Menschentaktik wird sich gegen die Uhrwerktaktik durchsetzen. In einer schwierigen Kriegssituation rettet uns keine Hausmannskost des Verstandes, sondern die „Excentrität des Geistes“. Um diese Menschentaktik zu erreichen, mußte vor allem ein großes Defizit behoben werden: die mangelhafte Bildung nicht nur der in Uniformen steckenden Bauernsöhne, sondern auch der Offiziere. Diese Überlegungen hatte er 1799 in seinem „Geist des neuern Kriegssystems, hergeleitet aus dem Grundsatze einer Basis der Operationen für Laien in der Kriegskunst faßlich vorgetragen von einem ehemaligen Preußischen Offizier“ und 1805 in dem Buch „Lehrsätze des neuern Krieges oder reine und angewandte Strategie aus dem Geist des neuern Kriegssystems hergeleitet von dem Verfasser des Geistes des neuern Kriegssystems und des Feldzugs von 1800„ veröffentlicht. Bülow nahm nach kurzer Dienstzeit seinen Abschied und war dann nur noch als Militärschriftsteller tätig - aus gutem Grund: „Berenhorsts und Bülows Vorschläge, von den Ideen der Französischen Revolution getragen, fanden jedoch nur geringen Widerhall im preußischen Offizierskorps. Die konservative Generalität bezeichnete die Vorschläge als „jakobinisch“ und lehnte sie entschieden ab“. 55. Bülow wurde sogar mehrmals inhaftiert und auf seinen Geisteszustand überprüft, sein Schicksal zeigt, dass die Offizierskorps der absolutistischen Armeen Brutstätten der Verrohung und blinder Traditionsgläubigkeit waren. Bülow war seiner Zeit voraus, er dachte bereits über die Einführung der Telegrafie auf dem Schlachtfeld nach. 56. Die preußische Taktik war erstarrt in mathematischen Formeln, mit deren Hilfe man glaubte, jede Situation im Krieg meistern zu können. Eine Militärmathematik war ein besonderer Zweig der Militärtheorie geworden. Man versuchte Systeme aus mathematischen und geografischen Elementen zu bilden. Scharnhorst warf zum Beispiel von Bülow vor, „dass er kritiklos geometrische Regeln aus der Taktik in die Strategie übertragen habe“. 57. Das Regelhafte verführte zum Selbstbetrug: die Offiziere bildeten sich ein, alles zu wissen. Ideologiegeschichtlich war der Ausgangspunkt die geometrische Methode des Descartes, „...daß von all jenen, die bislang in den Wissenschaften nach Wahrheit geforscht haben, allein die Mathematiker einige Beweise, das heißt einige gewisse und evidente Begründungen hatten finden können...“. 58. Die Evidenz der Mathematik wurde als Ideal rationalistischen Denkens fundamental. Die Gegenströmung, die Reflex bürgerlicher Emanzipation war, verdrängte die Mathematik durch die idealistische Dialektik argumentativ dadurch, das die Welt kein Komplex fertiger Dinge sei, die die Mathematik schablonenhaft wiedergibt, sondern ein Komplex von Prozessen, deren wissenschaftliche Widerspiegelung nur als Dialektik, sie eben als Prozesswissenschaft begriffen, möglich ist. Das konnte aber nur halbherzig bleiben, denn das Kalkül dominierte die kapitalistische Gesellschaft noch mehr als die feudale. Das starre mechanizistische Denken hatte ja seine historische Berechtigung, es war auch notwendig, die Einzeldinge gründlich zu untersuchen. Die Polemik gegen diese Denkweise führte der Dialektiker Hegel, für den der Geist wesentlich aktiv, „producierend“ ist, der sich nun nicht wie die preußischen Offiziere selbst betrog, durch mathematische Regelhaftigkeit alles begriffen zu haben , sondern über den dialektischen Idealismus durch eine Anstrengung des Begriffes zum absoluten Wissen meinte gelangen zu können : „...die Bewegung des mathematischen Beweises gehört nicht dem an, was Gegenstand ist, sondern ist ein der Sache ÄUSSERLICHES (kursiv von Hegel) Tun“. 59. Hegel unterschied „historische und mathematische Wahrheit“ und Scharnhorst kritisierte General Saldern, der die preußischen Armee zu einem mathematischen System formen wollte. Saldern beschäftigte sich mit der Frage, ob man den Krieg gewinnen könne, wenn die Infanterie 75 oder 76 Schritte in der Minute zurücklege. Zugleich kreisten die Gedanken fortschrittlicher Offiziere um Themen wie Massenpsychologie, Volkselan, Volkscharakter und Enthusiasmus, schon Herder befasste sich nach seinem Ruf nach Schaumburg-Lippe mit den Themen „Volkstum“ und „Volkspsychologie“. Man entdeckte die hohe Bedeutung der moralischen Kräfte. Mathematik war kein Hauptfach mehr, sie erzeugt nur noch ein bleibendes Gefühl für die logische Folgerichtigkeit und mathematische Strenge in den Schlüssen. „Dagegen ist sie abzulehnen, soweit sie im Sinne des alten Systems sich zum Tyrannen der Taktik im Felde aufschwingt“. 60. Mehr noch als auf anderen Gebieten gilt dies für die Kriegssituation und Friedrich der Große hatte so manchesmal das Blatt wenden können, weil er gegen alle Regeln der Kriegskunst operierte. Der Offizier hat eine Regel im Kopf, der Krieg aber bietet hundert Situationen aller Art dar. Eine Regel vollzieht sich im Bereich eines schon bekannten Normalablaufs und erhält sich durch die Probe gelungener Wiederholung. Der Krieg aber hält Unerwartetes schlechthin bereit und seine einzige Regelmäßigkeit scheint im Hervorbringen von bisher Unbekanntem zu liegen, das rasch zu durchleuchten, in Erfassbares zu verwandeln ist. Wenn überhaupt, dann ist es der Krieg, der uns an die Relativität all unseres Wissens hält. Im Kessel von Menin sagte General Hammerstein, dass das Unerwartete im Krieg gewöhnlich den glücklichsten Erfolg habe. Er behielt Recht, denn niemand beim Feind rechnete mit einem Ausbruch. Aber gerade eine bis zum Exzess getriebene Rechnerei und Regelhörigkeit grassierte im preußischen Heer wie eine Seuche. Es war die Seuche der positivistischen Systemmacherei. Auch grassierte ein Friedrichkult, der dazu eigentlich widersinnig war. Gefordert war eine „neue Anstrengung der besten Köpfe“ 61., die eine neue auf Erfahrung gegründete Kriegstheorie zu entwickeln hatten. Instruktionen, stellte dann auch General Yorck fest, geben uns keine bestimmten Formeln für alle Fälle, sondern nur allgemeine Regeln der Erfahrung, „deren zweckmäßige Anwendung auf die Lage der Umstände den denkenden Offizier von demjenigen auszeichnen, der seine Functionen nur wie einen Mechanismus behandelt oder in der Zusammenstellung erlernter Evolutionen schon das vollendete Bild der Kriegskunst sieht“. 62.

Die Möglichkeit, die Mißstände im absolutistischen Heerwesen zu beheben, bot sich Scharnhorst letztendlich erst in Berlin, nachdem er aus Hannoverschen Diensten 1801 abgeworben wurde, 1797 hatte er ein Angebot, vermittelt durch Oberstleutnant Phull und Generalmajor Tempelhoff, noch abgelehnt, auch ein Angebot aus Dänemark wies er zurück. Erst am 5. Oktober 1800 reichte er ein Gesuch beim König von Preußen ein und trat im Mai 1801, doch schon im Alter von 41 Jahren, als Artilleriemajor unter die Fahne der Hohenzollern in das dritte preußische Artillerie-Regiment über, wie die meisten Reformer ja nicht aus Preußen selbst kamen. Von allen Reformern widerfuhr es nur dem Bauersohn Scharnhorst, dass man ihn als „Ausländer“ noch verhöhnte. Viele sahen nicht, dass die nichtpreußische Herkunft von Vorteil war, um Neues in die Wege zu leiten, Preußen schmorte bekanntlich militaristisch im eigenen Saft, erinnern wir uns der Worte von Montesquieu, dass die preußische Monarchie kein Land sei, dass eine Armee hat, sondern Preußen wäre eine Armee, die ein Land hat. (Während in Frankreich nur jeder 140. Einwohner Soldat war, war es in Preußen jeder 32., hier wurde für die Armee über zwei Drittel des Etats vergeudet). Ein bon mot Montesquieus, eine schöne Wendung, recht eigentlich betrachtet, war die Armee ein durch Ständeschranken errichteter Staat im Staate, für Scharnhorst hatte das Militär in Preußen immer eine „eigene Existenz“. Diese Existenz lastete dann wie ein Bleigewicht auf sich verschärfende Klassenkämpfe, auf das widersprüchliche und historisch notwendige, das fortschrittliche Auseinanderfallen gesellschaftlicher Kräfte, da die dem deutschen Volk gegenüber aus gutem Grund stets mißtrauische Hohenzollernmonarchie gegenüber einer zerwühlten Gesellschaft einen in Gott befestigten Ruhepunkt des Monolithischen bildete. Davon haben sich die „ausländischen Reformer“ blenden lassen, Clausewitz schwärmte: „Das eine ist die Wirksamkeit der Regierungsmaschine, wodurch die Menge zur Einheit wird, und das andere der Geist des Volkes, welcher diesem Ganzen Leben und Nervenkraft gibt“. 63. Gegen bürgerliche Gleichheitsbestrebungen behauptete sich die feudalaristokratische Ständehierachie. Scharnhorst knüpfte (auch von daher) seinen Eintritt in den Heeresdienst an Bedingungen, eine war die Erhebung in den erblichen Adelsstand, die ihm der 1797 an die Macht gekommene Friedrich Wilhelm III. am 14. Dezember 1803 erfüllte. Es wimmelte im preußischen Offizierskorps nur so von „Vons“ und von „Zus“, die das Land herumkommandierten. Das Verhältnis zu dieser Clique wollte der niedersächsische Oberstleutnant, der schon in Hannover die Arroganz des kastenhaften Militäradels gegenüber einem Bauernsprößling gespürt hatte, durch eine Nobilitierung vorher geregelt wissen. Um das Finanzielle nicht zu vergessen: Scharnhorst erhielt jährlich die gute Summe von 3 500 Rthalern. Kaum in Berlin angekommen, gründete Scharnhorst im Juli 1801 die immer Mittwochs zusammenkommende “Militärische Gelehrte Gesellschaft”, deren Direktor er wurde und zu deren 200 Mitgliedern auch der Freiherr von Stein gehörte, der allerdings mit der Gesellschaft in Konflikt geriet, da er sich für die Beibehaltung der Prügelstrafe ausgesprochen hatte, derselbe Stein, der schon 1793 das revolutionäre Frankreich als die „scheußlichste Nation“ verdammte. Vielmehr wollten die Reformer, so das geflügelte Wort von Gneisenau, endlich die “Freiheit des Rückens” durchsetzen. Der Zustand des Soldaten war der unglücklichste aller Menschen-Klassen, er durfte halb zu Tode geprügelt werden. Statt Prügel-, Stock- und Spießstrafe wurde im Zuge der Reformen der Übergang zur Arreststrafe vollzogen. 64. Generell ging es darum, Theorie und Praxis in das richtige Verhältnis zu setzen. Die Zeitschrift, die diese Gesellschaft, die endgültig am 24. Januar 1802, am Jahrestag der Geburt Friedrichs des Großen, gestiftet wurde, nur für ihre Mitglieder herausgab, trug den Titel “Denkwürdigkeiten der Militärischen Gesellschaft in Berlin” und enthielt 196 aus dem Mitgliederkreis stammende Aufsätze und Abhandlungen. 65. Auf Friedrich II. wird ausdrücklich Bezug genommen, denn der hatte 1781 in einem Befehl an die Inspekteure auf die Notwendigkeit der Offiziersweiterbildung hingewiesen. Im Zuge der Gesellschaftsgründung wurde eine Bibliothek zusammengestellt, Rezensionen neuer Fachliteratur verfaßt und in den Wintermonaten erarbeitete man sich die Geschichte eines berühmten Feldzuges aus den Quellen. Der siebenjährige Krieg wurde mit dem neuartigen Revolutionkrieg konfrontiert, Friedrich mit Napoleon verglichen. Auf diese Weise wurden die Erfahrungen zweier kriegsgeschichtlicher Epochen ausgewertet, die Epoche der alten Ermattungsstrategie und die Epoche der neuen Vernichtungsstrategie, in dieser ist für Clausewitz die Vernichtung des Feindes der über alles gebietende Zweck und insofern beinhaltete die Epoche der napoleonischen Kriegführung schon den absoluten Krieg für ihn. Zwar hatte Friedrich der Große geäußert, dass derjenige, der alles konservieren will, nichts konserviert, beherrscht wurde er aber von dem Gedanken, dass eine Schlacht in einem Krieg ein Brechmittel sei, das man einem Kranken verabreiche. Im neuen Kriegsbild setzte die Absicht, den Feind zu vernichten, die Verwegenheit des Feldherren voraus, gepaart allerdings mit Vorsicht, seiner eigenen Aussage gemäß ließ Napoleon sich immer nur auf eine Schlacht ein, bei der er sich eine 70 prozentige Gewinnaussicht ausmalte. Selbst der von Clausewitz als absoluter Krieg bestimmte hat doch diese quälende Undurchsichtigkeit in sich, dass selbst ein Napoleon vor jeder Schlacht glaubte, nicht genug Truppen zu besitzen. Aufschlußreich ist eine Äußerung von ihm auf St. Helena, aus der seine Überlegenheit daraus hervorgeht, dass er aus einem Fehler lernte, ihn korrigierte, der in der ersten jakobinistischen Revolutionskriegen gemacht worden sei: „In den Revolutionskriegen hatte man das falsche System, seine Kräfte zu zersplittern, Kolonnen nach rechts und Kolonnen nach links zu senden; was ganz verkehrt ist. Was mir in Wahrheit so viel Siege verschafft hat, das ist das entgegengesetzte System. Denn am Tage vor der Schlacht zog ich meine Divisionen, statt sie auseinandergehen zu lassen, alle auf den Punkt zusammen, den ich überwältigen wollte. Dort war meine Armee massiert, und warf mit Leichtigkeit das, was ihr gegenüberstand und notwendigerweise stets schwächer war, über den Haufen“. Das Thema der ersten Vorlesung am 16. Juli 1801 lautete: „Über das Benehmen des französischen Generals Moreau unmittelbar nach der Übernahme des Kommandos der Armee in Italien 1799„. Im Januar 1803 konnte Scharnhorst in seinem Rechenschaftsbericht stolz verkünden: “Keine Gesellschaft wird so zahlreich und so regelmäßig, im Verhältnis der Anzahl der Mitglieder besucht und in keiner herrscht soviel Gemeingeist und freundschaftliche Mitteilung als in der unsrigen. Und es scheint, als wenn die Liebe zu den Wissenschaften alle kleinlichen Leidenschaften, von denen die Menschen so oft beherrscht werden, verdrängt hätte, noch nie ist unsere wissenschaftliche Untersuchung durch irgendeinen Zwist oder Uneinigkeit gestört worden.” 66. Zwar gab es auch bissige Bemerkungen, der alte Haudegen General York, der bereits in den ostindischen Kolonien gekämpft hatte, polterte: in der Militärischen Gesellschaft höre man auf gepolsterten Stühlen in schwüler Gelehrtenluft langweilige Betrachtungen, York war eben ganz in einer rein militärischen Denkweise großgeworden und befangen, aber die Errungenschaft konnte auch er nicht mehr rückgängig machen: aus eigenem Antrieb hatte sich eine hervorragende Gruppe von Staatsdienern und Offizieren wissenschaftlich mit der Theorie ihres Berufes auseinandergesetzt. In der Tat stellte der Einbruch der Bildung in die altpreußische Militärwelt eine Art stille Revolution dar. 67. Die unter dem Einfluß der Aufklärung sich bildenden Offiziere konnten von dieser Strömung her nicht sozialrevolutionär tätig werden, vielmehr sollte durch eine Elite von Offizieren und durch Erziehung des Offiziersnachwuchses der notwendige gesellschaftliche Wandel herbeigeführt werden. Bis dahin hatte man Offiziere gesehen, die weder Schreiben noch Rechnen konnten, jetzt sollten Offiziere aus einer neuen Schule eine Reform von oben durchführen. Die meisten dieser alten „bornierten Landtiere“ lasen nie. Wozu auch ? musste der aus dem preußischen Landjunkertum, aus dem Idiotismus des Landlebens stammende adelige Offizier sich fragen. Musste es nicht viel einfacher sein, den Herrschaftsmechanismus Gutsherr : Leibeigener in die preußische Armee hineinzutragen als Offizier durch Geburt : zur Kampfmaschine dressierte Soldatencanaille. Selten sah man einen Offizier mit einem Buch unter dem Arm. Hatte es nicht auch in Frankreich so angefangen, mit Büchern und Auszügen aus ihnen in Broschüren, die jedermann für wenig Geld erstehen konnte ? Besonders in den Ostseeprovinzen ließ der deutsch-baltische Landadel seine Zöglinge privat durch schlecht bezahlte Hofmeister rural erziehen, der Anbau von Nutzpflanzen stand im Mittelpunkt. Der Ausspruch von Francis Bacon „Wissen ist Macht“ war immer ein Leitstern der urban ausgerichteten Aufklärung, dagegen hatten die alten Mächte in ihren durchschnittlichen Repräsentanten einen wahren Horror vor geisteswissenschaftlicher Bildung. Nun sollte, ja mußte alles anders werden. Der gute Offizier ist bereit, lebenslang zu lernen, seine wissenschaftliche Entwicklung nicht zu unterbrechen, denn im Krieg müsse man auf hundert Dinge Rücksicht nehmen. Für einen Portepeefähnrich waren zum Beispiel folgende Kenntnisse angesagt: 1) Erträglich schreiben in Hinsicht der Kalligraphie und Orthographie, 2) Arithmetik inclusive Proportionen und Brüche, 3) ebene Geometrie, die ersten Anfangsgründe, 4) Planzeichnen, verständlich, aber nicht schön, 5) Elementargeographie, 6) allgemeine Weltgeschichte, vaterländische Geschichte. Zum Studium der Geschichte, die für ihn immer einen praktischen Bildungswert hatte, gab Scharnhorst Hinweise. Nicht ein Wust von Fakten müsse gelehrt werden, darin stimmt er u.a. mit Fichte überein, sondern wichtige Ereignisse, die auf das Herz wirken. Geschichte muß mehr Philosophie sein. 68. Die bisherige Kriegsgeschichtsschreibung sei nichts weiter gewesen „als ein an Wahrscheinlichkeit grenzender Roman“. Der Schüler darf sich nicht in die Unendlichkeit des Äußeren verlieren, nicht etwas auswendig kopieren, ohne es inwendig begriffen zu haben. Die Lehrer dürfen den Unterricht nicht überfrachten. Fichte lehrte 1811, dass die Bildung den Menschen in ihn hineinführe, dass der Strom bloßen Wahrnehmens unterbrochen werden müsse, weil die Wissenschaft nicht in der quantitativen Erweiterung des Vorrats sinnlicher Erkenntnis bestehen könne. Das pädagogische Konzept von Scharnhorst basiert auf zwei Grundpfeilern: die Lernenden sollen zum SELBSTDENKEN angehalten werden, ihr Denkvermögen soll sich entwickeln, und für dieses ist der PRAXISBEZUG verbindlich. „Meine Begriffe von Geschützbedienung reduzieren die Sache auf wenige wesentliche Dinge, u. alles übrige halte ich für schädliche Spielereien“, schrieb er am 27. Februar 1810 an Prinz August. Ohne Praxisbezug hat der Offizier bloße abstrakte Begriffe ohne konkrete Vorstellungen. Hier dachte Scharnhorst kantisch durch und durch, denn Kant hatte in Königsberg gelehrt, Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Natürlich machen Kenntnisse und Wissenschaften allein noch keinen guten Offizier aus, unbedingt erforderlich ist situative Intelligenz. Scharnhorst verlangt auch gutes Benehmen und französische Sprachkenntnisse, wenigstens so viele, um einen französischen Text ins Deutsche zu übersetzen. Später wird Lenin sagen, dass der Krieg eine kunterbunte Sache sei, da dürfe man nicht mit einer Schablone an ihn herantreten. Aus der Reziprozität von Selbstdenken und Praxisbezug ergibt sich ein undogmatischer Theoriepraxiskomplex, in dem eine reziproke Korrekturpraxis enthalten ist, die ein Regelsystem als Anleitung zum Handeln ausschließt. Man lernt nicht ein System ein für allemal auswendig, sondern muss lebenslang fehlerkorrigierend lernen, situativ hellwach sein, die spezifische Atmosphäre des Schlachtfeldes in sich aufnehmen können. Es ist eine Erziehung durch die spezifischen, epochal bedingten Fehler in der unendlichen Fehlerkette der Geschichte, in der das unbewußte Handeln das bewußte überwiegt. Der Mensch im Krieg macht eher und mehr Fehler als der Mensch im Frieden. Noch seltener als im Frieden geschieht im Krieg das Gewollte. Der Krieg hat eine Anforderung, die den bloß gesunden Menschenverstand übersteigt, er gebiert eine Kriegskunst, die über bloßer Gelehrsamkeit steht. „Die Gelehrten-Schule ist durchaus Kunstschule“ hatte Fichte in seiner vierten Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten „gepredigt“. Diese Schule der Kunst des Krieges musste nach einem einheitlichen Bildungsweg ausgerichtet sein, nicht nur Offiziere sollten in ihr lehren, sondern auch Gelehrte und erfahrene Schulmänner. Die Befreiungskriege brachten vieles und manchem etwas, in ihnen ist für alle was drin, für die Jakobiner und Royalisten allemal, für die Bauern und für die Kleinbürger, nur dem reichen Bürgertum schmeckte die allgemeine Wehrpflicht nicht. Diese Kriege waren Früchte einer bürgerlichen Bauernrevolution. Alexis de Tocqueville charakterisierte die französische Revolution so und er charakterisierte sie richtig. Gerade die Befreiungskriege zeigen uns, dass aus der Explosion der Revolution heraus die Kriegsführung wesentlich komplexer geworden war. Es zeichnete sich ab, dass wahre Meisterschaft in der effektiven Verbindung von kleinem und großem Krieg bestand. Dass der einzelne Soldat immer selbständiger wurde - als Ausbildungsziel galt der völlig selbständige Schütze - brachte keineswegs eine Entlastung des Offiziers mit sich. Und doch erleben wir in den Komplexitäten der Kriege, die aus der französischen Revolution folgten, das wunderbare Schauspiel des Aufeinanderprallens zweier wuchtiger Kolosse bei Borodino, in dieser Schlacht schien der Krieg wieder monolithisch-dual nach einer Schwarzweißschablone abzulaufen. Eine Masse von analphabetischen Slawen stand einer Masse von eher weniger als mehr gebildeten Westeuropäern gegenüber - stürzt der russiche Koloß, dann können diese Westeuopäer weiter nach Indien marschieren, um dort die Weltmachtstellung Englands zu vernichten. To catch two birds with one stone, sagt ein englisches Sprichwort, aber es geschah umgekehrt: zwei Faktoren führten wesentlich zum Untergang der Großen Armee, die territoriale Ausdehnung Russlands mit einer von entlassenen Gefängnisinsassen abgebrannten Hauptstadt und eine marginale Urbanisierung dieses Riesenreiches überhaupt, die keine effektive militärische Entscheidung zuließ, so dass das Gewicht der soldatischen Bauernmassen zunehmend eine Schwerkraft gewann, die alles erdrückte. Zwar brachte die bürgerliche Revolution schon eine Dynamisierung des Kriegsbildes mit sich, aber mit dem Schwergewicht der bäuerlichen Massen. Je länger sie dauerte, desto mehr breitete sich der Bauernsoldat aus und nicht der Kaiser der revolutionsfrivolen Franzosen, der Zar der dumpfen Russen, der slawischen Bauernvölker wurde durch den Wiener Kongress zum Herrn Europas. Überhaupt waren die Befreiungskriege in toto noch einmal ein Aufbäumen des ruralen Soldaten gegen den urbanen, deshalb galt für die preußischen Reformer die Linie: spanische Guerilla - Vendée - Tirol - Ansbach und Bayreuth. 69. Im preußischen Volksaufstand gegen Napoleon, der von einer Geheimorganisation vorbereitet werden sollte, spielten die Pfaffen nach Auffasung der Reformer eine agitatorische Rolle, sie fühlten den Puls der Bauernjugend und sollten deren Hass auf Ausländer schüren. Die Kriege dieser Epoche fanden noch auf vorindustriellen Wirtschaftsstrukturen statt. Deshalb banden die Reformer in ihren Insurrektionsplänen auch die Pfaffen ein, diesen fällt in reaktionären Staaten eine Schlüsselposition zu. Sie hatten den besten Draht zum gemeinen Mann und sollten die Freveltaten der Franzosen verbreiten. Die Namen der gefallenen Soldaten sollten in ihrer Heimatkirche mit goldenen Buchstaben verewigt werden, die Namen der mit Medaillen Ausgezeichneten nicht nur in der Garnisonskirche, sondern auch in der Heimatkirche erscheinen. 70. Ausdrücklich heißt es in der Instruktion von Scharnhorst an Lützow für die Streifdetachements, dass diese nie in einer Stadt übernachten sollen, „nicht einmal darin futtern“. Wie bei Graf Wilhelm mitbekommen, sollten die Bauern von der Landguerilla, die sie immer gut behandelt, in Kriegsdienste eingespannt, bald zu Pferde, bald zu Fuß verschickt werden. Diese Guerilla meidet das Tageslicht, operiert nachts und geht selbst bei Dunkelheit nicht mehrmals denselben Weg. Sie ruht sich tagsüber, fern der Straßen, im Gehölz aus. Eine ihrer Aufgaben besteht darin, die Hauptstraßen unsicher zu machen. Auch heute noch ist das Konzept einer reinen urbanen Guerilla verfehlt, in den Konzepten der Guerilla dominiert weltweit die Konstellation: nur nachts in den Städten zu operieren. Sie hat den Vorteil, alle, auch primitivste Waffen einzusetzen und die Wutanfälle Napoleons über die Erfolge der spanischen Guerilla rührten auch daher, dass seine waffentechnische Überlegenheit offensichtlich nicht ausschlaggebend war, dass der primitive, oft analphabetische Bauernpartisan den Selbstbehauptungswillen einer Zivilisationsstufe mit archaisch anmutenden Waffen erfolgreich durchsetzte, die für die fortgeschrittenen urbanen Westeuropäer als überholt galt. In Spanien nahm der Niedergang Napoleons nach dessen eigener Auffassung seinen Anfang, der in Waterloo seinen Abschluß fand. Der aus der Pariser Revolution emporgekommene Kaiser fiel nach der Schlacht von Waterloo als politischer Machtfaktor überhaupt aus, aber über die Häupter seiner Sieger stieg bereits drohend das Gespenst der Industrialisierung und mit ihr das des Kommunismus auf, in dem die Bevölkerung ganz dem Idiotismus des Landlebens entrissen sein sollte. 71. Im Grunde hat Scharnhorst ein rurales Geschichtsbild, wenn er die Weltereignisse „als den unabänderlichen Naturgang der Völker“ deutet. So wie der Bauer einem unabänderlichen Naturgang der Jahreszeiten unterworfen ist, so wechseln sich Saat und Ernte in der Geschichte ab. „Der Nachkomme bäuerlichen Geschlechts wußte, daß auch im geschichtlichen Leben die Fruchtfolge nicht übersprungen werden durfte“. 72. Er war für einen „Großen Sprung nach vorn“ nicht zu haben. War dieser „Sprung“ in China aus der Überlegung entstanden, dass am Ende die Kräfte einer Bauernguerilla doch nicht ausreichen könnten. ? Es ist heute fast in Vergessenheit geraten, dass auch in der Sowjetunion ein „Großer Sprung“ konzipiert worden war. Stalin ging davon aus, dass sein sozialistisches Vaterland gegenüber den fortgeschritteneren Ländern des Westen in technisch-industrieller Hinsicht um cirka hundert Jahre zurücklag. Er gab im Februar 1831 die Devise aus, diesen Rückstand in zehn Jahren aufzuholen. „Entweder wir schaffen das oder wir werden zermalmt“.

Fehler in einem Krieg resultieren aus einer einseitigen Denkweise, er ist weder nur komplex noch nur einfach, sondern diese Elemente durchdringen sich. Hier müssen wir Clausewitz Recht geben: Im Krieg ist alles einfach, aber das Einfache ist schwierig. Scharnhorst spricht von einer großen und einfachen Ansicht des Gegenstandes, einer leitenden Idee, von der man alles erwarten müsse, nichts von einem kleinen künstlichen Detail. 73. Die Offensive muss Elemente der Defensive in sich enthalten und umgekehrt, wie Scharnhorst lehrte: „es gibt keine taktische Defensive. Zwei Armeen bestimmen sich in ihren Maßregeln immer wechselweise“. 74. Eine überfallene Provinz kann sich nicht rein defensiv verhalten, auf Stoß muß Widerstoß erfolgen, die Verteidigung verbindet sich mit dem Angriff, die Vertreibung kann nur offensiv erfolgen. Der Krieg wird in seinem Verlauf komplexer, dieser Prozess setzt aber keineswegs die Elementarien außer Kraft, die modifiziert mitentwickelt werden müssen. Immer wieder können Konstellationen auftauchen, die anders, auch minimisierter, auch maximierter schon mal dagewesen waren. Aber immer wieder können alle Konstellationen durch den Zufall durcheinandergebracht werden, Rationalität allein genügt also nicht, eine bestimmte Sensibilität, ja stäker formuliert, ein richtiger Instinkt, ein „richtiger Riecher“ zeichnen den Feldherren aus. Er muss öfters seine Hände im Unbestimmten herumfühlen lassen, ehe er greifen, zugreifen kann. „Die Kriegskunst hat einen mechanischen Teil, der sich nach Regeln lernen läßt, und einen namenlosen“, pflegte der englische General Lloyd zu sagen. Dessen Werk über den siebenjährigen Krieg hatte übrigens Generalmajor Tempelhoff übersetzt und fortgeführt. Im Partisanenkrieg kämpft ein Schwächerer gegen einen zunächst Stärkeren, deshalb ist es elementar, dass er zunächst zurückweicht, im Partisanenkrieg folgt immer der Angriff der Verteidigung, wie bunt und vielgestaltig auch immer der Kriegsprozess die Dispositionen ausschlagen läßt. In gewisser Weise führt der Partisan den Krieg feudal, nicht bürgerlich, zumindest, was die schnelle Entscheidung in einer Generalschlacht betrifft, die charakteristisch für die jakobinistisch-napoleonische Kriegführung war. Wie Friedrich der Große meidet er diese, folgt eher der Positiosstrategie (die Miniarmee nicht opfern) als der Vernichtungsstrategie. Im Rußlandfeldzug sowohl Napoleons als auch der deutschen Wehrmacht ergab sich ein unlösbarer Widerspruch, beide Strategien mussten ihr Ziel verfehlen. Natürlich ist es im Zweiten Weltkrieg unklug gewesen, die Vernichtungsstrategie übermäßig hart anzuwenden, allein, was nützen angesichts der riesigen Volksmassen in den russischen Weiten die Behauptungen von Positionen. Dass sie relativ aussichtslos sind, rechtfertigt keineswegs das barbarische Vorgehen der Wehrmacht. Der Ausweg der Nazis aus dem Dilemma konnte nur darin bestehen, die russischen Völker zu Helotenvölker der nordischen Rasse machen zu wollen, sinnbildlich dafür wollte Hitler ja Moskau dem Erdboden gleich machen, um nach Auslöschung der Hauptstadt an ihrer Stelle einen großen See anzulegen. Im XX. Jahrhundert ergab sich aus dem Wechsel des globalen Krieges zum kalten, dass dieser vordergründig ein einfacher war, nach dem Zusammenbruch des einen Blocks, des Warschauer Paktes, ist der Krieg wieder komplexer geworden, global-sprunghaft, ja er scheint sich immer mehr zur Seite des kleinen Krieges zu neigen, der eine Sache von Spezialisten mit höchstem technischen Equipment zu werden scheint. Der Vietnamkrieg nimmt in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts insofern eine Schlüsselposition ein, als schon in ihm auf amerikanischer Seite vier territoriale Verwaltungssoldaten auf einen im Feld kämpfenden Spezialisten kamen, vollends hat er den Krieg zu einem der medialen Weltöffentlichkeit gemacht. Dieser Umstand, dieser moralische Faktor trug nicht unwesentlich dazu bei, dass die USA ihr widersinniges Engagement abbrachen. Dieser Krieg in Hinterasien war im Kern kein lokaler, sondern einer, der durch Satellitenaufklärung dem Feind die Heimat wegnahm. Indem jeder us-amerikanische General jeden Winkel Vietnams wie seine Westentasche kannte, war der bisherige Vorteil der Defensive, das Terrain zu kennen, Militärgeschichte geworden. Der Vietcong mußte eine zweite unsichtbare Heimat in einem gigantischen Tunnelsystem aufschlagen, er bestätigte das Bild von Hegel und Karl Marx, dass der revolutionäre Maulwurf sich sous terre herumtreibe. Zugleich aber war eine medial erzeugte diffus moralisierende Weltöffentlichkeit so gewichtig geworden, dass sie über die Luftkameras der CIA den Sieg davon trug. Die dunklen Tunnelkanäle und die Fernsehkanäle zusammen erzwangen den Sieg, der bis zur Implosion der Sowjetunion die US-Army traumatisierte. Vor allem zeigte hier der Vietnamkrieg, und nicht nur hier, dass nicht der technische Entwicklungsstand der Waffen den Ausschlag gibt. KOLLEKTIV operierende Fahrradsoldaten bezwangen eine Atommacht. Scharnhorst war ein Einiger, der das ungeheure Gewicht der Kollektivität im Krieg richtig erfasst hatte. Die französische Revolution behauptete sich, nicht weil ihre Generäle größere Talente besessen hätten, sondern es war ein Geist der Gemeinschaft, gebildet durch die Vereinigung aller Stände. Dieser General hielt seine Offiziere zum kollektiven Studium des Krieges an: „Verzweiflung an der Kunst, Ermüdung in der Nachforschung und Einseitigkeit in der Ansicht ist nicht selten die Folge des isolierten Studiums“. 75. Die Offiziersanwärter dienten in den ersten Monaten ihrer Ausbildung als Mannschaften. Hier mag eine Kindheitserinnerung mitgewirkt haben, denn im Hause seines Vaters waren Arbeit, Unterhaltung und Genüsse gemeinsam. Es hat etwas von Aberwitz an sich, heute das militärische Potential der Völker durch eine Handvoll Spezialisten entwertet zu sehen, was letztendlich einer politischen und militärischen Entmündigung der Völker gleichkommt. Wer die allgemeine Wehrpflicht abschafft, betrügt das Volk um seine Revolution, denn die Wehrpflicht birgt ja in sich auch das Wehrrecht, ja Widerstandsrecht. Denn da die allgemeine Wehrpflicht das Volk in den Waffen übt, darf man sie nicht einseitig militärisch betrachten. Sie ist eine eminent hohe politische Angelegenheit und darf somit vom allgemeinen Wahlrecht nicht getrennt werden. „Je mehr Arbeiter in den Waffen geübt werden, desto besser. Die allgemeine Wehrpflicht ist die notwendige und natürliche Ergänzung des allgemeinen Stimmrechts, sie setzt die Stimmenden in den Stand, ihre Beschlüsse gegen alle Staatsstreichversuche mit den Waffen in der Hand durchzusetzen. Die mehr und mehr konsequente Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht ist der einzige Punkt, der die Arbeiterklasse Deutschlands in der preußischen Armeeorganisation interessiert“. 76. Engels würdigte immer die allgemeine Wehrpflicht und die sich aus ihr ergebende militärische Organisation, die dem Volk gewaltige Macht verschaffe. Er hoffte, dass diese geballte Macht eines Tages gegen die Regierung gerichtet werden könne. Es ist viel zu früh, vom Ende des großen Volkskrieges und von einer Ära einzelkämpferischer Spezialisten zu sprechen, insofern kann die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht durch den elitären und falschen Doktor zu Guttenberg keine endgültige sein. Schon zu seinen Lebzeiten hatte Scharnhorst das Fehlen einer allgemeinen Wehrpflicht in den nordamerikanischen Staaten als ein nichtendgültiges angesehen. Mit seiner Parteinahme für diese Pflicht schwamm er sowohl theoretisch als auch praktisch gegen den Strom der Zeit. Wichtige Philosophen wie Montesquieu, Kant, Fichte und Rousseau, für ihn waren Söldnerheere die „Pest Europas“, lehnten die stehenden Heere ebenso ab wie maßgebende Kreise der Bevölkerung, ja Soldaten selbst. Für den englischen Philosophen Hume war das stehende Heer Ausdruck des Krieges eines Landes mit sich selbst, für Gibbon wie für die Physiokraten waren Soldaten der stehenden Heere faules Pack, für Voltaire gedungene Mörder und wie für den Kantianer von Boyen der Abschaum der Nation, für Helvetius und Holbach die Schlächter ihrer Völker. 77. Gegen einen anonymen Artikel in den Schlözerschen „Staats-Anzeigen“ Nr. 65 von 1792 „Versuch über die nachteiligen Folgen der jetzigen Verfassung des Kriegs-Standes überhaupt, und der der Infanterie-Corps insbesondere“ verfasste er einen Aufsatz über die Vor- und Nachteile der stehenden Armeen. In ihm kam er zu dem durch historische Beispiele untermauerten Beschluß, dass diese für Staaten unentbehrlich seien, zur Milderung des Elends unter den „niedern Teil des Volkes“ beitragen, der Überfluß der Reichen fließe durch die Heere, die hauptsächlich durch die Luxus-Licent (Steuer) unterhalten werden, in die Tasche der „Ärmern“, dass viele ihr Brot durch die Heere verdienen, ohne Soldat zu sein, dass die meisten Soldaten nur in entbehrlichen Jahreszeiten der Landwirtschaft entzogen werden, dass der Bauer für seine Bodenfrüchte höhere Preise erziele und insbesondere für seine Pferde (für Offiziere), dass durch den Soldatenstand auch ausschweifende Menschen diszipliniert werden und dass gediente Soldaten bessere Arbeiter sind (worauf schon der bekannte verstorbene Oberamtmann Dreppenstädt hingewiesen hatte), dass der Bauer (Roggenbrot wäre ihm eine Delikatesse) gemeinhin schlechter lebe als der Soldat - kurz: er widersprach dem Artikel des Anonymus in allen Punkten. Ein klares Bekenntnis zur Dienstarmee lag sowohl in Hannover als auch in Preußen bei dem Bauernsohn Scharnhorst immer vor, er bestach in seinen Aufsätzen und Denkschriften durch eine ganz eigentümliche argumentative Schärfe, wie die Beispiele in seinem Aufsatz über die Notwendigkeit der stehenden Heere belegen und die sich vom Jargon der akademischen Kunstsprache wohltuend abhoben.

Dieser Bauernsohn hatte 1804 in Berlin eine Militärakademie nach seinen den König überzeugenden Plänen gegründet, die nur im Winterhalbjahr ihren Vorlesungsbetrieb aufrecht erhielt, beginnend mit dem ersten September, endend mit dem 21. März. Die Offiziere wurden aber angehalten, Lehrveranstaltungen an der zivilen Universität beizuwohnen, wenn irgend möglich. Das beruhte auf Freiwilligkeit, ein Fortschritt lag aber vor, denn unter Friedrich II. lag es im Ermessen des Offiziers selbst, sich weiterzubilden. Prüfungen im strengen Sinn gab es für die zwanzig Offiziere nicht, auch die Lehrer sollten von den jungen Offizieren über das sokratische Gespräch lernen. Die Akademie war nach der Vorstellung von Scharnhorst eine Übungsschule des Verstandes und der Beurteilung, die den Absolventen ein stolzes Bewußtsein der eigenen Leistung geben sollte. Sie war kritisch ausgerichtet, Halbwahres sollte durch logische Wahrheit und Präzision nicht als Wahres genommen werden. Der Geist dieser Akademie findet sich in den Worten Scharnhorsts wieder: „Nichts befürchte ich mehr bei der Akademie als den Nachteil einer zu großen Masse von Gegenständen, welche man dem Jüngling gewöhnlich aufdrängen will“. 78. Es wurde also nicht von oben doziert und indoktriniert, die sokratische Hebammenkunst ist ja gerade das Gegenteil des Eintrichterns von Lehrstoff, der leicht Ballast werden kann. Wenn etwas gut gedeihen will, so muss man mit den Keimen ganz umsichtig und behutsam umgehen, denn in den Keimen steckt alles drin und dieses gilt es, zur Entfaltung zu bringen. Bauern beobachten die Natur, sie können, wie schon Descartes bemerkte, keine schlechten Lehrer sein. Scharnhorsts Schüler sollten alles durch sich selbst wissen wollen. Die Anforderungen waren am Anfang nicht so hoch, sie sollten sich allmählich steigern. Die Offiziere mussten dafür ausgebildet werden, in kriegsentscheidenden Situationen die richtige Entscheidung zu jedem Augenblick zu treffen, die „es im nächsten vielleicht schon wieder zu ändern galt“. 79. Die Militärgeschichte nahm den höchsten Stellenwert ein, das Studium des Krieges wurde geradezu auf die Kriegsgeschichte eingeengt bzw. erweitert. Franz Mehring nannte Scharnhorst „einen wesentlich historischen Kopf“. Die Vertiefung der Geschichte im allgemeinen und der Kriegsgeschichte im besonderen war das Gebot der Unterrichtsstunde. Kriegswissenschaft beinhaltet auch eine Kriegskunst und vice versa. Auch die französischen Revolutionskriege am Rhein und in Italien wurden gelehrt, die Ausbildung geschah in Form einer angewandten Kriegsgeschichte. Es wurde untersucht, aus welchen ökonomischen und politischen Verhältnissen wurde ein Feldzug geboren. Scharnhorst erlebte leider das Jahr 1816 nicht mehr, in dem der preußische Generalstab eine militärgeschichtliche Sektion erhielt. Logik und reine Mathematik waren Pflichtfächer, das wichtigste Ziel war, die Hörer der Akademie zum Selbstdenken zu leiten, ohne daß sie sich in Details verlieren. Der Schlußsatz der Verfassung der Akademie für junge Offiziere lautete: „Der Stolz des Lehrers muß darin bestehen, daß der größte Teil seiner Zuhörer die wichtigsten Lehren auf eine Art sich zueigen macht, die mehr seinen Verstand als sein Gedächtnis beschäftigt“. 80. Der menschliche Geist ist nach Auffassung der Reformer zu Höherem fähig als zur bloßen Wissensaccumulation, er ist zu einer Kreativität im Denken fähig, also auch zu einer militanten Kreativität. In Völkerschlachten muss das Wissen selbst des gebildetsten Generals unzulänglich bleiben, das sich selbst gestaltende Wissen ist mehr als das gesammelte eine genuin kollektive Erbringung. Das qualitativ Neue durch die Reformen liegt also in der Trias: Selbstdenken - Kollektivität - Praxisbezug. In Frankreich wurde die bisher größte Accumulation menschlichen Wissens in der Enzyklopädie nicht nur kollektiv erbracht, sie wäre ein ordinäres Lexikon geblieben, wenn sie nicht durch den „Esprit“ Diderot‘scher Prägung beseelt worden wäre. Es wurde in der preußischen Kriegsakademie der kleine Krieg gelehrt und es herrschte fast derselbe Geist wie in der Berliner Universität. Die Gründung der Berliner Kriegsakademie und die der Universität fielen in das gleiche Jahr. Und tatsächlich ging es Scharnhorst um eine gegenseitige Befruchtung von ziviler und militärischer Wissenschaft, nachdem schon in Frankreich der Wissenschaftsbetrieb eines ganzen Landes für die Kriegführung eingespannt worden war. „Die Herstellung von Waffen, Munition, Uniformen und Kriegsausrüstung wurde auf nationaler Grundlage organisiert. Man ging sogar soweit, Wissenschaftler auf die Arbeit an Problemen der Metallurgie, der Explosivstoffe, der Ballistik und anderer für die Rüstungsproduktion wichtiger Forschungsbereiche zu verpflichten. In Meudon wurde ein Forschungslabor eingerichtet, das die ersten militärischen Beobachtungsballone entwickelte. Zwischen Paris und der Grenze wurden optische Telegrafen installiert. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde der Wissenschaftsbetrieb eines ganzen Landes für die Kriegsführung eingespannt.” 81. Der berühmte Ballon L´ Entreprenant (Der Verwegene) erschien über dem Schlachtfeld von Fleurus und lenkte als völlig unbekanntes Ungetüm den Feind ab, es wurden sogar bewaffnete Luftschiffe geplant. In seinen „Recensionen über Kriegswissenschaften“ aus dem Jahre 1788 in der „Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung“ sieht Scharnhorst zwar, dass die Militärwissenschaft wohl kaum Hauptwissenschaft auf Universitäten werden kann, hält es aber für notwendig, die Universitäten mit militärischen Lehrern zu versehen und nur den zum Offizier zu befördern, der einen Universitätsabschluß vorweisen kann. Wir sollten die Universitäten von neuangehenden Offizieren wimmeln sehen. Der erste Direktor der Berliner Universität, Schmalz, war übrigens ein Schwager von Scharnhorst. Es war durchaus der Anspruch der Reformer, dass in der Akademie auf vergleichbarem Niveau gelehrt wurde. Während Scharnhorst in der Militärgeschichte allerdings den Schwerpunkt auf das „Nachahmungswürdige“ legte, gab es für Hegel in der Geschichte durch Erinnerung keine Hilfe. In ihr muß aus dem Augenblick heraus entschieden werden. Anders sahen es die großen materialistischen Dialektiker, für sie war die Geschichte voller Lehren. Wer aus der Geschichte lernen will, muss sich an den Krieg Napoleons I. gegen Deutschland erinnern - schrieb Lenin am 6. März 1918 in der Prawda. Wurde im philosophischen Denken Hegels das Wissen zur höchsten Dignität erhoben, so war für Scharnhorst umfassendes Wissen nur eine Facette der Gesamtpersönlichkeit, der Offizier bewährt sich im Krieg durch persönliche Tapferkeit. Vertrauen zu sich selbst und zur Wissenschaft forderte Hegel von seinen Studenten nach den Befreiungskriegen. 1821 stirbt der große politische Praktiker Napoleon auf St. Helena, im gleichen Jahr beginnt der große philosophische Theoretiker Hegel seine Vorlesungen in Berlin. In seiner Antrittsvorlesung führt er aus, dass wir Älteren, die wir in den Stürmen der Zeit zu Männern gereift sind, die Jungen glücklich schätzen können, da sie in Zeiten leben, wo die Nation sich aus dem Gröbsten herausgehauen hat. In den Stürmen der Zeit war Theorie allein nicht ausreichend. Scharnhorst wußte das und vergaß über allem Akademismus die praktische Seite nicht, denn „Bücherwissen allein genüge nicht“. Gerade diese Erkenntnis ist eine Frucht der Aufklärung. Wenn es im Wirken von Scharnhorst ein Schwergewicht gibt, das alle anderen Schwerpunkte ins Sekundäre drückt, so ist es das Kriterium der Praxis. Ihre Schule ist die hohe Hürde, aufgestellt, damit keine gewöhnlichen Menschen in eine Kommandoverantwortung gelangen können, denn in und durch Prüfung in der Praxis wird die Mittelmäßigkeit ausgesondert. Ein Offizier kann ein Lexikon auswendig lernen, mit Wissen prahlen, aber in einer kriegerischen Situation hilft kein breites Wissen, es kommt auf ihr richtiges Erfassen in Bruchteilen von Sekunden an. An der Akademie kam es deshalb nicht auf die Menge des Gelernten an, sondern auf die Gründlichkeit. Die Akademie, der ein einheitliches Schulsystem aller Waffengattungen zugrunde lag, war für alle Offiziere offen, bei den jungen fanden die Lehrer rasch offene Ohren, während die alten abgeschlossen waren, abgeschlossen hatten mit dem alten friederizianischen Kriegsbild der „Contenance“. Aber auch sie verstand es der einfühlsame Scharnhorst zu öffnen. Eine Anwesenheitsliste wurde geführt, die er dem König vorlegte. Der soldatische Gehorsam und die Freiheit der Wissenschaft waren ausgewogen. Jedes Jahr gab es eine kleine Artillerieübung von fünf bis acht Tagen, an denen die Offiziere selbst die Geschütze bedienen mussten. In der Verfassung der Akademie heißt es, Ziel sei, „das Auge auf dem Felde zu bilden“. Gemäß dieser Devise wollte Scharnhorst im Frühjahr 1806 Erkundungsreisen ins voraussichtliche Aufmarschgebiet Napoleons unternehmen, man vermutete Thüringen, Westfalen und Hessen – wurde aber von seinem Vorgesetzten, dem egozentrischen General Rüchel, dessen Generalquartiermeister er war, zurückgehalten, die Reiserei sei unnötig, denn Generäle wie den Herrn Bonaparte habe die preußische Armee gleich mehrere, derselbe Rüchel, der die preußische Militärverfassung als „ehrwürdiges Original“ bezeichnete, rühre man ein Glied an, so bekommt die ganze Kette einen Schlag. 82. Es sollte bald mehr als nur ein Glied angerührt werden. Die preußische Führung war seit dem Frieden von Basel 1795 zwischen Moskau und Paris hin- und hergerissen, eine Entscheidung durch einen Krieg stand an. Rüchel, der auch Inspekteur des Militärbildungswesens war, nahm Napoleon auf die leichte Schulter, er ging vom Siebenjährigen Krieg (1756 bis 1763) aus, in dem die Lineartaktik ihren Höhepunkt erreicht hatte und in dem die französische Armee schon von der Dekadenz des Ancien Régimes infiziert war, die französische Armee des 19. Jahrhundert war damit nicht mehr vergleichbar. Scharnhorst mahnte daher, „sterbelustig“ zu sein. Zugleich finden wir schon im Dezember 1805 resignative Züge, an einen bis heute der Scharnhorstforschung unbekannten Freund schrieb er: „Ich bin fest entschlossen, weiter nichts zu dem was geschiehet, zu sagen. Es kömmt doch zu spät“. 83.

Dieses Kräftemessen mit dem Korsen lag förmlich in der Luft, nur sieben Jahre nach dem Machtantritt des kleinen Korsen, Kaiser seit 1804, hatte sich der Name „Napoleon“ wie eine unheilvolle Gewitterwolke drohend über Europa gelegt. Im Sommer 1806 hatte sich genug zusammengebraut. Bereits im April hatte Scharnhorst in seiner Denkschrift gefordert, Offiziere zu befördern, die sich durch Tätigkeit und Mut ausgezeichnet hätten und unfähige Befehlshaber beim Abmarsch zu entfernen. Napoleon bot das Kurfürstentum Hannover, das er erst vor wenigen Monaten Preußen zuerkannt hatte, England an. Man hatte sich in Preußen auf ein Defensiv-Offensiv-Konzept geeinigt, das nicht aufging, zumal an der Spitze der Armee die Greise des alten Friedrich standen.

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Ende der Leseprobe aus 134 Seiten

Details

Titel
Scharnhorst, ein General des Fortschritts?
Autor
Jahr
2013
Seiten
134
Katalognummer
V265528
ISBN (eBook)
9783656551577
ISBN (Buch)
9783656551713
Dateigröße
1151 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
scharnhorst, general, fortschritts
Arbeit zitieren
Heinz Ahlreip (Autor:in), 2013, Scharnhorst, ein General des Fortschritts?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/265528

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