Die XXII. Olympischen Sommerspiele 1980 von Moskau im Zeichen des Boykotts

Eine Medienanalyse


Masterarbeit, 2010

81 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


I. Einleitung

„Das Glockenspiel vom Kreml läutete Olympia ein oder das, was davon übrig blieb. Moskau bot eine Ouvertüre von Weihe und Wucht. Gigantisches Marionettenspiel. (...) Von der Zurschaustellung kerniger Jugend nach der Leitbildung der Körperkultur bis zum Paradeschritt, mit dem sie die Olympiaflagge zu Beethovens Hymne an die Freude ins Stadion trugen. (...) Hundert Völker der Sowjetunion in sozialistischer Lebensfreude vereint. Brot und Spiele wie im alten römischen Kaiserreich. Kriegshelden und Gladiatoren werden ähnlich pompös in das Kolosseum eingezogen sein. Ja, sogar ein römischer Feldherrenwagen – welch peinlicher Kitsch – durfte in Moskau nicht fehlen. Fanfaren schmettern, Tauben schwirren auf – offenbar haben sie aber die Friedenspost für Afghanistan liegenlassen. Mixtur aus byzantinischem Pomp und sozialistischem Bombasmus. Gesten des Protests. Die Magier aus dem Kreml ersparten den Fernsehzuschauern im Lande und in aller Welt den Blick auf die störenden Olympiafahnen. Der Kommentator des sowjetischen Fernsehens nannte die Demonstration einen plumpen Komplott, der fehlgeschlagen ist und erklärte, es handele sich um Länder, in denen die Sportler im Konflikt mit ihren Regierungen lebten. Trauer muß Olympia tragen. (…) Als ihn (Breschnew, Anmerkung des Verfassers) der Beifall von den Rängen des Leninstadions erreichte und durch keinen einzigen Pfiff gestört wurde, hob er den rechten Arm, kein Winken – halb Segen, halb imperiale Geste. Im Gänsemarsch folgten die top twenty der sowjetischen Nomenklatur. Im großen Geviert zwischen der Uniformierten-Kette am Rande der Aschenbahn und dem steinernen Baldachin der Führung gruppierte sich die Creme der sowjetischen Gesellschaft. Die Begleiterinnen der Dekorierten schienen bisweilen westlichen Modejournalen entstiegen.“.[1]

So beschrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 19. Juli 1980 ihre Eindrücke von der Eröffnungsfeier der XXII. Olympischen Sommerspiele in Moskau. Der fünfte IOC-Präsident Avery Brundage[2] bezeichnete Olympia einst als „die größte soziale Kraft dieser Welt.“[3] Seine Begründung: „Wo anders kann man Kommunisten, Kapitalisten, Royalisten und Sozialisten vereint marschieren sehen, wenn nicht bei den Olympischen Spielen.“[4] Doch 1980 in Moskau war es anders, wie die Schilderung der FAZ schon ahnen lässt, wo abfällige Äußerungen über den Sozialismus und Begriffe wie Protest oder Komplott fielen. Bei den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit in einem sozialistischen Land marschierten Kommunisten, Kapitalisten, Royalisten und Sozialisten nicht vereint in das Olympiastadion von Moskau ein. Die Spiele wurden boykottiert, zwar nicht von der Mehrzahl westlicher Staaten, aber doch von führenden Industrie- und Sportnationen wie den Vereinigten Staaten, der Bundesrepublik Deutschland und Japan.

In der vorliegenden Arbeit untersuche ich die Diskussionen und Entwicklungen, die 1980 zum Boykott der Olympischen Sommerspiele von Moskau durch 65 Staaten führten. Anhand von drei deutschen Zeitungen, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (BRD), der Frankfurter Rundschau (BRD) und Neues Deutschland (DDR) analysiere ich im Untersuchungszeitraum 1. Januar bis 6. August 1980 die Berichterstattung der drei Tageszeitungen über die Boykottdebatte und gebe die chronologische Entwicklung bis zu den Olympischen Spielen wieder. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom Beginn des Jahres 1980 über die IOC-Session und die Olympischen Winterspiele in Lake Placid im Februar bis hin zu der IOC-Session und den Sommerspielen in Moskau im Juli und August. Zudem möchte ich untersuchen, inwieweit die Olympischen Spiele als sportliches Großereignis unabdingbar von Politik und Medien abhängig bzw. mit ihnen verknüpft sind.

I. 1 Olympische Spiele, Politik und Medien

In der einschlägigen Literatur besteht weitestgehend Einigkeit darüber, dass Sport, Politik und Medien untrennbar miteinander verbunden sind. Sowohl die Politik als auch der Sport sind genauso stark auf die Medien angewiesen wie umgekehrt. Ungeklärt bleibt zumeist die Frage nach der Art und Reichweite dieser Beziehung. War und ist Sport nicht grundsätzlich politisch? Oder gilt das nur für Großveranstaltungen wie die Olympischen Spiele? Eine Olympiade gilt als „Aushängeschild“ der gastgebenden Nation, unterliegt aufgrund ihrer großen öffentlichen Aufmerksamkeit und Medienpräsenz jedoch ständig der Gefahr, für politische Zwecke missbraucht zu werden. Denn die von großen Sportereignissen berichtenden Medien bieten eine internationale Bühne, um politische Ansichten weitergeben zu können.

Gerade nach den Boykottdiskussionen um die Olympischen Spiele 2008 in Peking ist die Verknüpfung von Politik und sportlichen Großereignissen, wie der Olympiade, allgegenwärtig. Die chinesische Regierung hatte sich besonders im Vorfeld der Spiele den Vorwurf der Missachtung von Menschenrechten gefallen lassen müssen. Günter Nooke, der Beauftragte für Menschenrechte der Bundesregierung, war ebenfalls der Meinung, dass die Verachtung der Menschenrechte in China bekämpft werden müsse, die Vergabekriterien des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) jedoch nicht an politische Zielsetzungen geknüpft seien.[5] Wichtig sei, dass die Medien in diesen Fällen im Rahmen einer umfassenden Berichterstattung nicht nur von sportlichen Erfolgen berichten, sondern auch immer wieder auf eventuelle Menschenrechtsverletzungen hinweisen. Denn wie auch andere gastgebende Staaten sei natürlich auch China darauf bedacht gewesen, eine internationale Aufwertung zu erfahren.

Auch im Vorfeld der Olympiade 1980 in Moskau stellte man sich in der Bundesrepublik die Frage, inwiefern Sport politisch bzw. von der Politik beeinflussbar sei. Der Sportwissenschaftler Sven Güldenpfennig warf die Frage auf, welchen Freiheitsspielraum der Sport in seinen Entscheidungen gegenüber den Anforderungen der Politik habe.[6] Der gesellschaftliche Charakter des Sports macht ihn empfänglich für politische Beeinflussung. Doch in welchen Situationen wird Sport politisch? Etwa in der Kommunalpolitik bei Entscheidungen über die Finanzierung und den Standort einer Sportanlage, in der Arbeitersportbewegung, bei der Konfliktlösung bei internationalen Groß- und Sportveranstaltungen, bei gesetzlichen Vorgaben in der Sportentwicklung durch den Staat oder bei der Bereitstellung von sportbezogener Entwicklungshilfe.[7] „Unter dem Einfluss der allgemeinen international-gesellschaftlichen Bedingungen, unter dem programmatischen Dach der olympischen Idee und im Rahmen der Tätigkeit der institutionell-organisatorischen Träger der olympischen Bewegung hat sich die Geschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit seit dem Ende des vorherigen Jahrhunderts als ein Feld der ständigen sport- und allgemein-politischen Auseinandersetzung zwischen einer Vielzahl von Kräften, Interessen, Tendenzen und Programmen entwickelt“[8], so Güldenpfennig. Daher unterlägen die olympische Bewegung und die olympische Idee einer ständigen allgemeinpolitischen Einflussnahme.[9]

Nach Güldenpfennigs Einschätzung hätten viele Journalisten die notwendige politische Auseinandersetzung mit der olympischen Bewegung noch nicht verinnerlicht: „Der Umgang politischer und gesellschaftlicher Institutionen, mancher Träger der olympischen Bewegung selbst, vieler Berichterstatter und Kommentatoren in den Massenmedien und des Alltagsdenkens und -verhaltens von Sportinteressierten mit Problemen der olympischen Bewegung ist daher noch geprägt durch eine entsprechend gering entwickelte politische Kultur. Sie vermag das Verhältnis von notwendiger politischer Auseinandersetzung gegenüber und innerhalb der olympischen Bewegung und von zugleich notwendigem Autonomieanspruch der olympischen Bewegung nicht angemessen zu erfassen. Viele Kommentatoren neigen z. B. dazu, jedes Problem, jeden Konflikt in kritizistischer Weise gleich zu einer Bestandsgefährdung der Olympischen Spiele zu dramatisieren. Andere versuchen immer wieder, das reale Konfliktfeld Olympische Spiele zu der Idylle einer wirklichkeitsentrückten friedlichen Welt des reinen Spiels zu harmonisieren.“[10] Dabei wurden die größten Krisen der olympischen Bewegung immer wieder durch politische Konflikte hervorgerufen: Seien es die Auseinandersetzungen zwischen der nationalistischen Turn- und der internationalistischen Sportbewegung um 1900, zwei Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Auseinandersetzung zwischen bürgerlichem und sozialistischem Sportmodell seit dem Entstehen der Arbeitersportbewegung und vor allem seit dem Eintritt der UdSSR in den internationalen Sportverkehr und schließlich die mit der olympischen Idee unvereinbare Einwirkung privatwirtschaftlicher Prinzipien, die Kommerzialisierung Olympias, die im Vorfelde der Spiele von Los Angeles 1984 ihren Anfang nahm. Zusammenfassend können Olympische Spiele als „ein Element der internationalen Beziehungen“[11] bezeichnet werden.

I. 2 Die deutsche Sportberichterstattung der 1980er-Jahre

Die Medienlandschaft in der Bundesrepublik war in den 1980er-Jahren stark geprägt durch den Zweikampf von öffentlich-rechtlichen und privaten Medien. Dabei war keine Sparte derart umkämpft wie die lukrative Sportberichterstattung, in der es besonders um Verträge, Rechte, Lizenzen zu Fernsehübertragungen, Einschaltquoten und nicht zuletzt Werbeeinnahmen ging. Die massive Zunahme der Live-Übertragungen von großen, bedeutenden Sportereignissen wie Fußballweltmeisterschaften oder Olympischen Spielen im Fernsehen ließ vor allem die Tageszeitungen unter Zugzwang geraten. Eine immer größere Unterscheidung zur Sportberichterstattung im Fernsehen und die Suche nach einer publizistischen Nische wurden notwendig. Das Fernsehen war und ist schneller und natürlich aktueller.

„Olympische Spiele waren (…) die intensivsten Zeiten der Sportberichterstattung im DDR-Fernsehen, und boten somit, zumindest ab 1972, auch die beste Gelegenheit, sich politisch-ideologisch an einen wirklich erfolgreichen Bereich anzukoppeln und die Strahlkraft der Sporterfolge für die Agitation und Propaganda zu instrumentalisieren.“[12] Was Jasper A. Friedrich über die Olympiaberichterstattung im DDR-Fernsehen schrieb, besaß sicherlich auch Gültigkeit für die Printmedien der DDR. Die Beeinflussung, Steuerung und Vereinnahmung der Presse durch die SED kam einer Gleichschaltung nahe. Die Einbindung der Medien in das politische System zeigte, dass die Führung der DDR die immense Bedeutung der Medien für die Weitergabe von politischen Inhalten an die Bevölkerung erkannt hatte.[13]

„Auch für die Berichterstattung über Sport gilt das Gesetz des journalistischen Berufsstandes. Demnach ist die Wirklichkeit des Sports von den Medien nicht originalgetreu abbildbar.“[14] Was Günter Tewes in seiner „Kritik der Sportberichterstattung“ schrieb, war gleichermaßen für den Zeitungsjournalismus in Ost und West gültig. Sportjournalisten konstruieren ein eigenständiges Wirklichkeitsbild des Sports, eine medial aufbereitete Realität durch Hervorhebung und Selektion bestimmter Themen und Ereignisse, durch Kommentierungen, Art der Präsentation und Umfang ihrer Textbeiträge. Peter Becker spricht daher von einer „perspektivisch rekonstruierten Sportwelt“[15], die den Leser erreicht. „Ein sportliches Ereignis, über das nicht berichtet wird, hat für die Öffentlichkeit gar nicht stattgefunden.“[16], so Harald Binnewies.

Sven Güldenpfennig beurteilte die markt- und meinungsbeherrschenden Medien im Olympiajahr 1980 als politisch rechtslastig. Bei der Bewertung von internationalen Beziehungen seien diese stets von einem antikommunistischen Grundmuster ausgegangen: „Im unmittelbaren Umfeld der Olympischen Spiele 1980 weisen sie eine starke Affinität zu jenen politischen Positionen auf, die vorstehend als Tendenzen der unfriedlichen Konfrontation, der Destabilisierung und der Spannungsverschärfung beschrieben worden sind. (…) In der Bundesrepublik findet sich eine, für die westeuropäischen Länder wohl einmalige Geschlossenheit und konsequente allseitige und zumeist bis in kulturelle und sportbezogene Bereiche hinein durchgehaltene Anwendung der antikommunistischen Grundmuster in den markt- und meinungsbeherrschenden Medien.“[17] Nach Güldenpfennig seien fundamentale Alternativen einer sozialistischen Opposition praktisch auf allen Ebenen des politischen Systems weitgehend nicht vorhanden gewesen. Daher habe eine breite öffentliche Diskussion sowie gleichberechtigte politische Auseinandersetzung nicht auf der Tagesordnung gestanden.

I. 3 Methode und Grundlagen der Untersuchung

Für die Medieninhaltsanalyse zu den Boykottdiskussionen um die Olympischen Spiele 1980 in Moskau habe ich drei Tageszeitungen ausgewählt, die eine große Bandbreite der deutschen Presselandschaft des Jahres 1980 widerspiegeln. Mit der Frankfurter Allgemeine Zeitung und der Frankfurter Rundschau habe ich exemplarisch die auflagenstärksten Tageszeitungen des konservativen bzw. linken Spektrums in der Bundesrepublik herausgegriffen. Das Neue Deutschland vertritt als größte Tageszeitung der DDR die Meinung der SED und steht exemplarisch für alle zentral gesteuerten Blätter der DDR. Alle drei Zeitungen habe ich im angegebenen Zeitraum auf jegliche Artikel, Berichte und Kommentare untersucht, die die Olympischen Spiele, das IOC, die Nationalen Olympischen Komitees bzw. die Diskussionen über eine Olympiateilnahme zum Thema hatten. Anhand aller analysierten Textbeiträge stelle ich den Verlauf der Boykottdebatte in all ihren Facetten nachfolgend dar.

a) Neues Deutschland (ND)

In der DDR gab es 39 Tageszeitungen mit einer Auflagenhöhe von 9 Millionen.[18] Dabei galt die Zeitung Neues Deutschland als „Flaggschiff“[19] unter den 15 von der SED herausgegebenen Tageszeitungen. Zusammen mit der Berliner Zeitung kam das Neue Deutschland auf eine tägliche Auflagenhöhe von 6,6 Millionen. Die Monopolstellung der „SED-Presse“ verdeutlichte die Auflagenzahl der 18 Tageszeitungen der Blockparteien[20]: Sie lag gerade einmal bei 835.000.

Die wesentliche Aufgabe der Presse in der DDR bestand darin, „die gesellschaftliche Wirklichkeit im sozialistischen Sinne“[21] darzustellen und „keinerlei Mißbrauch der Massenmedien für die Verbreitung der bürgerlichen Ideologien zu dulden“[22]. Dabei sollte die Presse „bei der Verbreitung der marxistisch-leninistischen Ideologie“ als Forum „des schöpferischen Meinungsaustauschs der Werktätigen bei der Organisierung des gemeinsamen Handelns der Bürger für die gemeinsamen sozialistischen Ziele“[23] dienen.

Das „führende journalistische Organ der DDR“ Neues Deutschland unterstand direkt der Weisungsbefugnis des zuständigen ZK-Sekretärs und Leiters des Presseamts beim Vorsitzenden des Ministerrats, Joachim Herrmann, der in Bezug auf das ND „keine wesentlich Entscheidung ohne die Direktive Erich Honeckers traf“.[24]

b) Frankfurter Rundschau (FR)

Neben der Welt, der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist die Frankfurter Rundschau mit einer täglichen Gesamtauflage von 171.000[25] die kleinste und älteste der deutschen „Qualitätszeitungen“. Sie gehören allesamt zur Pflichtlektüre deutscher Journalisten und werden oft zitiert und für wissenschaftliche Vergleiche herangezogen. Zudem finden sie in der Wirtschaft und in der Politik große Beachtung.[26]

Obwohl sich die Frankfurter Rundschau als „eine von Parteien und Interessengruppen unabhängige Tageszeitung“[27] selbst bezeichnet, gilt sie als SPD- und gewerkschaftsnah und weist ein links-liberales bzw. sozialliberales Profil auf. Volkmann erkannte 2005 „eine Parteiverbundenheit, die sich so in keiner Weise bei den anderen Qualitätszeitungen findet“.[28] Vergleiche man die Kommentare in der Zeitung, so stelle man fest, dass sich das politische Profil der FR seit 1970 nicht verändert habe. Nach wie vor beherrschten gewerkschaftsnahe und wohlfahrtsstaatliche Positionen gegenüber neoliberalen Anschauungen die Kommentare und prägten die gesellschaftliche Meinungsbildung der Leser. Die FR setzt sich für eine breite Mitbestimmung der Bürger in der Demokratie ein, will dazu beitragen, öffentliche Gewalten und private Mächte zu kontrollieren und lehnt Gewalt als politisches Mittel in jeder Form ab. Besonders in den 1960er-Jahren konnte die FR ihren Absatz in studentischen Kreisen steigern und hat seitdem ein jüngeres Publikum als die Konkurrenten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

c) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist die zweitgrößte deutsche Qualitätszeitung mit einer täglichen Auflagenzahl von 370.000.[29] Als überregionale Tageszeitung wird sie neben der Welt und der Süddeutschen Zeitung als einzige in der gesamten Bundesrepublik verbreitet und hat die höchste Auslandsverbreitung aller deutschen Zeitungen. Im Gegensatz zu anderen deutschen Tageszeitungen wird die Linie der FAZ nicht von einem Chefredakteur, sondern von den fünf Herausgebern kollegial bestimmt. Die Wirtschafts- und Börsenberichterstattung spielt innerhalb der FAZ eine zentrale Rolle und beeinflusst neben den reinen Wirtschaftszeitungen Handelsblatt und Financial Times Deutschland weite Kreise des deutschen Wirtschaftsjournalismus. Die Grundhaltung der FAZ wird als „liberal-konservativ“ bezeichnet, was auch durch ihr äußeres Erscheinungsbild deutlich wird. Die Frakturschrift im Blatttitel und die fehlenden Fotos auf der Titelseite lassen die Zeitung bewusst traditionell erscheinen.[30]

Die Herausgeber der FAZ beschreiben ihre Zeitung als „Meinungsblatt“.[31] Jedoch nicht allein die Tatsache, dass die FAZ neben Nachrichten auch Kommentare abdruckt, mache sie zu einem Meinungsblatt. Es werde nicht nur eine Meinung ausgesprochen, sondern auch „meinungsbildend“ auf den Leser eingewirkt. Das erreiche die FAZ dadurch, dass ihre Ansichten „fundiert“ seien und „überzeugt vorgetragen“ würden. Zu ihrer Leserschaft zählt die FAZ nach eigenen Angaben überwiegend leitende Angestellte aus Verwaltung und Behörden, Führungspersonal aus der Wirtschaft sowie Selbstständige. Die FAZ verfügt über das größte Korrespondentennetz aller deutschen Tageszeitungen, wodurch Berichte aus dem Ausland einen besonderen Stellenwert einnehmen. Im innenpolitischen Ressort habe sich, nach Wolfram Schrag, ein „gewisser Wandel“ vollzogen. Friedrich Karl Fromme, Leiter der Redaktion Innenpolitik von 1974 bis 1997, nannte das Profil der FAZ einmal „schwarz-rot-gold“: „Schwarz für das konservative Politikbuch, rot für das links-tendierende Feuilleton und gold für den sehr liberalen Wirtschaftsteil.“[32] Die Tradition und konservativen Werten verpflichtete, aber parteipolitisch unabhängige „Zeitung für Bürgertum und Business“[33] lässt sich weltanschaulich innerhalb der vier Qualitätszeitungen zwischen der Welt und der Süddeutschen Zeitung einordnen und verfolgt in ihrer Wirtschaftsberichterstattung eine marktwirtschaftliche Politik, die sich in der gesamten Blattlinie der Zeitung niederschlägt.

Nach Tewes betreibe die FAZ einen „Bildungsjournalismus“, den er am hohen Anteil der interpretierenden Beiträge von 83,7 Prozent festmache.[34] Dabei sollten die Leser weder emotional angesprochen noch erregt werden, wie etwa in Zeitungen des Unterhaltungsjournalismus. Auch das Sportgeschehen spiegele sich in der FAZ nicht in einer dramaturgisch spannenden Inszenierung wider. Über das sportliche Ereignis hinaus würden „strukturelle Zusammenhänge bewertet“ und „gesellschaftlich eingeordnet“. Dabei verfolge die FAZ auch ethische Kriterien, indem man im Gegensatz zu anderen überregionalen Tageszeitungen auch auf die Werte des Sports eingehe und wie beim Thema Kommerzialisierung auch Verbindungen in die Wirtschaft schlage. Innerhalb der Sportberichterstattung unterscheide die FAZ zwischen reflektierenden, interpretierenden Hintergrundartikeln, die zumeist mehrspaltig erscheinen und reinen Ergebnisübersichten. Einspaltige Agenturmeldungen komplettierten die Sportberichterstattung.[35]

II. Der Boykott von Moskau – eine Medieninhaltsanalyse

Der Beginn des Jahres 1980 stand sportlich gesehen ganz im Zeichen der Olympiavorbereitungen. Nicht nur die Olympischen Winterspiele im US-amerikanischen Lake Placid vom 13. bis 24. Februar warfen ihre Schatten voraus, die Sportfunktionäre aus Ost und West beschäftigten sich auch schon mit der Sommerolympiade in Moskau.

Doch zunächst entstanden Irritationen um die Vorbereitungen für die Winterspiele in Lake Placid. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) und die Frankfurter Rundschau (FR) berichteten in ihren Ausgaben vom 3. Januar übereinstimmend von den Sorgen des sowjetischen Sportministers Sergej Pawlow, der negative psychologische Folgen für die Olympiateilnehmer seines Landes sehe, die in Lake Placid in Unterkünften untergebracht seien, die nach der Olympiade in Gefängnisse umgewandelt werden sollen.

Auch in Bezug auf die Sommerolympiade in Moskau wurden schon zu Beginn des Jahres kritische Stimmen laut. Sollte die britisch-irische Rugby-Mannschaft British Lions wie geplant nach Südafrika reisen, werde der Oberste Afrikanische Sportrat den Ausschluss Großbritanniens und Irlands von den Olympischen Spielen in Moskau fordern, berichtete die FAZ am selben Tag. Diese Drohung ließ das IOC hellhörig werden, hatten die afrikanischen Staaten doch bereits die Olympischen Sommerspiele 1976 in Montreal boykottiert, da sich das IOC weigerte, Neuseeland, das Sportbeziehungen zu Südafrika unterhielt, von den Spielen auszuschließen. Die afrikanischen Sportfunktionäre hätten sich allerdings in Erinnerung rufen sollen, dass ein Boykott der Olympischen Spiele bereits 1976 große Proteste innerhalb der afrikanischen Bevölkerung ausgelöst hatte. So zeigte auch die FAZ kein Verständnis für die Forderungen der afrikanischen Sportfunktionäre, noch nicht einmal afrikanische Zeitungen hätten von den Forderungen berichtet. Die FAZ bemängelte vor allem die fehlende Verhältnismäßigkeit, von den Spielen fernzubleiben, „nur weil irgendwer mit den Südafrikanern Rugby spielt“.[36] Der britische Rugby-Verband zeigte sich allerdings von den Forderungen der Afrikaner wenig beeindruckt und teilte mit, an der geplanten Wettkampfreise nach Südafrika festzuhalten. Dieses Verhalten löste sogar Entrüstung innerhalb der britischen Bevölkerung aus, hatten sich doch die Staaten des Commonwealth 1976 im so genannten Gleneagles-Abkommen dazu verpflichtet, alle Sportkontakte zu Südafrika abzubrechen. Kenia und Trinidad reagierten schnell und erklärten, britischen Leichtathleten, die sich in diesen Ländern auf die Olympischen Spiele in Moskau vorbereiten wollten, aus Protest die Einreise zu verweigern.

II. 1 Die NATO erwägt erstmals einen Boykott der Olympischen Sommerspiele

Nach der Sitzung des NATO-Rates am 1. Januar in Brüssel, auf der NATO-Generalsekretär Joseph Luns erstmals von einem Boykott der Olympischen Spiele in Moskau als „Gegenmaßnahme“ zu der sowjetischen Intervention in Afghanistan sprach, begann man weltweit die Bedrohung Olympias durch einen eventuellen Boykott zu realisieren. Der Präsident des bundesdeutschen Nationalen Olympischen Komitees (NOK), Willi Daume, warnte in der FAZ vom 4. Januar vor „unabsehbaren Folgen für den internationalen Sport“ und „dem Anfang vom Ende“ der Olympischen Spiele. Es bestünde die Gefahr, „daß die Sowjetunion und ihre Verbündeten“ als Reaktion von den Winterspielen in Lake Placid und den Sommerspielen 1984 in Los Angeles fernblieben. Unterstützung erhielt Daume für sein Plädoyer von Politikern aller im Bundestag vertretenen Parteien. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wischnewski betonte, dass nur politische Maßnahmen geeignet wä­ren, um Druck auf Moskau auszuüben.[37] Diese Einschätzung einiger Parteien sollte sich jedoch im Laufe der folgenden Wochen und Monate entscheidend ändern.

Ignati Nowikow, Stellvertreter des Vorsitzenden des UdSSR-­Ministerrates und Vorsitzen­der des Organisationskomitees (OK) der Moskauer Spiele, sah die Olympiade zu diesem Zeitpunkt durch einen eventuellen Boykott jedoch nicht gefährdet und ging im Interview mit dem Neuen Deutschland (ND) von einer Teilnahme von 125 bis 130 Staaten aus. „Zugleich müsse man aber feststellen, daß die Olympischen Sommerspiele 1980 im Aus­land nicht nur Freunde, sondern auch Feinde hätten, die versuchen, diese Sportveranstal­tung dazu zu miß­brauchen, die UdSSR zu verleumden und zu diffamieren und die politi­sche At­mosphäre in der Welt zu vergiften. (...) Diese Machenschaften erhalten je­doch überall eine gebührende Abfuhr durch die fort­schrittlich gesinnte Öffentlichkeit.“[38]

Die Frankfurter Rundschau kommentierte die ersten aufkommenden Boykottforderungen nach der Sitzung des NATO-Rates in ihrer Ausgabe vom 4. Januar: „Eines der sichersten Zeichen dafür, welche Ratlosigkeit die Po­litiker wieder einmal ergriffen hat und wie tief das Gefühl der Ohnmacht sitzt, unter dem sie leiden, ist der Ruf nach einem Boykott der Olympischen Spiele. Er konnte nach dem Schock der sowjetischen Intervention in Afghanistan nicht ausbleiben.“[39] Dennoch hatte Kommen­tator Ludwig Dotzert nach der Tagung des NATO-Rates die Hoffnung, „daß die Welt dabei ist, sich auf die irreparablen Konsequenzen zu besinnen, die der Boykott der Moskauer Spiele nach sich ziehen würde“. Die deutsche NATO-Vertretung in Brüssel ließ „schleunigst demen­tieren, einen Vorschlag über eine eventuelle Nichtteilnah­me an den Olympischen Spielen ge­macht zu haben. (...) Denn wer zu dieser Maßnahme greift, muß sich darüber im Klaren sein, daß er einen Mechanismus von Revanchen und Gegenrevanchen in Gang setzt, der den Weltsport Zug um Zug der Gefahr einer endgültigen Spaltung näherbringt.“.[40] Mit fast hellseherischen Fähigkeiten spielte Dotzert bereits zu diesem frühen Zeitpunkt ein Szenario in vier Zügen durch, das in den folgenden Jahren größtenteils zur Realität werden sollte: 1. Der Westen beschließt, den Sommerspielen 1980 in Moskau fernzubleiben; 2. Der Osten bleibt den Winterspielen 1980 in Lake Placid und den Sommerspielen 1984 in Los An­geles fern; 3. Der Westen und der Osten veranstalten ihre eigenen Spiele; 4. Das Internationale Olympische Komitee sitzt zwischen den Stühlen und löst sich auf. „Der Preis, den der Weltsport bei dieser Entwicklung zahlen müßte, steht in keinem Verhältnis zu dem Gewinn, den sich die Politik von ihr erhoffen kann, falls sie sich überhaupt etwas erhofft.“[41], gab Dotzert zu Bedenken.

Die Gesellschaft für Menschenrechte mischte sich unterdessen in die Diskussion ein und forderte Bundeskanzler Schmidt und IOC-Präsident Lord Killanin auf, sich wegen der „sowjetischen Invasion in Afghanistan“ gegen die Durchführung der Olympischen Spiele in Moskau auszusprechen.[42] Die US-amerikanische Fernsehgesellschaft NBC ließ sich derweil bei der Londoner Versicherungsgruppe Lloyd gegen den Ausfall der Olympischen Spiele von Moskau bzw. gegen die Nichtteilnahme der US-amerikanischen Olympiamannschaft versichern. Sobald einer dieser beiden Fälle einträte, würde NBC 85 Prozent der 87 Millionen an die sowjetischen Organisatoren gezahlten Dollar von Lloyd zurückerhalten.[43]

Bereits im Januar stand die erste Nichtteilnahme fest: Die FAZ berichtete am 7. Januar vom Fernbleiben Saudi-Arabiens von der Olympiade in Moskau. In seiner offiziellen Begründung führte das NOK des Landes die sowjetische Invasion in Afghanistan an. Nach Einschätzung der FAZ hätte sich die Wahrscheinlichkeit, dass auch die „westlich-­orientierte Welt“ auf die Intervention der UdSSR in Afghanistan mit einem Olympiaboykott reagiere, trotz eines Vorstoßes von US-Präsident Carter, der in einer Fernsehansprache der Sowjetunion mit wirtschaftlichen Sanktionen und einem Boy­kott drohte, verringert. Aus bundesdeutscher Sicht sei solch ein drastischer Schritt nur „in Absprache mit den amerikanischen Verbündeten“ möglich. Mit seinem Vorstoß sei Präsident Carter allerdings sogar in den USA auf Wider­spruch gestoßen. Der geschäftsführende Direktor des NOKs der USA, Don Miller, sagte: „Solch ein Boykott würde auf uns zurückschlagen. Wir bestrafen uns selbst, indem wir die Sportler der USA als Bauernopfer in der internationalen politischen Auseinandersetzung benutzen.“[44] Ein Boykott habe zudem „einen schädlichen Einfluß“ auf die Winterspiele in Lake Placid sowie die Sommer­spiele 1984 in Los Angeles und würde zur „Vernichtung der modernen Olympischen Spiele“ führen. Der NOK-Präsident der BRD, Willi Daume, gab unterdessen bekannt, dass sich elf westliche NOKs nach Beratungen ge­gen einen Boykott ausgesprochen hätten. Laut NATO-Generalsekretär Joseph Luns sei ein Boykott noch nicht vom Tisch, auch wenn es noch keinen entsprechenden Vorschlag des NATO-Rates gegeben hätte. Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) gab zu Bedenken, dass ein Boykott im Sport nicht als „Mittel der Politik“ eingesetzt werden dürfe.

Die beginnenden Boykottdiskussionen kommentierte Ludwig Dotzert in der FR vom 8. Januar: „Den Statthaltern der olympischen Götter auf Erden bleibt nichts erspart. Noch immer geistert in den Köpfen diverser Politiker und Militärs die Idee, Moskau für den Einmarsch in Afghanistan mit einem Boykott der Som­merspiele 1980 zu bestrafen.“[45] Mit der Entsendung der britischen Rugby-Mannschaft hätten die Rugby-Verbände Großbritanniens „eine weitere Zündschnur gelegt, die zu hoch­brisanten Pulverfässern führt“. Dotzert erinnerte an den Boykott der afrikanischen Länder vier Jahre zuvor.[46] „Die Ignoranz, mit der sich die Rugby-Funktionäre über die drohenden Konsequenzen bisher hinweggesetzt haben, grenzt an fahrlässige Brandstiftung.“ Es sei „eine weltweite Kampagne gegen britische Sportler“ zu befürchten. In seinem Kommentar vom 12. Januar mutmaßt Dotzert: „Wäre – zum Beispiel – München oder Montreal statt 1972 oder 1976 jetzt mit der Olympiade an der Reihe gewesen, wäre das Pro­blem für die USA eine andere Geschichte, wie sich aus dem Vorschlag des Vizepräsidenten Walter Mondale entnehmen läßt, das Fest kurzerhand in eine dieser beiden Städte zu verle­gen. So aber hat die Reise zum nächsten universalen Sportlertreff für einige Köpfe im Wei­ßen Haus, von der Opposition nicht zu reden, in der letzten Woche allem Anschein nach Züge eines Canossagangs angenommen. Die Entwicklung verstärkt den Verdacht, daß die Zukunft der Spiele mehr und mehr von Zufälligkeiten abhängt. Niemand kann sagen, welche Konsequenzen die Sowjets gezogen hätten, wäre auf dem Höhepunkt der Vietnam-Krise das große Medaillenjagen in den USA fällig gewesen. Sicher ist nur, daß ein Boykott der Olympiade durch eine dieser beiden Großmächte Mechanismen in Gang setzt, die den sicheren Tod des globalen Serienerfolges bedeuten. (…) Nur noch wenige Menschen aber träumen von dem Traumziel, daß es gelingen könnte, Politik und Sport in zwei Paar Stiefel zu verwandeln, die sich gegenseitig unter Garantie nicht mehr auf die Füße treten. Die Olympischen Spiele hatten ihre politische Unschuld bereits verloren, als 1896 in Athen zu Ehren des Siegers erstmals eine Nationalflagge am schwankenden Mast emporstieg.“.[47] In der aktuellen Konstellation stehe das IOC alle vier Jahre wieder vor „politischen Zerreißproben“. Als Beispiel führte er hier den Ausschluss Südafrikas aus dem IOC sowie die bevorstehende erstmalige Teilnahme Chinas seit 1952 an Olympischen Spielen an. So werde „die olympische Gemeinschaft als Plattform und Relaisstation für große Politik“ benutzt. Die Boykottdrohung an die Adresse der sowjetischen Veranstalter sei leider zu einer „unverzichtbaren Wahlkampfwaffe“ geworden. „Auch wenn die amerikanische Mannschaft in Moskau durch Abwesenheit glänzen sollte, würden sich die Supermächte nach Ablauf einer hinlänglichen Karenzzeit in ihrem eigenen Interesse wieder arrangieren müssen: Die Olympischen Spiele aber wären wohl für immer kaputt.“.[48]

Der Kommentar der FAZ desselben Tages zeigte hingegen Verständnis für die Boykottbefürworter in den USA, bei denen sich „Nervosität entlädt“, ob der Teheraner Geiselnahme[49] und der sowjetischen Invasion in Afghanistan.[50] Der Kommentator attestierte zwar, dass es zwischen beiden Ereignissen „keinen direkten Zusammenhang“ gäbe, zeigte aber Verständnis für Reaktionen in den USA. Er kritisierte dagegen NOK-Präsident Daume, der Verständnis für die Sportler eingefordert habe, die vier Jahre lang für Olympia trainiert hätten, und bezeichnete ihn daher als „naiv“. „Wer einen Panzer in seinem Vorgarten stehen hat, der kann kaum noch an sportliche Wettkämpfe denken – und auch in Afghanistan gibt es sicherlich junge Frauen und Männer, die vier Jahre lang trainierten.“.[51] Der Kommentator bezeichnete die Sportler als „ein Vehikel mit großer Symbolkraft“ und verglich einen möglichen Olympiaboykott mit dem Abbruch der Sportbeziehungen der BRD mit der DDR nach Beginn des Mauerbaus, wofür die bundesdeutschen Sportführer auch Verständnis verlangten und „dann ein Jahrzehnt benötigten, um diesen Schritt wieder rückgängig zu machen“. „Der Boykott der Spiele in Moskau würde gar ein Ende Olympischer Spiele überhaupt bedeuten. Natürlich könnte man fragen, ob sie denn überhaupt sein müssen – aber das wäre eine zynische Frage.“ Das Neue Deutschland (ND) war ganz anderer Meinung und zitierte Breschnew: „Gäbe es nicht Afghanistan, so hätten gewisse Kreise in den USA und der NATO sicherlich einen anderen Vorwand gefunden, um die Situation in der Welt zuzuspitzen.“.[52]

Im IOC beobachtete man die dramatische Zuspitzung der Boykottdiskussionen mit Sorge. Das IOC-Mitglied und der spätere IOC-Präsident, Juan Antonio Samaranch, betonte, dass alle Mitglieder des IOC gegen einen Boykott seien und nicht mit einem Fernbleiben der USA rechneten. Eine Verlegung der Olympischen Spiele nach München oder Montreal, wie sie vom US-amerikanischen Vizepräsidenten Mondale gefordert wurde, sei „irreal“.[53] Auch der irische IOC-Präsident Lord Killanin hielt eine Verlegung für „unmöglich“.[54] „Politik ist Politik und Sport ist Sport. Das sind zwei parallele Linien, die sich in keinem Augenblick überschneiden dürfen, es sei denn, um sich zu helfen und nicht um zu schaden“, sagte Samaranch. Auf die Frage, ob es mit der Olympischen Charta vereinbar sei, dass ein Land, das in einen Krieg verwickelt sei, Olympische Spiele ausrichten dürfe, sagte der Spanier: „Offiziell gibt es keinen Krieg, von dem ich Kenntnis hätte. Aber wie schon gesagt, offiziell. Und außerdem gibt es in der Olympischen Charta das Wort Krieg an keiner Stelle. Es kommt in unseren Regeln nicht vor.“.[55] Die Verurteilung des sowjetischen Eingreifens in Afghanistan durch die Vereinten Nationen habe zudem keinerlei Einfluss auf Entscheidungen des IOC.

Während der bundesdeutsche NOK-Präsident Daume betonte, es werde keinerlei Druck auf westdeutsche Sportler ausgeübt, nach Moskau zu fahren[56], forderten 60 britische Politiker aller drei großen Parteien in einem Aufruf ihre Sportler auf, so lange nicht nach Moskau zu reisen, wie „Afghanistan von russischen Truppen besetzt ist“[57] und die Olympischen Spiele in eine andere Stadt zu verlegen. Auch die britische Regie­rungschefin Thatcher soll den Boykottplänen positiv gegenübergestanden haben. Dennis Follow, Vorsitzender des britischen NOKs, betonte, dass er keinen britischen Sportler kenne, der zu einem Boykott bereit sei. Die Regierung könne die Sportler nicht daran hindern, nach Mos­kau zu reisen. IOC-Präsident Killanin sagte zu der geforderten Verlegung der Spiele: „Sie finden entweder in Moskau statt oder überhaupt nicht.“[58] Da der NATO-Rat in Brüssel keinen Boykottbeschluss fasste, regte Staatsminister Douglas Hurt vom Foreign Office einen Boy­kott der Zeremonien in Moskau durch britische Sportler an.[59]

Wie die britische Premierministerin Thatcher sprach sich auch US-Au­ßenminister Vance für einen Boykott der Olympischen Spiele aus, solange die Sowjettruppen nicht aus Afghanistan abgezo­gen seien. Laut der New Yorker Zeitung Daily News sei die US-Re­gierung bereit gewesen, einen Teil der Kosten zu übernehmen, falls die Spiele an einen anderen Ort verlegt werden würden.[60] Dazu äußerte sich der Vertreter des Moskauer Organisationskomitees in New York, Karzew, in der FAZ vom 17. Januar: „Meines Wissens nach hat die US-Re­gierung keine Machtbefugnisse über das IOC. (…) Die Spiele gehören nicht einem Land, sie sind eine internationale Veranstaltung.“[61] Sollten die USA keine Verbündeten in der Boykottfrage finden, wollten sie nach Angaben des US-Außenministeriums „notfalls“ die Olympiade von Moskau allein boykottieren. Robert Kane, NOK-Präsident der Vereinigten Staaten, sprach sich gegen das „unangemessene und plumpe“ Mittel eines Boykotts aus.[62] Zwei Tage später meldete die FAZ, dass es in der Boykottfrage erstmals Konsultationen zwischen Vertretern der US-amerikanischen Regierung und des NOKs geben würde. Ein Austausch habe bisher nur über die Medien stattgefunden. NOK-Vertreter Miller habe Präsident Carter beschuldigt „die Regeln des olympischen Sports“ nicht zu kennen.[63] Nur das NOK könne über die Teilnahme einer Olympiamannschaft entscheiden, so Miller. Carter erklärte gegenüber den NOK-Vertretern, dass er eine Verlegung der Olympiade als „Ausweg“ aus der Boykottfrage erwäge, da sich die „Verbündeten“, bis auf Großbritannien, nicht für einen Boykott aussprächen, worüber er sich „enttäuscht“ zeigte.[64] Um die Sommerspiele in Moskau zu belassen, müsse die Sowjetunion bis Mitte Februar aus Afghanistan abziehen. Das State Department wähnte sich einer großen Unterstützung innerhalb des US-amerikanischen Volkes und prognostizierte „eine große Verlegenheit“ Moskaus, sollten westliche Sportler nicht an der Olympiade teilnehmen. Die FAZ sah in dieser Einschätzung einen Denkfehler der US-Amerikaner, die davon ausgingen, dass die sowjetische Führung bei politischen Entscheidungen Rücksicht auf die Außenwirkung in der Bevölkerung nehme. Sollten die Verbündeten „aus Furcht vor der negativen Reaktion ihrer Öffentlichkeit“ den USA bei einem Boykott nicht folgen, wie Frankreich es ja bereits verkündet hatte, so erwiese sich dieser als „stumpfe politische Waffe“.[65]

Gegenüber Außenminister Cyrus Vance setzte sich Robert Kane bei Beratungen im Weißen Haus für eine selbstbestimmte Entscheidung der US-amerikanischen Athleten über ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen in Moskau ein. Dabei warnte Kane die US-Regierung vor Auswirkungen eines Boykotts der Olympiade in Moskau auf die unmittelbar bevorstehenden Winterspiele in Lake Placid. Vance teilte dem NOK-Präsidenten daraufhin mit, dass Präsident Carter in den nächsten Tagen einen Entschluss bezüglich der Teilnahme von US-amerikanischen Sportlern an der Olympiade in Moskau fassen würde. Als Ehrenpräsident des NOKs habe Carter in diesem Punkt ein Recht auf Mitsprache. In einer Erklärung forderten die Aktivensprecher aller US-amerikanischen Sportverbände die Mitsprache ihrer Athleten: „Der Beirat der Aktiven möchte in der breiten politischen Diskussion über einen eventuellen Boykott der Olympischen Spiele in Moskau auch die Argumente der betroffenen Sportler berücksichtigt wissen. Er gibt zu bedenken, daß sich die Aktiven der olympischen Disziplinen seit geraumer Zeit auf dieses größte sportliche Ereignis unter erheblichem persönlichem Verzicht mit sehr großem Einsatz vorbereiten. Eine Mißbilligung der die Olympischen Spiele gefährdenden weltpolitischen Ereignisse erscheint den aktiven Vertretern mit geeigneten Maßnahmen auch während der Wettkämpfe in Moskau möglich. Andererseits muß jedem Sportler freigestellt sein, aus politischen Gründen auf die Teilnahme zu verzichten, ohne dadurch Nachteile in seiner weiteren sportlichen Laufbahn befürchten zu müßen.“.[66] Auch die bundesdeutschen Spitzensportlern vertraten in dieser Frage eine einhellige Meinung: Sie verurteilten den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan, sprachen sich aber in einer Umfrage mehrheitlich gegen einen Olympiaboykott aus.[67]

Auch der Präsi­dent des Afrikanischen Sportrates Abraham Ordia sei überrascht gewesen, dass in dieser Frage Politik und Sport miteinander vermischten werden würden. Die afrikanischen Staaten könnten nicht auf die Olympiateilnahme verzichten, nur weil die USA und Großbritannien „unzufrieden“ mit der Sowjetunion seien.[68] Der Präsident des Deutschen Sportbundes (DSB), Willi Weyer, bemängelte, dass man es sich zu einfach mache, politische Probleme mit sportlichen Mitteln lösen zu wollen. Der Sport tauge nicht als „Knüppel der Machtpolitik“.[69] So reagierte auch das Neue Deutschland empört auf die Boykottbestrebungen im westlichen Ausland. Überschriften wie „Lord Killanin bekräftigt: Olympiade 1980 in Moskau“, „Weltweite Empö­rung über Boykottdrohungen“ und „Afrikanische Sportler unterstreichen ihre Teilnahme“ prägten die Zeitung am 21. Januar.[70]

[...]


[1] Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 19. Juli 1980.

[2] Der US-Amerikaner Avery Brundage (1887-1975) war von 1952 bis 1972 IOC-Präsident. Als 1934 in den USA Diskussionen aufkamen, die Sommerspiele 1936 in Berlin wegen der Naziherrschaft zu boykottieren, setzte sich Avery Brundage, der kurz zuvor in das IOC gewählt worden war, für eine Teilnahme der US-Sportler ein. Hinter den Forderungen nach einem Boykott vermutete Brundage eine „jüdisch-kommunistische Verschwörung“. Die Welt, 8. Mai 2008.

[3] FAZ, 170/1972.

[4] FAZ, 170/1972.

[5] Vgl. Wachtel, Der Boykott der Olympischen Spiele, S. 5.

[6] Vgl. Güldenpfennig, Internationale Sportbeziehungen, S. 15.

[7] Vgl. Güldenpfennig, Internationale Sportbeziehungen, S. 41.

[8] Güldenpfennig, Internationale Sportbeziehungen, S. 53.

[9] Güldenpfennig, Internationale Sportbeziehungen, S. 54.

[10] Güldenpfennig, Internationale Sportbeziehungen, S. 54.

[11] Güldenpfennig, Internationale Sportbeziehungen, S. 58.

[12] Friedrich, Politische Instrumentalisierung, S. 226.

[13] Vgl. Wachtel, Der Boykott der Olympischen Spiele 1980, S. 7.

[14] Tewes, Kritik der Sportberichterstattung, S. 42.

[15] Becker in: Digel, Sport und Berichterstattung, S. 75.

[16] Binnewies in: Digel, Sport und Berichterstattung, S. 121.

[17] Güldenpfennig, Internationale Sportbeziehungen, S. 78 f.

[18] Stand 1989. Holzweißig, Massenmedien in der DDR, S. 74.

[19] Holzweißig, Massenmedien in der DDR, S. 74.

[20] Zu den Blockparteien in der DDR zählten CDU, LDPD, NDPD und DBD.

[21] Pürer/Raabe, Presse in Deutschland, S. 175.

[22] Zimmermann, DDR-Handbuch, S. 718.

[23] Zimmermann, DDR-Handbuch, S. 718.

[24] Pürer/Raabe, Presse in Deutschland, S. 190.

[25] Stand 2005. 1989 lag die tägliche Gesamtauflage bei 198.000, 1985 bei 190.000. In: Schrag, Medienlandschaft Deutschland, S. 156; Pürer/Raabe, Presse in Deutschland, S. 153; Maaßen, Die Zeitung, S. 102.

[26] Vgl. Schrag, Medienlandschaft Deutschland, S. 154.

[27] Maaßen, Die Zeitung, S. 99.

[28] Volkmann, Legitime Ungleichheiten, S. 262.

[29] Stand: 2005. 1989 lag die tägliche Gesamtauflage bei 355.000, 1985 bei 340.000. In: Schrag, Medienlandschaft Deutschland, S. 154; Pürer/Rabe, Presse in Deutschland, S. 152; Maaßen, Die Zeitung, S. 87.

[30] Vgl. Schrag, Medienlandschaft Deutschland, S. 154.

[31] FAZ, Alles über die Zeitung, S. 8 f.

[32] Schrag, Medienlandschaft Deutschland, S. 155.

[33] Thomas, Porträts der deutschen Presse, S. 81 ff.

[34] Vgl. Tewes, Kritik der Sportberichterstattung. Zum Vergleich: Die Süddeutsche Zeitung druckt 81,4 Prozent interpretierende Beiträge ab, die Welt 37,9 Prozent, die Bild lediglich 4,8 Prozent. Tewes, Kritik der Sportberichterstattung, S. 180f.

[35] Vgl. Tewes, Kritik der Sportberichterstattung, S. 182.

[36] FAZ, 3. Januar 1980.

[37] Vgl. Frankfurter Rundschau (FR), 4. Januar 1980.

[38] Neues Deutschland (ND), 4. Januar 1980.

[39] FR, 4. Januar 1980.

[40] FR, 4. Januar 1980.

[41] FR, 4. Januar 1980.

[42] Vgl. FAZ, 4. Januar 1980.

[43] Vgl. FAZ, 4. Januar 1980.

[44] FAZ, 7. Januar 1980.

[45] Vgl. FR, 8. Januar 1980.

[46] Im Vorfeld der Olympischen Spiele 1976 hatte Neuseeland Rugby-Freundschaftsspiele gegen Südafrika ausgetragen.

[47] FR, 12. Januar 1980.

[48] FR, 12. Januar 1980.

[49] Bei der Geiselnahme von Teheran wurden 52 US-Diplomaten 444 Tage lang vom 4. November 1979 bis zum 20. Januar 1981 als Geiseln gehalten, nachdem eine Gruppe iranischer Studenten die US-amerikanische Botschaft in Teheran im Verlauf der Islamischen Revolution besetzt hatte.

[50] FAZ, 12. Januar 1980.

[51] FAZ, 12. Januar 1980.

[52] Neues Deutschland (ND), 14. Januar 1980.

[53] FAZ, 15. Januar 1980.

[54] FAZ, 17. Januar 1980.

[55] FAZ, 17. Januar 1980.

[56] FAZ, 17. Januar 1980.

[57] FR, 17. Januar 1980.

[58] FR, 17. Januar 1980.

[59] Vgl. FR, 17. Januar 1980.

[60] Vgl. FR, 17. Januar 1980.

[61] FAZ, 17. Januar 1980.

[62] FAZ, 17. Januar 1980.

[63] Vgl. FAZ, 19. Januar 1980.

[64] FAZ, 19. Januar 1980.

[65] FAZ, 19. Januar 1980.

[66] FAZ, 21. Januar 1980.

[67] FAZ, 21. Januar 1980.

[68] FAZ, 21. Januar 1980.

[69] Vgl. FAZ, 21. Januar 1980.

[70] Vgl. ND, 21. Januar 1980.

Ende der Leseprobe aus 81 Seiten

Details

Titel
Die XXII. Olympischen Sommerspiele 1980 von Moskau im Zeichen des Boykotts
Untertitel
Eine Medienanalyse
Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig
Note
2,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
81
Katalognummer
V265109
ISBN (eBook)
9783656546290
ISBN (Buch)
9783656547631
Dateigröße
712 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
xxii, olympischen, sommerspiele, moskau, zeichen, boykotts, eine, medienanalyse
Arbeit zitieren
B.A. Christian Wiedemeier (Autor:in), 2010, Die XXII. Olympischen Sommerspiele 1980 von Moskau im Zeichen des Boykotts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/265109

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