Andersartigkeiten im Nibelungenlied. Von Helden, Amazonen, Teufelinnen und magischmythischen Wesen

Ein Beitrag zur historischen Intersektionalitätsforschung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2012

43 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Inhaltliche und methodische Überlegungen

2. Theorien der Intersektionalität
2.1. Intersektionalität - Ein Überblick
2.2. Das Mehr-Ebenen-Modell
2.3. Die Frage nach den Kategorien
2.4. Intersectional Invisibility

3. Definition und Historisierung der Kategorien

4. Fremdartigkeit vs. Andersartigkeit

5. Andersartigkeiten im Nibelungenlied

6. Der Fluch der Andersartigen - ein Fazit

7. Literaturverzeichnis

1. Inhaltliche und methodische Überlegungen

Teuflische Frauen, bärtige Zwerge, starke Riesen, weise und schöne Meerfrauen, unver­wundbare, übermütige Helden und mythische Drachen: Sie alle haben ihren Platz im Nibe­lungenlied gefunden. Besondere Zuschreibungen brandmarken und kennzeichnen sie als ,andersartige‘ Wesen. Andersartigkeit wird im Nibelungenlied zur Moralisierung und Wer­tung des höfischen und nicht höfischen Verhaltens verwandt. Mythische Wesen sowie aus Menschen und Tieren zusammengefügte Geschöpfe dienten dazu, Laster und Tugenden begreifbar und inhaltlich vorstellbar zu machen.[1] In der höfischen Literatur kennzeichnen Fremdheitserfahrungen mit mythisch-animalischen Kreaturen diese als sozial untergeord­nete Wesen.[2] Die Kluft zwischen höfischer und mythischer Welt wird in den andersartigen Figuren im Nibelungenlied spürbar, wobei der höfischen Welt zweifellos ein höherer Stel­lenwert zugemessen wird.

Die Andersartigen stellen keine homogene Gruppe dar. Sie setzen sich zusammen aus mythischen Wesen und solchen, die als ,Mischwesen‘ aus einem menschlichen und einem nicht-menschlichen Teil bezeichnet werden können. Aber was macht die Andersartigkeit dieser Figuren aus? Die vorliegende Arbeit konzentriert sich bewusst auf das ,Wie‘ und nicht auf das ,Warum‘ der Zuordnung dieser Andersartigkeit. Zur Klärung des ,Wie‘ ziehe ich Konzepte und Theorien der Intersektionalitätsforschung heran. Das Modell von Nina Degele und Gabriele Winker wird dabei von maßgeblicher Bedeutung sein. Zur besseren Verständlichkeit der nachfolgenden Untersuchung folgt eine kurze Erläuterung des Inter- sektionalitätsansatzes. Die Einbettung der untersuchten Figuren in bestimmte vordefinierte Kategorien ist ein wichtiger Bestandteil der Intersektionalitätsforschung. Die Herausforde­rung dieser Arbeit liegt in der Historisierung der Kategorien und der Einordnung in den Kontext der höfischen Welt des 12. und 13. Jahrhunderts. Es handelt sich demnach um his­torische Intersektionalitätsforschung und um den Versuch, intersektionale Konzepte auf hochmittelalterliche Texte anzuwenden. Beabsichtigt ist im Hinblick auf die Frage der An­ders artigkeit, die verschiedenen, sich überschneidenden Kategorien, die Andersartigkeit beschreiben, zu benennen. Beantwortet werden die Fragen: Anhand welcher Kategorien werden Brünhild, Kriemhild, Siegfried und die mythischen Wesen als andersartig hervor­gehoben? Welche Behandlungsweisen erfahren andersartige Figuren? Die Menge der Ka­tegorien wird dabei ebenso beleuchtet wie ihre Gewichtung. Es wird aufgezeigt, dass als

Mittel sowohl die Fokussierung auf manche Kategorien als auch die Ein- und Ausblendung bestimmter Kategorien genutzt wird, um Andersartigkeit zu erzeugen. Die übliche Trias ,race, class gender‘ wird überwunden und durch den übergreifenderen Begriff der Anders­artigkeit ersetzt. Die Durchdringung erfolgt somit vom Allgemeinen hin zum Speziellen. Diese Vorgehensweise ergibt sich aus der Problematik, dass Kategorien verknüpft werden. Das vielfältige Thema Andersartigkeit impliziert von vornherein eine Vernetzung der be­teiligten Kategorien und erlaubt keine Einzelbetrachtung. Aus den einer Figur zugeschrie­benen Kategorien entsteht das Bild ihrer Andersartigkeit.

Einführend ist es notwendig, den Begriff der Andersartigkeit abzugrenzen und zu de­finieren. Eine Gegenüberstellung von Fremd- und Andersartigkeit beleuchtet die Unter­schiede dieser Begriffe sowie ihre Gemeinsamkeiten. Hier beziehe ich mich auf die Theo­rie von Andrea Polaschegg[3], die sich mit der Differenzierung der Begriffe ,fremd‘, ,an- ders‘ und ,eigen‘ beschäftigt hat. Der Sinn einer Anwendung intersektionaler Konzepte auf mittelalterliche Texte liegt in der Erschließung neuer Zugangsweisen. Dabei handelt es sich um ein vernetzendes Konzept, das vielfältig einsetzbar ist und zahlreiche Forschungs­richtungen vereint. Die ausgewählten Figuren des Nibelungenlieds werden mithilfe der in- tersektionalen Theorien ,neu‘ gelesen und interpretiert.

2. Theorien der Intersektionalität

2.1. Intersektionalität - ein Überblick

Die Diskussion um den Begriff der Intersektionalität und deren Inhalt ist immer noch aktu­ell und keinesfalls abgeschlossen. Die vielfältigen Strömungen, Interessen und Meinungen darzustellen soll allerdings nicht Thema dieser Arbeit sein. Ein einheitliches Konzept von Intersektionalität existiert nicht. Vielmehr finden sich unter diesem Begriff verschiedene Richtungen und Interessen der Ungleichheitsforschung wieder. Darum werden in dieser Arbeit nur die für die Fragestellung relevanten Theorien dargestellt und erläutert. Die fol­genden Ausführungen zum Intersektionalitätsbegriff entsprechen ebenfalls dieser Zielrich­tung.[4]

Die Wurzeln des Intersektionalitätsansatzes liegen vordergründig in der Frauen- und Geschlechterforschung. Die Erfahrungen schwarzer Frauen, die sich aufgrund ihres Ge­schlechts und ihrer Herkunft diskriminiert fühlten, verwiesen auf die Unzulänglichkeit der Kategorie gender[5]. Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnisse können nicht mehr nur auf diese Kategorie reduziert werden, sondern müssen vor dem Hintergrund der Wechsel­wirkungen verschiedener Diskriminierungsformen sichtbar gemacht werden.[6] Hierfür hat sich der Begriff Intersektionalität durchgesetzt. Erstmals geprägt wurde dieser durch Kim- berlé Crenshaw, die sich mit den Diskriminierungspraktiken von Firmen beschäftigte. Hierbei stellte sie fest, dass die gleichzeitige Diskriminierung schwarzer Frauen bezüglich ,Rasse‘ und Geschlecht wechselseitig ausgeblendet wurde und eine Fokusverlagerung stattfand.[7] Die Wirkungen von Unterdrückungen dürfen deshalb nicht mehr addiert, son­dern müssen in verwobener Weise betrachtet werden. Hierbei ist vor allem auf Verstär­kung, Abschwächung und Veränderung der Kategorien zu achten. Nina Degele und Gab­riele Winker (2009) entwarfen eine Intersektionalitätstheorie, die sich klar strukturiert und logisch nachvollziehbar darstellt. Intersektionalität thematisiere demnach Wechselwirkun­gen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (Herrschaftsverhältnisse), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen.[8] Diese drei Ebenen fanden in den theoreti­schen Erkenntnissen der Frauen- sowie der Geschlechterforschung und den Queer Studies in den letzten 40 Jahren bereits Beachtung. Allerdings wurde bei diesen Überlegungen nur jeweils eine Ebene berücksichtigt, während Winker und Degele versuchen, eine Verbin­dung herzustellen.[9] Die Wechselwirkungen zwischen den Ebenen sind hierbei kontextab­hängig und gegenstandsbezogen.[10] Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Intersektionali- tät einen Blick auf die Komplexität von Herrschafts- und Machtverhältnissen wirft.[11] Jede komplexe und differenzierte Gesellschaft organisiert sich herrschaftlich, wobei Herrschaft Ungleichheit generiert, da sie Ausbeutung und Unterdrückung impliziert. Nutzen und Las­ten werden so ungleich verteilt.[12]

2.2. Das Mehr-Ebenen-Modell

Die Überlegungen, die Degele und Winker zum ,Mehr-Ebenen-Modell‘ angestellt haben, gliedern sich wie folgt:

Die Makro- und Mesoebene stellt die Sozialstrukturen (Herrschaftsverhältnisse) dar. Dort wird Geschlecht als Strukturkategorie und somit als Ursache sozialer Ungleichheit begrif­fen.[13] Als Beispiel dienen die gesellschaftlichen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen bezüglich Arbeit und Familie (Bezahlung, Anerkennung, Aufstiegschancen). Diese sind in gesellschaftliche Organisationen strukturell eingeschrieben.[14] Männer seien primär für die bezahlte Lohnarbeit zuständig und Frauen führten den Haushalt. Die geschlechtli­che Ungleichheit durchdringe alle gesellschaftlichen Bereiche (Kultur, Ehe, Politik usw.) und alle sozialen Verhältnisse.[15] [16] Die Sicht auf die Sozialstrukturen bzw. die Herrschafts­verhältnisse kann natürlich auch aus anderen Blickwinkeln erfolgen. Für Geschlecht als maßgeblicher Ungleichheitsgenerator auf der Makroebene könnte auch ,Rasse‘16 eingesetzt werden.

Ungleichheitsverhältnisse entstehen nicht aus dem Nichts, sie müssen durch etwas o­der jemanden hervorgebracht werden. Auf der Mikroebene sozial konstruierter Identitäten vollziehen sich Prozesse der Klassifizierung und der Interaktionen.[17] Der Mensch definiert sich über die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kategorien wie ,Rasse‘, Nation, Religion oder auch gender. Kategorien generieren demnach Identität, wobei Identität ebenso wenig naturgegeben zu sein scheint wie Geschlecht. Beides wird durch soziale Praktiken hervor­gebracht. Dies kennzeichnet den Unterschied zur Makro- und Mesoebene, auf der eine Analyse der Ungleichheiten stattfindet. Die Mikroebene interessiert sich für die konkreten Prozesse der Hervorbringung von Identitäten und der damit verbundenen Ungleichheit. In Bezug auf Geschlecht ist der doing-gender-Ansatz dabei von Interesse. Dieser hebt das so­ziale Handeln hervor, welches Geschlecht überhaupt erst konstruiert. Der Fokus liegt hier­bei auf dem ,Wie‘ der Hervorbringung. Wie stellen die Akteurinnen Geschlecht (und damit auch andere Kategorien wie ,Rasse‘, Klasse etc.) her? Das Konzept des doing gender könnte sich auch auf die anderen Kategorien ausweiten lassen.

Die dritte Ebene der symbolischen Repräsentation untersucht, wie die dargestellten Phänomene und Prozesse auf der Makro- und Mikroebene mit Normen und Ideologien verbunden sind. Gesellschaften organisieren sich durch Werte, Überzeugungen und kultu­relle Ordnungen. Die sozialen Repräsentationen dienen dabei als Träger der Ordnung und stellen Integrationsmöglichkeiten dar. Die Mitglieder einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft teilen die gleichen Ideen, Gedanken und Vorstellungen sowie das gleiche Wissen. Es handelt sich um festgelegte Denk- und Wahrnehmungskategorien zu Ge­schlecht, ,Rasse‘, Klasse usw. Die Vorstellungen über bestimmte Begrifflichkeiten (Mann, Frau, arm, reich) definieren sich über diese Wahrnehmungen. In diesem Zusammenhang sei auf Judith Butler verwiesen, die sich in ihrem Werk Das Unbehagen der Geschlechter mit der Hervorbringung von Geschlecht auseinandersetzt. Da unser Denken zweige­schlechtlich funktioniere, nehmen wir auch physiologisch zwei Geschlechter wahr.17[18] Zweigeschlechtlichkeit und Hetero sexualität seien keine Naturtatsachen, sondern perfor­mative Effekte von Wiederholungen. Das Verhalten rekonstruiere sich aus der Vorstellung. Wer ständig gesagt bekomme, dass er ein Junge oder ein Mädchen sei, würde sich irgend­wann auch dementsprechend verhalten. Das Subjekt wird demnach erst über die sprachli­che Handlung konstruiert und nicht in umgekehrter Form. In Bezug auf die Kategorie ,Rasse‘ könnte man formulieren, dass ein Schwarzafrikaner zuerst als solcher bezeichnet und konstruiert wird, bevor er einer ,ist‘. Die Kategorien wären demnach Ergebnisse sym­bolischer Repräsentationen.[19]

Die Schwierigkeit liegt nun darin, die Ebenen miteinander zu verbinden. Vergleichs­weise viele Ansätze gibt es, die sich auf eine der Ebenen beziehen.[20] So verorten Gudrun- Axeli Knapp (2001) und Leslie Mc Call (2001, 2005) Intersektionalität auf der strukturel- len Makroebene.[21] Cornelia Klinger (2003) verweist auf die Konstituierung der Kategorien, bevor über ihre Verwobenheit nachgedacht werden kann.[22] Knapp und Klinger konzentrie­ren sich beide auf ein gesellschaftstheoretisch angelegtes Verfahren und kritisieren die Konzentration von Intersektionalität auf Identitätsebene.[23] Die Ansätze zu doing difference, welche aus dem doing-gender-Paradigma hervorgegangen sind, verweisen ausschließlich auf die Identitätsebene. Hierbei sind Sarah Fenstermaker und Candace West (2001) zu nennen, die von ungleichheitserzeugenden Interaktionsprozessen hinsichtlich Geschlechts-, Klassen- und ethnischen Unterschieden ausgehen.[24] Bisher ist es zumindest gelungen, zwei der drei Ebenen miteinander zu verbinden. So berücksichtigt Pierre Bourdieus Habitusthe­orie (1976) die individuellen Denk-, Wahrnehmungs-, Erfahrungs-, Erlebnis- und Hand­lungsweisen (Identitätsebene), die er mit den gesellschaftlichen Milieus, Lagen und Struk­turen, in denen Menschen eingebettet sind, in Verbindung bringt.[25]

2.3. Die Frage nach den Kategorien

Die Debatte über den Einbezug und die Gewichtung verschiedener Kategorien ist ebenso ungeklärt wie die Intersektionalität an sich.[26] Die Trias ,race class gender‘ bestimmt wei­terhin die Forschung und markiert in vielen Theorien die zentralen Linien der Differenz.[27] Die Frage nach der Anzahl und der Gewichtung verschiedener Kategorien sowie deren De­finition hängen jedoch vom jeweiligen Untersuchungsgegenstand ab. Zudem müssen die Kategorien in ihrer Eigentümlichkeit bzw. Eigenständigkeit zwar einzeln definiert, aber auch in ihrem Zusammenhang dargestellt werden.[28] In Bezug auf die historische Intersekti- onalitätsforschung im Nibelungenlied sollen folgende Kategorien Beachtung finden: Spe­zies, Klasse, Geschlecht (gender), Sexualität, Behinderung und Alter. Diese Kategorien müssen in spezifische Räume und Situationen eingebettet werden, in denen sie sich abspie­len können. Hierbei gilt es vor allem, den sozialen Raum und die Körperbezogenheit zu thematisieren.[29] Diese bilden keine eigenständigen Kategorien, sondern den Ort der Über­schneidungen. Der Einfachheit halber soll dafür der Begriff der ,Schauplätze‘ Anwendung finden. Raum und Körper bilden in den Ausführungen eine Ebene, da sie nicht voneinan­der getrennt betrachtet werden können. Ein Raum ist in seiner Bedeutung sozial geprägt. Hof und Burg weisen beispielsweise von vornherein ein anderes soziales Gefüge auf als ein dörfliches Haus. Die Kategorien betten sich in Raum und Körper ein und müssen ihrer­seits immer wieder neu definiert werden (In welcher Zeit befinde ich mich? Was untersu­che ich?).

2.4. Intersectional Invisibility

Nach der vorangegangenen Thematisierung der Kategorien soll es nun um die Gewichtung eben dieser gehen. Welche Kategorien gelten als relevant, welche werden marginalisiert, ausgeblendet oder abgewertet?

Die Gewichtung ist abhängig von historischen, geografischen, politischen und kultu­rellen Faktoren.[30] In dieser Arbeit soll der Versuch gewagt werden, das neue Konzept der Intersektionalität unter Berücksichtigung des historischen Kontexts auf das Nibelungenlied anzuwenden. Die unterschiedliche Gewichtung von Kategorien fasst Axeli-Knapp mit dem Begriff intersectional invisibility zusammen. Dabei erweitert sie den ursprünglichen Be­griff, der von Crenshaw geprägt wurde, auf weitere Kategorien und auf die Identitätsebene. Crenshaw exemplifiziert das Problem der Überschneidung am Beispiel rassistisch margi- nalisierter Frauen. Deren Probleme würden unsichtbar, wenn sie entweder nur als Aus­druck geschlechtlicher Herrschaftsverhältnisse oder als Ausdruck rassistischer Unterdrü­ckung in Erscheinung träten. Hierbei prägte sie den Begriff der Über- und Unter-Inklusion. Über-Inklusion bezeichnet den Umstand, dass ein Problem, das spezifische Gruppen be­trifft, als übergreifende Problematik angesehen wird. Die Schwierigkeiten ethnisch oder rassistisch kategorisierter Frauen würden dann schlichtweg als ein ,Frauenproblem‘ wahr­genommen. Unter-Inklusion meint hingegen den umgekehrten Fall, wenn nämlich ein Dis­kriminierungsaspekt derart im Vordergrund steht, dass er andere überdeckt.[31] Im Verlauf der Arbeit zeigt sich, dass die Figuren des Nibelungenlieds sich maßgeblich über einen Aspekt als andersartig definieren. Daraus folgt eine Abschwächung und Unterordnung der anderen Kategorien, die Andersartigkeit beschreiben. Die Sozialpsychologen Valerie Pur- die-Vaughns und Richard P. Eibach (2008) entwickelten ein Konzept, das die kognitive Sozialpsychologie, die Vorurteils- und Stereotypenforschung sowie die soziale Identitäts­konstruktion in den Blick nimmt. Sie stellen die These auf, dass die Zugehörigkeit zu meh­reren untergeordneten Gruppen eine Person unsichtbar mache, im Gegensatz zu denjeni­gen, die nur einer untergeordneten Gruppe angehören. Als Beispiel für Ersteres dienen weibliche, heterosexuelle Mitglieder einer ethnischen Minderheit oder auch weiße, lesbi­sche Frauen. Der weiße, schwule Mann hingegen gehört nur einer untergeordneten Gruppe an (Homosexualität) und wird daher eher beachtet. Männer als prototypische Gruppenmit­glieder seien deshalb öfter Opfer aktiver Formen der Unterdrückung als Frauen.[32] Die bei­den Forscherinnen unterscheiden zudem zwischen historischer, kultureller, politischer und rechtlicher Unsichtbarkeit.[33] Knapp kritisiert bei diesem Ansatz das fehlende Konzept der ,Unmarkiertheit‘. Nicht nur die kategorienbasierten Typisierungen und Markierungen sei­en wichtig, sondern auch die Nicht-Markierung des dominanten Allgemeinen.[34]

3. Definition und Historisierung der Kategorien

Im folgenden Abschnitt werden die zu berücksichtigenden Kategorien kurz definiert und in den historischen Kontext des frühen 13. Jahrhunderts eingeordnet. Textliche Bezüge zum Nibelungenlied sind ebenfalls eingebunden.

Kategorie Klasse

Klassensysteme generieren systematisch Ungleichheit. Die Kategorie Klasse umfasst drei Ressourcen, die Personen unterschiedlich zur Verfügung stehen: Vermögen, Geld und Be­sitz (durch soziale Herkunft vermittelt), Bildung und Beruf (kulturell) sowie Netzwerk und Beziehungen (sozial).[35] Diese Ressourcen stehen in engem Zusammenhang und bilden die unterschiedlichen sozio-ökonomischen Ausgangsbedingungen, die Menschen nach ihrer Geburt besitzen.[36]

Um die Kategorie Klasse für das Hochmittelalter genauer definieren zu können, ist es unabdingbar, sich mit der höfischen Kultur auseinanderzusetzen. Eine umfassende Defini­tion des Klassenbegriffs zu liefern, würde den Rahmen sprengen und erscheint nicht not­wendig. Die adelige, höfische Gesellschaft soll daher im Vordergrund stehen.[37] Literari­sche Texte, wie das Nibelungenlied, stellen eine wichtige Quellengruppe bei der Untersu­chung der höfischen Kultur dar.[38] Der Klassen- oder Standesbegriff ist leicht irreführend, suggeriert er doch klar abgesteckte Grenzen. Diese waren jedoch im Hochmittelalter nicht gegeben. Fruchtbarer scheint die Einteilung in ,Mächtige‘ und ,Arme‘ (potentes und pau- peres).[39] Die Unterscheidung von Herrschaft und Dienst galt als grundlegend.[40] Die könig­liche Herrschaft wurde am Hof oder durch Umherreisen (inklusive Hofstaat) ausgeübt.[41] Höfisches Verhalten galt als wichtiger Indikator von Herkunft und wurde am Hof immer wieder neu erprobt. Zeremonielle Umgangsformen und materielle Ausstattung (Kleider, Waffen, Pferde) gehörten ebenso dazu wie höfische Bildung.[42] Der Begriff hövescheit wurde dabei zur Leitidee eines Gesellschaftsideals, in dem körperliche Schönheit, vorneh­me Abstammung, Reichtum, Ansehen, edle Gesinnung, ritterliche Tugenden etc. von Be­deutung waren. Die aufgezählten Kriterien sind allesamt im Nibelungenlied zu finden, das sich komplett auf die Überordnung der höfischen Sphäre konzentriert. Der hochmittelalter­liche Klassenbegriff umfasst damit vielfältige Aspekte (Schönheit, Herkunft, Tugenden, Besitz). Die Kleidung galt dabei nicht unwesentlich als Ausdruck vornehmer Herkunft und Zugehörigkeit zum höfischen Ideal.[43] Auch im Nibelungenlied werden Kleiderwahl und Aussehen häufig und eingehend beschrieben (Schneiderstrophen). Die Welt der höfischen Gesellschaft, die man in höfischen Romanen oder auch im Nibelungenlied findet, ist mehr Schein als Sein. Dennoch hatte das poetische Idealbild des höfischen Ritters und der höfi­schen Damen einen realen Einfluss auf die Leitbilder der Gesellschaft.[44] Der höfische Rit­ter galt als fromm, tugendhaft, schön, stolz, reich und von hoher Abkunft. Siegfried ver­körpert diesen Typus. Er wird von Hagen sogar aufgrund seines stolzen Ganges identifi­ziert (86). Demut soll vom höfischen Ritter ebenfalls gelebt werden.[45] Über diese verfügt Siegfried nur in geringem Maße. Es ist sein übermuot, der ihn immer wieder in Schwierig­keiten bringt.

Erwähnenswert ist vor allem das Bild der Frau. Die höfische Dame definiert sich maßgeblich über ihre Schönheit als Ausdruck innerer Tugendhaftigkeit.[46] Die Werte, die sie repräsentiert, gab sie nach höfischer Vorstellung an den Mann weiter.[47] Dass ein Ritter ritterlich leben konnte, hatte er den Damen zu verdanken.[48] Das Frauenbild der höfischen Dichtung stand dabei in starkem Gegensatz zum Geschlechtswesen der Frau, welches im Folgenden dargelegt wird. Diese Ambivalenz wurde auch im Nibelungenlied durch Kriemhilds und Brünhilds Wandel realisiert. Kriemhild weicht vom Pfad der höfischen Minnedame ab und Brünhild wird in ihn überführt.

Geschlecht

Die im Denken und Handeln vorausgesetzte Zweigeschlechtlichkeit hatte im Hochmittelal­ter einen stärkeren Strukturierungscharakter als heute. Da im Verlauf der Arbeit grundsätz­lich deutsche Fachwörter benutzt werden, muss im Fall der Kategorie gender eine Defini­tion erfolgen. Im Englischen ist die Unterscheidung zwischen gender und sex mehr oder weniger trennscharf. Der Ausdruck Geschlecht meint im Folgenden das soziale und kultu­relle Geschlecht und ist somit dem Begriff gender zuzuordnen. Diesbezüglich sollen Rechts- und Lebensvorstellungen der Männer und Frauen thematisiert werden.

[...]


[1] Vgl. Ulrich Müller Wunderlich und Werner Wunderlich (Hg.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. Bd. 2. St. Gal­len 1999, S. 16.

[2] Vgl. Peter Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. 2. Auf­lage. Stuttgart 2008, S. 479.

[3] Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhun­dert. Berlin 2005.

[4] Für einen umfassenden Überblick über die Geschichte und die Diskussionen der Intersektionalitätsforschung verweise ich auf die weiterführende Literatur im Anhang.

[5] Die Begriffe gender und Geschlecht meinen dasselbe. Bei Geschlecht handelt es sich in den folgenden Ausfüh­rungen immer um das sozial und kulturell geprägte Geschlecht.

[6] Vgl. Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009, S.10 f.

[7] Vgl. im Folgenden: Kimberlé Crenshaw: Demarginalizing the intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. The University of Chicago Legal Forum, 1989, S. 139-167.

[8] Vgl. Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität, S. 15.

[9] Vgl. ebd., S. 18 f.

[10] Vgl. ebd., S. 15.

[11] Vgl. Sabine Hess, Nikola Langreiter und Elisabeth Timm (Hg.): Intersektionalität revisited. Empirische, theore­tische und methodische Erkundungen. Bielefeld 2011, S. 16.

[12] Vgl. Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp: Überkreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Münster 2008, S. 42.

[13] Vgl. Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität, S. 19.

[14] Vgl. ebd., S. 19.

[15] Vgl. ebd., S. 19.

[16] Zur Klärung und Verwendbarkeit des ,Rassebegriffs’, verweise ich auf Punkt 3, S. 15.

[17] Vgl. im folgenden Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität, S. 20 f.

[18] Vgl. im folgenden Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M., 1991.

[19] Vgl. Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität, S. 21.

[20] Vgl. ebd., S. 21.

[21] Vgl. Leslie McCall: Complex Inequality: Gender, Class, and Race in the New Economy. New York 2001.

[22] Vgl. im Folgenden Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp (Hg.): Achsen der Ungleichheit - Achsen der Differenz. Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt a. M. 2007.

[23] Vgl.

[24] Vgl. Sarah Fenstermaker und Candace West: ,Doing Difference’ revisited. Probleme, Aussichten und der Dialog in der Geschlechterforschung. In: Bettina Heintz (Hg.): Geschlechtersoziologie. Sonderheft 41 der Kölner Zeit­schrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. 236-249.

[25] Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a.M. 1976.

[26] Vgl. Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität, S. 14.

[27] Vgl. ebd., S. 15.

[28] Vgl. ebd., S. 17.

[29] Alle genannten Kategorien und Schauplätze werden unter Punkt 3 ,Historisierung und Definition der Katego­rie^ genauer erläutert.

[30] Vgl. Katharina Walgenbach: Gender als interdependente Kategorie: neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Budrich 2007, S. 42.

[31] Vgl. Kimberlé Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex.

[32] Vgl. ebd., S. 225 f.

[33] Vgl. ebd., S. 226.

[34] Vgl. ebd., S. 227.

[35] Vgl. Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität, S. 42.

[36] Vgl. ebd., S. 43.

[37] Für eine umfassendere Sicht auf das Ständesystem kann das Kapitel „Stand“ in Joachim Bumke gelesen werden. Vgl. dazu: Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Bd. 1. München 1986, S. 39-43.

[38] Vgl. ebd., S. 17.

[39] Vgl. ebd., S. 40.

[40] Vgl. ebd., S. 40.

[41] Vgl. ebd., S. 71 f.

[42] Vgl. ebd., S. 80.

[43] Vgl. ebd., S. 172.

[44] Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Bd. 2. München 1986, S. 381.

[45] Vgl. ebd., S. 417 ff.

[46] Vgl. ebd., S. 452.

[47] Vgl. ebd., S. 453.

[48] Vgl. ebd., S. 453.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Andersartigkeiten im Nibelungenlied. Von Helden, Amazonen, Teufelinnen und magischmythischen Wesen
Untertitel
Ein Beitrag zur historischen Intersektionalitätsforschung
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik)
Veranstaltung
Studiengruppe "Historische Intersektionalitätsforschung"
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
43
Katalognummer
V265095
ISBN (eBook)
9783656545309
ISBN (Buch)
9783656545743
Dateigröße
538 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Es handelt sich um eine kleine Forschungsarbeit von 40 Seiten, die im Rahmen der Studiengruppe "Historische Intersektionalitätsforschung" geleistet wurde.
Schlagworte
andersartigkeiten, nibelungenlied, helden, amazonen, teufelinnen, wesen, beitrag, intersektionalitätsforschung
Arbeit zitieren
Lara Schmidt (Autor:in), 2012, Andersartigkeiten im Nibelungenlied. Von Helden, Amazonen, Teufelinnen und magischmythischen Wesen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/265095

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