Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Inhaltliche und methodische Überlegungen
2. Theorien der Intersektionalität
2.1. Intersektionalität - Ein Überblick
2.2. Das Mehr-Ebenen-Modell
2.3. Die Frage nach den Kategorien
2.4. Intersectional Invisibility
3. Definition und Historisierung der Kategorien
4. Fremdartigkeit vs. Andersartigkeit
5. Andersartigkeiten im Nibelungenlied
6. Der Fluch der Andersartigen - ein Fazit
7. Literaturverzeichnis
1. Inhaltliche und methodische Überlegungen
Teuflische Frauen, bärtige Zwerge, starke Riesen, weise und schöne Meerfrauen, unverwundbare, übermütige Helden und mythische Drachen: Sie alle haben ihren Platz im Nibelungenlied gefunden. Besondere Zuschreibungen brandmarken und kennzeichnen sie als ,andersartige‘ Wesen. Andersartigkeit wird im Nibelungenlied zur Moralisierung und Wertung des höfischen und nicht höfischen Verhaltens verwandt. Mythische Wesen sowie aus Menschen und Tieren zusammengefügte Geschöpfe dienten dazu, Laster und Tugenden begreifbar und inhaltlich vorstellbar zu machen.[1] In der höfischen Literatur kennzeichnen Fremdheitserfahrungen mit mythisch-animalischen Kreaturen diese als sozial untergeordnete Wesen.[2] Die Kluft zwischen höfischer und mythischer Welt wird in den andersartigen Figuren im Nibelungenlied spürbar, wobei der höfischen Welt zweifellos ein höherer Stellenwert zugemessen wird.
Die Andersartigen stellen keine homogene Gruppe dar. Sie setzen sich zusammen aus mythischen Wesen und solchen, die als ,Mischwesen‘ aus einem menschlichen und einem nicht-menschlichen Teil bezeichnet werden können. Aber was macht die Andersartigkeit dieser Figuren aus? Die vorliegende Arbeit konzentriert sich bewusst auf das ,Wie‘ und nicht auf das ,Warum‘ der Zuordnung dieser Andersartigkeit. Zur Klärung des ,Wie‘ ziehe ich Konzepte und Theorien der Intersektionalitätsforschung heran. Das Modell von Nina Degele und Gabriele Winker wird dabei von maßgeblicher Bedeutung sein. Zur besseren Verständlichkeit der nachfolgenden Untersuchung folgt eine kurze Erläuterung des Inter- sektionalitätsansatzes. Die Einbettung der untersuchten Figuren in bestimmte vordefinierte Kategorien ist ein wichtiger Bestandteil der Intersektionalitätsforschung. Die Herausforderung dieser Arbeit liegt in der Historisierung der Kategorien und der Einordnung in den Kontext der höfischen Welt des 12. und 13. Jahrhunderts. Es handelt sich demnach um historische Intersektionalitätsforschung und um den Versuch, intersektionale Konzepte auf hochmittelalterliche Texte anzuwenden. Beabsichtigt ist im Hinblick auf die Frage der Anders artigkeit, die verschiedenen, sich überschneidenden Kategorien, die Andersartigkeit beschreiben, zu benennen. Beantwortet werden die Fragen: Anhand welcher Kategorien werden Brünhild, Kriemhild, Siegfried und die mythischen Wesen als andersartig hervorgehoben? Welche Behandlungsweisen erfahren andersartige Figuren? Die Menge der Kategorien wird dabei ebenso beleuchtet wie ihre Gewichtung. Es wird aufgezeigt, dass als
Mittel sowohl die Fokussierung auf manche Kategorien als auch die Ein- und Ausblendung bestimmter Kategorien genutzt wird, um Andersartigkeit zu erzeugen. Die übliche Trias ,race, class gender‘ wird überwunden und durch den übergreifenderen Begriff der Andersartigkeit ersetzt. Die Durchdringung erfolgt somit vom Allgemeinen hin zum Speziellen. Diese Vorgehensweise ergibt sich aus der Problematik, dass Kategorien verknüpft werden. Das vielfältige Thema Andersartigkeit impliziert von vornherein eine Vernetzung der beteiligten Kategorien und erlaubt keine Einzelbetrachtung. Aus den einer Figur zugeschriebenen Kategorien entsteht das Bild ihrer Andersartigkeit.
Einführend ist es notwendig, den Begriff der Andersartigkeit abzugrenzen und zu definieren. Eine Gegenüberstellung von Fremd- und Andersartigkeit beleuchtet die Unterschiede dieser Begriffe sowie ihre Gemeinsamkeiten. Hier beziehe ich mich auf die Theorie von Andrea Polaschegg[3], die sich mit der Differenzierung der Begriffe ,fremd‘, ,an- ders‘ und ,eigen‘ beschäftigt hat. Der Sinn einer Anwendung intersektionaler Konzepte auf mittelalterliche Texte liegt in der Erschließung neuer Zugangsweisen. Dabei handelt es sich um ein vernetzendes Konzept, das vielfältig einsetzbar ist und zahlreiche Forschungsrichtungen vereint. Die ausgewählten Figuren des Nibelungenlieds werden mithilfe der in- tersektionalen Theorien ,neu‘ gelesen und interpretiert.
2. Theorien der Intersektionalität
2.1. Intersektionalität - ein Überblick
Die Diskussion um den Begriff der Intersektionalität und deren Inhalt ist immer noch aktuell und keinesfalls abgeschlossen. Die vielfältigen Strömungen, Interessen und Meinungen darzustellen soll allerdings nicht Thema dieser Arbeit sein. Ein einheitliches Konzept von Intersektionalität existiert nicht. Vielmehr finden sich unter diesem Begriff verschiedene Richtungen und Interessen der Ungleichheitsforschung wieder. Darum werden in dieser Arbeit nur die für die Fragestellung relevanten Theorien dargestellt und erläutert. Die folgenden Ausführungen zum Intersektionalitätsbegriff entsprechen ebenfalls dieser Zielrichtung.[4]
Die Wurzeln des Intersektionalitätsansatzes liegen vordergründig in der Frauen- und Geschlechterforschung. Die Erfahrungen schwarzer Frauen, die sich aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Herkunft diskriminiert fühlten, verwiesen auf die Unzulänglichkeit der Kategorie gender[5]. Ungleichheits- und Unterdrückungsverhältnisse können nicht mehr nur auf diese Kategorie reduziert werden, sondern müssen vor dem Hintergrund der Wechselwirkungen verschiedener Diskriminierungsformen sichtbar gemacht werden.[6] Hierfür hat sich der Begriff Intersektionalität durchgesetzt. Erstmals geprägt wurde dieser durch Kim- berlé Crenshaw, die sich mit den Diskriminierungspraktiken von Firmen beschäftigte. Hierbei stellte sie fest, dass die gleichzeitige Diskriminierung schwarzer Frauen bezüglich ,Rasse‘ und Geschlecht wechselseitig ausgeblendet wurde und eine Fokusverlagerung stattfand.[7] Die Wirkungen von Unterdrückungen dürfen deshalb nicht mehr addiert, sondern müssen in verwobener Weise betrachtet werden. Hierbei ist vor allem auf Verstärkung, Abschwächung und Veränderung der Kategorien zu achten. Nina Degele und Gabriele Winker (2009) entwarfen eine Intersektionalitätstheorie, die sich klar strukturiert und logisch nachvollziehbar darstellt. Intersektionalität thematisiere demnach Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (Herrschaftsverhältnisse), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen.[8] Diese drei Ebenen fanden in den theoretischen Erkenntnissen der Frauen- sowie der Geschlechterforschung und den Queer Studies in den letzten 40 Jahren bereits Beachtung. Allerdings wurde bei diesen Überlegungen nur jeweils eine Ebene berücksichtigt, während Winker und Degele versuchen, eine Verbindung herzustellen.[9] Die Wechselwirkungen zwischen den Ebenen sind hierbei kontextabhängig und gegenstandsbezogen.[10] Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Intersektionali- tät einen Blick auf die Komplexität von Herrschafts- und Machtverhältnissen wirft.[11] Jede komplexe und differenzierte Gesellschaft organisiert sich herrschaftlich, wobei Herrschaft Ungleichheit generiert, da sie Ausbeutung und Unterdrückung impliziert. Nutzen und Lasten werden so ungleich verteilt.[12]
2.2. Das Mehr-Ebenen-Modell
Die Überlegungen, die Degele und Winker zum ,Mehr-Ebenen-Modell‘ angestellt haben, gliedern sich wie folgt:
Die Makro- und Mesoebene stellt die Sozialstrukturen (Herrschaftsverhältnisse) dar. Dort wird Geschlecht als Strukturkategorie und somit als Ursache sozialer Ungleichheit begriffen.[13] Als Beispiel dienen die gesellschaftlichen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen bezüglich Arbeit und Familie (Bezahlung, Anerkennung, Aufstiegschancen). Diese sind in gesellschaftliche Organisationen strukturell eingeschrieben.[14] Männer seien primär für die bezahlte Lohnarbeit zuständig und Frauen führten den Haushalt. Die geschlechtliche Ungleichheit durchdringe alle gesellschaftlichen Bereiche (Kultur, Ehe, Politik usw.) und alle sozialen Verhältnisse.[15] [16] Die Sicht auf die Sozialstrukturen bzw. die Herrschaftsverhältnisse kann natürlich auch aus anderen Blickwinkeln erfolgen. Für Geschlecht als maßgeblicher Ungleichheitsgenerator auf der Makroebene könnte auch ,Rasse‘16 eingesetzt werden.
Ungleichheitsverhältnisse entstehen nicht aus dem Nichts, sie müssen durch etwas oder jemanden hervorgebracht werden. Auf der Mikroebene sozial konstruierter Identitäten vollziehen sich Prozesse der Klassifizierung und der Interaktionen.[17] Der Mensch definiert sich über die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kategorien wie ,Rasse‘, Nation, Religion oder auch gender. Kategorien generieren demnach Identität, wobei Identität ebenso wenig naturgegeben zu sein scheint wie Geschlecht. Beides wird durch soziale Praktiken hervorgebracht. Dies kennzeichnet den Unterschied zur Makro- und Mesoebene, auf der eine Analyse der Ungleichheiten stattfindet. Die Mikroebene interessiert sich für die konkreten Prozesse der Hervorbringung von Identitäten und der damit verbundenen Ungleichheit. In Bezug auf Geschlecht ist der doing-gender-Ansatz dabei von Interesse. Dieser hebt das soziale Handeln hervor, welches Geschlecht überhaupt erst konstruiert. Der Fokus liegt hierbei auf dem ,Wie‘ der Hervorbringung. Wie stellen die Akteurinnen Geschlecht (und damit auch andere Kategorien wie ,Rasse‘, Klasse etc.) her? Das Konzept des doing gender könnte sich auch auf die anderen Kategorien ausweiten lassen.
Die dritte Ebene der symbolischen Repräsentation untersucht, wie die dargestellten Phänomene und Prozesse auf der Makro- und Mikroebene mit Normen und Ideologien verbunden sind. Gesellschaften organisieren sich durch Werte, Überzeugungen und kulturelle Ordnungen. Die sozialen Repräsentationen dienen dabei als Träger der Ordnung und stellen Integrationsmöglichkeiten dar. Die Mitglieder einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft teilen die gleichen Ideen, Gedanken und Vorstellungen sowie das gleiche Wissen. Es handelt sich um festgelegte Denk- und Wahrnehmungskategorien zu Geschlecht, ,Rasse‘, Klasse usw. Die Vorstellungen über bestimmte Begrifflichkeiten (Mann, Frau, arm, reich) definieren sich über diese Wahrnehmungen. In diesem Zusammenhang sei auf Judith Butler verwiesen, die sich in ihrem Werk Das Unbehagen der Geschlechter mit der Hervorbringung von Geschlecht auseinandersetzt. Da unser Denken zweigeschlechtlich funktioniere, nehmen wir auch physiologisch zwei Geschlechter wahr.17[18] Zweigeschlechtlichkeit und Hetero sexualität seien keine Naturtatsachen, sondern performative Effekte von Wiederholungen. Das Verhalten rekonstruiere sich aus der Vorstellung. Wer ständig gesagt bekomme, dass er ein Junge oder ein Mädchen sei, würde sich irgendwann auch dementsprechend verhalten. Das Subjekt wird demnach erst über die sprachliche Handlung konstruiert und nicht in umgekehrter Form. In Bezug auf die Kategorie ,Rasse‘ könnte man formulieren, dass ein Schwarzafrikaner zuerst als solcher bezeichnet und konstruiert wird, bevor er einer ,ist‘. Die Kategorien wären demnach Ergebnisse symbolischer Repräsentationen.[19]
Die Schwierigkeit liegt nun darin, die Ebenen miteinander zu verbinden. Vergleichsweise viele Ansätze gibt es, die sich auf eine der Ebenen beziehen.[20] So verorten Gudrun- Axeli Knapp (2001) und Leslie Mc Call (2001, 2005) Intersektionalität auf der strukturel- len Makroebene.[21] Cornelia Klinger (2003) verweist auf die Konstituierung der Kategorien, bevor über ihre Verwobenheit nachgedacht werden kann.[22] Knapp und Klinger konzentrieren sich beide auf ein gesellschaftstheoretisch angelegtes Verfahren und kritisieren die Konzentration von Intersektionalität auf Identitätsebene.[23] Die Ansätze zu doing difference, welche aus dem doing-gender-Paradigma hervorgegangen sind, verweisen ausschließlich auf die Identitätsebene. Hierbei sind Sarah Fenstermaker und Candace West (2001) zu nennen, die von ungleichheitserzeugenden Interaktionsprozessen hinsichtlich Geschlechts-, Klassen- und ethnischen Unterschieden ausgehen.[24] Bisher ist es zumindest gelungen, zwei der drei Ebenen miteinander zu verbinden. So berücksichtigt Pierre Bourdieus Habitustheorie (1976) die individuellen Denk-, Wahrnehmungs-, Erfahrungs-, Erlebnis- und Handlungsweisen (Identitätsebene), die er mit den gesellschaftlichen Milieus, Lagen und Strukturen, in denen Menschen eingebettet sind, in Verbindung bringt.[25]
2.3. Die Frage nach den Kategorien
Die Debatte über den Einbezug und die Gewichtung verschiedener Kategorien ist ebenso ungeklärt wie die Intersektionalität an sich.[26] Die Trias ,race class gender‘ bestimmt weiterhin die Forschung und markiert in vielen Theorien die zentralen Linien der Differenz.[27] Die Frage nach der Anzahl und der Gewichtung verschiedener Kategorien sowie deren Definition hängen jedoch vom jeweiligen Untersuchungsgegenstand ab. Zudem müssen die Kategorien in ihrer Eigentümlichkeit bzw. Eigenständigkeit zwar einzeln definiert, aber auch in ihrem Zusammenhang dargestellt werden.[28] In Bezug auf die historische Intersekti- onalitätsforschung im Nibelungenlied sollen folgende Kategorien Beachtung finden: Spezies, Klasse, Geschlecht (gender), Sexualität, Behinderung und Alter. Diese Kategorien müssen in spezifische Räume und Situationen eingebettet werden, in denen sie sich abspielen können. Hierbei gilt es vor allem, den sozialen Raum und die Körperbezogenheit zu thematisieren.[29] Diese bilden keine eigenständigen Kategorien, sondern den Ort der Überschneidungen. Der Einfachheit halber soll dafür der Begriff der ,Schauplätze‘ Anwendung finden. Raum und Körper bilden in den Ausführungen eine Ebene, da sie nicht voneinander getrennt betrachtet werden können. Ein Raum ist in seiner Bedeutung sozial geprägt. Hof und Burg weisen beispielsweise von vornherein ein anderes soziales Gefüge auf als ein dörfliches Haus. Die Kategorien betten sich in Raum und Körper ein und müssen ihrerseits immer wieder neu definiert werden (In welcher Zeit befinde ich mich? Was untersuche ich?).
2.4. Intersectional Invisibility
Nach der vorangegangenen Thematisierung der Kategorien soll es nun um die Gewichtung eben dieser gehen. Welche Kategorien gelten als relevant, welche werden marginalisiert, ausgeblendet oder abgewertet?
Die Gewichtung ist abhängig von historischen, geografischen, politischen und kulturellen Faktoren.[30] In dieser Arbeit soll der Versuch gewagt werden, das neue Konzept der Intersektionalität unter Berücksichtigung des historischen Kontexts auf das Nibelungenlied anzuwenden. Die unterschiedliche Gewichtung von Kategorien fasst Axeli-Knapp mit dem Begriff intersectional invisibility zusammen. Dabei erweitert sie den ursprünglichen Begriff, der von Crenshaw geprägt wurde, auf weitere Kategorien und auf die Identitätsebene. Crenshaw exemplifiziert das Problem der Überschneidung am Beispiel rassistisch margi- nalisierter Frauen. Deren Probleme würden unsichtbar, wenn sie entweder nur als Ausdruck geschlechtlicher Herrschaftsverhältnisse oder als Ausdruck rassistischer Unterdrückung in Erscheinung träten. Hierbei prägte sie den Begriff der Über- und Unter-Inklusion. Über-Inklusion bezeichnet den Umstand, dass ein Problem, das spezifische Gruppen betrifft, als übergreifende Problematik angesehen wird. Die Schwierigkeiten ethnisch oder rassistisch kategorisierter Frauen würden dann schlichtweg als ein ,Frauenproblem‘ wahrgenommen. Unter-Inklusion meint hingegen den umgekehrten Fall, wenn nämlich ein Diskriminierungsaspekt derart im Vordergrund steht, dass er andere überdeckt.[31] Im Verlauf der Arbeit zeigt sich, dass die Figuren des Nibelungenlieds sich maßgeblich über einen Aspekt als andersartig definieren. Daraus folgt eine Abschwächung und Unterordnung der anderen Kategorien, die Andersartigkeit beschreiben. Die Sozialpsychologen Valerie Pur- die-Vaughns und Richard P. Eibach (2008) entwickelten ein Konzept, das die kognitive Sozialpsychologie, die Vorurteils- und Stereotypenforschung sowie die soziale Identitätskonstruktion in den Blick nimmt. Sie stellen die These auf, dass die Zugehörigkeit zu mehreren untergeordneten Gruppen eine Person unsichtbar mache, im Gegensatz zu denjenigen, die nur einer untergeordneten Gruppe angehören. Als Beispiel für Ersteres dienen weibliche, heterosexuelle Mitglieder einer ethnischen Minderheit oder auch weiße, lesbische Frauen. Der weiße, schwule Mann hingegen gehört nur einer untergeordneten Gruppe an (Homosexualität) und wird daher eher beachtet. Männer als prototypische Gruppenmitglieder seien deshalb öfter Opfer aktiver Formen der Unterdrückung als Frauen.[32] Die beiden Forscherinnen unterscheiden zudem zwischen historischer, kultureller, politischer und rechtlicher Unsichtbarkeit.[33] Knapp kritisiert bei diesem Ansatz das fehlende Konzept der ,Unmarkiertheit‘. Nicht nur die kategorienbasierten Typisierungen und Markierungen seien wichtig, sondern auch die Nicht-Markierung des dominanten Allgemeinen.[34]
3. Definition und Historisierung der Kategorien
Im folgenden Abschnitt werden die zu berücksichtigenden Kategorien kurz definiert und in den historischen Kontext des frühen 13. Jahrhunderts eingeordnet. Textliche Bezüge zum Nibelungenlied sind ebenfalls eingebunden.
Kategorie Klasse
Klassensysteme generieren systematisch Ungleichheit. Die Kategorie Klasse umfasst drei Ressourcen, die Personen unterschiedlich zur Verfügung stehen: Vermögen, Geld und Besitz (durch soziale Herkunft vermittelt), Bildung und Beruf (kulturell) sowie Netzwerk und Beziehungen (sozial).[35] Diese Ressourcen stehen in engem Zusammenhang und bilden die unterschiedlichen sozio-ökonomischen Ausgangsbedingungen, die Menschen nach ihrer Geburt besitzen.[36]
Um die Kategorie Klasse für das Hochmittelalter genauer definieren zu können, ist es unabdingbar, sich mit der höfischen Kultur auseinanderzusetzen. Eine umfassende Definition des Klassenbegriffs zu liefern, würde den Rahmen sprengen und erscheint nicht notwendig. Die adelige, höfische Gesellschaft soll daher im Vordergrund stehen.[37] Literarische Texte, wie das Nibelungenlied, stellen eine wichtige Quellengruppe bei der Untersuchung der höfischen Kultur dar.[38] Der Klassen- oder Standesbegriff ist leicht irreführend, suggeriert er doch klar abgesteckte Grenzen. Diese waren jedoch im Hochmittelalter nicht gegeben. Fruchtbarer scheint die Einteilung in ,Mächtige‘ und ,Arme‘ (potentes und pau- peres).[39] Die Unterscheidung von Herrschaft und Dienst galt als grundlegend.[40] Die königliche Herrschaft wurde am Hof oder durch Umherreisen (inklusive Hofstaat) ausgeübt.[41] Höfisches Verhalten galt als wichtiger Indikator von Herkunft und wurde am Hof immer wieder neu erprobt. Zeremonielle Umgangsformen und materielle Ausstattung (Kleider, Waffen, Pferde) gehörten ebenso dazu wie höfische Bildung.[42] Der Begriff hövescheit wurde dabei zur Leitidee eines Gesellschaftsideals, in dem körperliche Schönheit, vornehme Abstammung, Reichtum, Ansehen, edle Gesinnung, ritterliche Tugenden etc. von Bedeutung waren. Die aufgezählten Kriterien sind allesamt im Nibelungenlied zu finden, das sich komplett auf die Überordnung der höfischen Sphäre konzentriert. Der hochmittelalterliche Klassenbegriff umfasst damit vielfältige Aspekte (Schönheit, Herkunft, Tugenden, Besitz). Die Kleidung galt dabei nicht unwesentlich als Ausdruck vornehmer Herkunft und Zugehörigkeit zum höfischen Ideal.[43] Auch im Nibelungenlied werden Kleiderwahl und Aussehen häufig und eingehend beschrieben (Schneiderstrophen). Die Welt der höfischen Gesellschaft, die man in höfischen Romanen oder auch im Nibelungenlied findet, ist mehr Schein als Sein. Dennoch hatte das poetische Idealbild des höfischen Ritters und der höfischen Damen einen realen Einfluss auf die Leitbilder der Gesellschaft.[44] Der höfische Ritter galt als fromm, tugendhaft, schön, stolz, reich und von hoher Abkunft. Siegfried verkörpert diesen Typus. Er wird von Hagen sogar aufgrund seines stolzen Ganges identifiziert (86). Demut soll vom höfischen Ritter ebenfalls gelebt werden.[45] Über diese verfügt Siegfried nur in geringem Maße. Es ist sein übermuot, der ihn immer wieder in Schwierigkeiten bringt.
Erwähnenswert ist vor allem das Bild der Frau. Die höfische Dame definiert sich maßgeblich über ihre Schönheit als Ausdruck innerer Tugendhaftigkeit.[46] Die Werte, die sie repräsentiert, gab sie nach höfischer Vorstellung an den Mann weiter.[47] Dass ein Ritter ritterlich leben konnte, hatte er den Damen zu verdanken.[48] Das Frauenbild der höfischen Dichtung stand dabei in starkem Gegensatz zum Geschlechtswesen der Frau, welches im Folgenden dargelegt wird. Diese Ambivalenz wurde auch im Nibelungenlied durch Kriemhilds und Brünhilds Wandel realisiert. Kriemhild weicht vom Pfad der höfischen Minnedame ab und Brünhild wird in ihn überführt.
Geschlecht
Die im Denken und Handeln vorausgesetzte Zweigeschlechtlichkeit hatte im Hochmittelalter einen stärkeren Strukturierungscharakter als heute. Da im Verlauf der Arbeit grundsätzlich deutsche Fachwörter benutzt werden, muss im Fall der Kategorie gender eine Definition erfolgen. Im Englischen ist die Unterscheidung zwischen gender und sex mehr oder weniger trennscharf. Der Ausdruck Geschlecht meint im Folgenden das soziale und kulturelle Geschlecht und ist somit dem Begriff gender zuzuordnen. Diesbezüglich sollen Rechts- und Lebensvorstellungen der Männer und Frauen thematisiert werden.
[...]
[1] Vgl. Ulrich Müller Wunderlich und Werner Wunderlich (Hg.): Dämonen, Monster, Fabelwesen. Bd. 2. St. Gallen 1999, S. 16.
[2] Vgl. Peter Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. 2. Auflage. Stuttgart 2008, S. 479.
[3] Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin 2005.
[4] Für einen umfassenden Überblick über die Geschichte und die Diskussionen der Intersektionalitätsforschung verweise ich auf die weiterführende Literatur im Anhang.
[5] Die Begriffe gender und Geschlecht meinen dasselbe. Bei Geschlecht handelt es sich in den folgenden Ausführungen immer um das sozial und kulturell geprägte Geschlecht.
[6] Vgl. Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009, S.10 f.
[7] Vgl. im Folgenden: Kimberlé Crenshaw: Demarginalizing the intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. The University of Chicago Legal Forum, 1989, S. 139-167.
[8] Vgl. Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität, S. 15.
[9] Vgl. ebd., S. 18 f.
[10] Vgl. ebd., S. 15.
[11] Vgl. Sabine Hess, Nikola Langreiter und Elisabeth Timm (Hg.): Intersektionalität revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld 2011, S. 16.
[12] Vgl. Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp: Überkreuzungen. Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Münster 2008, S. 42.
[13] Vgl. Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität, S. 19.
[14] Vgl. ebd., S. 19.
[15] Vgl. ebd., S. 19.
[16] Zur Klärung und Verwendbarkeit des ,Rassebegriffs’, verweise ich auf Punkt 3, S. 15.
[17] Vgl. im folgenden Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität, S. 20 f.
[18] Vgl. im folgenden Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M., 1991.
[19] Vgl. Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität, S. 21.
[20] Vgl. ebd., S. 21.
[21] Vgl. Leslie McCall: Complex Inequality: Gender, Class, and Race in the New Economy. New York 2001.
[22] Vgl. im Folgenden Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp (Hg.): Achsen der Ungleichheit - Achsen der Differenz. Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt a. M. 2007.
[23] Vgl.
[24] Vgl. Sarah Fenstermaker und Candace West: ,Doing Difference’ revisited. Probleme, Aussichten und der Dialog in der Geschlechterforschung. In: Bettina Heintz (Hg.): Geschlechtersoziologie. Sonderheft 41 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S. 236-249.
[25] Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a.M. 1976.
[26] Vgl. Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität, S. 14.
[27] Vgl. ebd., S. 15.
[28] Vgl. ebd., S. 17.
[29] Alle genannten Kategorien und Schauplätze werden unter Punkt 3 ,Historisierung und Definition der Kategorie^ genauer erläutert.
[30] Vgl. Katharina Walgenbach: Gender als interdependente Kategorie: neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Budrich 2007, S. 42.
[31] Vgl. Kimberlé Crenshaw: Demarginalizing the Intersection of Race and Sex.
[32] Vgl. ebd., S. 225 f.
[33] Vgl. ebd., S. 226.
[34] Vgl. ebd., S. 227.
[35] Vgl. Gabriele Winker und Nina Degele: Intersektionalität, S. 42.
[36] Vgl. ebd., S. 43.
[37] Für eine umfassendere Sicht auf das Ständesystem kann das Kapitel „Stand“ in Joachim Bumke gelesen werden. Vgl. dazu: Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Bd. 1. München 1986, S. 39-43.
[38] Vgl. ebd., S. 17.
[39] Vgl. ebd., S. 40.
[40] Vgl. ebd., S. 40.
[41] Vgl. ebd., S. 71 f.
[42] Vgl. ebd., S. 80.
[43] Vgl. ebd., S. 172.
[44] Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Bd. 2. München 1986, S. 381.
[45] Vgl. ebd., S. 417 ff.
[46] Vgl. ebd., S. 452.
[47] Vgl. ebd., S. 453.
[48] Vgl. ebd., S. 453.
- Arbeit zitieren
- Lara Schmidt (Autor:in), 2012, Andersartigkeiten im Nibelungenlied. Von Helden, Amazonen, Teufelinnen und magischmythischen Wesen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/265095
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