Der Westen. Anmerkungen zur Karriere einer globalen Raumvision.


Essay, 2013

15 Seiten


Leseprobe


DER WESTEN.
ANMERKUNGEN ZUR KARRIERE EINER GLOBALEN RAUMVISION.

Michael J. Seifert

Nein, im Westen nichts Neues! Er präsentiert sich immer noch muskelbepackt, strotzend vor Selbstbewusstsein: „The west and the rest“ und „Test the West“, die tief verinnerlichte Selbstverständlichkeit des Westlichen und des westlichen Lebensstils die Verwestlichung, das Chillen und Chatten in der shopping mall, die tausendmal gerühmte, vielgepriesene westliche Zivilisation, aber auch ihr massenhaft herbeigesehnter Tod, ja „Tod dem Westen“, seine Verderbtheit und die Erwartung seines inneren Zerfalls und seiner von innen nagenden Fäulnis, seine ungeheure kulturelle und militärische Macht, sein wirtschaftlicher Abstieg, seine mysteriösen Finanzmärkte, Drohnen und Democracy. Nahezu grenzenlos seine Ausdehnung, die leichteste Berührung mit ihm mutiert alles zum world-wide-path, seine tumorige Raumforderung gepaart mit seiner kämpferischen transzendental-religiösen Negation, ein Raumtransformer nimmersatt,, alles verschlingende Raumprojektion. Selbstzweifel sind angesonnen; daher die Ultrastabilität des westlichen Systems.

Die Redeweisen vom Westen sind verdinglicht, sowohl seitens seiner Apologeten, aber auch von seinen Todfeinden. Die aufreizend triumphale Selbstgewissheit wird kontrastiert von dem radikal-islamistisch getränkten dystopischen Zerrbild vom Westen als dem Sitz des schlechthin Bösen in der Welt. Der Westen ist kontradiktorisch, gerade in dieser Polarität so attraktiv, bietet er doch eine zwar äußerst diffuse, aber hochgradig bindende Option, eine intellektuelle Ressource der Sinnfindung und Identifikation, der global-fundamentalen Ausgrenzung und Wir-Definition. Und was ist jetzt eigentlich der Westen ? Diese Frage klingt scheinbar naiv, ist aber in Wahrheit nicht unklug, weil nicht so leicht zu beantworten. Eine erste Annäherung an die Beantwortung dieser Frage könnte erst einmal über den Umweg unseres Alltagsverständnisses erfolgen.

Gemeinhin pflegen wir doch von mehreren Prämissen auszugehen, deren Gültigkeit in aller Regel unreflektiert bleiben: So wird allgemein unterstellt, (a) dass diese Raumkategorie „Westen“ einem objektiv abgrenzbaren Wirklichkeitsphänomen korrespondiert, b) dass es historisch gesehen, bereits seit geraumer Zeit existiert (z. B. seit der römischen Antike), und c) dass der Begriff eine Erfindung des Westens darstellt, d.h. einen Raumbegriff markiert, dessen Genese ausschließlich vom Westen real und ideologisch verantwortet, als eine begriffliche Selbstbeschreibung verstanden werden muss. Nichts von dem trifft zu, die drei Annahmen lassen sich mit fetten Fragezeichen versehen.

DER BEGRIFF DES WESTENS: KONSTRUKTION-GLOBALITÄT-DISKURS

Zunächst: Der Westen, das ist nicht einfach ein objektiv abgrenzbarer, territorial gebundener geo-politischer Raum, der, historisch invariant, als unabhängig von kollektiven Definitionen der Menschen existiert. Vielmehr geht es bei diesem Begriff um eine kollektive Raumvision mit einem mehr oder weniger ausgeprägtem Verbreitungs- resp. Geltungsgrad, er repräsentiert ein mentale Karte, die historisch kontingent, unter Beteiligung unterschiedlicher Kartografen konstruiert wurde. Er impliziert historisch gewachsene Raumbilder aus dem Kontext vergangener Verflechtungen und Interdependenzen zwischen Ländern und Regionen. Nur als geltungsheischende subjektive kollektive Visionen sind sie wirklichkeitsrelevant. Entgegen der verdinglichenden Annahme des Westens als einer territorial und historisch objektiven räumlichen Einheit muss davon ausgegangen werden, dass diese Raumvision unter Anpassung an realgeschichtliche Prozesse kollektiv-diskursiv erzeugt und kulturell tradiert bzw. importiert wird. So existieren eine Reihe von für den Westen als konstitutiv geltende, jedoch differente Zugehörigkeiten, die beispielsweise qua Rekurs auf die griechische Antike oder das weströmische Reich oder das christliche Abendland oder das britische Empire oder schließlich dem atlantischen Bündnis zwischen den USA und Westeuropa (einschließlich den britischen Commonwealth-Staaten wie Kanada, Neuseeland, Australien) konstruiert werden. Für die Geltungsdauer von ein paar Jahrzehnten, ist vielleicht die letztgenannte Referenzregion zur Zeit am ehesten diejenige, die mit dem „Westen“ assoziiert wird.

Nach dem Ende des Systemkonflikts zwischen den USA und der Sowjetunion war jedoch abzusehen, dass diese Bündniskonstellation in der einen oder anderen Form erodiert und aufgrund der Modernisierungsprozesse in zahlreichen Ländern der asiatischen, südamerikanischen, aber auch der europäischen Hemisphäre die Voraussetzungen für eine strukturelle evolutionäre Annäherung an die klassischen Weststaaten geschaffen sind. Es wird dann zusehends schwieriger zu entscheiden, ob solche Länder wie Bulgarien, Kasachstan, Ukraine, Bosnien-Herzegowina, Türkei, Brasilien, Israel oder Russland, gar Japan von der Westzugehörigkeit ausgeschlossen werden können. Auch wenn sie keine oder eine nur partielle oder indirekte Zugehörigkeit zur abendländisch-christlichen Geschichte aufweisen, würden sie dennoch aufgrund ihres kulturellen Imports der institutionellen Gegebenheiten von Marktwirtschaft, demokratischem System und den Menschenrechten im historischen Ergebnis und im weltweiten geopolitischen Sinne die Kriterien für eine Zugehörigkeit zur westlichen Wertegemeinschaft erfüllen..

Wenn man allerdings solche sich zunehmend modernisierende Länder zum Westen rechnet – ohne die Berücksichtigung ihrer historisch-kulturell unterschiedlichen Kontexte – würden allerdings die genannten Zurechnungskriterien unschärfer oder trivial. Letzteres weil argumentiert werden könnte, dass langfristig aufgrund einer sich tendentiell durchsetzenden Korrelation zwischen Marktgesellschaften und demokratischen Systemen der Westen sich in seinen Grundmustern weiter universalisieren und die Rede vom Westen zur Tautologie verkommen würde: Alles und nichts wird westlich, was allenfalls vielleicht noch einen Motivationsschub für die Kampfbereitschaft des extremistischen Islam darstellen könnte. Von den potentiell neo-imperialistischen Konnotationen dieser Hypothese einmal abgesehen, bleiben die kulturellen Unterschiede jedoch bestehen, sie würden – wie z.B. bei hochgradig industrialisierten Ländern wie Süd-Korea oder Japan – lediglich als erwartbare und bekannte d. h. tolerierte interkulturelle Diversitäten abgebucht werden können, wie sie in den USA innergesellschaftlich bereits virulent sind.

Insgesamt muss also gesagt werden, dass es problematisch erscheint ein objektives Korrelat für den Begriff des Westens einzugrenzen. Vielversprechender ist es daher diese Idee des Westens als definitorische Konstruktionsleistung zu konzipieren, die nicht einfach eine Erfindung des Westens zu sein scheint, sondern im Kontext der Realgeschichte des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Beteiligung verschiedener Akteure aus unterschiedlichen kulturell-politischen Lagern generiert wird. Nicht zufällig in dieser Periode des Höhepunkts des europäischen Imperialismus, der europäischen Aufteilung der Welt, aber auch einer sich bald darauf abzeichnenden Dekolonialisierung vollzieht sich die Konstruktion dieses Raumbildes als dominante Strukturierung von Welt nicht nur als Eigendefinition des Westens, sondern – wie nachfolgend zu zeigen sein wird - als kollektiv-diskursiver und globaler Prozess im Kontext dieses seinen Klimax überschreitenden imperialistischen Systems, in dem Definiteure aus unterschiedlichen regionalen und kulturell-politischen Traditionen sich ggs. beeinflussen. Die Idee des Westens manifestiert sich also als eine zeitgeschichtliche Novität, weil sie zwar zum Ende des 19. Jahrhunderts erfunden, aber erst nach dem 2. Weltkrieg diesen Selbstverständlichkeitscharakter aufweist, der ihr heute zukommt.

ZUR GENESE DER IDEE DES WESTENS ALS GLOBALER DISKURS

Wie muss man sich nun die Entstehung und Etablierung dieser Raumvision des Westens vorstellen, was bedeutet hier die Rede von einer global-diskursiven Konstruktion einer geo-politischen Raumvision ? In seinem Buch „The Idea of the West“ rekonstruiert der englische Historiker Alastair Bonnet im Detail unterschiedliche Etappen der Erfindung und Diffusion, der Rezeption und Tradierung der Kategorie des Westens durch intellektuelle Akteure aus kulturell differenten kontinentalen Regionen. Zur Durchführung dieser Rekonstruktionsarbeit benutzt er exemplarisch ausgewählte Arbeiten einflußreicher Intellektueller aus den unterschiedlichsten Regionen und Kontinenten, er ruft sie gewissermaßen als typische Zeugen für die Invention und Durchsetzung der Kategorie des Westens auf.

Als historischer Ausgangskontext dieses Konstruktions- und Diffusionsprozesses muss der Siedlungs- und Handelskolonialismus europäischer Staaten (später auch der USA), hauptsächlich im asiatischen Raum, Mitte bzw. Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet werden. Hier wird die Selbstwahrnehmung der Kolonialstaaten, allen voran Großbritanniens, als überlegene weiße Zivilisation und die Fremdwahrnehmung als feindlicher Eindringling etabliert: England beherrscht den riesigen indischen Subkontinent und errichtet das britisch-indische Imperium mit Victoria als indischer Kaiserin (1876), US-amerikanische Schiffe zwingen 1853 das isolierte Japan zur Aufgabe seiner Abschottung gegenüber äußeren Einflüssen und die europäischen Mächte demütigen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das chinesische Kaiserreich machtpolitisch zur Durchsetzung ökonomischer Interessen was schließlich in den Opium-Kriegen (1840-42), der Taiping-Rebellion (1850-1864) und dem Boxeraufstand um 1900 kulminiert. In dieser Periode entstehen im asiatischen Raum eine Reihe von den europäischen Kolonialstaaten feindlich gesonnene Stimmen und Bewegungen, die unter Verwendung des zusammenfassenden globalen Begriffs des Westens, die gesellschaftlich-kulturelle Verfasstheit der europäischen Staaten kritisch unter die Lupe nehmen und sich davon abzugrenzen versuchen – Vorläufer der später sich entwickelnden anti-kolonialen Bewegungen und Dekolonialisie-rungsprozesse.

[...]

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Der Westen. Anmerkungen zur Karriere einer globalen Raumvision.
Veranstaltung
Historische Kultursoziologie
Autor
Jahr
2013
Seiten
15
Katalognummer
V264924
ISBN (eBook)
9783656545590
ISBN (Buch)
9783656545712
Dateigröße
440 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
westen, anmerkungen, karriere, raumvision
Arbeit zitieren
Diplom-Soziologe, Dr. phil. Michael Seifert (Autor:in), 2013, Der Westen. Anmerkungen zur Karriere einer globalen Raumvision., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/264924

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Der Westen. Anmerkungen zur Karriere einer globalen Raumvision.



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden