Institutioneller Diskurs und Gesprächsanalyse (am Beispiel der Arzt-Patient-Interaktion)


Seminararbeit, 2000

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt:

Einleitung

1. Die Rahmenanalyse: ‘frame’ und ‘footing’
1.1. Handlungskanäle
1.2. Schichten
1.3. Teilnehmerstatus

2. Parallelen zu anderen Ansätzen
2.1 Das Konzept globaler Muster
2.2 Die Kontextualisierungstheorie und das Konzept des interaktiven Stils

3. Die Rahmenanalyse der Arzt-Patient-Interaktion bei Tannen und Wallat

4. Exemplarische Rahmenanalyse der Arzt-Patient-Interaktion in einer tschechischen Kinderarztpraxis
4.1 Das Skript[medizinische Konsultation] als
Abfolge von Interaktionsrahmen
4.2 Der Einsatz von Rahmungshinweisen am Beispiel des ‘Beratungsstils’

5. Zusammenfassung

Anhang: Transkriptionskonventionen

Verwendete Literatur

Fußnoten

Einleitung

Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Beitrag zur interaktionalen Soziolinguistik. Ihr Ziel ist es, die vom kanadischen Soziologen Erving Goffman (1922-1982) entwickelten Konzepte ‘frame’ und ‘footing’ für die linguistische Gesprächsanalyse anwendbar zu machen sowie ihre Bedeutung anhand einer Beispielanalyse eines institutionellen Gespräches zu verdeutlichen.

Diesem Ziel dient der Aufbau des Beitrags:

Kapitel 1 dient der Explikation einiger theoretischer Grundlagen und Prämissen des gewählten Ansatzes.

In Kapitel 2 sollen Parallelen zu ähnlichen Ansätzen, wie der Theorie globaler Muster, sowie der Kontextualisierungstheorie und der interaktionalen Stilistik aufgezeigt werden.

In Kapitel 3 wird die Anwendung der Rahmenanalyse in der Arbeit Deborah Tannens und Cynthia Wallats zum medizinischen Untersuchungs- und Beratungsgespräch vorgestellt und kritisch kommentiert. Da das von mir untersuchte Datenmaterial dem gleichen Bereich institutioneller Interaktion entstammt, leitet dieses Kapitel gleichzeitig zum empirischen Teil dieser Arbeit über.

In Kapitel 4 versuche ich schließlich eine Anwendung der Konzepte ‘frame’ und ‘footing’ auf konkretes Material, bestehend aus verdeckten Tonbandaufzeichnungen in einer tschechischen Kinderarztpraxis.

1. Die Rahmenanalyse: ‘frame’ und ‘footing’

Goffmans Analyse sozialer Wirklichkeit steht in enger Verbindung zu der phänomenologischen Tradition und den Arbeiten von William James und Alfred Schütz. In die Diskussion um Teilwelten und Wirklichkeitsbereiche bringt Goffman[i] den 1955 von Gregory Bateson entworfenen Begriff des Rahmens (‘frame’) ein:

‘Wenn der einzelne in unserer westlichen Gesellschaft ein bestimmtes Ereignis erkennt, neigt er dazu - was immer er sonst tut -, seine Reaktion faktisch von einem oder mehreren Rahmen oder Interpretationsschemata bestimmen zu lassen, und zwar von solchen, die man primäre nennen könnte. Dies deshalb, weil die Anwendung eines solchen Rahmens oder einer solchen Sichtweise von den Betreffenden so gesehen wird, daß sie nicht auf eine vorhergehende oder „ursprüngliche” Deutung zurückgreift; ein primärer Rahmen wird eben so gesehen, daß er einen sonst sinnlosen Aspekt der Szene zu etwas Sinnvollem macht.’[ii]

Den Prozeß der Deutung einer Erfahrung durch die Beteiligten beschreibt Goffman als Rahmung (‘framing’), d.h. als Umformung eines ungeordneten Abschnitts von Vorgängen (‘strip’) in einen diese Vorgänge definierenden Rahmen (‘frame’) gemäß gewissen Organisationsprinzipien[iii].

Goffmans Unterscheidung ‘sozialer Rahmen’ zur Identifikation orientierter Handlungen (im Gegensatz zu ‘natürlichen Rahmen’ zur Identifikation unorientierter Ereignisse) führt uns zum engeren Bereich der sozialen Interaktion. Auch Interaktion beruht auf konventionalisierten Wissensstrukturen, die die Interaktanten an ihre Situation heranführen und anhand derer sie eine verbindliche Definition der vor sich gehenden Interaktion und ihres eigenen Status als Interaktionsteilnehmer aushandeln.

Innerhalb dieses Aushandlungsprozesses verständigen sich die Teilnehmer über den angemessenen Rahmen, indem sie einander Rahmungshinweise (‘framing devices’) geben. Über solche Rahmungshinweise versuchen die Interagierenden Unklarheiten bezüglich einer angemessen Interpretation der Situation vorzubeugen, sie bemühen sich, ‘klare Rahmen’ zu schaffen:

‘Es ist also deutlich, daß unsere Rahmung von Ereignissen zu Mehrdeutigkeit, Irrtum und Rahmenstreitigkeiten führen kann. (Und es sollte ebenso deutlich sein, daß jemand diese Reaktionen vorschützen kann, um eine andere Beziehung zu den Tatsachen zu verdecken; mit dieser Wendung muß man in Rahmenfragen immer rechnen.) Wir geraten durchaus auch einmal auf den Holzweg - darauf wurde immer wieder verwiesen -, aber nur in Ausnahmefällen. Unsere sehr beachtliche Wahrnehmungsfähigkeit in Rahmenfragen scheint uns davor zu bewahren - natürlich im Verein mit dem Bemühen unserer Mitmenschen, sich eindeutig zu verhalten.’[iv]

Diesen Zustand des klaren Rahmens können wir als den Idealzustand des Interaktionssystems begreifen, den gegenteiligen Zustand beschreibt Goffman als ‘negative Erfahrung’[v].

In den folgenden Unterkapiteln sollen die Organisationsprinzipien des Rahmungsprozesses vorgestellt werden, gegliedert nach den drei von Goffman genannten Bestandteilen von (Interaktions-)Rahmen - Handlungskanäle, Schichten und Teilnahmerstatus.

1.1. Handlungskanäle

Eine grundlegende Aktivität der Interaktionsteilnehmer bei ihrer Rahmung der Interaktion - d.h. bei der Überführung eines beliebigen Abschnitts von Wirklichkeit (‘strip’) in einen geordneten Rahmen (‘frame’) - ist die Strukturierung der vor sich gehenden Handlung aufgrund von Handlungskanälen:

‘Geht man von einem Verhaltensstrom aus, der in bestimmter Weise gerahmt ist und für die vorgesehenen Beteiligten einen offiziellen Brennpunkt der Aufmerksamkeit enthält, so scheint es unvermeidlich, daß am gleichen Ort gleichzeitig andere Verhaltensarten und -ströme (auch Kommunikation im engeren Sinne) laufen, die nichts mit dem offiziell Vorherrschenden zu tun haben und, sofern von ihnen überhaupt Notiz genommen wird, als etwas Nebensächliches behandelt werden. Mit anderen Worten, die Beteiligten folgen einem Handlungsentwurf - einem Hauptvorgang- vor einem Hintergrund von Vorgängen, die als außerhalb des Rahmens stehend gelten und in dieser speziellen Weise dem untergeordnet sind, was gerade als der Hauptvorgang definiert ist.’[vi]

Nach Goffman weisen die Interaktionsteilnehmer ablaufende Vorgänge fünf verschiedenen Handlungskanälen zu:

1) Der Hauptkanal umfaßt die Vorgänge, die für eine grundlegende Definition der Situation, also die Wahl des entsprechenden Rahmens entscheidend sind.
2) Der ignorierte Kanal erlaubt es den Interaktionsteilnehmern ihre Aufmerksamkeit von Vorgängen abzuwenden, die keine Beziehung zum Hauptvorgang zu haben scheinen, und für die Wahl des entsprechenden Rahmens irrelevant sind.[vii]
3) Über einen weiteren Kanal tauschen die Interaktionsteilnehmer Zeichen aus, die selber nicht den Inhalt von Vorgängen bilden, aber dazu dienen, diese zu strukturieren, sogenannte Artikulationszeichen.[viii]
4) Der Überlagerungskanal ermöglicht es den Interaktionsteilnehmern, ihre Aufmerksamkeit zweizuteilen, d.h. Vorgänge als Nebenvorgänge wahrzunehmen, die als solche zwar wahrzunehmen sind, jedoch nicht zum Hauptvorgang gerechnet werden sollen.[ix]
5) Über den verdeckten Kanal können einige Interaktionsteilnehmer jenseits der Grenzen der Einsichtnahme anderer Interaktionsteilnehmer untereinander geheime Signale austauschen.[x]

1.2. Schichten

Interaktionen werden nach Goffman von den Beteiligten nicht nur durch die Struktur ihrer Handlungskanäle, sondern auch durch ihre innere Schichtung definiert.

Neben der Definition einer Interaktion über primäre Rahmen können die Beteiligten Handlungen über sekundäre Rahmen definieren, d.h. als transformierte Handlungen verstehen.

Goffman unterscheidet zwei Arten transformierter Handlungen: Module (‘keys’) und Täuschungen (‘fabrications’).

1) Unter Modulen versteht Goffman Handlungen, die von den Beteiligten nicht mittels eines möglichen sinnvollen primären Rahmens, sondern anhand eines sekundären Rahmens als transformierte Handlung definiert werden. Als solche modulierte Handlungen nennt Goffman das ‘So-Tun-als-ob’, ‘Wettkämpfe’, ‘Zeremonien’, ‘Sonderausführungen’, sowie das ‘In-anderen-Zusammenhang-stellen’.[xi]
2) Durch Täuschungen versuchen einige Interaktionsteilnehmer anderen eine unzutreffende Definition der Situation zu vermitteln. Im Unterschied zu Modulationen nehmen nur einige Beteiligte die Interaktion über den sekundären Rahmen als transformierte Handlung wahr, im Gegensatz zu den Getäuschten, die die Interaktion über primäre Rahmen als eigentliche Handlung deuten.[xii]

1.3. Teilnehmerstatus

Bei ihrer Rahmung der Interaktion definieren die Beteiligten auch den Grad ihrer eigenen Anteilnahme am Geschehen. Zu einer Beschreibung des unterschiedliche Engagements der Beteiligten an einem sozialen Geschehen gelangt Goffman über eine Zerlegung des traditionellen Urheberbegriffs in verschiedene Arten des Teilnehmerstatus:

‘Durch die Untersuchung zweier Gegenstände - Nachspielen und Informationsbehandlung - erkennt man also, daß das herkömmliche Modell des einzelnen Handeln nicht ganz dem entspricht, was beim gewöhnlichen Sprechen, besonders der informellen Unterhaltung vor sich geht. Um das richtige zu finden, müssen wir über die Grundgedanken, der herkömmlichen soziologischen Analyse hinausgehen, die das Individuum zwar in verschiedene Rollen auseinanderlegt, aber an keine weitere Aufschlüsselung denkt.’[xiii]

Den Begriff des Teilnehmerstatus greift Goffman in seinem 1981 erschienenen Aufsatz ‘Footing’[xiv] erneut auf:

‘A change in footing implies a change in the allignment we take up to ourselves and the others present as expressed in the way we manage the production or reception of an utterance. A change in our footing is another way of talking about a change in our frame for events. This paper is largely concerned with pointing out that participants over the course of their speaking constantly change their footing, these changes being a persistent feature of natural talk.’[xv]

In dieser Arbeit entwickelt Goffman ein vollständiges Modell zur Beschreibung des unterschiedlichen Engagements von Teilnehmern, das auf der Dekomposition des traditionellen, dyadischen Sprecher-Hörer-Modells beruht. Dieses wird in unterschiedliche Arten des Produktionsformats (‘production format’) und des Partizipationsstatus (‘participation status’), aufgeschlüsselt, über die sich die Interagierenden ihren jeweiligen Platz im Interaktionsrahmen und das für sie verbindliche Benehmen (‘conduct’) zuweisen.

Arten des Produktionsformats:

1) maßgebendes Subjekt (‘principal’): der für eine Handlung verantwortliche Interaktionsteilnehmer.
2) Stratege (‘author’): der eine Handlung entwerfende Interaktionsteilnehmer.
3) der Gestalter (‘animator’): der eine Handlung ausführende Interaktionsteilnehmer.

Arten des Partizipationsstatus:

1) ratifizierte Teilnehmer (‘ratified participants’)
a) adressierte Rezipienten (‘adressed recipients’)
b) nicht adressierte Rezipienten (‘unadressed recipients’)
2) Zuhörer (‘bystander’)
a) heimliche Zuhörer (‘eavesdropper’)
b) zufällige Zuhörer (‘overhearer’)

Aus der Gesamtheit der auf diese Weise definierten Interaktionsteilnehmer ergibt sich das Partizipationssystem (‘participation framework’) einer Interaktion.[xvi]

2. Parallelen zu anderen Ansätzen

In diesem Kapitel soll die Methode der Rahmenanalyse zu verwandten Ansätzen aus anderen Bereichen in Beziehung gesetzt werden. Herangezogen werden soll das innerhalb der Kognititionswissenschaften entwickelte Konzept globaler Muster sowie die Kontextualisierungstheorie von John. J. Gumperz und der auf dieser Theorie aufbauende Begriff des interaktiven Stils.

2.1. Das Konzept globaler Muster

Das oben beschriebene Konzept mittelbarer Wahrnehmung über konventionalisierte Wissensstrukturen liegt auch dem Ansatz der Prozeduralen Semantik zugrunde. Zur Beschreibung dieser Wissensstrukturen, die innerhalb dieses Ansatzes als globale Muster bezeichnet werden, wurde jedoch eine genauere Terminologie entwickelt, die sich auch bei der Rahmenanalyse als hilfreich erweisen kann. DeBeaugrande/ Dressler[xvii] kategorisieren die häufig unscharfen und unterschiedlich gebrauchten Begriffe ‘frame’, ‘schema’, ‘plan’ und ‘script’ folgendermaßen:

‘FRAMES („Rahmen”) sind globale Muster, die Alltagswissen über irgendein zentrales Konzept [...] umfassen. [...]

SCHEMATA sind globale Muster von Ereignissen und Zuständen in geordneten Abfolgen, wobei die Hauptverbindungen in zeitlicher Nähe und Kausalität bestehen. [...]

PLÄNE sind globale Muster von Ereignissen und Zuständen, die zu einem beabsichtigten ZIEL führen. [...]

SKRIPTS sind stabilisierte Pläne, die häufig abgerufen werden, um die Rollen und die erwartbaren Handlungen der Kommunikationsteilnehmer zu bestimmen.’[xviii]

Vor allem der Begriff des ‘Skripts’ ist für die Analyse der Interaktion von entscheidender Bedeutung, da er das Konzept globaler Muster mit der Handlungstheorie verbindet und vor allem die Kategorie des Handlungsziels in die Analyse einbringt. Anhand von ‘Skripts’ scheint es möglich, die zeitliche Abfolge untergeordneter ‘Rahmen’ zu bestimmen und somit in ein konkretes ‘Handlungsmuster’ einzubinden. Für die von uns untersuchte Arzt-Patient-Interaktion bedeutet dies, daß die Teilnehmer ihre Handlungen über ein entsprechendes ‘Skript’, das wir als Abfolge unterschiedlicher ‘Rahmen’ (wie möglicherweise den von Heath[xix] unterschiedenen ‘Konsultationsphasen’) verstehen können, organisieren.

[...]


[i] Goffman, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt 1996

[ii] ibd. S. 31

[iii] vgl. ibd. S. 19

[iv] ibd. S. 374

[v] ibd. S. 409 f.

[vi] ibd. S. 224

[vii] vgl. ibd. S. 225-233

[viii] vgl. ibd. S. 233-239

[ix] vgl. ibd. S. 239

[x] vgl. ibd. S. 239-243

[xi] vgl. ibd. S. 52-97

[xii] vgl. ibd. S. 98-142

[xiii] ibd. S. 553

[xiv] Goffman, E.: Footing. In: Forms of Talk. Pennsylvania 1992. S. 124-159

[xv] ibd. S. 128

[xvi] Eine interessante Weiterentwicklung des Goffmanschen Ansatzes bietet S. C. Levinson in: Levinson, S. C.: Putting Linguistics on a Proper Footing: Explorations in Goffman´s Concepts of Participations. In: Drew,P./ Wootton,A. (Ed.) S. 14-40

[xvii] DeBeaugrande, R.-A./ Dressler, W. U.: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen 1981. Hier: V. Kohärenz. S. 88-117

[xviii] ibd. S. 95 f.

[xix] Heath, C.: The delivery and reception of diagnosis in the general-practice consultation. In: Drew, P./ Heritage, J. (ed.). S. 235-267

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Institutioneller Diskurs und Gesprächsanalyse (am Beispiel der Arzt-Patient-Interaktion)
Hochschule
Universität Potsdam
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
34
Katalognummer
V264693
ISBN (eBook)
9783656542131
ISBN (Buch)
9783656542568
Dateigröße
608 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
institutioneller, diskurs, gesprächsanalyse, beispiel, arzt-patient-interaktion
Arbeit zitieren
Heinz Rosenau (Autor:in), 2000, Institutioneller Diskurs und Gesprächsanalyse (am Beispiel der Arzt-Patient-Interaktion), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/264693

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Institutioneller Diskurs und Gesprächsanalyse (am Beispiel der Arzt-Patient-Interaktion)



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden