Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. AVQI - alltagsrelevant und multiparametrisch
3. Parameter akustischer Stimmanalyse
3.1. Stimmfeldmessung
3.2. Heiserkeitsanalyse
3.3. Spektralanalyse
4. Zur Objektivität stimmdiagnostischer Parameter
5. ZusammensetzungdesAVQI
6. Studien zum A VQI
6.1. Maryn et al. (2010)
6.2. Barsties et al. (2012)
7. Schlussfolgerungen
8. Literatur
1. Einleitung
In logopädischen Praxen wird nach heutigem Stand eine zumeist rein per- zeptive Stimmdiagnostik mit Hilfe verschiedener Anamnese- und Diagnostikbögen in zahlreichen Abwandlungen durchgeführt. Technische Messgeräte kommen dabei nur sehr vereinzelt zum Einsatz. In den meisten Fällen beschränken sich diese auf ein Keyboard, mit dessen Hilfe die Sprechstimmlage des Patienten ermittelt werden kann und (seltener) ein Schalldruckmessgerät zur Stimmfeldmessung. Bezüglich der Einschätzung des Heiserkeitsgrades hat das japanische Komitee für Stimmfunktionsuntersuchungen im Jahre 1989 mit der sog. GRBAS-Skala eine Einteilung in fünf Parameter vorgenommen (grade, rough, breathy, asthenic, strained)[1]. Darauf basierend entstand noch im gleichen Jahr die in Deutschland gebräuchliche RBH-Skala (rau, behaucht, heiser) [2]. Die Skalen bieten eine hervorragende Möglichkeit der Perzeptionsobjektivierung. Während ihre Einteilungen in drei, bzw. vier Bereiche eine einheitliche Terminologie zur Symptombeschreibung liefern, werden in beiden Skalen außerdem vier Schweregrade unterschieden, die vom Wert 0 (nicht vorhanden) bis zum Wert 3 (hochgradig vorhanden) relativ genaue Angaben zur Ausprägung des jeweiligen Symptoms ermöglichen. Relativ muss konstatiert werden, da differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit und vor allen Dingen Erfahrung des Diagnostikers unabdingbare Voraussetzungen für eine valide Verwendung sind. Tatsächlich gilt aber die subjektive Einschätzung des erfahrenen Praktikers aktuell als Goldstandard bei der Dysphoniediagnostik [3]. Dies ist ein Umstand, der auf Kritik stößt, denn Stimmfunktionsuntersuchungen sollten - unabhängig vom Diagnostiker - objektiv und reproduzierbar sein [4].
Die vorliegende Arbeit wird unter Berücksichtigung rezenter Studien sowie aktuell gebräuchlicher Messverfahren und Analysemethoden ein neues objektives Verfahren zur Messung der Stimmqualität vorstellen und dessen Bedeutung bei der Beurteilung der Stimmfunktion aufzeigen. Dabei werden Stärken des so genannten Acoustic Voice Quality Index (AVQI) herausgestellt und mögliche Mängel kritisch beleuchtet.
2. AVQI - alltagsrelevant und multiparametrisch
Forderungen nach objektiven computergestützten Messverfahren zur Stimmanalyse sind nicht unberücksichtigt geblieben. In den vergangenen Jahren haben sich verschiedene Computerprogramme etabliert, die akustische Stimmparameter erfassen und berechnen. Einfachere Verfahren messen leicht objektivierbare Faktoren wie Tonhaltedauer, Sprechstimmlage oder Stimmfeld, während komplexere Analysen auch Geräuschanteile im Stimmklang oder das Formantenspektrum der Stimme auswerten[5]. Ein in Deutschland gebräuchliches kommerzielles Analyseprogramm ist lingWAVES, doch sind auch kostengünstige Verfahren auf der Basis von Open Source-Projekten erhältlich. Die Open SourceSoftware Praat wurde am Institut für Phonetik an der Universität Amesterdam entwickelt und wird zu Diagnostik- und Forschungszwecken angewandt. Im Vergleich zu anderen quelloffenen Softwareprojekten wie Audacity oder Wave-Surfer ist Praat als linguistisches Tool weit verbreitet[6].
So werden auch die Parameter für die Berechnung des Acoustic Voice Quality Index (AVQI) mit Hilfe von Praat und einem weiteren Programm Namens Speech Tool (beide kostenlos erhältlich) erhoben und ausgewertet. Vorteile des Verfahrens werden u.a. in dieser kostengünstigen Anwendung gesehen; weiterhin auch in seiner Einfachheit und schnellen klinischen Durchführung[7].
Wichtiger als (zeit)ökonomische Faktoren erscheinen indes zwei andere Aspekte, die eine mögliche Überlegenheit gegenüber einfacheren computergestützten Verfahren begründen könnten: Der AVQI ist der erste Index, der nicht allein die gehaltene Phonation eines einzelnen Lautes, sondern überdies auch die fortlaufende Sprache des Probanden oder Patienten berücksichtigt [8]. Für eine elektronische Messung ist dies insofern von Bedeutung, als glottale oder supraglottische Mechanismen in einem einzelnen Laut (zumeist im Vokal /a/) nicht geräuschvoll in Erscheinung treten könnten. Prosodie, Betonungen, Pausen, schnelle Stimmansätze- oder Abbrüche blieben gänzlich unberücksichtigt, während für die Feststellung von Frequenz- oder periodischen Störungen (Perturba- tionen) mehrere Referenzpunkte benötigt werden, die die Untersuchung eines einzelnen Lautes nicht präzise genug ermöglichte[9]. Somit könnte sich der AVQI bezüglich seiner Alltagsrelevanz als ein sehr nützliches Konstrukt erweisen.
Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des AVQI könnte die spezifische Zusammensetzung von sechs Analysefaktoren sein. Die perzeptiv-akustische Klanganalyse eines geschulten menschlichen Hörers gilt, neben dem oben genannten Aspekt der Alltagsrelevanz, nicht zuletzt deshalb als Goldstandard logopädischer Diagnostik, weil er äußerst differenziert unterschiedlichste Nuancen der pathologischen Stimme detektieren kann. In maschineller Auswertung ist dies keineswegs selbstverständlich, denn der Gesamteindruck der menschlichen Stimme ist höchst komplex und multidimensional. Somit ist hinsichtlich einer maschinellen Analyse stets zu fragen (und idealerweise zu klären), welche Stimmparameter denn als hinreichend aussagekräftig gelten können, um Grenzen zwischen Norm und Pathologie valide ziehen zu können.
Im Folgenden soll auf mögliche Parameter und einen bereits bestehenden, gut etablierten Index der maschinellen Stimmfunktionsmessung eingegangen werden, um schon länger angewandte Verfahren in Bezug zu den im AVQI erhobenen Werten, wie auch zum Index selbst, setzen zu können.
3. Parameter akustischer Stimmanalyse
Computergestützt erfassbare Bereiche der Stimmanalyse sind die Stimmfeldmessung, die Heiserkeitsanalyse und die Spektralanalyse. Dabei ist bemerkenswert, dass etwa Maryn et al. in einer Metaanalyse aus einer Fülle von 69 messbaren Parametern nur einen geringen Bruchteil an tatsächlich relevanten Einflussgrößen dingfest machen konnten[10]. Erläutert werden zunächst die nach in Deutschland herrschender Meinung relevanten Größen in Anlehnung an Hammer, 2012.
3.1. Stimmfeldmessung
Die Stimmfeldmessung wird als sog. Phonetogramm in Tonhöhe (Pitch) und Lautstärke (Sound Pressure Level, SPD erhoben. Das maschinell erhobene Stimmfeld ist der einzige Bereich der Stimmanalyse, die in ihrer Erhebung genau dem klassischen Vorgehen gleicht.
3.2. Heiserkeitsanalyse
Heiserkeit ist definiert als der Geräuschanteil im Stimmklang[11]. Parameter der Heiserkeit sind ebenso multidimensional wie ihre Genese. Akustisch wird nach einem durch Luftreibung ausgelöstem Rauschen gesucht, das durch aperiodische Anteile im Schall verursacht ist. Ist die Heiserkeit rau, schwingen die Stimmlippen irregulär; ist sie verhaucht, entstehen z.B. reibende Luftströmungen an Engstellen jeglicher Art (intra- oder supraglottal). Geräuschanteile werden dargestellt durch die Signal to Voice Ratio (SNR, Geräuschanteil im Schallsignal) oder die Harmonic to Noise Ratio (HNR, Verhältnis der harmonischen und nichtharmonischen Anteile im Schall, bzw. Klang zu Geräusch). Die Glottal-to-Noise Excitation Ratio (GNE) stellt das Verhältnis von Stimmlippenschwingungen zu Turbulenzen dar und scheint somit geeignet zur Messung der Behauchtheit.
In den Schwingungsperioden, die durch die Bewegung der Stimmlippen entstehen, können Perturbationen als Abweichungen von der Periodizität der regelmäßigen Schwingung beobachtet werden. Abweichungen dieser Art betreffen den Rauhigkeitsgrad der Stimme, wobei Jitter als Index für Abweichungen in der Grundfrequenz und Shimmer als Abweichung von der Lautstärke (Amplitude) gilt. Ist die Schwingungsperiode anderweitig deformiert, kann eine Periodenkorrelation solche Störungen im akustischen Signal anzeigen.
3.3. Spektralanalyse
Darstellungen des Klangspektrums zeigen einen etwaigen Resonanzverlust und ggf. auch Geräuschanteile auf. Abgetragen wird das Verhältnis Zeit (X) zu Frequenz (Y). Formanten werden sichtbar und können farblich hervor gehoben werden.
4. Zur Objektivität stimmdiagnostischer Parameter
Bezüglich der Objektivität oben vorgestellter Parameter herrscht Uneinigkeit. Sämtliche genannte Parameter können - individuell betrachtet - wertlos sein. Perturbationsparameter sind bisweilen im hörbaren Stimmsignal unauffällig, so dass eine positive Messung eben kein notwendiges Indiz für tatsächlich relevante Abweichungen darstellt .[12] Auch Veränderungen der Jitter- und Shimmer-Werte verweisen nicht zwingend auf eine Pathologie, sondern können physiologische Ursachen in Veränderungen des Vokaltrakts haben, und bei der Spektralanalyse sind Vergleiche nur möglich, wenn exakt die gleichen Messbedingungen in Hard- und Software (inklusive Soundkarte, Peripheriegeräte, etc.) vorlagen, so dass praktisch alle zurück gelieferten Werte relativ und nur in Bezug auf einen Patienten zu betrachten sind .[13] Brockmann-Bauser verweist in einer aktuellen Literaturanalyse außerdem auf die oft vernachlässigten Faktoren Geschlecht, individuelle Sprechlautstärke und mittlere Sprechstimmlage:
Bei „leiser“ Phonation kann bei gesunden Männern der Shimmer-Wert 8-Mal und bei Frauen 12-mal höher als bei subjektiv „lauter“ Vokalphonation sein. (...)
Es wäre (...) möglich, dass Frauen einen höheren Jitter und Shimmer haben, weil sie signifikant leiser sprechen. (...)
[...]
[1] vgl. BÖHME, Gerhard. Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Band 1: Klinik. Stuttgart: Fischer, 2003: 157.
[2] Wendler, Jürgen et al. Hoarse Voices — On the Reliability ofAcoustic and Auditory Classifications. in: Proceeding 20th Congress IALP. Vol. 4 (1976). Tokyo: 438 f.
[3] MARYN, Youri et al. Toward Improved Ecological Validity in the Acoustic Measurement of Overall Voice Quality: Combining Continuous Speech and Sustained Vowels. in: Journal ofVoice, Vol. 24, No. 5 (2010): 540.
[4] Nawka, Tadeus et al. Objektive Messverfahren in der Stimmdiagnostik. in: Forum Logopädie. Vol. 4, No. 30 (2006): 14.
[5] HAMMER, Sabine. Stimmtherapie mitErwachsenen. Was Stimmtherapeuten wissen sollten. 5. Auflage. Berlin/Heidelberg/New York: Springer, 2012: 142.
[6] Minnema, Winfried et al. Objektive computergestützte Stimmanalyse mit,,Praat ". in: Forum Logopädie, Vol. 4, No. 22 (2008): 24.
[7] BARSTIES, B. et al. Der Acoustic Voice Quality Index in Deutsch. Ein Messverfahren zur allgemeinen Stimmqualität. in: HNO. Vol. 60, No. 8 (2012): 715.
[8] ebenda.
[9] Maryn, 2010: 540.
[10] Maryn, Youri et al. Acoustic Measurement ofOverall Voice Quality: A Meta-Analysis, in: The Journal ofthe Acoustical Society of America. Vol. 126, No. 5 (2009): 2620 ff.
[11] ebenda.
[12] Hammer, 2012: 143.
[13] Hammer, 2012: 144.
- Arbeit zitieren
- Jan H. Hauptmann (Autor:in), 2013, Die Bedeutung des Acoustic Voice Quality Index (AVQI) bei der Beurteilung der Stimmfunktion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/264227
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