Suizidprophylaxe in der Schule unter Berücksichtigung der Musikerziehung


Diplomarbeit, 2000

73 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Suizid und Suizidprophylaxe
2.1 Was ist ein Suizid und wann ist ein Suizid ein Suizid
2.2 Der Suizid – Erklärungsversuche
2.3 Suizid bei Kindern
2.4 Das präsuizidale Syndrom
2.5 Besonders gefährdete Gruppen
2.6 Suizidprophylaxe - Suizidprävention
2.6.1 Möglichkeiten der Schule:
2.6.2 Möglichkeiten des einzelnen:
2.7 Schulstress und Freizeitstress – wenn Kinder beginnen, das Leben nur mit ,einem Auge’ zu sehen
2.8 Miteinander sprechen – was ist das?
2.9 Suizidprophylaxe durch Persönlichkeitsstärkung
2.9.1 Stärkung der Persönlichkeit im Unterricht

3 Musikerziehung als Musiktherapie?
3.1 Die heilende Kraft der Musik
3.1.1 Die positive Wirkung von Musik auf unseren Körper
3.1.2 Leichter lernen durch Musik
3.2 Der traditionelle Charakter der Musikerziehung in der Grundschule
3.3 Macht Singen noch lustig? – Problem der schulischen Musikerziehung
3.4 Anregungen der Musiktherapie für die schulische Musikerzeihung
3.4.1 Die freie Improvisation mit Orff-Instrumenten im Unterricht

4 Ich habe mich immer bei mir: Kreative Menschen sind manchmal allein aber nie einsam
4.1 Was ist Kreativität?
4.2 Wie kann Kreativität in Zeiten der Krise helfen?
4.3 Religiöse Grundlagen der Musik
4.4 Persönlichkeitsfördernde Musikerzeihung?
4.4.1 Eine Übung für bewusstes Zuhören:
4.4.2 Umsetzen von Musik in Bewegung und Tanz:
4.4.3 Musik als Selbsterfahrung:
4.4.4 Musik als Gruppenerfahrung:
4.4.5 Sich selbst durch Musik ausdrücken
4.4.6 Lärmen – Toben - Tanzen

5 Schlusswort

6 Anhang

7 Literaturliste

1 Einleitung

Pirka ist ein kleines Dorf am südlichen Stadtrand von Graz. In diesem Dorf wohnt Familie B. Nur Tina wohnt seit Mai 2002 nicht mehr dort. Damals verließ die Zehnjährige das Haus, ging wie so oft über die Straße keine fünfzig Meter in „ihren“ Wald, wo sie bei einer Lichtung stehen blieb, die Pistole ihres Vaters aus dem Hosenbund zog, sie mit beiden Händen an die Brust hielt und abdrückte.

Lehrer beschrieben das Mädchen als Klassenbeste und als immer fröhlichen Sonnenschein. In den Redaktionen recherchierten ratlose Menschen diesen „Fall“, die abends ihre Kinder wieder sehen und umarmen wollen.

Tinas Vater (Elitesoldat) und dem Rest der Familie hat sie vor ihrer Verzweiflungstat im Abschiedsbrief noch ein langes Leben und viel Glück gewünscht.

Alle suchen nach der einen, schlüssigen Erklärung, finden aber nichts als Bruchstücke eines normalen Kinderlebens, alltägliche, flüchtige Wahrnehmungen, die erst im Rückblick zu so etwas wie Anzeichen ihrer wachsenden Bedrängnis werden.

Am Freitag vor Pfingsten letzten Jahres fällt dem Mathematiklehrer, der in der 1b die Mathematikschularbeit supplierte, als die Kinder die Schularbeitenhefte abgaben, ein Mädchen auf, das sehr traurig dreinschaute, weil es Angst hatte, die Schularbeit sei daneben gegangen. Dann kam Pfingsten. Tina schrieb in ihren Notitzblock folgende Nachricht: „Morgen, am 21. Mai werde ich mich umbringen. Weil es mir in der Schule Scheiße geht.“ (Bobi et. al., Profil 22, Mai 2002)

Mit Bleistiften und bunten Filzstiften formulierte sie ihr Vermächtnis: Drei Viertel ihres Taschengeldes sollte ihre Oma bekommen, ein Viertel die Mutter. Nichts sollten der Vater und die Schwester bekommen. Ihre Spielsachen sollten aufbewahrt und lieb gehabt werden. Nachdem das Mädchen am nächsten Tag mit der Mutter noch eine Runde Karten gespielt hatte, verabschiedete sie sich um in den Wald zum Baumklettern zu gehen, versprach um neunzehn Uhr wieder zu Hause zu sein und verließ das Haus. Als sie jedoch um diese Zeit nicht erschien, machte ihr Vater sich besorgt auf die Suche und fand sein Kind tot in der Wiese liegen. Daneben findet er die Tatwaffe, die er als seine erkannte. Tinas Mutter machte ihrem Mann große Vorwürfe, denn der Schlüssel des Uniformschrankes hatte gesteckt. Bei der Obduktion stellt sich in der Zwischenzeit heraus: zweifelsfrei Selbsttötung durch Herzschuss. Das Mädchen hatte selbst abgedrückt.

Diese, im vergangenen Jahr geschehene, Tragödie hat mich persönlich zur Wahl meines Diplomarbeitenthemas geführt. Durch sie wird auch die Bedeutsamkeit dieses Themas für die Humanwissenschaft und die Schulpraxis klar erkennbar.

Worum geht es in dieser Arbeit?

Im ersten Teil dieser Arbeit möchte ich wichtige Begriffe, wie „Suizid“, „Suizidversuch“ und „Suizidprophylaxe“ klären und darauf eingehen, wie es zu einem Suizid oder einem Suizidversuch kommen kann. Wie kann man einen suizidgefährdeten Menschen erkennen? Gibt es bestimmte Gruppen von Menschen, die besonders gefährdet sind? Was können Mitmenschen (Familie, Lehrer und Freunde) tun, um einen möglichen Suizid zu verhindern? Dabei möchte ich mich besonders auf den Suizid bei Kindern beziehen, denn es gibt ihn – wenn auch nur sehr selten. (Siehe dazu auch die Tabellen der Suizide bzw. Todesursachen nach Statistik Österreich 2003)

Weiters wird in der Arbeit der Begriff „Persönlichkeit“ definiert und der Frage nachgegangen, ob es eine bestimmte „Selbstmörderpersönlichkeit“ gibt. In diesem Kapitel werden Beispiele dafür gegeben, wie Bezugspersonen dabei helfen können, die Persönlichkeit eines Kindes zu stärken und somit ebenfalls Suizidprävention leisten können.

Im zweiten Teil dieser Arbeit wird zuerst der Begriff „Musiktherapie“ definiert und weiters werden die Aufgaben der Musiktherapie angesprochen. Die Frage, ob und wie man musiktherapeutische Methoden auch für „normale“, gesunde Kinder im Unterricht anwenden kann, steht in diesem Kapitel im Mittelpunkt. Dabei wird auch auf die positive Wirkung eingegangen, die Musik auf uns Menschen haben kann. Versucht die Schule jedoch auch, von dieser Wirkung der Musik zu profitieren, oder ist die Musikerziehung nur ein weiteres Schulfach, in dem ausschließlich nach Leistung und guten Noten gestrebt wird? Welche Bedeutung hat heute der Musikunterricht für Lehrer/innen und Schüler/innen und welche Ziele hat er laut Lehrplan?

Im dritten Teil wird zu Beginn das Wort „Kreativität“ zu definieren versucht. Weiters geht es darum, wie Kreativität in Zeiten der Krise helfen kann. (Wie Künstler – Dichter, Musiker – ihre Krisensituationen verarbeiten können und wie diese Arbeit ihnen helfen kann.)

Zuletzt dreht sich alles zum die Frage, ob es persönlichkeitsfördernde Musikerziehung gibt, welche Ziele diese haben könnte und wie man sie in der Praxis durchführen könnte (dazu einige praktische Beispiele für den Unterricht).

2 Suizid und Suizidprophylaxe

2.1 Was ist ein Suizid und wann ist ein Suizid ein Suizid

„Das Wort Suizid ist abgeleitet vom lateinischen Verb sui cedere, was „sich töten“ bedeutet.“ (Käsler/ Nikodem, 1996, S.53)

Die Übersetzung „Selbsttötung“ ist laut Käsler und Nikodem (1996) wesentlich angebrachter, als moralisierend von Selbstmord beziehungsweise Selbstmordversuch zu sprechen, weil diese Wortwahl eine Verzweiflungstat zum kriminellen Handeln stempelt.

Suizid kann man auf den ersten Blick klar und deutlich definieren. Nach Shneidmans Beschreibung (1985) ist da ein toter Mensch mit einem Loch in der Stirn und einer Pistole in der Hand, neben dem ein Abschiedsbrief auf dem Tisch liegt. Seine weniger konkrete Definition von Suizid ist der Akt selbst zugefügter absichtlicher Lebensbeendigung.

Jedoch lassen diese Bestimmungen noch sehr viele Fragen offen. Eine der wichtigsten dieser Fragen ist zum Beispiel, ob ein Suizid nur dann als solcher zu bezeichnen ist, wenn der Tod eintritt oder ob die Absicht, ihn zu begehen genügt. Ist unter Suizid nur die Tat alleine gemeint, oder meint man damit auch die allmählichen Prozesse, die zur Selbstzerstörung führen?

Das Leben ist unwiderruflich und der Tod nicht umkehrbar. Immer, wenn etwas nicht wieder gut zu machen ist, versuchen wir die Ursachen, die wir möglicherweise übersehen haben, zu verdrängen. Andererseits bergen theoretische Erklärungsversuche die Gefahr einer ungewollten Vernachlässigung des Menschen, seiner Erfahrungswelt und seiner Haltung zu Leben und Tod.

Wir müssen zwischen versuchtem und vollendetem Suizid unterscheiden. Beim Suizid stehen sich Suizidant und Umgebung als „Gegner“ gegenüber. Wenn den Mitmenschen die Rettung gelingt, ist der Selbsttötungsversuch „misslungen“. Wenn ein Suizidversuch als bewusster Appell an die Anderen vorliegt, haben beide – Individuum und Gesellschaft – noch eine Chance auf Änderung der belasteten Beziehung.

Das Definitionskriterium, das sich mit der Bedeutung von Ernsthaftigkeit und Absicht befasst, läuft analog zu theoretischen Diskussionen über die Unterscheidung zwischen versuchtem und vollendetem Suizid. Eine Unterscheidung zwischen versuchtem und tatsächlich vollendetem Suizid basiert weniger auf den Persönlichkeitsmerkmalen als auf den jeweiligen Lebensumständen. Menschen, die tatsächlich Suizid begehen, sind unlösbaren Konflikten und unerträglichen Lebensumständen ausgesetzt. Menschen, die jedoch nur versuchen, sich zu töten, sind geringerem Leidensdruck ausgesetzt, der noch aufgelöst werden kann. Als Mittel, diese Lösung zu bewirken, wird der Suizidversuch gesehen. Das Leid der Menschen, die lediglich versuchen, sich zu töten, besteht in der Angst davor, verlassen zu werden. Der Grundkonflikt dieser Menschen besteht in dem Zwiespalt zwischen dem Wunsch unter Vermeidung leidvoller Erfahrung zu leben, und dem Wunsch, zu sterben.

Bei Kindern ist die Frage nach der Selbsttötungsabsicht oft noch schwerer zu erklären. Die klassische psychoanalytische Forschung versichert, dass Kinder unter zwölf Jahren noch gar nicht dazu fähig seien, sich selbst zu töten. Psychologen meinen, dass Kinder zu Schuldgefühlen oder einem destruktiven Terror, den Voraussetzungen für Suizid, gar nicht fähig wären. Kinder sollen bis zu einem bestimmten Alter nicht einmal verstehen, was Tod bedeutet. Da die planmäßige Durchführung sie überfordern würde, könnten sie, selbst wenn sie es wollten, keinen Suizid ausführen. (vgl. Orbach, 1990)

2.2 Der Suizid – Erklärungsversuche

„Der Mensch dürfte das einzige Lebewesen sein, welchem es möglich ist, sich selbst den Tod zu geben. Es ist vielleicht das größte Geheimnis seiner Existenz, daß unter den vielen Entscheidungen, die ihm ermöglicht und gleichzeitig auferlegt sind, sich auch die schwerwiegendste, nämlich die zwischen Sein und Nichtsein befindet.“ (Ringel, 1974, S.12)

Der Suizid wird in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle in einer seelisch krankhaften Verfassung begangen. Trotzdem fragt sich der Laie immer wieder, ob nicht auch ein seelisch völlig gesunder Mensch, also ein „normaler Mensch“, unter gewissen Umständen Suizid begehen könnte. Ringel bejaht diese Frage. Jedoch lehrt uns die Erfahrung, dass diese theoretische Möglichkeit in der Praxis doch nur äußerst selten vorkommt.

Im Wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten, die seelische Befindlichkeit von zum Suizid neigenden Menschen zu beurteilen: man kann Personen untersuchen, die einen Suizidversuch unternommen haben oder die Lebensgeschichte von Menschen, die durch Suizid gestorben sind, zu rekonstruieren versuchen. Laut Ringel (1974) decken beide Vorgangsweisen fast ausnahmslos psychische Störungen als die eigentlichen Ursachen der meisten Suizidhandlungen auf. Jedoch pflegt der Laie an dieser Problematik vorbeizugehen, indem er zwischen für ihn verständlichen, das heißt einfühlbaren und andererseits nicht einfühlbaren Suizidhandlungen zu unterscheiden versucht. Er würde also verstehen, wenn ein hoffnungslos krebskranker Mensch sich das Leben nimmt, denn er/ sie hat von seinem/ ihrem Leben nichts mehr zu erwarten. „Der Selbstmord des jungen Millionärs hingegen, der in den günstigsten Bedingungen zu leben scheint, bleibt rätselhaft und unheimlich, hier ist man eher geneigt, an eine psychische Störung zu glauben.“ (Ringel, 1974, S.13)

Umso weniger können wir Erwachsene verstehen, warum ein Kind Suizid begeht. Wenn sich die meisten von uns an ihre Kindheit zurückerinnern, sehen sie eine sorglose und glückliche Zeit.

2.3 Suizid bei Kindern

Es gibt viele Gründe, aus denen Erwachsene lieber glauben wollen, dass Kinder keinen Suizid begehen. Die meisten davon sind verständlich. Für die meisten Erwachsenen ist es unfassbar, dass Kinder so hoffnungslos sein und schon so viel Leid erfahren haben können, dass sie schon in ihrem Alter den Tod dem Leben vorziehen. Angst und Schuldgefühle machen uns der Wahrheit gegenüber blind, auch dann, wenn sie uns offen vor Augen liegt. Es entsteht die eher überhebliche Einschätzung, dass die kindliche Persönlichkeitsstruktur nicht zu den leidenschaftlichen Gefühlsprozessen fähig sei, die selbstzerstörerisches Verhalten fördern könnten. Ein amerikanischer Richter traf einst die kuriose Entscheidung, dass der Tod jedes Kindes unter vierzehn Jahren als Unfall anzusehen sei, sogar dann, wenn ein Abschiedsbrief hinterlassen wurde. (vgl. Orbach, 1990)

Fast jeder Erwachsene kommt im Laufe seines Lebens unter Umständen in eine sehr schwierige Situation, in der er/ sie sich hoffnungslos ausgeliefert sieht. Aus dem Blickwinkel eines Kindes erscheinen diese Ausweglosigkeiten jedoch noch größer. „Es erlebt seine Lebenssituation als unerträglich und will das Unerträgliche so nicht mehr länger ertragen. Es hat den Wunsch nach Veränderung. Gerade hier ist ein wichtiger Punkt zu beachten: Ein suizidaler junger Mensch will in der Regel nicht tot sein, er will eine andere Lebenssituation.“ (Käsler/ Nikodem, 1996, S.53)

Selten, aber doch gibt es trotzdem sogar Kinder unter zehn Jahren, die ihrem Leben ein Ende machen wollen und dies auch tun. Anhand des folgenden Fallbeispiels will Orbach (1990) beweisen, dass auch Kinder in der Lage dazu sind, sich selbst zu töten.

Fallbeispiel:

Die verkohlte Leiche eines neunjährigen Jungen wurde in einem Verschlag auf dem Grundstück seines Großvaters gefunden. Untersuchungen ergaben, daß das Feuer vorsätzlich mit Hilfe einer brennbaren Flüssigkeit gelegt worden war. Schon Wochen zuvor hatte der Junge sonderbare Verhaltensweisen an den Tag gelegt. Unter schwerem emotionalem Druck hatte er den Bezug zur Realität verloren. Außerdem hatte er seinen Freunden gesagt, er habe keine Lust mehr, zu leben, und daß er bald fortgehen würde in ein anderes Land. Als er sich von den Freunden trennte, schenkte er ihnen seine liebsten Besitztümer. Zeichnungen aus seinen letzten Wochen verdeutlichten seine zwanghafte Beschäftigung mit dem Tod. Er malte Bilder von Friedhöfen und von an Bäumen erhängten Menschen, und er füllte Blatt um Blatt mit Grabkreuzen.“ (Orbach, 1990, S.29)

2.4 Das präsuizidale Syndrom

Erwin Ringel (1974) berichtet, dass er im Jahre 1949 auf Grund der Untersuchungen von 745 geretteten Suizidanten bei all diesen Menschen vor ihrer Tat eine gemeinsame seelische Befindlichkeit rekonstruieren konnte, dem so genannten präsuizidalen Syndrom. Er sprach von einer dem Suizid vorausgehenden charakteristischen Befindlichkeit. Diese Befunde konnten in der Zwischenzeit bestätigt und weiter präzisiert werden.

Die entscheidenden Elemente des Syndroms nach Erwin Ringel sind:

- Einengung

Die Einengung der persönlichen Möglichkeiten (situative Einengung), die auftreten kann als Folge von schicksalhaftem Unglück, als Folge eigener Verhaltensweisen (bei vielen Menschen ist die eingeengte Situation Resultat ihres eigenen Fehlverhaltens) oder bloße persönliche Einbildung (wenn ein Mensch eine Situation im Moment oder auch für längere Zeit als schlimmer und hoffnungsloser bewertet, als sie tatsächlich ist).

Zu diesem Element des Syndroms zählen weiters die Einengung der Gefühlswelt (dynamische Einengung), die Einengung der zwischenmenschlichen Beziehungen (als totale Isolierung, zahlenmäßiger Rückgang zwischenmenschlicher Beziehungen oder als Entwertung vorhandener Beziehungen durch Verlust der echten Verbundenheit) und die Einengung der Wertewelt.

- Gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression

Auch wenn sich die Aggression des Suizidanten gegen die eigene Person richtet, stellt der Suizid eine enorm aggressive Haltung dar. Suizidforschung steht mit Aggressionsforschung in engstem Zusammenhang. Die Wendung der Aggression gegen die eigene Person ist an die beiden Bedingungen geknüpft, dass in einem Menschen ungewöhnlich starke Aggressionspotentiale entstehen und die Abreaktion dieser Aggressionen nach außen behindert ist (durch Hemmungen in der Person oder durch äußere Umstände wie zum Beispiel starker Zivilisationsdruck).

- Selbstmordfantasien

Ringel ist der Meinung, dass jeder Mensch in seinem Leben einmal mit der Möglichkeit, Suizid zu begehen, gedanklich spielt, dass solche gelegentlichen Ideen aber noch nicht zum Suizid führen und nicht als krankhaft zu bewerten sind. Ringel verweist auf Nietzsche, der meint, dass der Gedanke, Suizid begehen zu können, einem über manche schwere Nacht hinweghelfen kann. Dieser Entlastungsmechanismus kann jedoch im Laufe der Zeit zu einer schweren Bedrohung des Lebens werden, denn auch die Wunschvorstellung, tot zu sein, ist eine Flucht aus der Wirklichkeit und die Rückkehr in die bittere Wirklichkeit wird immer schwerer. Dies führt zu einer immer schlimmer werdenden Abhängigkeit von der Fantasie, welche nicht zuletzt den Umschlag von passiven zu aktiven Suizidfantasien provoziert.

Betroffene Menschen planen die Methode der Durchführung des Suizids oft bis in die kleinste Einzelheit, was die Durchführung fördert.

Ringel veröffentlicht dazu ein Gedicht, das ein Suizidant im vorigen Jahrhundert statt eines Abschiedsbriefes unmittelbar vor seinem Suizid verfasste. Er meint, dass der Leser in diesen Zeilen mühelos das präsuizidale Syndrom in seiner klassischen Form vorweggenommen finden wird:

Immer enger wird mein Denken,

immer blinder wird mein Blick.

Mehr und mehr erfüllt sich täglich

Mein entsetzliches Geschick.

Kraftlos schlepp ich mich durchs Leben,

aller Lebenslust beraubt,

habe keinen, der die Größe

meines Elends kennt und glaubt.

Doch mein Tod wird euch beweisen,

daß ich jahre-, jahrelang

an des Grabes Rand gewandelt,

bis es jählings mich verschlang.

2.5 Besonders gefährdete Gruppen

Es gibt Gruppen, die sich in einer erhöhten Selbstmordgefahr befinden; sie sind durch statistische Studien entdeckt und abgegrenzt worden, befinden sich aber im ständigen Fluß je nach der Entwicklung des gesellschaftlichen Gefüges eines Landes und differieren natürlich auch von Kulturkreis zu Kulturkreis. Einer dieser Gruppen anzugehören bedeutet, einer erhöhten Selbstmordgefahr ausgesetzt zu sein – ob das einzelne Mitglied solcher Gruppen aber auch tatsächlich selbstmordgefährdet ist, hängt von seiner Anfälligkeit für den Selbstmord und somit (…) von seiner persönlichen psychischen Struktur ab.“ (Ringel, 1974, S. 67)

Zu den Gruppen mit erhöhtem Selbstmordrisiko gehören:

- Alte Menschen, vor allem, wenn sie vereinsamt sind.
- Unheilbar chronisch Kranke, besonders wenn sich ihr Leiden ständig verschlechtert, mit Schmerzen verbunden ist und keine Hoffnung mehr auf Hilfe offen lässt.
- Süchtige Menschen.
- Aus rassischen, religiösen und politischen Gründen Verfolgte, da Minderheiten immer in einer äußerst schwierigen, seelischen Situation sind.
- Flüchtlinge, da der Verlust der Heimat hier mit den Schwierigkeiten, sich in neuer Umgebung, oft auch sprachlich zurechtzufinden, zusammenfällt und die Zukunft solcher Menschen erscheint ihnen bedroht und ungewiss.
- Landflüchtige, die vom Land in die Städte ziehen, wo sie oft nicht Fuß fassen können und in der anonymen Masse isoliert untergehen.
- Kriminelle, die meistens weder mit ihrer Aggression noch mit ihrer Schuldproblematik fertig werden.
- Menschen, die sich in Ehe- und Liebeskrisen befinden.
- Menschen in einem finanziellen Zusammenbruch (oft Arbeitslose).
- Junge Menschen, wenn sie auf Grund einer gestörten Kindheitsentwicklung die Hoffnung verlieren, das Leben positiv gestalten zu können. Besonders mehrere Misserfolge und der Verlust der Wertbezogenheit, aus dem Langweile resultiert, sind hier Alarmzeichen.
- Angehörige von Selbstmördern, da der Suizid ein enorm ansteckendes Phänomen ist, welches von Mensch zu Mensch überspringen kann. Manche Angehörige haben solche Schuldgefühle, dass sie sich selbst bestrafen wollen.
- Menschen, die bereits einen Selbstmordversuch durchgeführt haben.
- Menschen nach einem Autounfall, oft auch bei bloßem Sachschaden oder auch dann, wenn sie nicht die geringste Schuld trifft.

„Wollte man versuchen, einen gemeinsamen Nenner all dieser Gruppen mit erhöhtem Selbstmord-Risiko zu finden, so liegt er wohl vor allem darin, daß die meisten von ihnen zu Minderheiten, Außenseitern, Abgelehnten und Diskreditierten gehören.“ (ebda, S. 70)

2.6 Suizidprophylaxe - Suizidprävention

Wer Suizid bei Kinder verhindern will, muss sich selbst zu Beginn einige Fragen stellen: Was trage ich zum gelingenden Leben von Kindern bei? Wo bin ich den Kindern nahe als wirklich gewachsener Erwachsener mit Verantwortung für die nachkommende Generation? Wo setze ich mich für mehr Gerechtigkeit und Lebenschancen für Kinder ein? Kinder wollen Fragen stellen und ernsthafte und glaubwürdige Antworten erhalten. Was kann ich dazu beitragen, dass ich ihnen diesen lebenswichtigen Wunsch erfüllen kann und was habe ich bis jetzt dazu beigetragen? Fragen von Kindern, wie „Wann hast du endlich Zeit für mich?“ werden häufig mit schlechtem Gewissen und materiellen Zuwendungen begegnet. Aber nur durch Begegnung, Gespräch und soziale Wachheit wird Verwandtschaft, Freundschaft und Nachbarschaft erfahrbar. Das braucht natürlich Zeit und beginnt beim Akzeptieren von notwendigen Grenzen und Achten der Bedürfnisse, verbunden mit Interesse und Nachfragen nach dem einzelnen Menschen

. (vgl. Käsler/ Nikodem, 1996, S. 168f)

„Freundschaft nährt sich aus Zeit füreinander, Verläßlichkeit und Vertrauen und ist zusammengesetzt aus unendlich vielen kleinen Mosaiksteinchen gemeinsamer Erlebnisse und Erinnerungen. Freundschaft muß erfahren werden, damit sie gelernt werden kann.“ (ebda, S.169)

Gesellschaftliche Bedingungen, die ein suizidales Klima schaffen können, gilt es in der Primärprophylaxe zu eruieren. Bei der Sekundärprophylaxe geht es um die möglichst frühzeitige Erfassung und Behandlung von Menschen, die in eine suizidale Krise geraten, ohne bereits eine Suizidhandlung begangen zu haben. Die Tertiärprohylaxe ist die unmittelbare Therapie nach einer Suizidhandlung und ferner auch eine längerfristige Nachsorge, um möglichen weiteren Suizidhandlungen vorzubeugen. (vgl. Reimer, 1986, S. 136)

Diese Arbeit widmet sich in erster Linie der Primärprophylaxe.

Primärprophylaxe oder auch Primärprävention bedeutet Verhütung von erstmaligen Suizidversuchen und von Suiziden. Dabei wird zwischen strukturellen und kommunikativen Maßnahmen unterschieden.

Strukturelle Maßnahmen:

„Darunter werden ganz allgemein Maßnahmen verstanden, die der Eindämmung und Ausschaltung von der Gesellschaft und ihren Trägern geförderter Suizidtendenzen dienen. An erster Stelle steht hier die Verbesserung der psychologisch-psychiatrischen Versorgung in der Bevölkerung ganz allgemein.“ (Bronisch, 1996, S. 93)

Als suizidpräventive Faktoren gelten u. a. Änderungen der Einstellung zur unehelichen Schwangerschaft, zu Partnerkonflikten, zum Leistungsversagen (Schülersuizide wegen schlechter Noten) und Ablehnung von Fremdenhass.

Viel Erfolg beim Eindämmen von Suiziden soll es auch versprechen, wenn bestimmte Suizidmethoden erschwert oder sogar unmöglich gemacht werden. Diese Methode wird auch als closing the exits bezeichnet. Beispiele dafür sind zunehmende Entgiftung des Hausgases oder eine strengere gesetzliche Kontrolle von Handfeuerwaffen.

Kommunikative Maßnahmen:

„Darunter werden ganz allgemein Maßnahmen verstanden, die den Widerstand des Individuums gegenüber suizidalen Tendenzen erhöhen. Dies kann durch eine verbesserte Aufklärung der Allgemeinbevölkerung und der Fachleute erreicht werden.

Bei der Verbesserung der Aufklärung der Allgemeinbevölkerung über Hintergründe, Entstehungsbedingungen, Erkennen von Suizidalität sowie über Umgang mit suizidalen Personen besteht zweifellos ein großer Nachholbedarf durch die Tabuisierung dieses Themas.“ (ebda, S. 94)

Die Information und Aufklärung der Öffentlichkeit durch die Massenmedien ist hier gefragt.

„Die Tatsache, daß Suizide und Suizidversuche meistens mit anderen psychiatrischen Symptomen und Syndromen einhergehen, wie etwa Depressionen, Angst und Suchtverhalten, macht eine Aufklärung der Allgemeinbevölkerung über diese klinischen Phänomene unbedingt erforderlich.

Ebenfalls besteht ein Nachholbedarf an Aufklärung für Fachleute, die mit Suizidanten beruflich zu tun haben (Ärzte, Pscyhologen, Sozialarbeiter), ferner Studenten insbesondere der Medizin, Psychologie, Sozialpädagogik, Pädagogik, Publizistik, Jurisprudenz. Das bisherige Angebot an Vorlesungen und Lehrbüchern auf dem Gebiet der Suizidologie ist unzureichend.“ (ebda, S.95)

2.6.1 Möglichkeiten der Schule:

Natürlich sollten im Dienste der Suizidverhütung auch Schulen die Aufgabe haben, die Hauptgründe, die zum Versagen des einzelnen Kindes führen, auszuschalten . Die Schule kann dahingehend verbessert werden, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen und zu vertiefen. Die einseitig intellektuell ausgerichtete Schule, die die Gefühlswelt vernachlässigt, sollte überall der Vergangenheit angehören. Im Mittelpunkt der emotionalen Entwicklung des Schülers muss auf jeden Fall ein gutes Verhältnis zum Lehrer bzw. zu der Lehrerin stehen. Das setzt voraus, dass der Lehrer/ die Lehrerin ein gutes Vorbild ist, welches sich dem jungen Menschen liebevoll zuwendet. Dazu gehört vor allem auch die Ermutigung. In der heutigen Schule erfolgt stattdessen leider nur allzu oft eine Entmutigung des Schülers/ der Schülerin. Lehrer und Lehrerinnen geben Schülern und Schülerinnen oft das Gefühl, dass sie nichts können und dass sie nie die Chance haben, einmal so viel zu wissen, wie er oder sie selbst. In solchen Situationen muss das Selbstwertgefühl ebenso leiden, wie die Lehrer-Schüler-Beziehung als ein entscheidendes Modell zwischenmenschlicher Beziehungen überhaupt.

Es wäre notwendig, Erziehung in der Schule immer als Gruppenerziehung aufzufassen und dementsprechend Probleme in der Gruppe gemeinsam zu besprechen und zu meistern. Dies geschieht zumeist jedoch nur in Ausnahmefällen.

Ebenfalls wäre es notwendig, die falsche Einstellung zu Außenseitern und Schwachen zu ändern und die eigenen Schwächen zu vermitteln. Hat einmal eine Ermutigung zum positiven Selbstwertgefühl stattgefunden, so kann auch die Einsicht in die persönliche Anfälligkeit gefördert werden. Diese sollte dem einzelnen Individuum nicht vorwurfsvoll vorgehalten werden. Er/ sie soll sie selbst entdecken und akzeptieren können. Das Annehmen der eigenen Schwäche würde bessere Voraussetzungen dafür schaffen, dass man auch die Schwachen und die Außenseiter achtet und sich ihnen liebevoll zuwendet. Es muss versucht werden, die eigene Aggressivität einigermaßen zu meistern. Erziehung zum Frieden gehört vielleicht zur wichtigsten Aufgabe der Zukunft. Echte Aggressionsmeisterung ist zugleich ein entscheidender Beitrag zur Suizidprävention. Die Entwicklung von Gemeinschaftsgefühl, welches sich in mitmenschlicher Verantwortung ausdrückt, sollte in der Schule gefördert werden, damit es so wenig wie möglich gleichgültige Zuschauer, allein gelassene Opfer und Aggression gegenüber den Mitmenschen und uns selbst gibt.

Schule und Schüler/innen sollten mehr über das Suizidproblem informiert werden.

Nötig wäre auch die Ermutigung des Kindes zu selbständigem Denken, zu persönlicher Verantwortung und zur Entwicklung eines persönlichen Gewissens. So viele Themen wie möglich, die die Kinder beschäftigen und vor allem Themen, die ihnen Sorgen machen, sollen besprochen bzw. zur Diskussion gestellt werden.

Die Anregung zum selbständigen Denken könnte primär der Selbstmordprävention zugute kommen, denn in einem Schulsystem, welches Abhängigkeit fördert, entwickeln sich Menschen, die in schwierigen Situationen hilflos sind. (vgl. Ringel, 1974, S. 79-82)

Weiters müssen alle Kinder in der Schule die Möglichkeit zu Erfolgserlebnissen haben. Eine Überforderung soll vermieden werden, damit das Kind nach jeder kleinen erfüllten Aufgabe das Gefühl hat, etwas geleistet zu haben und stolz auf sich selbst sein zu können. Zum Beispiel sollten die Schularbeiten nach dem beurteilt werden, was gelungen ist, nicht danach, was misslungen ist. Anerkennung des Geleisteten, nicht Betonung von Fehlern ist notwendig. Sollte eine Arbeit aber einmal mit ungenügend bewertet werden müssen, so muss ausgesprochen werden, dass sich diese Bewertung nicht auf den Menschen bezieht. Nicht der ganze Mensch wurde abgewertet, sondern eine Arbeit von begrenzter Dauer und Auswirkung. Sätze wie „Ich bin ein Versager“ nach einer Schularbeit zeigen, dass diese Unterscheidung zwischen kleiner Arbeit und dem ganzen Menschen niemals ausreichend thematisiert wurde weder in der Schule noch im Elternhaus.

Manchmal stellen Kinder übertrieben hohe Anforderungen an sich selbst, deren Realisierung dementsprechend unmöglich ist und geben dann alle Bemühungen und Zielsetzungen nach dem ersten Misserfolg auf. „Eine gewisse Bescheidenheit muss also gelernt werden, um die Stufenleiter der Erfolgserlebnisse langsam aufzubauen.“ (ebda, S. 85)

[...]

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Details

Titel
Suizidprophylaxe in der Schule unter Berücksichtigung der Musikerziehung
Hochschule
Pädagogische Akademie des Bundes in der Steiermark
Veranstaltung
Religionspädagogik
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
73
Katalognummer
V26359
ISBN (eBook)
9783638287180
Dateigröße
795 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit geht es hauptsächlich um die Persönlichkeits- und Selbstbewusstseinsförderung durch Musikerziehung. Dabei spielen vorallem Ansätze der Musik- und Gestalttherapie eine große Rolle. Die praktischen Beispiele sind für Kinder im Grundschulalter (ca.6 bis 10 Jahre) geeignet. Die Arbeit ist in einer gut verständlichen Sprache verfasst und hat sehr viele positive Rückmeldungen erhalten.
Schlagworte
Suizidprophylaxe, Schule, Berücksichtigung, Musikerziehung, Religionspädagogik
Arbeit zitieren
Marlene Noé (Autor:in), 2000, Suizidprophylaxe in der Schule unter Berücksichtigung der Musikerziehung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26359

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