Zur Bedeutung der Schriften Jesper Juuls für den gegenwärtigen pädagogischen Diskurs

Unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Entwicklungen


Magisterarbeit, 2013

106 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Kurzzusammenfassung

1 Einleitung

2 Einblicke in das pädagogische Konzept Jesper Juuls
2.1 Grundlagen der Pädagogik Jesper Juuls – Aus Erziehung wird Beziehung
2.2 Zentrale Werte innerhalb der Familie
2.2.1 Gleichwürdigkei
2.2.2 Integritä
2.2.3 Authentizitä
2.2.4 Verantwortung

3 Juuls theoretisches Fundamen
3.1 Die Haltung des Nicht-Wissens
3.2 Der Dialog
3.3 Anerkennung

4 Einblicke in den gegenwärtigen inklusiven Diskurs
4.1 „Inklusion“ – eine Begriffsklärung
4.2 Grenzen der schulischen Inklusion
4.3 Jesper Juuls Ansichten über professionelle Pädagogik in der „Schule von morgen

5 Fazi

Anhang

A 1 Jesper Juul – Ausgewählte Werke

A2 Literaturverzeichnis

A3 Abbildungsverzeichnis

A4 Eidesstattliche Erklärung

Kurzzusammenfassung

Diese Arbeit beschäftigt sich mit den Schriften Jesper Juuls und ihrer Bedeutung für den gegenwärtigen pädagogischen Diskurs. Dafür arbeitet der Autor Grundelemente der erzieherischen und pädagogischen Konzeption Jesper Juuls heraus. Wenn der Autor sich mit dem theoretischen Fundament Jesper Juuls befasst, wagt er den Versuch dieses zu systematisieren, um es an konkrete theoretische Bezüge rückzubinden. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass eine Systematisierung nicht gelingen kann, da Juul eine ganz eigene Sichtweise vertritt, die sich weniger auf konkrete empirische Befunde stützt, sondern vor allem auf seiner klinischen Erfahrung als Familientherapeut aufbaut. Dennoch werden, auch im Hinblick auf inklusive Entwicklungen, drei wesentliche Schwerpunkte bzw. Grundannahmen in der Konzeption Juuls identifiziert, denen der Autor konkrete theoretische Bezüge zuweist. Ferner beschäftigt sich der Autor mit dem aktuellen inklusiven Diskurs. Hier versucht der Autor Juuls Konzeption mit den Zielen der Inklusion in Beziehung zu setzen. Wenngleich er an einigen Stellen Kohärenz nachweist, so weist er deutlich auf die Grenzen, insbesondere der schulischen Entwicklungen, im Feld der Inklusion hin. In einem abschließenden Fazit wird verdeutlicht, weshalb Juul als relevanter, d. h. kompetenter, Gesprächspartner im gegenwärtigen pädagogischen Diskurs begriffen werden muss. Dabei werden wesentliche Elemente der Konzeption Juuls betont und kritisch gewürdigt.

1 Einleitung

Die aktuelle gesellschaftliche Situation innerhalb Deutschlands kann als Zeit des Auf- und Umbruchs beschrieben werden. In den vielfältigsten Bereichen des (Zusammen-) Lebens dokumentieren sich Veränderungsprozesse von alten, tradierten Sichtweisen hin zu neuen, postmodernen Perspektiven. Die Menschen versuchen, den aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu begegnen, aber auch mit dem Wissen umzugehen, welches wir in den letzten hundert Jahren hinzugewonnen haben. In der Technik, Medizin, Geschichte und vielen anderen gesellschaftsrelevanten Wissenschaftsbereichen, so auch der Pädagogik und der Alltagspraxis von Erziehung, haben wir vollkommen neue Möglichkeiten entwickelt, das Zusammenleben zu organisieren, den eigenen Lebensstil und schließlich uns persönlich wahrzunehmen und zu beeinflussen (vgl. Juul 2006, 42; Juul 2012f, 60). Im Bewusstsein dieses „neuen Wissens“ reflektiert sich der Einzelne[1], d. h. seine Praktiken und Denkweisen, selbst zunehmend kritischer und verantwortungsbewusster. Allerdings hängt die Qualität dieser Selbstkritik von mehreren Faktoren ab, z. B. dem Bildungsstand, dem sozialen und kulturellen Umfeld, dem persönlichen Wertefundament. Vielen Menschen gelingt dieser Schritt noch nicht und sie fühlen sich, ob der Flut von Wissen und Meinungen zutiefst verunsichert. Dies ist nicht zuletzt rückführbar auf den Wandel von der Industriegesellschaft zu einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, in der sich, neben viel Fortschritt und Chancen, soziale Ungleichheiten und Benachteiligungen noch gravierender zeigen als je zuvor. Körperliche Kraft und handwerkliches Geschick allein reichen heute nicht mehr aus. Eine breite Bildung, ein fundiertes Wissen, aber auch vielfältige soziale und kommunikative Kompetenzen gelten als Eintrittskarte in den ersten Arbeitsmarkt. Jeder Einzelne ist gefordert, das Maximum zu leisten, will er mithalten, am gesellschaftlichen Leben partizipieren und nicht ausgegrenzt werden. Diese sozialen Härten werden von immer mehr Menschen erkannt und reklamiert, weshalb man die heutige gesellschaftliche Situation als Umbruchphase begreifen muss. Ich bin überzeugt, dass sich die Lebensverhältnisse in Deutschland innerhalb der nächsten fünfzehn Jahren massiv verändern werden und die heute angestoßenen Entwicklungen (z. B. im Bereich Inklusion) erste Früchte tragen, da das Bewusstsein und die Einsicht in grundlegend andere Hinsichten und Herangehensweisen bereits vorhanden sind. Es wird in den nächsten Jahren vor allem darum gehen, praktische Erfahrungen zu sammeln und sich selbst behutsam neu auszurichten. Warum dies notwendig wird, soll diese Arbeit verdeutlichen.

Innerhalb der letzten zehn Jahre gewann das Thema „richtige Erziehung“, forciert durch einen breiten öffentlichen und vor allem medialen Diskurs, immens an Aufmerksamkeit. Inzwischen ist kaum noch jemand dazu in der Lage, die Schwemme an Neuerscheinungen im Bereich der Erziehungsratgeber zu überblicken. Hier ist ein riesiger Markt entstanden, auf dem sich die verschiedensten Ansätze nebeneinander etablieren, aus denen stark verunsicherte oder auch neugierige Eltern Anregungen beziehen können und wollen. Im Zusammenhang des gegenwärtigen pädagogischen Diskurses sticht m. E. dabei ein Zeitgenosse besonders heraus.

Die Rede ist von Jesper Juul. Seit über fünfundzwanzig Jahren ist der 1948 geborene dänische Lehrer, Familientherapeut, Konfliktberater und Autor zahlreicher „Erziehungsratgeber“ bemüht, kontinuierliche Denkanstöße für eine neue Sichtweise auf Kinder, Erziehung, Partnerschaft und Schule zu geben. Er – der landauf, landab Lesungen und Seminare veranstaltet, zu denen zahlreiche Eltern und Pädagogen geradezu pilgern – kann mit einem kleinen Kreis weiterer Fachgrößen, z. B. dem Neurobiologen Gerald Hüther; Reinhard Kahl, dem Initiator der „Treibhäuser der Zukunft“; dem Engländer Ken Robinson; Tony Booth, dem Mitautor des “Index for Inclusion“ und anderen als einer der Protagonisten einer neuen, zukunftsgewandten Pädagogik, angesehen werden.

Die vorliegende Arbeit soll darum verdeutlichen, welche Möglichkeiten Jesper Juuls Perspektiven im derzeitigen Diskurs für eine veränderte Pädagogik bieten bzw. worin diese besteht. Hierfür möchte ich grundlegende Einblicke in sein pädagogisches Konzept (Kap. 2) geben, um danach zu versuchen, es in einen größeren theoretischen Gesamtzusammenhang (Kap. 3) zu bringen.

Des Weiteren wird das aktuell relevante Thema Inklusion aufgegriffen (Kap. 4). Hier möchte ich, um den Ausdruck „Inklusion“ zu klären, zunächst einen genaueren Blick auf seinen begrifflichen Umfang werfen. Da sich das Konzept der Inklusion jedoch auf alle Teilbereiche des Zusammenlebens bezieht und in jedem dieser Teilbereiche gleichzeitig gesamtgesellschaftliche Veränderungen bezweckt werden, gilt es für den Rahmen dieser Arbeit, den inklusiven Diskurs exemplarisch zu verdeutlichen. Dies versuche ich alsdann durch Einblicke in den Diskurs um schulische Inklusion in Deutschland. Dazu möchte ich pointiert zentrale Argumente der Diskussion um Inklusion vorstellen und gleichfalls auf ihre Grenzen eingehen. Im Anschluss sollen Jesper Juuls Ansichten einer Schule von morgen mit dem Ansinnen der Inklusion in Beziehung gesetzt werden, bevor ich in einem abschließenden Fazit (Kap. 5) das Konzept Juuls kritisch würdigen werde und einen vorsichtigen Blick auf kurz- und längerfristig anzustoßende Veränderung werfe.

2 Einblicke in das pädagogische Konzept Jesper Juuls

Wie bereits erwähnt, ist das Werk Juuls sehr umfangreich. In der Beschäftigung mit dem Thema der Arbeit galt es deshalb, eine Auswahl repräsentativer Schriften zu treffen, an denen der Kern des Juul‘schen Denkens erkennbar werden kann. Im Anhang habe ich dafür eine Literaturliste erstellt (siehe A1).

2.1 Grundlagen der Pädagogik Jesper Juuls – Aus Erziehung wird Beziehung

Aus einem 2005 mit Ingeborg Szöllösi geführten Interview entstand das Buch Aus Erziehung wird Beziehung. Es eignet sich besonders als Einführung in die Pädagogik Jesper Juuls, da hier Einblicke in alle zentralen Bereiche seines Konzepts gegeben werden, veranschaulicht anhand zahlreicher Beispiele aus seiner langjährigen Erfahrung als Familientherapeut. Viele der besprochenen Themen (Gehorsam, Verantwortung, Grenzen, Nein sagen, Schule, Männerrolle, Pubertät, Patchworkfamilien…) betrachtet er noch einmal gesondert in je eigenen Büchern.

Wenn ich im Folgenden von dem „Konzept“ Jesper Juuls spreche, ist das meine persönliche Setzung. Juul würde nicht von einem festen Konzept sprechen, weil er ein solches mit starren Methoden verbinden würde, über welche sein Verständnis von Erziehung in allen Familien als „Super-Regel“ eingesetzt werden könnte. Auch mein Anliegen ist das nicht! Ganz im Gegenteil: „Jede Familie für sich ist einzigartig mit ganz eigenen Spielregeln und Gesetzmäßigkeiten“ (Juul 2013a, 7). Ich möchte daher das „Konzept“ in einem weiten Sinne bezeichnen als die Grundhaltung und die Säulen, auf denen Jesper Juul sein Verständnis bzw. seine Betrachtungsweise von privater Erziehung oder professioneller Pädagogik aufbaut, um innerhalb dieses zweiten Kapitels Juul zu systematisieren. Es soll klar werden, wofür er steht und was er will.

Erziehen bedeutet für Juul nicht „korrigieren, maßregeln“, sondern „großziehen“, im Sinne von „jemandem helfen, erwachsen zu werden, ihn sozusagen ins Leben ‚hineinzuziehen‘“ (Juul 2013b, 27). Kinder bräuchten Erziehung, aber verstanden als Lebensbegleitung, nicht als Überformung. Dies verlangt den Eltern viel Einfühlungsvermögen, Geduld und Offenheit ab, wie sich im Folgenden zeigen wird (vgl. ebd.). Jesper Juul sieht in „Erziehung“ ein einseitiges Vorgehen – ein Erzieher erzieht einen Zögling, gleich der alten Metapher des Steinmetzes, der aus dem Felsen eine Figur herausmeißelt. Dem gegenüber würde man jetzt erwarten, dass Juul das andere Extrem vertritt – der Gärtner, der die Saat seines gehegten Beetes begießt und jeden neuen Spross freundlich begrüßt. Aber so einfach macht er es sich nicht. Juul verweist klar darauf, dass Erziehung vor allem Gegenseitigkeit impliziert; sich als Prozess darstellt, in dem beide Seiten, die miteinander in Interaktion treten, aufeinander einwirken und sich „erziehen“ (Juul 2013b, 28). Darum folgert er, aus „Erziehung“ müsse „Beziehung“ werden (ebd.), weil sie es ist, die im Mittelpunkt des Zusammenlebens innerhalb einer Familie steht. An anderer Stelle liest man auch „Einbeziehung“. Dies verdeutlicht einen zusätzlichen Akzent auf das große Thema Verantwortung.

In Was Familien trägt liefert Juul seine aktuelle Einschätzung der Lage der Familien in Europa und stellt fest, dass die „traditionelle Kernfamilie mit ihrer starren Rollenverteilung und dem ehelichen Versprechen ‚Bis dass der Tod uns scheidet‘ […] bereits vor einer Generation zusammengebrochen“ (Juul 2012b, 7) ist. Die Möglichkeiten, Familie zu leben, haben sich vervielfältigt und mit ihnen auch die Werte. Juul sieht sich selbst als Angehöriger der ersten Generation nach diesem Zusammenbruch, die allem, was ihre Eltern lebten, den Heiligenschein nahmen und infrage stellten, „[…] doch sind im Grunde erst in den letzten zehn Jahren neue Spielregeln für Partnerschaft und Kindererziehung aufgestellt worden“ (ebd.). So gibt es heute keine Einigkeit darüber, was richtig und falsch in der Kindererziehung und Partnerschaft ist. Vielmehr trifft jedes Paar darüber eine individuelle Entscheidung, auch, erklärt Juul, weil wir nicht mehr auf brauchbare Rollenmodelle zurückgreifen könnten.

Die Entwicklung der Pluralisierung der Lebensformen fördert, neben der klassischen Kernfamilie, die schon zur Normalität gewordenen Alleinerziehenden oder „Ein-Eltern-Familien“, im gleichen Zuge die sich zunehmend etablierende Patchworkfamilie und Mütter oder Väter, die nur gelegentlich mit ihren eigenen Kindern zusammenleben; homosexuelle Paare mit und ohne Kinder; Adoptivfamilien; Pflegefamilien; Familiengemeinschaften mit mehreren Generationen unter einem Dach (vgl. Juul 2012b, 7f.) oder auch Eltern mit Beeinträchtigungen, die mit ihren Kindern zusammenleben, zu Tage.

Die Gesellschaft ist um einiges vielfältiger, offener und toleranter geworden, als sie es noch vor fünfzig Jahren war, befindet sich aber noch auf dem Weg zu mehr Akzeptanz und Gleichberechtigung und weniger direkter sozialer Benachteiligung und Ausgrenzung. Noch immer hat ein großer Teil der oben genannten „neuen“ Familienformen mit systematischen Benachteiligungen zu kämpfen. Deshalb könne man nicht von einem gewöhnlichen Generationenwechsel sprechen (ebd.). Die eingangs angesprochene Unsicherheit, die durch diese Veränderungen entsteht, schlägt sich für Juul auch in dem Faktum nieder, dass Kinder, im Zuge des flächendeckenden Ausbaus der Ganztagsbetreuung, heute immer mehr Zeit ihrer Kindheit in pädagogischen Institutionen verbringen und professioneller Pädagogik damit deutlich stärker als familiärer Erziehung ausgesetzt sind (vgl. Juul 2012d). Die Eltern von heute wenden sich – wenn auch offener als je zuvor – an die „Profis“ und suchen Rat bei den „Erziehungsexperten“. Dabei verantworten sie aber immer weniger ihre eigenen Entscheidungen, was für die existente Orientierungslosigkeit spricht.

Auch erhalten die Eltern keine einheitlichen Antworten, denn es gelingt nicht mehr, Tipps nach Schema F zu geben. Wie man es richtig macht, lässt sich deshalb nicht sagen, weil es keinen breiten Konsens kollektiver gesellschaftlicher Werte mehr gibt. Die Individualität wird gepriesen, während Konformität als konservativ und angestaubt verabscheut wird. „Bloß nicht anpassen!“ hört man es rufen.

Die Ideale der Erziehung bis in die 1960er Jahre lassen sich mit einer Reihe von Schlagwörtern umreißen: Konsequenz, Loyalität, Anpassung, Unterordnung, Gehorsam, autoritative Macht, Angst und Respekt der Kinder gegenüber ihren Eltern. Ebenso ein weitverbreiteter Glaube, nach einem Ungehorsam „körperlich züchtigen“ zu dürfen. Es ist wesentlich schwieriger, die heutigen Erziehungspraktiken mit wenigen Schlagwörtern zu umschreiben. In vielen Kulturkreisen, auch innerhalb Europas, ist es nach wie vor angesehen, wenn die Kinder bei einem Vergehen hart bestraft und körperlich gezüchtigt werden.

Juul betont, Kinder sollten ihren Eltern nicht blind gehorchen und einfach funktionieren, sondern es ist ihnen erlaubt, ihre Bedürfnisse und Wünsche zu artikulieren. Sie haben ein Recht darauf, gehört und ernst genommen zu werden. In welchem Modus dies geschieht, müsse im Rahmen der elterlichen Erziehung erprobt werden.

2.2 Zentrale Werte innerhalb der Familie

Den Trend, mehr über sich nachzudenken, gilt es durch pädagogische Prozesse zu beflügeln und zu begleiten. Anstelle des „Rezept[s] fürs große Familienglück“ geht es Juul darum, „Anregungen, über [die] persönlichen Wertvorstellungen nachzudenken“ anzubieten (Juul 2013a, 7). Aus seiner praktischen familientherapeutischen Erfahrung heraus, formuliert Juul vier zentrale Werte, die Familien als Richtschnüre dienen können: Gleichwürdigkeit, Integrität, Authentizität und Verantwortung.

Würden diese vier Werte innerhalb der Familie, d. h. zwischen den Eltern und zwischen Eltern und Kind, beachtet, könnten Kinder zu eigenständigen, selbstbestimmten Persönlichkeiten werden, die Verantwortung für sich und andere übernehmen könnten, die um ihre Grenzen wüssten und diejenigen anderer respektierten (vgl. ebd.).

Erwachsene Menschen zeigen zwei Verhaltensmuster, die Juul als gegensätzliches Paar bestimmt: inneres und äußeres Verhalten. Während das innere Verhalten die Gedanken- und Gefühlswelt repräsentiert, steht das äußere Verhalten für die Art und Weise, wie wir anderen Menschen (sprachlich und körpersprachlich) gegenübertreten. Oft gibt es in dieser Artikulation einen beträchtlichen Unterschied (vgl. Juul 2012b, 23f.). Der erwachsene Mensch schwankt zwischen seiner individuellen Persönlichkeit und den Erwartungen, die durch von ihm eingenommene gesellschaftliche Rollen von seinem Umfeld erwartet werden. Präziser, pendelt er zwischen persönlicher Autonomie und gesellschaftlicher Anpassung oder Kooperation und Individuation (vgl. Juul 2013b, 11).

Die meisten Menschen sind, wenn sie feste Partnerschaften eingehen oder Familien gründen, noch unreif. Juul meint dies nicht abwertend, sondern als sachliche Feststellung, dass junge Erwachsene sich selbst oft noch nicht gut genug kennen, d. h. ihre Bedürfnisse, Grenzen, Werte nicht genügend reflektiert haben, um klar zu sagen, wer sie sind und was sie ausmacht.

Innerhalb einer neuen festen Beziehung wird dieser Reifungsprozess vorangetrieben, weil er notwendig für eine gute Beziehungsqualität ist (vgl. Juul 2012b, 23f.). Die Beziehung steht für Juul im Mittelpunkt von Partnerschaft und Familie. Wenn ihre Qualität gut ist, so fühlen wir uns wohl und können uns entfalten und als Menschen weiterentwickeln, andernfalls verkümmern wir.

Interessant ist an dieser Stelle das folgende Zitat Juuls: „Erwachsene Partner verkümmern nicht, weil etwas mit ihnen selbst oder dem anderen nicht in Ordnung ist; genauso wenig wie Kinder verkümmern, weil sie schlechte Eltern haben. Wir verkümmern, wenn das, was zwischen uns passiert, nicht die richtigen Elemente oder Qualitäten enthält […] – gleichgültig ob die [sic!] konstruktiv oder destruktiv sind“ (Juul 2012b, 24). Die angesprochenen Qualitäten als Bausteine der Familie oder Partnerschaft anzusehen, bedeutet konkret, sich innerhalb dieser Beziehung ein gemeinsames Wertefundament zu erschaffen bzw. sich auf ein solches zu einigen, um die Beziehung tragfähig zu machen.

Die genannten vier basalen Werte beziehen sich aufeinander und beeinflussen sich wechselseitig, wie ich noch zeigen werde (siehe Abb. 1). Eingebettet sind sie in das Verständnis der Führungsrolle der Erwachsenen sowohl innerhalb der Partnerschaft als auch gegenüber den Kindern. Dies bildet wiederum die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Funktion von einer Gemeinschaft ab und verdeutlicht letztlich auch den lebensweltlichen Rahmen der Familie. Ich werde im Folgenden versuchen, die Ideen dieser vier Werte zu verdeutlichen, die grundlegend für das Konzept Jesper Juuls sind.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Vier Werte, die Familien und Beziehungen tragfähig machen (nach Jesper Juul, 2012b).

2.2.1 Gleichwürdigkeit

Der Wert Gleichwürdigkeit, betont Juul, habe für ihn nichts mit „ebenbürtig“, „gleich stark“ oder „Gleichheit“ zu tun, sondern drückt sich für ihn vor allem darin aus, als Mensch innerhalb einer Beziehung „von gleichem Wert“ zu sein und „mit demselben Respekt gegenüber der persönlichen Würde und Integrität des Partners“ zu handeln (vgl. Juul 2012b, 24). Das Wesen einer gleichwürdigen Beziehung zeigt sich in der Anerkennung oder dem gleichermaßen Ernstnehmen der Wünsche, Anschauungen und Bedürfnisse beider Partner. Dabei heißt Anerkennung nicht Erfüllung, bedingungslose Akzeptanz, Konsenszwang oder Basisdemokratie, sondern den anderen als Menschen und Person zu achten, ihn zu hören und zu sehen (vgl. ebd.). Es ist darum nicht zulässig, jemanden aufgrund seines Alters, Geschlechts, einer Behinderung oder Beeinträchtigungen herabzuwürdigen und sich über ihn hinwegzusetzen. Anerkennung, so werde ich auch noch einmal in Kap. 3 darlegen, ist eines der - wenn nicht das Grundbedürfnis eines Menschen. Der Wert der Gleichwürdigkeit ist in Juuls Konzept eine der zentralen Qualitäten zwischenmenschlicher Beziehungen. Dabei beruft er sich einerseits auf seine langjährige familientherapeutische Erfahrung, andererseits auf Befunde der Bindungsforschung im Bereich Eltern - Säugling, namentlich Peter Fonagy; Daniel Stern u. a.

Diese Forscher belegten in empirischen Studien, dass die Eltern-Kind-Beziehung dann am gesündesten sei, wenn sie auf Basis einer Subjekt-Subjekt-Beziehung, im Gegensatz zu einer Subjekt-Objekt-Beziehung geführt würde. Kurzum solle man ein Kind wie einen Menschen behandeln, nicht wie einen Gegenstand. Nun, diese Ansicht ist nicht neu. Sie fußt im Wesentlichen auf Theorien und Konzepten der Bindungsforschung von Bowlby und Ainsworth sowie auf Bubers dialogischem Prinzip des „Ich und Du“ und wesentlich auf anerkennungstheoretischen Aspekten, wie sie sich bei Axel Honneth finden lassen. Auf die beiden letztgenannten Punkte möchte ich in Kapitel 3 näher eingehen.

Die zentrale Aussage Juuls hinsichtlich des Wertes oder der Eigenschaft der gleichwürdigen intersubjektiven Beziehung ist, dass sie „eine Beziehung [bedeutet], in der die Gedanken, die Reaktionen, die Gefühle, das Selbstbild und die innere Wirklichkeit des Kindes genauso ernst genommen werden wie die der Erwachsenen“ (Juul 2013a, 10). Allerdings bleibe die Führungsrolle in der Familie bei den Eltern und solle auch keinesfalls auf die Kinder übertragen werden, erst recht nicht zum Schein. „Kinder brauchen eine Führung, aber nicht die, die wir ihnen bislang angeboten haben. Sie brauchen eine kontinuierliche Begleitung und keine militärische Oberaufsicht“ (Juul 2013b, 29). Wenn sich die Kinder als gleichwürdig wahrgenommen, in ihren individuellen Entscheidungen respektiert und in ihren Wünschen und Bedürfnissen bei den elterlichen resp. familiären Entscheidungen als berücksichtigt ansähen, dann verbessere sich die Qualität der elterlichen Führung entscheidend (vgl. Juul 2013a, 10).

Hinter dem Praktizieren von Gleichwürdigkeit steht eine Haltung, die die Eltern zunächst erlernen und üben müssen, bis sie sie verinnerlicht haben. Sie sollten sich täglich neu um die Gleichwürdigkeit bemühen (vgl. Juul 2013a, 11). Schwierigkeiten sieht Juul vor allem darin, dass die heutigen Eltern in ihrer eigenen Erziehung und Ausbildung häufig selbst zum Objekt degradiert wurden. Infolgedessen kennen sie die Erfahrung der intersubjektiven Beziehung überhaupt nicht, sondern haben erlernt zu funktionieren und gehorchen, wenn man ihnen eine Aufgabe stellt oder einen Auftrag erteilt. Sie durften nicht mitbestimmen, d. h. sie brauchten und konnten in einem altersadäquaten Maß auch nie Verantwortung für sich übernehmen, sondern wurden stets von ihren Eltern und Lehrern ferngesteuert. So funktioniert heute jedoch weder Bildung, noch Erziehung, noch Familie, weshalb auch die Eltern umlernen müssen.

In früheren Generationen waren die Rollen in der Familie unumstößlich geregelt. Der Mann gab den Ton an und entschied mit patriarchalischer Allmacht über ja oder nein, richtig oder falsch (vgl. Juul 2013b, 27f.). Schließlich war er der Ernährer der Familie und dafür hatten ihm alle dankbar zu sein. Die Frau hatte für einen sauberen Haushalt zu sorgen und die Kinder nach seinen Maßgaben mit harter Hand zu erziehen. Was heute überspitzt wirkt, war damals (mehr oder minder ausgeprägt) in allen Familien Realität. Auch das Werbefernsehen aus dieser Zeit verdeutlicht diese typischen Rollenmuster sehr eindrucksvoll.

Was sich im Kleinen zeigte, konnte aufs Große übertragen werden (vgl. Juul 2012b, 25): Das Sagen in der Gesellschaft hatte der Mann. An eine Mitbestimmung, Eigenverantwortung oder Gleichwürdigkeit der Frau war nicht zu denken. Diese patriarchalische Diktatur löste sich erst mit der Emanzipation der Frauen und dem Aufbegehren der 68er nach und nach auf. Eine solche klassische Rollenverteilung innerhalb heutiger Familien wird gemeinhin als gestrig bzw. traditionalistisch angesehen und nur noch selten praktiziert (vgl. auch Juul 2012b, 31; Juul 2006, 39f.). Die Frauen entwickelten ein neues Selbstverständnis. Tradierte Werte und Rollenmodelle wurden hinterfragt. Dennoch waren auch die, in der Folgezeit als Alternative angesehenen, demokratischen Werte lediglich ein fortgesetzter versachlichter Machtkampf, um die innerfamiliäre Rangordnung:

„Die demokratischen Werte bilden zwar eine Art Resonanzboden für menschliche Beziehungen, doch regeln sie ausschließlich die Verteilung der Macht und tragen weder den Gefühlen noch der Fürsorge Rechnung, die der Familie ihre Bedeutung verleihen“ (Juul 2012b, 25).

Es geht nicht darum, Kinder zu Erwachsenen zu machen und diese Führen zu lassen. Diesem Weg erteilt Juul eine entschiedene Abfuhr. Denn auch heute haben nach wie vor die Eltern die Macht innerhalb der Familie, nämlich in ökonomischer, sozialer und psychologischer Hinsicht, d. h. die Verantwortung für den Umgangston, die Stimmung und die Atmosphäre (vgl. Juul 2012b, 26). Es ist wichtig, dass die Eltern die Richtung angeben und eindeutig führen, aber genauso sollten sie sich der von ihnen ausgehenden Macht bewusst sein und diese nicht gegen die Kinder missbrauchen. Auf lange Sicht führe dies zu Distanz und Destruktion zwischen den Familienmitgliedern. Kinder kämen zwar mit großer Weisheit, jedoch mit wenig Erfahrung auf die Welt, sodass sie ein Bedürfnis nach persönlicher Autorität und Führungskraft eines Erwachsenen hätten (vgl. ebd.). Angesichts der Vorerfahrungen der Eltern ist es in der momentanen Zeit verständlich, wenn Väter und Mütter mit Unsicherheit und Vorbehalten reagieren oder sogar im Zweifel Zuflucht in alten Gewohnheiten suchen und ihre Kinder wieder so erziehen, wie sie es von ihren eigenen Eltern erfahren haben. Da gab es Erwachsene, die ihre Macht ausübten, ihre Kinder zeitgleich aber nie auch fürsorglich behandelten (vgl. Juul 2013a). Mit der 68er-Bewegung und der Emanzipation der Frauen integrierten sich neue, postmoderne Ansichten, die modernen oder traditionellen Ansichten Platz machen mussten. Als eine weitere gesamtgesellschaftliche Veränderung in dieser Größenordnung möchte ich die Inklusion sehen. Sie fordert langfristige Veränderungen ein, auf die ich später eingehen werde.

Auch wenn wir sehr aufgeklärt erscheinen, sind Mann und Frau heute der Tradition immer noch stark verhaftet (vgl. Juul 2012b, 31). Häusliche Pflichten würden zwar gleich verteilt, aber nicht die Verantwortung. Der Mann „sollte sich zumindest verantwortlich fühlen, genug zu essen zu bekommen, anständig gekleidet zu sein und selbstständig notwendige hygienische Maßnahmen“ (ebd.) zu treffen. Während die Frau sich in einem Übermaß an Fürsorge nicht selbstvergessen solle, d. h. mehr zu leisten versuche, als sie im Stande ist.

Juul schlägt vor, innerhalb einer langen Übergangsphase, die es dauern wird, bis diese eingefahrenen Ansichten abgelegt werden, festzulegen, dass jeder für sich selbst sorgt. Falls dann jemand täglich Aufgaben übernähme, sei dies keine Selbstverständlichkeit, sondern als Geschenk für die Gemeinschaft zu begreifen, welches freiwillig und ohne Forderung einer Gegenleistung erfolgt.

Mithin fordert Juul in dieser Zeit, hin zur Gleichwürdigkeit, Zugeständnisse zu machen. Er fordert die Eltern auf, immer wieder zu prüfen:

„Was sind meine eigenen, ganz persönlichen Werte [und inwiefern dominieren diese unser Familienleben, Anm. J.I.]? Wie bewahre ich meine eigene Integrität, damit ich die meines Kindes wahren kann? Wie gelingt es mir, meine Eigenheiten und Fehler anzunehmen, damit ich mein Kind um seiner selbst willen liebe und nicht, weil es etwas Bestimmtes tut oder sein lässt?“ (Juul 2013a, 11).

Damit verbunden sind die Fragen: Welche Ansprüche stelle ich an mein Kind? Inwiefern sind diese berechtigt? Inwiefern kann ich diese vernachlässigen, weil sie mit meiner Vergangenheit und meinen Erfahrungen, aber nicht mit den heutigen Lebensumständen meines Kindes und unserer Familie zu tun haben? Diese Fragen ernsthaft zu beantworten, erfordert von jedem Elternteil vor allem eine tiefgründige Selbstreflexion, insbesondere mit seinem „persönlichen Päckchen aus Glaubenssätzen und Verhaltensmustern“ (Juul 2013a, 11). Sich bei dieser Selbstreflexion extern beraten oder anleiten zu lassen, kann für manche Eltern eine zusätzliche Unterstützung bedeuten, muss aber jeweils persönlich entschieden werden.

Während in den früheren Generationen Gehorsam (gegenüber den Eltern) erste Verhaltensmaxime war, trauen sich heute viele Eltern nicht mehr, offen Macht auszuüben. Denn der Macht haften ausschließlich negative Konnotate an. Dies ist fatal, weil Eltern, wie oben ausgeführt, diese Macht selbstverständlich besitzen und nur so tun, als hätten sie diese nicht (vgl. Juul 2012b, 26). An dieser Stelle vergleicht Juul die Familie mit einem Betrieb. Es hemme das Wohlergehen und die Produktivität aller, wenn die, die eigentlich führten, so täten, als würden sie nicht führen. Aus dieser „Schein-Mitbestimmung“ wächst die Erfahrung, dass es am Ende doch anders gemacht wird, als alle wollen, was wiederum die Bereitschaft zerstört, sich auch weiterhin für die Gemeinschaft einzusetzen.

Wenn Eltern ihre Macht und Lebenserfahrung verleugnen und sich auf eine Stufe mit ihren Kindern stellen, dann sind beide Seiten überfordert. „Die Frage ist daher nicht, ob die Erwachsenen die Macht besitzen, sondern wie sie diese zu nutzen gedenken, und an dieser Stelle erweist sich die Gleichwürdigkeit als die konstruktivste aller Wertvorstellungen“ (Juul 2012b, 26; seine Hervorhebungen). Es geht darum, seine Kinder in sie betreffende Entscheidungen (Umzug; Schulwechsel; Teilnahme am Begräbnis des Opas; Scheidung und Verbleib der Kinder; Entscheidung, einen Kredit aufzunehmen oder zu sparen bis man sich den Haustraum erfüllen kann etc.) einzubinden, ihnen zuzuhören, ihre Pläne, Interessen und Bedürfnisse ernst zu nehmen und die eigene Entscheidung zu überdenken. Niemand sollte beschämt oder der Lächerlichkeit preisgegeben werden.

Einander innerhalb der Familie gleichwürdig zu behandeln, setze keine ewige Harmonie oder rosarote Brille voraus. Gleichwürdigkeit funktioniert auch bei Wut oder schlechter Laune (vgl. Juul 2012b, 27; Juul 2013b, 128ff.). Daraus folgt die wichtige Erkenntnis, dass sich Gleichwürdigkeit am deutlichsten in der Weise erkennen lässt, wie wir miteinander sprechen.

Die Grundlage für eine gleichwürdige Kommunikation miteinander bildet die Form des Dialogs. Im Dialog wird Gleichwürdigkeit erzeugt, und damit der Dialog gelingen kann, braucht es Gleichwürdigkeit. In einer Diskussion steht das Ziel fest, nämlich den anderen von meiner Denkweise zu überzeugen, für meine Ansichten zu gewinnen oder für meine Interessen zu vereinnahmen und dabei gegen seine Ansichten etc. Sturm zu laufen. Für jedes seiner Contra-Argumente liefere ich solange ein Pro-Argument, bis ich gewonnen habe und der andere sein Gesicht verliert. Die Gesprächsform der Diskussion missachtet und verletzt damit häufig die Integrität der Beteiligten, indem sie theoretisiert und über den anderen hinwegspricht. Damit belastet die Diskussion oder der Streit die Beziehung. Der andere fühlt sich verraten und distanziert sich. Eine gemeinsame Lösung ist oft nicht erreichbar, auch weil man über den anderen spricht, anstatt nur über sich (vgl. Juul 2012b, 35f.). Meist bedeutet der Gewinn einer Diskussion auch nur kurzzeitigen Waffenstillstand und der nächste Streit ist schon vorprogrammiert, weil der Verlierer frustriert ist und sich weder akzeptiert noch verstanden fühlt (vgl. ebd.). Innerhalb einer Diskussion wird der Beziehungsaspekt meist vernachlässigt, obwohl er das Entscheidende ist. Das Eisberg-Modell, welches ursprünglich auf Sigmund Freud zurückgeht, wurde von Paul Watzlawick auf die Kommunikation übertragen. Vereinfacht kann man sagen, dass der Sache, um die es geht, lediglich 20 % Beachtung geschenkt wird, den Beziehungsaspekten werden hingegen bis zu 80 % Aufmerksamkeit gewidmet. Dieses Phänomen ist alters- und geschlechtsunabhängig zu beobachten, auch wenn oftmals noch behauptet wird, Männer sprächen eher über die Sache, während Frauen vor allem auf der Beziehungsebene sensitiv seien. Dies ist ein überholtes Geschlechterklischee. In Paarkonflikten geht es häufig nicht um die kleinen Dinge, sondern schnell „ums Prinzip“, d. h. um die Beziehung mit einander. Diesen Ansatz hat Friedmann Schultz von Thun im sog. „Vier-Ohren-Modell“ erweitert. Beide Kommunikationsmodelle gehören mittlerweile zum Standard jedes Seminars über Kommunikation. Sie können anregen, durch einen Perspektivenwechsel reflexiv über kritische Situationen und deren Ausgang nachzudenken.

Die Form des Dialoges war bereits in der griechischen Antike bekannt. Sokrates‘ Mäeutik kann aber eher als Vorläufer dessen betrachtet werden, was wir heute als Dialog bezeichnen, da es einen Fragenden und einen Antwortenden gibt. Der Fragende sieht sich als heimlicher Experte und versucht sein Wissen durch geschicktes Fragenstellen vom Antwortenden bestätigen zu lassen. Das Ziel lautet Einsicht. Das ähnelt sehr der Diskussion, führt aber zumindest schon zum Ergebnis, dass sich der Antwortende nicht (direkt) als Verlierer fühlt. Denn, was im Dialog besprochen wurde, sind gegenseitige Überzeugungen. Die folgende Entscheidung bzw. Abmachung fußt beiderseits auf hoher Akzeptanz, da sich beide (vermeintlich) gleichwürdig ins Gespräch eingebracht haben. Dennoch erfordert ein echter Dialog auf beiden Seiten eine Haltung des Nichtwissens, anstelle der festen Überzeugung in die Richtigkeit der eigenen Position oder der Angemessenheit meiner Entscheidung für das Leben des anderen.

Wesentlich initiierte das heutige Verständnis von „Dialog“ der Anfang des 20. Jahrhunderts wirkende jüdische Religionsphilosoph Martin Buber mit seiner „Dialogphilosophie“, auf die viele namhafte Philosophen und Wissenschaftler aufbauten (z. B. Jürgen Habermas in seiner „Diskursethik“). Warum der Dialog künftig eines der grundlegenden Elemente des zwischenmenschlichen Umgangs im Allgemeinen und der Erziehung im Besonderen sein sollte und welchen Beitrag der Dialog für das Gelingen von Inklusion leisten kann, auch darauf möchte ich später näher eingehen.

In der Form des Dialogs bringen beide Gesprächspartner ihre Gedanken, Wertevorstellungen, Gefühle, Träume und Ziele zum Ausdruck. Jeder Elternteil darf kleinere Entscheidungen in einer konkreten Situation auch eigenverantwortlich vornehmen, gesteht Juul zu. Die großen Entscheidungen müssten Erwachsene aber zusammen treffen und, soweit diese große Auswirkungen auf deren Leben nach sich ziehen würden, könne man seine Kinder ab einem Alter von 4 - 5 Jahren mit einbeziehen. Juul empfiehlt die Form des Dialogs grundsätzlich immer, jedoch vor allem dann, wenn wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, die Auswirkungen auf alle Mitglieder der Familie haben (vgl. Juul 2012b, 40).

Der zu Anfang erwähnte Konflikt zwischen innerem Fühlen und Denken und äußerer Anpassung kommt hier zum Tragen. In uns glaubt Juul, jede Menge beziehungszerstörender Eigenschaften zu wissen, z. B. Neid, Eifersucht, Irrationalität, Minderwertigkeitsgefühle, Arroganz, Größenwahn etc. In uns gäbe es aber ebenso den Drang, irgendwo dazugehören zu wollen. Gleichwürdigkeit helfe in diesem Fall, seine inneren destruktiven Kräfte so zu regulieren, dass ein Leben in einer Gemeinschaft möglich werde. Herrscht eine gleichwürdige Atmosphäre, stärkt dies das Selbstwertgefühl des Einzelnen, sodass es für ihn leichter ist, in der Gemeinschaft eine konstruktive Rolle einzunehmen (vgl. Juul 2012b, 27; 2013b, 91ff.). Wir sollten auf Bevormundungen verzichten, d. h. aufhören, alles besser zu wissen. Dazu gehört auch die „erwachsene Definitionsmacht“ (ebd., 36). Schnell würden Erwachsene die Interessen ihrer Kinder moralisch aburteilen (z. B. Tochter (14) will sich ein Piercing stechen lassen). Die Eltern bestrafen, weil sie vorschnelle Urteile fällen (z. B. zu unreif, zu jung, Piercings verschandeln, Rufschädigung) und Situationen bewerten, ohne sie zu hinterfragen bzw. sich genauer nach Gründen oder Motivationen hinter den Wünschen und Interessen zu erkundigen. Eine sofortige Intervention in Form einer Drohung oder Bestrafung sei aber oft unangemessen und unnötig. Vielmehr solle man als Eltern eine gewisse Zeit abwarten und beobachten und dann ggf. reagieren oder eingreifen (vgl. Juul 2013b, 28).

Juul empfiehlt auch hier den Dialog, um stattdessen den anderen als Person wahrzunehmen und seine Wünsche anzuerkennen, ohne ihn zu beschämen oder zu verletzen. Bei der Formulierung einer Antwort gilt es, authentisch zu sein und nicht in eine künstliche, von gesellschaftlichen Erwartungen genährte Rolle, z. B. einer „richtigen“ Mutter, hineinzuschlüpfen. Der Maßstab können heute gar nicht mehr die anderen Familien aus der Schulklasse des Kindes sein. Das Argument „die anderen Eltern erlauben das doch auch“ gäbe es heute nicht mehr, stellt Juul fest, was er damit begründet, dass die gemeinsame Wertegrundlage fehle, die es vor einigen Generationen gab (vgl. Juul 2012b, 36). In der heutigen Gesellschaft existiert ein Wertepluralismus.

Jede Familie kann und muss für sich entscheiden, auf welche Weise sie ihre Kinder erzieht und wie konkret „Familie“ gelebt werden soll. Die Gleichwürdigkeit und persönliche Integrität wahre ich, wenn ich mir klar mache, dass der andere genauso wichtig und mindestens so verletzbar ist, wie ich selbst. Es gilt zuzuhören, jeden seinen Standpunkt erschöpfend darstellen zu lassen, um sich dann Zeit zu nehmen, eine Entscheidung zu treffen. Somit ist man miteinander ins Gespräch gekommen: Vielleicht gebe ich dann meinen Standpunkt auf und stimme dem Wunsch zu, vielleicht bin ich mir meines eigenen Standpunktes noch gar nicht sicher und verlange zunächst bessere Argumente, damit ich zustimmen kann oder ich entscheide, dem Wunsch nicht nachzukommen.

Als Eltern muss man nicht auf jeden Wunsch seines Kindes eingehen, aber sollte versuchen, das dahinterstehende Bedürfnis zu erkennen. Ein „Nein“ gehöre zur klaren Sprache, die das Kind brauche. Eine Ablehnung des Wunsches mit einem direkten „Nein“ ist sicher für den Moment hart und führt zu Enttäuschung. Das Kind fühlt sich aber dennoch gehört und weiß, woran es ist. Es fühlt, dass sich ernsthaft mit seinem Wunsch auseinandergesetzt wurde. Wenn das „Nein“ aus einem gleichwürdigen Dialog heraus entsteht, schadet es der Beziehung nicht und kann mit gutem Gewissen ausgesprochen werden (vgl. Juul 2013b, 137ff.).

Treten in der Familie Konflikte auf, so sind es nie persönliche, sondern immer schon gemeinsame Konflikte, denn sie entstehen in der Beziehung miteinander. Alle Mitglieder der Gemeinschaft sind also verantwortlich, sich an der Lösung des Konflikts zu beteiligen; auch diejenigen, die eigentlich zufrieden sind und keinen Konflikt sehen. Der Partner oder das Kind wird gleichwürdig behandelt, denn er erfährt Anteilnahme. Seine Integrität bleibt unbeschadet. Dafür ist es auch unerlässlich, klar seine Bedürfnisse artikulieren zu können (Ich will…, Ich brauche…; nicht: Ich möchte…, Ich würde…). Der andere sollte nicht kritisiert werden, denn das provoziert Schuldgefühle und eine Rechtfertigung und ist damit die direkte Einladung in eine Diskussion. Selbstmitleid und Vorhaltungen sind innerhalb eines Dialogs ebenfalls fehl am Platz. Man solle die eigenen Verantwortlichkeiten überprüfen, d. h. Verantwortung für die eigene Situation übernehmen, sich selbstkritisch unter die Lupe nehmen, Fehler einräumen und auf gemeinschaftliche Bedürfnisse aufmerksam machen. Gefordert ist Transparenz, d. h. über sich (eigene Wahrnehmung schildern) und für sich selbst zu sprechen sowie andererseits einfach zu antworten auf das Bedürfnis des anderen, dem anderen zuhören, seine eigene Wahrnehmung schildern, für sich sprechen und dann eine Entscheidung fällen (vgl. Juul 2012b, 40f.). Indem ich für und über mich spreche, ist garantiert, dass jeder nacheinander zu Wort kommt, ohne bewertende Kommentierungen oder Unterbrechungen. Es ist damit aber auch ausgedrückt, für sich selbst bzw. nur in seiner eigenen Angelegenheit zu argumentieren, statt gegen den anderen. So wird weder eine Rechtfertigung gefordert oder Schuld gesucht noch gibt es einen Verlierer und einen Gewinner.

Wenn ich einen Konflikt zwischen meinen Bedürfnissen und der aktuellen Situation feststelle, sollte ich diesen darstellen und dem/den anderen die Möglichkeit geben, seine/ihre Würde wiederzuerlangen, d. h. Zeit lassen, sich mit dem Konflikt auseinanderzusetzen und eigene Lösungsvorschläge zu formulieren.

Letztlich ist gar nicht mehr das Ergebnis das Entscheidende, sondern der Prozess bzw. der Weg des gleichwürdigen Dialogs hin zu einer Entscheidung, auf dem alle gehört wurden, sich eingebracht haben und das Gefühl von „Leere“ verspüren, weil alles gesagt ist (vgl. Juul 2012b, 38). Der gleichwürdige Dialog hat dann ermöglicht, dass sich alle besser kennenlernen. Die Kenntnis von Grenzen, Bedürfnissen, Ansprüchen, Bedarf an Unterstützung etc. ist als solches dann beziehungsfördernd, weil bei künftigen Konflikten entsprechend auf sie zurückgegriffen werden kann. Verschiedene Perspektiven wurden dargestellt, die Kreativität bei der Lösungssuche multipliziert und schließlich die Beziehung zueinander intensiviert (vgl. ebd., 34f.).

Kritik an den Gefühlen, Gedanken oder Erfahrungen des anderen zu üben, verletzt diesen meist. Juul spricht von Energieverschwendung. Es ist besser, die Energie, die ich in das Kritisieren stecke, für die kreative Lösungsfindung zu nutzen. Das erfordert vom Einzelnen, im Denken flexibel zu sein und ausgetretene Pfade zu verlassen. Je ernsthafter der Prozess geführt werde und je konsequenter man sich an die Spielregeln des gleichwürdigen Dialogs halte, desto leichter fiele es, eine Lösung zu finden. Der Dialog erzeugt eine „bewusste Gegenseitigkeit“ (Juul 2012b, 42). Darunter versteht Juul, dass innerhalb der Familie alle zu jeder Zeit willens sind, voneinander zu lernen. Damit betont er gleichzeitig die Wichtigkeit von Offenheit, Neugier und Interesse innerhalb der Familie (vgl. Juul 2012b, 46f.). Durch diese quasi-symbiotische Beziehung könnten sich alle weiterentwickeln.

Dagegen beurteilt Juul den Einsatz genereller Methoden im Umgang mit Kindern als gefährlich. Das Prinzip der Gegenseitigkeit werde hier nicht berücksichtigt, da Methoden, nach Juuls Ansicht, immer einseitig wirken und daher auch der Beziehung schaden. Vielmehr könne man Methoden oft mit Dressur gleichsetzen. Der Anwendungskontext würde meist ignoriert, sodass von einer echten Auseinandersetzung mit dem Kind nicht die Rede sein könne. Der Machthaber traktiert den Machtlosen (vgl. Juul 2012b, 43). Das Ziel ist, überspitzt ausgedrückt, dass das Kind auf Kommando oder durch geschickte Manipulation gehorchen soll. Verschärft wird dies, wenn das Kind bei Erfüllung auch jedes Mal überschwänglich gelobt wird. „Ich finde es absurd, wenn Eltern die Vorstellung haben, ihre Kinder müssten sich sofort ändern, nur weil sie es sich so wünschen“ (Juul 2013b, 28). Diese Erziehungspraktik erinnert sehr an die Operante Konditionierung nach Skinner, die man gemeinhin bei Ratten, Hunden, Affen oder anderen Tieren einsetzt. Dieses Funktionieren impliziert ein mechanistisches Menschenbild, welches im Wesentlichen auf der Vorstellung des Menschen als trivialer Maschine (aufgezeigt bei H. v. Foerster, in: Schlippe/Schweitzer 2012, 90f.) beruht: Drücke ich Schalter A, funktioniert B. Dies hat nach heutigem modernen Verständnis absolut nichts mehr mit Erziehung zu tun.

Um dieser Falle zu entfliehen, rät Juul, in Anbetracht einer gleichwürdigen, kooperativen Atmosphäre, das wechselseitige Verhältnis der Familienmitglieder, d. h. die Werte der Eltern und die Integrität des Kindes, die den lebensweltlichen Kontext bilden, zu beachten (vgl. Juul 2012b, 43). Wir sollten in Erfahrung bringen, ob jene Handlungen, die wir als wertvoll für den anderen einschätzen, von ihm auch als wertvoll empfunden werden (vgl. Juul 2012b, 46f.).

In Bezug auf die Kinder merkt Juul an, dass diese nicht bewusst provozierten, da dies intellektuell erst relativ spät möglich wäre. Vielmehr sollten sich die Eltern fragen, weshalb sie sich provoziert fühlten. In Bezug auf den Partner empfiehlt Juul „konstruktive Selbstbezogenheit“. Hier geht es darum, seinen Gefühlen authentisch (je nach Temperament) Luft zu machen, die Gegenseitigkeit anzunehmen und die Beziehung zu bereichern, indem man auf Schuldzuweisungen, Fehlersuche und Kränkungen verzichtet. Jede Familie müsse auch Machtkämpfe führen. Es geht aber um die generelle Richtung. Nehmen die Machtkämpfe Überhand, muss sich die Familie bemühen, die Gleichwürdigkeit wiederherzustellen, auch um nicht Zeit und Energie zu vergeuden, wie oben bereits erwähnt.

Die Form des Dialogs ist entscheidend, hingegen würde der goldene Mittelweg oder Zwang zum Kompromiss auf Dauer die Gemeinschaft zerstören. Jesper Juul ist der Ansicht, dass jedes Familienmitglied seinen Willen äußern können muss, allerdings ohne auch die Garantie zu haben, dass diesem Willen entsprochen wird. Alle Wünsche sind gleichermaßen anzuerkennen, es gibt keine Rangordnung darin, wer welchen Wunsch äußert. Juul sieht Gleichwürdigkeit als Schlüssel für lebenslange Liebe und Vertrauen in Beziehungen an. Sie könne schwierige Beziehungen in tragfähige und intensive verwandeln. Zudem erhielten die Eltern bei der Umsetzung prompt positives Feedback ihrer Kinder, was einen schnellen Lerneffekt garantiere und motiviere, an der Gleichwürdigkeit festzuhalten (vgl. ebd.).

Der Wandel von der Moderne zur Postmoderne markiert gewaltige gesellschaftliche Veränderungsprozesse. Eine Übersicht zu wesentlichen Merkmalen dieser Prozesse bietet das Werk Kultur und Subjekt von Max Fuchs (2012, besonders 56ff.). Ebenso empfohlen werden kann Johanna Robecks Von der Segregation über Integration zur Inklusion (2012), welches historische Zusammenhänge auf dem Weg zur Inklusion nachzeichnet. Eine tabellarische Gegenüberstellung der Dichotomien von Moderne und Postmoderne findet sich bei Palmowski (2011, 26).

2.2.2 Integrität

„Wir halten das Reifen einer persönlichen Integrität beim einzelnen Menschen für das natürliche Ziel in der Kindererziehung und der Pädagogik des 21. Jahrhunderts“ (Juul 2012f, 46). Die Förderung der persönlichen Integrität kann als Schlüsselkonzept im Ansatz einer neuen, nach den Sichtweisen von Juul ausgerichteten Erziehung und Pädagogik betrachtet werden. Es ist sehr schwierig, dieses Konzept auf wenige Kernpunkte zu reduzieren. Nichtsdestotrotz möchte ich das Konzept der Integrität bei Juul detailliert beleuchten. Wie Abb. 1 verdeutlichte, beeinflussen und bedingen sich die vier Werte; ein Zahnrad greift ins andere.

Bei Juul wird die Integrität des Einzelnen definiert als „ein Gefühl von Ganzheit und Verbindung zwischen innerer und äußerer Verantwortlichkeit (Juul 2012f, 47). Die innere Verantwortlichkeit kann mit persönlicher Verantwortung, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung umschrieben werden, d. h. jeder Mensch ist verantwortlich für „seine […] eigenen Grenzen, Bedürfnisse, Gefühle und Ziele“ (ebd., 48). Juul bezeichnet sie auch als „existenzielle Verantwortung“, denn niemand kennt mich besser als ich selbst, weshalb ich sowohl das Recht als auch die Pflicht habe, für mich allein zu entscheiden (vgl. ebd.).

Dem Ausdruck „existenziell“ misst Juul eine breitere Bedeutung bei. In einem weiten Sinne bezeichnet er nicht nur eine Lebensnotwendigkeit, sondern fokussiert auf die Beziehung zwischen Integrität und Kooperation bzw. Individuation und Anpassung, d. h. „existenziell“ meint hier das Überleben können, ohne auf Fürsorge verzichten zu müssen, und verdeutlicht damit auch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft.

Die innere Verantwortlichkeit entwickelt sich über das gesamte Leben eines Menschen. Dieser Entwicklungsprozess „basiert […] auf emotionalen Wahrnehmungen und Erfahrungen […], deren Qualität in erster Linie von der emotionalen Interaktion des Kindes mit den Eltern und den Geschwistern abhängt“ (ebd.). Insofern spielen die gebotene emotionale Anregung und die Haltung und Werte, die die Eltern verkörpern, eine entscheidende Rolle bei der Ausbildung von innerer Verantwortlichkeit.

Die äußere Verantwortlichkeit, die auch als soziale Verantwortlichkeit bezeichnet wird, bezieht sich auf die kulturellen und sozialen Werte außerhalb des einzelnen Menschen, die er erlernen und beachten muss, um Mitglied einer Gemeinschaft sein zu können. Er muss sich zu diesem Zweck und im Rahmen seiner intellektuellen Fähigkeiten mit Theorien und Gedanken auseinandersetzen, die diese Werte begründen, um sie schließlich in seine Persönlichkeit integrieren zu können. Konkret gilt es, für den Einzelnen seinen individuellen Platz im Wertesystem der Gemeinschaft auszuloten. Es ist im Rahmen des postmodernen Wertepluralismus (vgl. ebd., 49) nicht mehr Ziel des Einzelnen, sich bestmöglich unterzuordnen und dabei dem Wohle der Gemeinschaft zu verpflichten. Vielmehr setzt der Einzelne die äußeren Werte und Traditionen in Bezug zu seinen eigenen emotionalen Erfahrungen und Wahrnehmungen, um einen Kontext oder eine Ganzheit zu kreieren. Er macht sich damit die äußeren Werte zu eigen („internalisiert“ sie) und formt damit seine persönliche Integrität. Dies verlangt, als Kern der persönlichen Entwicklung des Einzelnen, seine persönlichen Erfahrungen fortlaufend zu untersuchen und zu überprüfen (vgl. ebd.). Der Ausdruck „persönlich“ impliziert immer den später noch zu besprechenden Wert der Authentizität. Der Kontakt zu anderen Menschen als Stütze, Inspiration, anerkennende Zeugen oder Herausforderungen (vgl. Juul 2012f, 52) bildet dann den Rahmen sowohl für die Anregung zur Überprüfung („Introspektion“) als auch für das Ausprobieren bzw. die Absicherung (Trial-and-Error-Prinzip) neu internalisierter Einstellungen. Somit ändert sich die ausgelotete Position innerhalb der Gemeinschaft stetig mit. Dies impliziert auch die Herausforderung regelmäßiger Identitäts(neu)findung.

Es ist daher legitim, sich für den bequemen Weg zu entscheiden, sich dem Wertesystem vollständig unterzuordnen, ebenso wie für die unbequeme Variante, nämlich seine Individualität zu entwickeln und zu verteidigen und auf die Suche nach dem „Wer bin ich?“ zu gehen: „Gehorsam ist zu einer persönlichen Entscheidung geworden und nicht [mehr] autoritärer Anspruch und / oder soziale Notwendigkeit“ (ebd.).

Juul geht auch kurz auf die historisch gewachsene Bedeutung von Integrität ein. Interessant ist, dass sich Integrität nach dem Zweiten Weltkrieg auf immer mehr Ebenen etabliert hat. Angefangen mit der Religionsfreiheit, die als Form der Anerkennung geistiger Integrität begriffen werden müsse (vgl. Juul 2012f), über physische und psychische bis hin zur sexuellen Integrität, deren Notwendigkeit stets aus massiven gesellschaftlichen Veränderungs- bzw. Lernprozessen entstanden ist. So kann auch im Hinblick auf das Vorhaben der Inklusionsbewegung, die die Akzeptanz von Verschiedenheit fordert, eine weitere Ebene in der Anerkennung persönlicher Integrität des Einzelnen erkannt werden.

Der Stellenwert der Gruppe, die das Leben und Überleben in ihr sicherte, jedoch den Einzelnen nicht wertschätzte, hat sich gewandelt. Sowohl die familien- und paartherapeutische Erfahrung Juuls als auch die Befunde der sozialpsychologischen Gruppenforschung zeigen, dass je stärker der Einzelne ist, desto stärker ist die Gruppe, der er angehört. Wenn es dem Einzelnen gut geht, profitiert davon die Gesamtheit, weil dieser seine Kraft und Stärke weitergeben kann, um anderen Gutes zu tun (vgl. Juul 2012b, 50f.).

In Das kompetente Kind stellt Juul Integrität als

„Sammelbegriff für die physische und psychische Existenz des Kindes“ dar und subsumiert darunter die Begriffe „Selbstständigkeit, Grenzen, Unverletzbarkeit, Eigenart, ‚Ich‘, Identität“ (Juul 2006, 55).

Die Integrität erhält ihren dialektischen Gegenpol in der Kooperation.

„Kooperation“ stellt sich hier besonders in den Verhaltensweisen des Kopierens, Nachahmens und Gehorchens dar. Die Mitglieder einer Familie gehen als Ganzes eine symbiotische Wechselbeziehung mit jedem Einzelnen in ihr ein. Das heißt weder, dass alle immer stark sein müssen, damit die Familie nicht zerbricht, noch verlangt dies, sich für die Familie aufzuopfern. Wenn die Integrität des Einzelnen in der Gemeinschaft geschützt wird, dann ist das im Interesse aller. Jeder Einzelne ist dann stark und stärkt damit die Familie (vgl. Juul 2012b, 50). Eine liberalistische Bewegung, die dem Individuum generellen Vorrang vor dem Wohl der Gemeinschaft zubilligt, wäre jedoch weder möglich noch wünschenswert (vgl. ebd.). Insofern ist Integrität auch nicht mit „Egoismus“ oder „asozialem Verhalten“ in Verbindung zu bringen. Dies sind Stigmen aus der Gehorsamskultur (vgl. Juul 2012f, 74).

In gewisser Weise sind wir zur Kooperation gezwungen. Ohne eine Gemeinschaft kann der Einzelne auf Dauer nicht überleben. Säuglings- und Beziehungsforscher hätten gezeigt, dass der Mensch von Geburt an den Drang und die Fähigkeit besitzt, soziale Kontakte zu knüpfen. Diese Verhaltensmuster beschreiben eine Überlebensstrategie. Überwiegend unbewusst wägt der Säugling ab, inwiefern seine Integrität intakt bleiben soll und wann er Kontakt zu seinen Eltern und ihrer Fürsorge wahrt (vgl. Juul 2012f, 62). Und auch später möchte der Mensch irgendwo dazugehören, muss zu diesem Zweck aber immer auch anpassungsbreit sein. In diesem Sinne entspinnt sich zwischen der persönlichen Integrität und der Kooperation ein lebenslanger, unauflösbarer Konflikt – im Kindes- und Jugendalter als psychosoziale Entwicklung, im Erwachsenenalter als persönliche und berufliche Reife – der jedoch mit größtmöglicher Aufgeschlossenheit für die Verschiedenartigkeit des Einzelnen, in seiner Intensität abgemildert werden kann, und dann die besten Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten bietet, wenn er Kränkung vermeidet und Fürsorge bringt (vgl. Juul 2012b, 50f.). Diese Haltung fördert m. E., auch die Gedanken der Inklusion innerhalb der Gesellschaft besser zu verankern. Die Fragen, die sich regelmäßig stellen, sind jedoch: Wie viel möchte ich von mir bewahren, damit es mir innerhalb der Gemeinschaft auf Dauer gut geht? Was bin ich bereit zu verändern? Welche Werte der Gemeinschaft tragen dazu bei, meine Persönlichkeit zu vervollständigen („Komplementierung“)?

Die persönliche Integrität eines Menschen ist von Anfang an gegeben und wird mit zunehmendem Alter umso komplexer. Sie ist nicht statisch oder determiniert, sondern verändert sich als ein „beziehungsmäßiges Gefühl“ dynamisch, in Wechselwirkung mit der aktuellen Umwelt (vgl. Juul 2012f, 50). Juul erklärt die Förderung der Entwicklung der Integrität des Kindes zum „zentrale[n] Bestandteil der gesamten erzieherischen Praxis“ (Juul 2012f, 46). Je besser die verantwortlichen Erwachsenen diese Aufgabe erfüllten, desto gesünder könnten Kinder sowohl sozial als auch mental aufwachsen. Die heutigen Rahmenbedingungen garantierten dies bislang nicht, meint Juul. Er erkennt im Verhalten vieler Erwachsener eine Doppelmoral. Sie bewerteten ihr Verhalten und das des Kindes mit zweierlei Maß. Jedoch müssten Zugeständnisse auf der einen Seite, im Sinne der Gleichwürdigkeit, auch auf der anderen Seite eingeräumt werden (vgl. Juul 2012f, 54).

Um Erwachsene, die täglichen Umgang mit Kindern haben, sei es privat oder professionell, dahingehend zu sensibilisieren, die Integrität zu schützen und zu fördern, ist es nötig, sich des herrschenden Ungleichgewichts bewusst zu werden: Während Heranwachsende für verbale und körperliche Übergriffe auf Lehrer oder Eltern heftig moralisch verurteilt werden, stehen andersherum Integritätsverletzungen an der Tagesordnung. Selbst wenn diese weniger heftig sind, so sind sie deutlich häufiger und regelmäßiger anzutreffen (vgl. Juul 2012f, 47). Der Grund dafür liegt in der bereits als überwunden geglaubten, faktisch aber immer noch praktizierten Gehorsamskultur, die erst allmählich ausklingt. Viel zu tief sitzt der Glaube, Kinder dürften sich gegenüber Erwachsenen nicht auflehnen. Es war allezeit verboten, dies zu tun. Wiederum war es akzeptiert und gehörte zu einer „konsequenten Erziehung“, wenn Erwachsene Kinder diskreditierten. Aus diesem Missverhältnis entspinnt sich ein Teufelskreis, der auf Dauer die Lebensqualität aller Beteiligten verringert. Und auch im Bereich professioneller Pädagogik gilt es zu beachten:

„Die persönliche Integrität des einzelnen Kindes muss wichtiger sein als das konkrete pädagogische Ziel. Niemand sollte die Anwendung der pädagogischen Rahmenbedingungen, Regeln und Methoden gutheißen, wenn sie die Integrität des einzelnen Kindes verletzt oder bewusst dessen persönliche Grenzen übertritt“ (Juul 2012f, 134f.).

[…]


[1] Im Folgenden habe ich ausschließlich zur besseren Lesbarkeit auf Gender Mainstreaming verzichtet. Die weibliche Form ist stets mitzudenken. Auch sollen sich bitte Menschen angesprochen fühlen, die sich nicht innerhalb der zwei Geschlechter wiederfinden können.

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Zur Bedeutung der Schriften Jesper Juuls für den gegenwärtigen pädagogischen Diskurs
Untertitel
Unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Entwicklungen
Hochschule
Universität Erfurt  (Erziehungswissenschaftliche Fakultät, Fachgebiet Sonder- und Sozialpädagogik)
Note
1,7
Autor
Jahr
2013
Seiten
106
Katalognummer
V263583
ISBN (eBook)
9783656525912
ISBN (Buch)
9783656529729
Dateigröße
1009 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sonderpädagogik, Inklusion, Jesper Juul, Juul, Moderne Pädagogik, Integration, Integrationspädagogik, Erziehungswissenschaft, Konzept, Fundament, Schule von morgen, Erziehung heute, Postmoderne Erziehung, Schule für alle, pädagogischer Diskurs, inklusiver Diskurs, Dialog, Systemisch, konstruktivistisch
Arbeit zitieren
M.A. Johannes Ilse (Autor:in), 2013, Zur Bedeutung der Schriften Jesper Juuls für den gegenwärtigen pädagogischen Diskurs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/263583

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