Thomas Manns: "Der kleine Herr Friedemann"


Hausarbeit, 2013

27 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Darstellung des Fin de Siècle in der Literatur
2.1 Die Décadence als Kernbegriff im Fin de Siècle

3. Lebensphilosophische Einflüsse
3.1 Schopenhauer, Nietzsche und Wagner

4. Das Leben und seine Dekadenzmotivik in „Der kleine Herr Friedemann“
4.1 Krankheit und Verfall
4.2 Dilettantismus
4.3 Außenseitertum

5. Schlussbetrachtung

1. Einleitung

Das Leben in all seinen Facetten beschäftigte Thomas Mann schon sehr früh. Bereits mit 23 Jahren wurde sein erster Novellenband „Der kleine Herr Friedemann“, der Gegenstand dieser Hausarbeit sein wird, veröffentlicht. Grundthema der sechs Geschichten ist die Lebensproblematik, die sich bei jedem der einzelnen Protagonisten anders äußert.

Ein buchhänderischer Erfolg war sein Erstlingswerk nicht. Von den 2000 Exemplaren der Erstausgabe, die im Mai 1898 erschien, waren zum Jahresende 1899 erst zirka 400 verkauft.[1] Trotzdem Thomas Mann noch so jung war und der Erfolg – zu Unrecht – auf sich warten ließ, strotzen die Geschichten nur so vor Lebensweisheit. Schon früh beschäftige sich der junge Lübecker mit Nietzsche und Schopenhauer und wandte ihre Philosophie in Form von Literatur in der Praxis an. Seine Figuren, jede auf ihre Art, lernen allesamt das Leben als große Enttäuschung kennen. Sie alle sind schiffbrüchige Existenzen, die vom Leben stiefmütterlich behandelt werden. Physisch und psychisch verstümmelte Naturen, die in seinem ersten Novellenband ihren Anfang nahmen, waren Zeit seines Lebens seine bevorzugten Figuren. Ein anonymer Rezensent der Münchner Neuesten Nachrichten bemerkte über den Friedemann-Band, dass sich Thomas Mann „leider für kranke Helden“ interessiere, für „unstete, halbentwickelte Naturen mit halber Kraft und halbem Willen“[2]. Mit dieser Vorliebe stand Mann ganz im Zeichen der literarischen Décadence. Der Verfall und die Schwächung der Lebenskraft waren die vorherrschenden Topoi der Zeit, die zumeist auch mit einer Steigerung des Artifiziellen einhergingen. Auch Thomas Mann erfuhr das Problem der Überfeinerung und Enttüchtigung am eigenen Leib, erst durch diese Erfahrung, so sagte er, öffnete sich für ihn das Interesse am Verfall, das sein literarisches Schaffen weit über sein Erstlingswerk hinaus prägte. (Vgl. Rasch, Wolfdietrich: Die literarische Décadence um 1900, München 1986. S. 159.)

Aufgrund des begrenzten Umfanges der Hausarbeit kann leider nicht auf jeden Aspekt in all seinen Facetten eingegangen werden. Um der Leitfrage nach dem Leben als Thema in „Der kleine Herr Friedemann“ einen adäquaten Rahmen zu geben, beschränke ich mich im zweiten Teil der Hausarbeit auf die Motive der Krankheit und des Verfalls, des Dilettantismus und dem des Außenseitertums. Im ersten Teil schildere ich zunächst die literarisch-historischen und philosophischen Einflüsse, die den jungen Thomas Mann prägten.

2. Die Darstellung des Fin de Siècle in der Literatur

Als Fin de Siècle wird die gesamteuropäische Epoche des Übergangs vom 19. ins 20. Jahrhundert bezeichnet. Übersetzt bedeutet sie so viel wie Ende des Jahrhunderts. Sie entstand aus einer Abkehr vom Naturalismus um 1890 und endet mit dem Aufkommen des Expressionismus um 1910. (Vgl. Weimar, Klaus: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Berlin 2007.)

Der Begriff Fin de Siècle tauchte erstmals 1886 in Emile Zolas Roman „L’Œvre“ auf und wurde im 1. Jahrgang der Zeitung „Le Décadent“ verwendet. Ihren Ursprung hat die Bewegung bereits 1880 in Frankreich, erst zehn Jahre später hielt sie im wilhelminischen Deutschland Einzug. Paul Bourgets „Essais de psychologie contemporaine“ (1882), Maurice Barrès „Culte du moi“ (1892) und die Philosophie Schopenhauers und Nietzsches zogen eine Gefolgschaft von Autoren und Lesern mit sich.

Eine umfassende Begriffsgeschichte gibt es nicht. In den „Studien zur Kritik der Moderne“ (1890) schreibt Hermann Bahr: „Fin de siècle war ein hübsches Wort und lief bald durch Europa. Nur, wie vielen es gefiel, es wußte keiner recht, was es denn eigentlich heißt“[3].

Die Zeit um 1900 wurde von den Menschen als markante Zeitwende wahrgenommen. Auf der einen Seite war die reiche Kultur der vergangenen Jahrhunderte, auf der anderen Seite verlor diese an Geltung und lieferte keine Orientierungspunkte mehr für die Gegenwart, die sich zunehmend auf die Zukunft konzentrierte. Im Naturalismus galten die Wissenschaft und logische Schlüsse als einzige Quelle der Erkenntnis. Die zunehmend modernen Lebensbedingungen führten zu einem der markantesten Phänomene der Zeit: Zur Nervosität beziehungsweise Nervenschwäche. Von diesem Phänomen glaubte man weite Kreise der Bevölkerung – insbesondere die Oberschicht und die Stadtbewohner – betroffen. Die Ursachen sah man beispielsweise in modernen, großstädtischen Lebens- und Arbeitsbedingungen. (Vgl. Ajouri, Philip: Literatur um 1900: Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus, Berlin 2009. S. 20.)

Der Kulturkritiker Max Nordau glaubte zum Beispiel, dass das Eisenbahnfahren durch die Erschütterungen das Rückenmark und das Gehirn schädige. In Teilen der Gesellschaft verbreitete sich eine Untergangsstimmung, die wohl als Reaktion auf einen Modernisierungsschock zu verstehen ist.

Thomas Manns literarische Anfänge lassen sich in die Zeit des Übergangs vom Naturalismus zum Fin de Siècle einordnen, wenngleich er doch immer auf eine historische Etikettierung

verzichtete, indem er behauptete, er habe „nie einer Schule oder Koterie angehört, die gerade obenauf war, weder der naturalistischen, noch der neu-romantischen, neu-klassischen, symbolistischen, expressionistischen, oder wie sie nun hießen“[4]. Dennoch schreibt Mann vor allem in der frühen Kurzprosa im Zeichen der Décadence. Er war zeitlebens fasziniert von den Phänomenen des Verfalls und der Lebensschwäche.

Rasante wissenschaftliche Erkenntniszuwächse und technologische Entwicklungen des 19. Jahrhunderts stellten die Menschen unter einen immer größer werdenden Druck. In der Zeit nach der Reichseinigung 1870/71 kam es im Deutschen Reich zu einem rasanten Wirtschaftswachstum. Das Fin de Siècle ist als eine Art Wendung zu verstehen, die sich mit Décadence, Snobismus und Dilettantismus verbinden lässt und das Alte und Überkommene aus den Fugen treibt. Ferdinand Tönnies gründete sein Fin de Siècle-Bewusstsein auf den Verfall der Ordnungen, der allerdings auch durch die individuelle Schwäche bedingt war und sie wiederum erzeugte oder steigerte[5]. Die lähmende Wirkung der Kulturmüdigkeit sah er als Zeichen „einer kranken und alternden Kultur“[6], was den „lähmenden Gedanken des Verfalls“[7] zwangsläufig an „alle Tendenzen der Verbesserung und des Fortschritts“[8] knüpfte.

Das Décadence-Bewusstsein der 90er Jahre war einerseits von Willenslähmung, Wirklichkeitsferne und spätzeitlichem Verfall geprägt, andererseits aber auch als „Folie für das hoffnungsvolle Postulat einer Erneuerung und Verjüngung“[9] zu verstehen. Erst beides zusammen – Endzeitstimmung und Aufbruchswille – macht die innere Struktur des Fin de Siècle aus. Auf der einen Seite herrschte der Niedergang der Lebenskräfte, auf der anderen der Aufstieg der intellektuellen Differenziertheit und künstlerischen Begabung. Das Bewusstmachen der eigenen Décadence steigerte das Gefühl für das, was fehlt, aber früher einmal vorhanden war: Willenskraft, nervliche Widerstandsfähigkeit, Eingefügtsein in die Wirklichkeit und Gemeinschaft, Lebenszuversicht. Das Beklagen des Verlusts dieser Werte bestätigte wiederum ihre Geltung und deklarierte sie als erstrebenswert. Der Ausgang des 19. Jahrhunderts schaffte Raum für einen Neubeginn, der ungeduldig erwartet wurde. (Vgl. Bauer, Roger: Fin de Siècle – Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. S. 45.)

Auch wenn er es sich nicht gleich eingestand, gehört Thomas Mann selbst auch den Décadents an. In einem Brief an seinen Bruder Heinrich schrieb er 1913: „Ich bin oft recht gemütskrank und zerquält, (…) die immer drohende Erschöpfung, Skrupel, Müdigkeit, Zweifel, eine Wundheit und Schwäche, (…) eine wachsende Sympathie mit dem Tode, mir tief eingeboren: mein ganzes Interesse galt immer dem Verfall, und das ist es wohl eigentlich, was mich hindert, mich für den Fortschritt zu interessieren“[10].

2.1 Die Décadence als Kernbegriff im Fin de Siècle

Der Terminus Décadence (von lat. decadere „herabfallen“) bezeichnete zunächst nicht literarische oder künstlerische Erscheinungen, sondern stand mit dem Untergang des römischen Weltreichs im Zusammenhang. Der Begriff bezog sich auf alles Bestehende, das keine ewige Dauer hat, sondern zum Zugrundegehen bestimmt war. (Vgl. Rasch, Wolfdietrich: Die literarische Décadence um 1900. S. 17.)

Charles Baudelaire gilt gemeinhin als Vater der Décadence, sorgte er doch schon mit seinem Roman „Les Fleurs du Mal“ (1857) für einflussreiche literarische Beispiele für eine dezidierte Ästhetik des Abstoßenden.

Schnell wurde die Décadence-Bewegung zu einem Kernbegriff für das Krisenbewusstsein des Fin de Siècle und erreichte um 1890 auch Deutschland. Warum sie sich ausgerechnet im 19. Jahrhundert entwickelte, ist umstritten. Erwin Koppen sieht die Décadence und ihre Darstellung von Verfall und Untergang als literarische Reaktion auf die bürgerliche Industriegesellschaft: „Als Komplementärbegriff zu dem des Fortschritts bezeichnet der Terminus eine Literatur, die Verhaltensweisen, Ideale und Leitbilder aufzeigt, die denen des zeitgenössischen Bourgeois ins Gesicht schlagen“[11]. Die Umkehrung der Wertschätzung von „gesund“ und „krank“, die Sympathie für das Abnorme und Kranke, was wiederum zu übersteigerter Reizempfänglichkeit und der Verfeinerung der Empfindung führt, sieht er als wichtigste Elemente. (Vgl. Koppen, Erwin: Dekadenter Wagnerismus: Studien zur europäischen Literatur des Fin de Siècle, Berlin 1973. S. 66.)

Wolfdietrich Rasch hingegen sieht in der Darstellung des Verfalls den orientierenden Bezugspunkt dekadenter Motive. Er deutet ihn im Kontext der zeitgenössischen, von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche inspirierten lebensphilosophischen Strömungen als Verlust an Vitalität. Die genannten Motive sieht er als Symptome, bedingt durch eine Schwächung der Lebenskraft. Gerade in der Verfallsthematik liegt für ihn der Protest gegen die bürgerliche Gesellschaft und ihre Wertvorstellungen. Im Hang zur Gewalt und Grausamkeit, zur sexuellen Perversion, in der Lust am Grauen erkennt er Kompensationsformen, die den Mangel an Leben ersetzen sollen. (Vgl. Koppen, Erwin: Dekadenter Wagnerismus: Studien zur europäischen Literatur des Fin de Siècle, Berlin 1973. S. 66.)

Friedrich Nietzsche, der großen Einfluss auf Mann ausübte, sah das Leben durch das Geistige als „Entartungsprodukt“[12] bedroht. Das Problem der Décadence beschäftigte Nietzsche von „Die Geburt der Tragödie“ bis hin zu „Der Fall Wagner“. Immer stellte er das Geistige radikal in Frage und sah in ihm die Ursache für den Verfall und die Degeneration. Diese Gedanken verarbeitete Mann schon früh in seinen Werken, indem er das Künstlerische als Verfallserscheinung deutete. Dort war der künstlerische Mensch immer der kranke Mensch, er stand im Abseits, weil er zu geistig war.

Auch Thomas Mann selbst glaubte, unter Nervenschwäche zu leiden. 1901 schrieb er seinem Bruder Heinrich über seine Verliebtheit in Paul Ehrenberg: „Meine nervöse Constitution und philosophische Richtung hat die Sache unglaublich complicirt; sie hat hundert Seiten, die simpelsten und die geistig-abenteuerlichsten“[13]. Dass die reizbare Schwäche der Nerven mit einer Verfeinerung der Sinne korrelierte, war stets ein charakteristisches Leitmotiv in den Werken Thomas Manns.

In diesem Zusammenhang war auch vom „biologischen Niedergang“[14], von biologischer Mutation, die Rede, die gleichzeitig mit einer Steigerung des Geistigen und Sensiblen korrespondiert. Viele glaubten damals, dass die Nervosität eine normale Folge des Geschäftslebens sei und sich durch Vererbung verschlimmere. Beispiele finden sich in der Figur des kleinen Herrn Friedemann oder der des Bajazzo, die beide von arbeitsamen Vätern abstammen.

In Frankreich, wo die literarische Décadence begann, erschien auch eine wissenschaftliche Untersuchung der Degeneration, die nach und nach auch stellvertretend mit der Décadence stand: Mit dem 1857 publizierten Buch von Bénédict Augustin Morel „Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine et de ses causes qui produisent ces variétés maladives“ (Abhandlung über die physischen, intellektuellen und moralischen Entartungen des Menschengeschlechts) hatte der französische Arzt für eine weite Verbreitung des Begriffs der Degeneration gesorgt, der im Deutschen häufig mit Entartung übersetzt wird. Morel behauptete, der Verfall einer Familie ergebe sich durch nervöse Reizbarkeit in der ersten Generation und Hysterie und anderen Krankheiten in der zweiten als auch Geisteskrankheiten in der dritten Generation. Mit der vierten Generation sterbe die Familie schließlich wegen Unfruchtbarkeit aus. (Vgl. Ajouri, Philip: Literatur um 1900: Naturalismus – Fin de Siècle – Expressionismus, Berlin 2009. S. 180.)

[...]


[1] Vaget, Hans Rudolf: Thomas Mann – Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, München 1984. S49.

[2] Ebd., S. 68.

[3] Bauer, Roger: Fin de Siècle – Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt am Main 1977. S. 31.

[4] Vaget, Hans R.: Die Erzählungen, in: Koopmann, Helmut: Thomas Mann-Handbuch, Frankfurt am Main 2005. S. 539.

[5] Bauer, Roger: Fin de Siècle – Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt am Main 1977. S 40.

[6] Ebd.

[7] Ebd.

[8] Ebd.

[9] Ebd., S.44.

[10] Thomas Mann – Heinrich Mann, Briefwechsel 1900-1949, Frankfurt 1968. S. 103.

[11] Rasch, Wolfdietrich: Die literarische Décadence um 1900, München 1986. S. 23.

[12] Evers, Meindert: Das Problem der Dekadenz. Thomas Mann & Nietzsche, in: Zur Wirkung Nietzsches, Würzburg 2001. S. 60.

[13] Heftrich, Eckhard, Wysling, Hans: Thomas Mann Jahrbuch Band 9, Frankfurt 1996. S. 33.

[14] Rasch, Wolfdietrich: Die literarische Décadence um 1900, München 1986. S. 38.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Thomas Manns: "Der kleine Herr Friedemann"
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Neuere Philologien)
Veranstaltung
Thomas Mann - Frühe Erzählungen
Note
1
Autor
Jahr
2013
Seiten
27
Katalognummer
V263540
ISBN (eBook)
9783656522584
ISBN (Buch)
9783656525202
Dateigröße
524 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
thomas, manns, herr, friedemann
Arbeit zitieren
Estelle Victoria Traxel (Autor:in), 2013, Thomas Manns: "Der kleine Herr Friedemann", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/263540

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