Wie es zum Ersten Weltkrieg kam

Ein Streifzug durch die Zeitgeschichte in sieben Kapiteln


Essay, 2013

23 Seiten


Leseprobe


Manfred Schopp

Wie es zum Ersten Weltkrieg kam

Ein Streifzug durch die Zeitgeschichte in sieben Kapiteln

Vorbemerkung

Noch hundert Jahre nach seinem ‚Ausbruch’ sind sich die Historiker über die tiefer liegenden Ursachen, besser: die Verursacher, dieser ‚Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts’ nicht einig. Nur in einem Punkte besteht unter den ernstzunehmenden Fachleuten Einigkeit: Der berüch-tigte ‚Kriegsschuldparagraph’ 231 des Versailler Vertrags verzerrte die Vorgeschichte des Krieges gewaltig. Es wurde nämlich von der deutschen Regierung verlangt anzuerkennen, „dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten Regierungen…infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben“.

Eine solche Vergewaltigung der geschichtlichen Tatsachen sprach jeder gerechten Wertung der vergangenen Jahre Hohn. Verständlicherweise regte sich zuerst Widerspruch gegen die ‚Kriegsschuldlüge’ in Deutschland, aber auch in den Siegerstaaten selbst kamen allmählich unabhängige, kritische Geister bei ihren Studien zu Ergebnissen die das offizielle Geschichts-bild ihrer Regierungen als Propaganda und Zerrbild entlarvten.

Zu nennen sind hier vor allem zwei US-Historiker, die mit ihren 1926 und 1928 erschienen Werken erstmals der geschichtlichen Wahrheit auch in den Siegerstaaten die Ehre gegeben haben. Es sind dies Harry E. Barnes, mit The Genesis of the World War, New York 1926, und Sidney B. Fay mit dem zweibändigen Werk Origins of the World War, New York 1928. Auf Deutsch erschien Fays Abhandlung 1930 in Berlin.

Diese Werke sind so gründlich in der Auswertung der Quellen, der Klarheit der Analysen und Ausgewogenheit des Urteils, daß sie bis heute unübertroffen sind.

Beide Autoren kannten sich und schätzten einander. Barnes schreibt in seinem Vorwort sogar, er sei durch einen Artikel von Sidney Fay, der bereits 1920 erschien, aus seinem „dogmati-schen Schlummer aufgeweckt worden“. Die Lektüre dieses Aufsatzes von Fay sei für ihn „ ein Schock“ gewesen, „ fast gleichbedeutend mit dem Verlust des Glaubens an den Weihnachts-mann in seiner Kindheit“.

Nach diesem Schlüsselerlebnis habe er begonnen, die „tapferen Traktate der ‚National Security League’ und der ‚American Defense Society’“ kritischer zu lesen , und so sei sein Glaube an „die konventionelle Mythologie“ der US-Propaganda in sich zusammengebro-chen. Dies war angesichts der allgegenwärtigen, in ihrer Infamie und Systematik unüber-troffenen Verleumdungskampagne, der Deutschland (und jeder US-Bürger deutscher Ab-stammung) seit 1914 ausgesetzt war, eine intellektuelle Leistung, die von selten anzu-treffender geistiger Unabhängigkeit und Urteilskraft zeugt.

Natürlich handelte auch Barnes sich den billigen Vorwurf ein, ein Revisionist und in seinen Ansichten „zu extrem“ zu sein, aber er blieb sich treu, indem er konterte: „Die Tatsachen selbst und die Schlußfolgerungen, die aus ihnen gerechterweise erwachsen, können nie ‚zu extrem’ sein, und es tut nichts zur Sache, wie weit sie von den populären Ansichten der Provinzler entfernt sind.“ Ein solcher Satz wäre es wert, jedem heutigen Geschichtswerk als Richtschnur vorangestellt zu werden. Barnes wollte nicht politisch sondern historisch korrekt sein, obwohl er wusste, dass er sich damit wenig Freunde machte.

Seither kam an Literatur über den Ersten Weltkrieg zwar manches Neue, aber kaum etwas Gleichwertiges oder gar Besseres hinzu. Unter den Neuerscheinungen ist nur Niall Ferguson mit seinem Buch „Der falsche Krieg“, (Stuttgart 1999) und Christopher Clark mit „ Die Schlafwandler“ (München 2013) hervorzuheben; in beiden Werken wird der Nachweis geführt, dass der Erste Weltkrieg weder ‚unvermeidlich’ noch gar ‚notwendig’ war, sondern aus hysterischen und wahnhaften Projektionen, vornehmlich des britischen Auswärtigen Amtes, und den daraus folgenden geheimen Absprachen mit Frankreich und Russland entstanden ist. Ähnlich wertet auch Patrick Buchanan, „ Churchill, Hitler und der unnötige Krieg“ (Selent 2008).

In sieben Kapiteln soll hier nun den verschlungenen Pfaden nachgegangen werden, die schließlich in den Ersten Weltkrieg einmündeten.

1. Das Spiel beginnt. Der russisch-japanische Krieg von 1904/5

Als man 1896 in Deutschland das ‚Friedensfest’ zum Gedenken an die Reichsgründung vor 25 Jahren feierlich beging, da gab es wohl kaum einen Zeitgenossen, der ahnte, mit dieser Friedensepoche werde es bald ein Ende haben, allen ‚Friedenslinden’ zum Trotz, die in Städten und Dörfern nach 1871 gepflanzt wurden.

Auch noch 1913, als Kaiser Wilhelm II. sein 25-jähriges Thronjubiläum feierte, war viel von Frieden die Rede, obwohl sich mittlerweile der Horizont sehr verfinstert hatte. Zwischen 1896 und 1913 stellte sich nämlich zum Nachteil des Deutschen Reiches die politische Großwetter-lage gänzlich um.

Diese Veränderung begann 1898. In diesem Jahr trug der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain der deutschen Regierung ein Bündnis an, was von 1898 bis 1901 zu den später so oft zitierten ‚deutsch-englischen Bündnisverhandlungen’ führte. Da diese ergebnislos im Sande verliefen, bot sich später eine wohlfeile Gelegenheit, das Liedlein „Hätten man doch damals nur…“ anzustimmen, wonach es keinen Weltkrieg und keine deutsche Niederlage gegeben hätte, wenn die deutsche Politik, genauer: der Kaiser und seine unfähigen Berater, nicht so blind oder machtgierig gewesen wären. Die Kritiker warfen der deutschen Politik vor, eine Position des ‚Alles oder Nichts’ vertreten zu haben. Da ‚Alles’ also der Beitritt Englands zum Dreibund (Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien) nicht zu haben war, habe man aus Trotz das ‚Nichts’ in Kauf genommen. Ein Schulbuchautor drückt diesen Tadel, bezogen auf 1901, so aus: Berlin „glaubte, durch Flottenrüstung…England noch gefügiger zu machen und größere Vorteile…aus einem England aufgezwungenen festen Bündnis ziehen zu können“ (1). Das englische Werben aus törichter Selbstüberschätzung schnöde zurückgewiesen! - darauf hat sich die Zunft der Besserwisser verständigt. Allein die Wortwahl ‚ gefügig machen, auf-zwingen’ verrät, wer die Schuld an dem kommenden Desaster trug.

Schauen wir uns die ‚deutsch-englischen Bündnisgespräche’ genauer an, so bleibt von der Schulbuchweisheit nichts übrig. Denn erstens war das Angebot nicht im Namen der engli-schen Regierung ergangen, sondern nur vom Kolonialminister Joseph Chamberlain gekommen, und zweitens hatte Premierminister Robert Salisbury (1895-1902) selbst von einem Abkommen mit Deutschland abgeraten mit dem Argument, es sei für England unvorteilhafter als für Deutschland. Denn Deutschland würde, eingekeilt zwischen der Allianz Frankreich und Russland, viel eher der britischen Hilfe bedürfen als das durch seine über-mächtige Flotte geschützte Inselreich. Deutschland wäre daher ein ziemlich wertloser Bünd-nispartner, und überdies würden sich die ohnehin gespannten Beziehungen zu Frankreich und Russland noch verschlechtern, wenn sich England an Deutschland binde. So war Chamber-lains Position von vornherein schwach, als er mit Deutschland ins Geschäft kommen wollte.

Salisbury bestätigte absichtslos die deutsche Einschätzung der Situation; nur die Folgerungen beider Regierungen waren entgegengesetzt. Hieß diese für England, (vorläufig?) kein Bündnis mit Deutschland wegen dessen prekärer Lage zu schließen, so legte die deutsche Regierung größten Wert darauf, daß England offiziell dem Dreibund beitrete; nur ein vom britischen Parlament ratifiziertes und somit öffentlich bekanntes und abschreckend wirkendes Bündnis könne die strategisch ungünstige Mittellage zwischen Frankreich und Russland aufwiegen. Ein solcher Beitritt stand für Großbritannien aus dem oben genannten Grunde jedoch außer Frage. Es war also die unterschiedliche Bedrohungslage, die ein deutsch-englisches Bündnis auf Augenhöhe verhinderte.

Aus deutscher Sicht kam ein Weiteres hinzu: die historische Erinnerung. Der Siebenjährige Krieg (1756-1763) war in Preußen unvergessen, als dieser Staat gegen drei Großmächte (Frankreich, Österreich und Russland) im Felde stand und nur von England mit Subsidien unterstützt wurde. Dies aus dem einfachen Grunde: Preußen beschäftigte die französische Armee auf dem Kontinent, während sich England die französischen Kolonien in Nordamerika einverleibte. Als dieses Ziel erreicht war, schied England aus dem Krieg aus und ließ Preußen fallen. Preußen fühlte sich damals düpiert und als ‚Festlandsdegen Englands’ missbraucht.

Als Kolonialminister Chamberlain sein ominöses Bündnisangebot unterbreitete, dachte man in Berlin sofort an die Geschichte von 1762. Die englische Weigerung, dem Dreibund beizutreten, war nicht dazu angetan, die alten Ressentiments fahren zu lassen, sondern eher sie neu zu beleben. Sollte sich Preußen-Deutschland wieder in einen Krieg gegen Frankreich und Russland stürzen, nur um England leichter koloniale Erwerbungen in Afrika oder dem Mittleren Osten zu verschaffen?

Außerdem pflegte Kaiser Wilhelm II. freundschaftliche Beziehungen zum Zaren Nikolaus II. und dessen deutscher Gemahlin Alexandra Fjodorowna (Alix von Hessen). Mit beiden war Wilhelm verwandt. Warum sollte er sich gegen ein Land stellen, mit dem man seit den Befrei-ungskriegen 1813 eng verbunden war?

Daß die deutsche Beurteilung des englischen Angebots richtig war, erwies sich sofort. Denn nachdem Deutschland sich zu einem zweifelhaften Zweckbündnis nicht hatte überreden lassen, fand England in Japan den gewünschten Partner. 1902 kam es zu einem englisch-japanischen Pakt, der zwei Jahre später auf drastische Weise ‚mit Leben erfüllt’ wurde. 1904 überfiel Japan, gedeckt von England, die russische Flotte im Hafen Port Arthur am Pazifik und eröffnete damit den russisch-japanischen Krieg von 1904/05.

Deutschland entzog sich dem britischen Werben; nichts beweist besser, daß weder Kaiser Wilhelm noch seine Regierung 1901 auf einen Krieg gegen Russland erpicht waren. Auch 1905, als Russland nach dem japanischen Sieg in ernsten Schwierigkeiten steckte, nutzte man die Gelegenheit zu einem Befreiungsschlag gegen die französisch-russische Umklammerung nicht. Hätte das Deutsche Reich jemals den „Griff nach der Weltmacht“ – so der Titel einer Propagandaschrift von 1961 (2) – im Sinn gehabt, dann hätte ein solcher ‚Griff’ 1905 erfolgen müssen und wäre höchstwahrscheinlich erfolgreich gewesen. Er unterblieb aus schlecht gedankter Friedensliebe, wie das folgende Kapitel zeigen wird.

Eine letzte Frage: Warum war Japan zu etwas bereit, wozu man in Deutschland nicht bereit war? Waren die Japaner klüger, die Deutschen dümmer? Die Antwort ist einfach: Japan hatte, anders als Deutschland, keine revanchelüsterne Großmacht im Rücken, als es seine Armee gegen Russland aufmarschieren ließ. Es konnte also gefahrlos mit den Engländern ins Geschäft kommen. Und zweitens besaß es ein handfestes Kriegsziel: die Mandschurei und Korea den Russen wegzuschnappen. Deutschland dagegen hatte Russland gegenüber keine Expansionswünsche. Aus beiden Gründen blieb Deutschland zunächst unbeteiligter Dritter.

Daß und warum Deutschland 1905 doch noch Partei ergriff und was sich daraus ergab, wird im zweiten Kapitel erläutert.

2. Der Vertrag von Björkö 1905

Der russisch-japanische Krieg von 1904/5 war, was seine diplomatischen Verwicklungen und Begleiterscheinungen betrifft, der interessanteste Krieg des 20. Jahrhunderts. Direkt beteiligt waren nur Russland und Japan, indirekt jedoch auch England als Partner Japans und Frankreich als Partner Russlands. Soweit scheint alles klar zu sein.

Was die Sache so spannend machte, war der Umstand, dass im April 1904 Frankreich mit England die sogenannte ‚Entente cordiale’ (herzliches Einvernehmen) vereinbart hatten, formal eine Interessenabgrenzung der beiderseitigen Einflusszonen in Afrika, informell jedoch ein Bündnis gegen Deutschland. Aus französischer Sicht entstand nun ein Dilemma: Unterstützte man Russland gegen Japan, was etwa von Französisch-Indochina aus leicht hätte geschehen können, so legte man sich auch gegen England fest, mit dem man gerade erst die Entente geschlossen hatte. Ließ man Russland aber im Stich, so zerbrach möglicherweise der Zweibund von 1894.

Was also war zu tun? In Paris kam man zu dem Schluß, die neue Freundschaft mit England sei höher einzuschätzen als das alte Bündnis mit Russland. Man vertraute darauf, dass die Ländergier der Panslawisten und ihr eingewurzelter Haß auf Österreich und Deutschland auf Dauer stärker sei als die zeitweilige Enttäuschung über das französische Desinteresse an Russlands Kriegsglück. Man kannte wohl in Paris das panslawistische Credo, die „Russische Geographie“, wonach sieben Ströme zu Mütterchen Russland gehörten, nämlich Elbe, Newa, Euphrat, Nil, Wolga, Donau und Ganges. Da war für die panslawistische Agitation noch viel zu tun, und so glaubte man in Paris nicht zu Unrecht, Russland werde trotz allem am Bündnis mit Frankreich festhalten.

Auch in Berlin verfolgte man aufmerksam den Kriegsverlauf und seine diplomatischen Ver-werfungen. Die deutsche Regierung und der Kaiser glaubten die Chance zu erkennen, durch nichtmilitärische Hilfe den Russen beizuspringen und sich als der bessere Bündnispartner zu empfehlen. Denn nachdem die russische Pazifikflotte vor Port Arthur gesunken war, dem Hafen, den Russland erst 1898 von China ‚gepachtet’ hatte, musste die ‚Baltische Flotte’ von der Ostsee an den Kriegsschauplatz geschickt werden. Auf dem Wege dorthin versenkten im Oktober 1904 russische Kriegsschiffe in der Nordsee englische Fischerboote, die sie irrtüm-lich für japanische Torpedoboote gehalten hatten (‚Doggerbank-Zwischenfall). Es gab zwei Tote und mehrere Verletzte. Die englisch-russischen Beziehungen wurden dadurch noch frostiger. Kaiser Wilhelm nutzte diese Gelegenheit, um Ende Oktober 1904 dem bedrängten Zaren ein Bündnis Russland-Deutschland-Frankreich vorzuschlagen, den sogenannten ‚Kontinentalblock’. Er hoffte, die antibritische Stimmung in Russland wäre diesem Vorhaben günstig. Zar Nikolaus II. bat den Kaiser, ihm einen Entwurf für ein deutsch-russisches Bündnis vorzulegen. Das geschah. Der Beitritt Frankreichs blieb noch offen, aber Russland sollte in Paris dafür werben. Dort aber hielt man vom ‚Kontinentalblock’ gar nichts, und so verlief das Projekt fürs erste im Sande und der Krieg ging in sein zweites Jahr.

England hatte den Suezkanal für Kriegsschiffe gesperrt, so daß die russische Baltikum-Flotte um ganz Afrika herum in Richtung Japan dampfen mußte. Acht Monate brauchte sie dazu. Unmengen von Kohle mussten verfeuert werden, aber weder England noch der Bündnis-partner Frankreich waren bereit, von ihren zahlreichen Stützpunkten aus den Russen diese Kohle zu liefern. Hier witterte der Kaiser seine zweite Chance. Deutschland würde die dringend benötigte Kohle liefern! HAPAG-Lloyd wurde angewiesen, die erforderliche Infra-struktur bereitzustellen. Auch politisch stellte er sich offen als Parteigänger Russlands dar, prägte das Schlagwort von der „Gelben Gefahr“, die ganz Europa bedrohe, und fertigte selbst eine Skizze an, welche die europäischen Völker, brüderlich vereint gegen diese tödliche Gefahr, darstellte.

In der Tat war es das erste Mal, dass eine europäische Großmacht von einer nichteuropäischen zu Lande und zu Wasser vernichtend geschlagen wurde. 1905 stand das Zarenreich ohne Flotte da, denn auch die Baltische Flotte war bei Tsushima versenkt worden. Die englische Rechnung, die Japaner die Drecksarbeit machen zu lassen, war also glatt aufgegangen!

Für den Augenblick schien es daher so, als habe Russland in Deutschland einen neuen Partner anstelle Frankreichs gefunden. Wilhelm II. verabredete mit seinem Vetter Nikolaus II. die enge politische Zusammenarbeit, die im Oktober 1904 noch nicht möglich gewesen war. Bei nächster Gelegenheit sollte diese mit einem förmlichen Vertrag besiegelt werden. Man begegnete sich in Björkö.

Björkö ist ein finnisches, früher russisches Hafenstädtchen, wo Kaiser Wilhelm auf seiner alljährlich stattfindenden Nordlandfahrt mit seinem Vetter im Juni 1905 zusammentraf. Hier wurde nun jener deutsch-russischer Beistandspakt unterschrieben, der nach den Worten Kaiser Wilhelms „ein Wendepunkt in der Geschichte Europas geworden ist, dank der Gnade Gottes, und eine große Erleichterung der Lage für mein theures Vaterland, das endlich aus der scheußlichen Greifzange Gallien-Russland befreit werden wird… Der 24. Juli 1095 ist ein Eckstein in der europäischen Politik und schlägt ein neues Blatt der Weltgeschichte um; es wird ein Kapitel des Friedens und Wohlwollens unter den Großmächten des europäischen Kontinents sein, die einander respektieren werden in Freundschaft, Vertrauen und in Verfolgen einer allgemeinen Politik in der Richtung einer Interessengemeinschaft“ (3).Wäre dieser letzte Satz aus dem Munde eines hochrangigen EU-Politikers, etwa des Kommissions-präsidenten Barroso oder des EZB-Chefs Draghi gekommen, dann würde man ihn aus Ausweis wahrhaft europäischer Gesinnung und Verantwortung gepriesen haben; nun aber, da ihn der deutsche Kaiser, jener säbelrasselnde Pickelhauben-Militarist und Watschenmann des linken Spießers, gesprochen hat, kann man ihn nur mit betretenem Stillschweigen übergehen. Wie dem auch sei: Nach menschlichem Ermessen stand mit dem Vertrag von Björkö dem europäischen Kontinent also eine langdauernde Friedensepoche bevor.

Deprimiert durch die russischen Niederlagen hatte der Zar den ‚Vertrag von Björkö’ unter-zeichnet. Nun besaß Russland zwei Verträge, einen mit Deutschland, der den Frieden in Europa sichern sollte und einen älteren mit Frankreich, der einen Krieg mit Deutschland zum Ziel hatte. Welcher Vertrag würde nun gelten? Die russische Regierung vermied nach außen hin eine klare Entscheidung, indem sie erklärte, der Vertrag von Björkö könne ihrer Ansicht nach nur Geltung erlangen, sofern Frankreich zustimme. Man wusste natürlich vom ersten Versuch her, dass Frankreich diese Zustimmung verweigern würde, da es mit Russland nur paktiert hatte, um Deutschland in einen Zweifrontenkrieg zu verwickeln. Da dieser Krieg aber durch den Vertrag von Björkö vereitelt würde, musste dieser ungeschehen gemacht werden. Und so kam es denn auch. Die russische Regierung teilte der deutschen mit, da Frankreichs Zustimmung fehle, könne der Vertrag von Björkö leider nicht in Kraft treten. Der Vertrag ver-schwand sang- und klanglos in der Schublade. Dem schwachen Zaren war das Ganze höchst peinlich, aber gegen die einflussreiche Kriegspartei in seinem Lande war er schon 1905 machtlos und blieb es bis zu seinem Sturz 1917. Kaiser Wilhelm II. war um eine bittere Erfahrung reicher: Seine Parteinahme für Russland hatte ihm keinen neuen Freund, sondern nur einen neuen Gegner eingebracht, nämlich Japan.

Hätte Deutschland tatsächlich den „Griff nach der Weltmacht“ gewagt, wie ein bekanntes Buch von 1961 seinen Lesern weismachen wollte, hätte der Kaiser dann eine solche Politik betrieben? Einem strauchelnden Rußland wieder auf die Beine zu helfen, anstatt das Zaren-reich oder seinen Bundesgenossen Frankreich in einem entschlossenen Schlag niederzu-werfen? Schon diese Frage beweist, wie absurd die These dieses kläglichen Buches ist.

Der russisch-japanische Krieg hat aber noch eine letzte, für deutsche Beobachter immer noch schwer begreifliche Pointe: Der Weltgegensatz, dessentwegen man gerade noch einen Krieg mit weit mehr als Hunderttausend Toten geführt hatte, war kaum zwei Jahre später wie von Geisterhand weggezaubert. 1907 waren alle Kriegsgegner von 1904/05 ein Herz und eine Seele, England hatte seine Entente mit Frankreich geschlossen, Frankreich belebte seine Entente mit Russland wieder, 1907 folgte die Entente England-Russland und selbst Japan entdeckte im gleichen Jahr Russland als neuen Verbündeten. Anders gesagt: Die vier Mächte begruben ihre Streitigkeiten, um für den großen Kampf gegen Deutschland die Hände frei zu haben. Die Einkreisung war perfekt.

Der Vertrag von Björkö macht mit aller Deutlichkeit klar: Paris und St. Petersburg hatten 1905 die Wahl, zusammen mit dem Deutschen Reich den Frieden in Europa zu sichern oder aber ihre politischen Ziele weiter zu verfolgen, die ohne Krieg nicht zu verwirklichen waren: nämlich auf Seiten Frankreichs den Revanchekrieg gegen Deutschland zu führen, und auf Seiten Russlands die panslawistischen Träume auf Kosten Österreich-Ungarns und Deutsch-lands wahrzumachen. Beide Staaten entschieden sich in diesem welthistorischen Augenblick für Krieg. ‚Björkö’ durfte also nicht Wirklichkeit werden.

Die Schulbücher haben für diesen dramatischen Augenblick natürlich keinen Sinn und keinen Platz. Denn hätte man ihn erwähnt, dann wäre die simple Selbstbezichtigung, zu der sich die deutschen Autoren in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Besatzungsdirektiven von 1945 offenbar immer noch genötigt fühlen, schwierig geworden. So verfiel der Vertrag von Björkö der Einfachheit halber der schon aus der römischen Kaiserzeit geläufigen ‚Damnatio Memoriae’ (Tilgung unliebsamer Tatsachen oder Personen aus dem Gedächtnis). Wenn er überhaupt genannt wird, dann nur wegen seiner Nicht-Geltung. Und auch ein weiterer Ausspruch des Kaisers vom März 1905 stört das Bild: „Das Weltreich, das ich mir erträumt habe, soll darin bestehen, daß…das Deutsche Reich von allen Seiten das absolute Vertrauen eines ruhigen, ehrlichen, friedlichen Nachbarn genießt“. Ausgerechnet Kaiser Wilhelm soll das gesagt haben? Unerhört!

[...]

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Wie es zum Ersten Weltkrieg kam
Untertitel
Ein Streifzug durch die Zeitgeschichte in sieben Kapiteln
Autor
Jahr
2013
Seiten
23
Katalognummer
V263449
ISBN (eBook)
9783656522010
ISBN (Buch)
9783656525622
Dateigröße
628 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Erster Weltkrieg, Björkö, Haldanemission, Grey, Crowe, Sarajewo, Einkreisung
Arbeit zitieren
Manfred Schopp (Autor:in), 2013, Wie es zum Ersten Weltkrieg kam, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/263449

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