Die westdeutschen Arbeiter auf dem Weg in die ´nivellierte Mittelstandsgesellschaft´?


Hausarbeit, 1998

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


I. Einleitung

Die entgültige Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands in der Kapitulation 1945, die Besetzung des Landes und der von den westlichen Alliierten und der Sowjetunion, jeweils unter unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen angeleitete Wiederaufbau bilden wichtige Zäsuren in der deutschen Geschichte der neuesten Zeit. Sie haben nicht nur grund- legende Veränderungen in Politik und Wirtschaft ermöglicht, sondern ermöglichten oder förderten auch Wandlungen in der Sozialstruktur Deutschlands.[1]

Die deutsche Gesellschaft des 19. und der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts ist vorwiegend als Klassengesellschaft mit einer Klassenspaltung zwischen Bourgeoisie und Proletariat (Karl Marx), bzw. Besitz- und Erwerbsklasse (Max Weber) beschrieben worden.

Insbesondere die Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter in der BRD und die Vermehrung ihrer Chancen, einen sozialen Aufstieg zu erleben, - oftmals als "Entproletari- sierung"[2] charakterisiert -, wurde von vielen Sozialwissenschaftlern und Sozialhistorikern als Kontinuitätsbruch (zum Deutschen Reich) angesehen und ließ die Ansicht einer Über- windung der Klassenspaltung aufkommen.

Um zu untersuchen, welche Auswirkungen dieser Bruch auf den Wandel der Sozialstruktur

Westdeutschlands hatte, ist es unerlässlich, sich mit Helmut Schelskys nicht unumstrittener These von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" zu beschäftigen.

Ziel dieser Hausarbeit ist es, einige Verbesserungen der Lage der Arbeiter in den 1950er und Anfang der 1960er Jahre nachzuvollziehen und zu untersuchen, ob sie im Sinne Schelskys zu einer Angleichung der materiellen Lage und des Lebensstils der Arbeiter an den Mittelstand, zu einem Abbau der Klassengegensätze und somit zur Integration der Arbeiter in eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" geführt haben. Daneben soll geklärt werden, ob es auch Kontinuitäten in der sozialen Situation der Arbeiter gegeben hat, bzw. ob sich neue soziale Ungleichheiten herausgebildet haben, die einen Nivellierungstrend in Richtung Mittelstands- gesellschaft eventuell abgeschwächt haben könnten.

Unter dieser Fragestellung sollen einige Aspekte (- die gebotene Kürze läßt einen Anspruch auf Vollständigkeit nicht zu -) in den Bereichen Ausbildung und berufliche Qualifikation, Einkommensentwicklung und Lebenshaltung, soziale Mobilität, sowie politische Orientie- rung und "Arbeiterbewusstsein" auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten untersucht und eine Verbindung zu Schelskys These geknüpft werden. Das Hauptaugenmerk liegt darauf, ob das empirische Material Schelskys These stützt, oder ob Modifizierungen nötig sind. Grundlegende Literatur dafür war insbesondere Josef Moosers "Arbeiterleben in Deutsch- land" 1900-1970 (1984).

Für die vorangehende Darlegung von Schelskys These wurde dessen Aufsatzsammlung "Auf der Suche nach Wirklichkeit" (1965), sowie seine Studien über die Arbeiterjugend (1955) und die deutsche Familie (4.Aufl. 1960) zugrunde gelegt.

Die Ergebnisse werden in Form einer Abschlussbemerkung noch einmal kurz zusammenge- fasst.

II. Schelskys Modell der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft"

Viele Sozialwissenschaftler hielten es in den 1950er Jahren nicht mehr für möglich, die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland als Klassengesellschaft zu bezeichnen.

Bereits 1949 diagnostizierte Theodor Geiger Prozesse von Auflösung und Durchkreuzung der Klassenstrukturen nach dem Ersten Weltkrieg und beschrieb die deutsche Gesellschaft dieser Zeit als "Klassengesellschaft im Schmelztiegel".[3]

Der Soziologe Helmut Schelsky führte diesen Gedankengang in Bezug auf die westdeutsche

Gesellschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fort und formulierte 1953 seine These

von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft". Für Schelsky war die Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft nur aus den gesellschaftlichen Strukturbrüchen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zu erklären. Zwei Weltkriege, die Inflation von 1923, die Welt- wirtschaftskrise von 1929, die nationalsozialistische Herrschaft und nicht zuletzt die Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten haben nach Schelsky die allge- meine soziale Mobilität erhöht und gesellschaftliche Auf- und Abstiegsprozesse beschleunigt, was zu einem breiten Abbau der Klassengegensätze geführt habe.

Als Ergebnis dieser Entwicklungen sah Schelsky das Entstehen einer "nivellierten Mittel-

standsgesellschaft", die sich durch eine Angleichung der materiellen Lebensbedingungen und

einen sich vereinheitlichenden mittelständisch- kleinbürgerlichen Lebensstil auszeichne.

Selbst formulierte er seine zentrale These so:

"Das Zusammenwirken dieser sich begegnenden Richtungen der sozialen Mobilität führt -

neben einer außerordentlichen Steigerung der sozialen Mobilität an sich - zur Herausbildung

einer nivellierten kleinbürgerlich- mittelständischen Gesellschaft, die ebensowenig proleta-

risch wie bürgerlich ist, d.h. durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie

gekennzeichnet wird."[4]

Betroffen von den sozialen Abstiegsprozessen, die Schelsky beschrieb, waren vor allem große Teile des alten Besitz- und Bildungsbürgertums. Insbesondere die von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg betroffenen mittelständischen Personengruppen konnten ihren sozialen Status nicht halten. Im Gegensatz dazu erkannte Schelsky einen kollektiven Aufstieg der Industriearbeiterschaft, die von dem rasanten Wirtschaftsauf- schwung der 1950er Jahre, den damit verbundenen Modernisierungen in der Industrie- produktion und von der Ausdehnung des sozialen Sicherungssystems der Bundesrepublik, profitierte.[5]

Mit der Angleichung der materiellen Lebensbedingungen ging nach Schelsky auch eine An-

gleichung des Lebensstils der Menschen, eine Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen

Verhaltensformen, einher. Zwar blieb für die meisten Menschen das Schema der alten Sozial- ordnung weiterhin als Grundlage für die Bestimmung ihres eigenen Standortes in der Gesell-

schaft und für ihren Wunsch nach sozialem Aufstieg, bzw. ihrer Angst vor sozialem Abstieg

bestehen, die soziale Realität wurde diesem Schema aber nicht mehr gerecht.

In seinen Studien über Familie und Jugend stellte Schelsky fest, daß sich nach dem Zweiten

Weltkrieg explizit getrennte proletarische und bürgerliche Milieus, wie sie noch in der

Weimarer Republik vorhanden waren, nicht wieder herausgebildet haben. Statt aus sozialen

Gegensätzen und Herkunftsunterschieden beziehe die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft"

nach Schelsky ihre Identität aus einer fast einheitlichen Teilhabe am Konsum.[6]

Aus den von ihm aufgezeigten Nivellierungsprozessen leitete Schelsky aber nicht ab, dass es

keine sozialen Spannungen oder Konflikte mehr geben werde. Die der "nivellierten Mittel-

standsgesellschaft" eigentümlichen Spannungen seien jedoch nicht mehr Klassenkonflikte,

sondern vielmehr "(...) die Spannungen und der Gegensatz des Einzelnen oder des unmittel-

baren `Wir´ gegenüber dem anonymen System jeder Art von Bürokratie, von der man ab-

hängt (...)"[7], was sich z.B. darin äußere, dass das "Feindbild" der Arbeiter nicht mehr "die

Kapitalisten" seien, sondern mehr und mehr die anonymen Kräfte aller Arten bürokratischer

Organisation und ihrer Funktionäre (ausgedrückt in: "das System" oder "Die-da-oben"[8]).

[...]


[1] Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, daß die Sozialgeschichte nicht nur nach den gesellschaftlichen Auswirkungen des schweren Bruchs der deutschen Geschichte von 1945 fragt, sondern auch nach sozialen und wirtschaftlichen Trends der deutschen Geschichte seit 1871 sucht, die sich über 1945 hinaus im westlichen Teil Deutschlands fortgesetzt, oder selbst zu Wandlungen in der Sozialstruktur beigetragen haben. Zum Kontinuitätsproblem: Vgl. Werner Conze./ Mario Rainer Lepsius (Hg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart (2.Aufl.) 1985.

[2] Entproletarisierung in dem Sinne, dass die Verbindung zwischen Arbeiterdasein und materieller Not gelöst wurde.

[3] Vgl. Geiger, Theodor, Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln 1949.

[4] Schelsky, Helmut, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch- soziologischen Tatbestandsaufnahme, Stuttagrt (4.Aufl.) 1960, S. 218.

[5] Vgl. Schelsky, Helmut, Gesellschaftlicher Wandel, in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965.

[6] Vgl. Schelsky, Helmut, Wandlungen der deutschen Familie. Vgl. Schelsky, Helmut, Arbeiterjugend gestern und heute, Heidelberg 1955.

[7] Schelsky, Helmut, Gesellschaftlicher Wandel, S.341.

[8] Ebd., S.342. Bezugnehmend auf eine Befragung der Belegschaft einer Zeche im Ruhrgebiet durch die Sozialforfschungs stelle Dortmund: Vgl. Jantke, Carl, Bergmann und Zeche. Die sozialen Arbeitsverhältnisse einer Schachtanlage des nördlichen Ruhrgebiets in der Sicht der Bergleute, Tübingen 1953.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die westdeutschen Arbeiter auf dem Weg in die ´nivellierte Mittelstandsgesellschaft´?
Hochschule
Universität Bielefeld  (Fakultät für Geschichtswissenschaften)
Veranstaltung
Grundkurs: Wiederaufbau oder Neuanfang? Deutsche Geschichte(n) 1945-1961
Note
1,0
Autor
Jahr
1998
Seiten
17
Katalognummer
V2630
ISBN (eBook)
9783638115902
ISBN (Buch)
9783638756174
Dateigröße
550 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
neueste Geschichte, Zeitgeschichte, Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Arbeiter, Arbeiterschaft, nivellierte Mittelstandsgesellschaft, Helmut Schelsky, Bundesrepublik
Arbeit zitieren
Thomas Gräfe (Autor:in), 1998, Die westdeutschen Arbeiter auf dem Weg in die ´nivellierte Mittelstandsgesellschaft´?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/2630

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