Ein gelingender Alltag als Ziel: Sexualität im Kontext geistiger Beeinträchtigung


Bachelorarbeit, 2010

48 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Hinführung zum Thema
1.1. Entwicklung der Fragestellung
1.2. Methodische Vorgehensweise und Abgrenzung
1.3. Die Alltagstheorie von Hans Thiersch
1.4. Die Grenzen und Nachteile dieses Ansatzes
1.5. Das Dennoch einer alltagsorientierten Annäherung

2. Haupttei
2.1 Versuch einer Definition geistiger Beeinträchtigung
2.1.1 Der Begriff der Beeinträchtigung nach der World Health Organisation (WHO)
2.1.2 Definition und Klassifizierung geistiger Behinderungen und Beeinträchtigungen
2.1.3 Die Sichtweise der Sonder- und Heilpädagogik
2.2 Die Bedeutung der geistigen Beeinträchtigung für die Sexualitä
2.2.1 Zum Begriff der Sexualität
2.2.2 Die sexuelle Entwicklung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung
2.2.2.1 Die Diskrepanz zwischen Intelligenzalter und Sexualalter
2.2.2.2 Kindliche Regression: Rückfall in kindliche Verhaltens- und Erlebensweisen. 18
2.2.2.3 Krisen in der Identitätsbildung
2.2.2.4 Die Akzeptanz des eigenen Körpers
2.2.2.5 Indikatoren sexueller Reife
2.2.2.6 Die Rolle der Masturbation
2.2.2.7 Zur Bedeutung der sexuellen Triebe
2.2.2.8. Erste erotische Begegnungen
2.2.2.9 Die Adoleszenz von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung – eine kritische Phase
2.3 Handlungsfelder im Kontext geistiger Beeinträchtigung und Sexualitä
2.3.1 Aufklärung
2.3.2 Schwangerschaft und Elternschaft
2.3.2.1 Die Rolle einer geschützten Ehe
2.3.2.2 Darstellung und Bewertung der rechtlichen Situation
2.3.2.3 Der Umgang mit einem möglichen Kinderwunsch geistig beeinträchtigter Menschen
2.3.2.4 Zur Frage von Sterilisation und Verhütung
2.3.3 Alltagsgestaltung – die pädagogische und ethische Pflicht

3. Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
3.1 Die Grenzen und Chancen der sonderpädagogischen Intervention
3.1.1 Das Problem der Stigmatisierung
3.1.2 Ängste der Eltern - Ungelöste Probleme in der Familie
3.1.3 Probleme in Heimen und anderen Institutionen
3.1.4 Verschiedene finanzielle Gründe
3.1.5 Zur gesellschaftlichen Komponente
3.2 Ausblick und Fazi

4. Quellenverzeichnis
4.1 Internetquellen

1. Einleitung und Hinführung zum Thema

Das Thema Sexualität von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ist stark von Vorurteilen und Klischees geprägt. Derartige Stereotypen, wie beispielsweise die Ansicht, sie seien nicht in der Lage, ihre Sexualität zu kontrollieren und könnten zu einer Gefahr für andere Menschen werden, sind allgemein verbreitet und beeinflussen unser Verhalten und unsere Gefühle sehr tiefgreifend. Meist wird die Sexualität von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung negiert. Das heißt, sie werden nicht als ganzheitliche Persönlichkeiten betrachtet und mit all ihren Bedürfnissen akzeptiert, sondern in gedankliche „Schubladen“ gesteckt und mit Etiketten versehen. Es handelt sich hierbei um Vorgänge der Diskriminierung, insbesondere aufgrund der ihnen inhärenten Eigenschaft, die Betroffenen unmittelbar zu berühren und die Entwicklungsfähigkeit eines Menschen entscheidend zu hemmen. Liebe, Partnerschaft und Sexualität spielen im Leben eines jeden Menschen eine bedeutsame Rolle und sind in ihrer Relevanz für die Persönlichkeitsentwicklung und –reifung nicht zu unterschätzen. Der körperliche Aspekt stellt in diesem Zusammenhang ein nicht nur von Jugendlichen und Erwachsenen, sondern auch von Kindern gehegtes existenzielles Grundbedürfnis dar und sollte in einem Grundrecht auf individuelles Ausleben sowie Ausschluss von Benachteiligung seinen Niederschlag finden. Jedoch ergibt sich bei näherem Hinsehen oftmals die Erkenntnis, dass die Realität anders aussieht und Menschen mit Beeinträchtigung bei der Verwirklichung ihrer sexuellen Wünsche und Vorstellungen im Gegensatz zu ihren nichtbeeinträchtigten Zeitgenossen rasch an ihre Grenzen stoßen. Auch nach umfangreichen Veränderungsprozessen mit einhergehender Enttabuisierung und der Ausbildung einer neuen Geisteshaltung bezüglich der Thematiken Sexualität und Partnerschaft, ist in der Gesellschaft nach wie vor eine latente Angst vor der Verbindung ebendieser Sujets mit Menschen mit Beeinträchtigung spürbar.

Ihre Wurzel ist in der Auffassung vieler Eltern von Kindern mit Beeinträchtigung zu suchen, Partnerschaften oder gar sexuelle Bedürfnisse seien für ihre Zöglinge passé.

Deren Sexualleben gilt gemeinhin als anomal, fremdartig, störend und fehlentwickelt.

Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass der problembehaftete Umgang mit der Sexualität von geistig beeinträchtigten Menschen nicht bei den Betroffenen selbst zu suchen ist, sondern in ihrem Umfeld, namentlich bei den Eltern, Erziehern und Betreuern.

1.1. Entwicklung der Fragestellung

Viele Arbeiten zum Thema der Sexualität geistig beeinträchtigter Menschen wurden in den letzten Jahren veröffentlicht. Sowohl Medien als auch Gesellschaft haben sich in Richtung einer größeren Offenheit im Umgang hiermit bewegt und die lange Zeit andauernde Tabuisierung allmählich aufgebrochen. Dennoch zeigte sich im Verlaufe meiner Recherchen, dass sich die Zahl der Publikationen zu den über die Grundthematik hinausgehenden Bereiche der Alltagsgestaltung, Aufklärung, Ehe und Elternschaft sehr begrenzt darstellte, mit Ausnahme einzelner Fallbeschreibungen im Kontext von Sterilisationsfragen und deren ethischer wie rechtlicher Bewertung.

Das Gros der Autoren weist eine Auseinandersetzung mit der Materie, möglichen Zweifeln und strittigen Aspekten von sich. Beispielsweise ist das Recht geistig beeinträchtigter Menschen auf Elternschaft eine in den verschiedenen Professionskreisen kontrovers diskutierte Crux und der Part der Befürworter zahlenmäßig eher gering. Wesentlich häufiger anzutreffen sind ablehnende Aussagen, die pädagogische, psychologische oder auch juristische Begründungen anführen.

Allerdings sollte man geistig beeinträchtigte Eltern oder potenzielle Eltern nicht kategorisch vom Zusammenleben mit ihren tatsächlichen oder möglichen Kindern ausschließen, denn: „Wer Sexualität als Grundrecht für geistig behinderte Menschen deklariert, kann dessen selbstverständliche Umsetzung […] nicht verhindern“ (WALTER 2001: 38). Es kann von einem Recht auf das eigene Kind gesprochen werden. Dieses ist und bleibt ein selbstverständliches Menschenrecht – auch für geistig beeinträchtigte Menschen (vgl. ebd.).

Werte wie Verbundenheit, Hingabe, Zärtlichkeit, Leidenschaft und Nähe sind für beeinträchtigte wie für nichtbeeinträchtigte Menschen gleichermaßen bedeutsam.

Die Sprache der Liebe, sich „Liebe schenken“ und sich „Liebe schenken lassen“, ermöglicht aber gerade Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ein einzigartiges und ganzheitliches „Sich-mitteilen“ und „Sich-einander-erschlieβen“ (vgl. MOLINSKI 2002: 92f.). Ihnen ist es durch das Fehlen kognitiver Fähigkeiten oftmals verwehrt, nahestehenden Personen ihre Zuneigung verbal zu vermitteln, sodass sie stattdessen verstärkt mithilfe ihres Körpers kommunizieren, sich mitteilen und ihren Gefühlen Ausdruck verleihen. Dies erklärt den hohen Stellenwert von Sexualität in ihrem Leben.

Man versteht heutzutage unter Sexualität nicht nur den genitalen Aspekt. Sexualität meint auch, Kontakt zu anderen zu haben, Beziehungen zu leben, Liebe zu erleben, indem man empfängt und gibt. Unter Sexualität versteht man zwischenmenschliche Kommunikation, den physischen und psychischen Reifeprozess einer Person und auch das Gefühl, Mann oder Frau zu sein, mit allen Gedanken und Handlungen, die dazu gehören. An dieser Stelle kommt der Pädagoge ins Spiel. Ich halte es für eine der wesentlichen Aufgaben eines Sonderpädagogen, geistig beeinträchtigte Menschen im Alltag beim Ausleben und Erleben der eigenen Sexualität zu unterstützen. Es gilt, das Sexualleben in den Alltag zu integrieren und die Sexualität so zu einem Bestandteil des Alltags wie auch des Lebens werden zu lassen – ebenso wie bei Menschen ohne geistige Beeinträchtigung.

1.2. Methodische Vorgehensweise und Abgrenzung

Ich bin mir durchaus bewusst, dass mit nur einer Bachelorarbeit kein kompletter Prozess des Umdenkens und der Veränderung initiiert werde kann. Dennoch halte ich die Problematisierung dieser Thematik für unerlässlich. Aufklärung, Elternschaft und Kinderwunsch sowie Alltagsgestaltung sind Gegenstände, mit denen sich im Verlauf der Arbeit befasst wird.

Die Lebensgestaltungsbedingungen von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung haben in den letzten Jahren eine deutliche Verbesserung und Ausdifferenzierung erfahren. Nichtsdestotrotz erscheint es mir als notwendig, das Sujet der Sexualität in Verbindung mit geistiger Beeinträchtigung als Ganzes zu betrachten und auch die naturgegebenen Folgen wie Schwangerschaft und Elternschaft nicht außer Acht zu lassen.

Dazu möchte ich im Folgenden den theoretischen Unterbau meiner Herangehensweise erläutern - die Theorie des „gelingenderen Alltags“ von Hans Thiersch (vgl. THIERSCH 1978 und 1986).

Nach der Vorstellung ebendieser Theorie folgt im zweiten Kapitel eine Auseinandersetzung mit den Schlüsselbegriffen „Beeinträchtigung“ und „geistige Beeinträchtigung“. Einer definitorischen Annäherung an den Beeinträchtigungsbegriff schließt sich eine genauere Betrachtung der geistigen Beeinträchtigung an, wodurch eine begriffliche Basis für das Folgende geschaffen wird.

Im weiteren Verlauf findet eine Auseinandersetzung mit dem Schlüsselbegriff der „Sexualität“ statt. Beschrieben werden in diesem Konnex sowohl der Terminus selbst als auch der sexuelle Reifeprozess von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Ein besonderes Augenmerk wird zusätzlich auf die Konsequenzen der Beeinträchtigung für die körperliche und psychosoziale Entwicklung gelegt. Ängste werden hier eine zentrale Rolle spielen. Mit ihnen sehen sich beeinträchtigte Menschen immer dann konfrontiert, wenn sie ein unbeschwertes Ausleben ihrer Sexualität anstreben.

Ein zusätzliches Augenmerk werde ich auf wesentliche Handlungsfelder des Sonderpädagogen in diesem Zusammenhang richten. Die besondere Bedeutung der Aufklärungsfunktion soll erörtert werden sowie Problemfelder im Zusammenhang mit Partnerschaft inklusive Schwangerschaft und Elternschaft für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und die sogenannte „beschützte Ehe“ im Mittelpunkt stehen.

Abschließen möchte ich die Arbeit mit einer Betrachtung der sonderpädagogischen Handlungsfelder sowie Ausführungen zur praktischen Alltagsgestaltung von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und dem Ausleben ihrer Sexualität. Dabei kommt es mir besonders darauf an, die Bedeutung des Sonderpädagogen hinsichtlich der Gestaltung eines gelingenden Alltags mit selbstbestimmter Sexualität für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen deutlich zu machen. Den Diskussionsrahmen bilden die eigenen und die institutionellen Grenzen. Letztlich soll deutlich werden, worin konkret die Grenzen und Chancen der diesbezüglichen sonderpädagogischen Interventionsmöglichkeiten liegen, die in einem kurzen Ausblick und Fazit bewertet werden.

1.3. Die Alltagstheorie von Hans Thiersch

Das Alltagskonzept von Thiersch ist u.a. von ihm selbst als auch von Grunwald entwickelt worden (vgl. THIERSCH 1986 sowie GRUNWALD et al. 1996). Demnach soll eine weit gefasste pädagogische Intervention bzw. pädagogisches Handeln in seiner primären Aufgabe dazu beitragen, den Adressaten zu einem „gelingenderen Alltag“ (vgl. THIERSCH 1992) zu verhelfen, sie also bei der Bewältigung und der stückweisen Verbesserung ihres Alltages zu unterstützen. Die Hauptinhalte einer solchen alltagsorientierten pädagogischen Arbeit lauten wie folgt:

-Der Ansatz der Arbeit soll dort greifen, wo die Probleme entstehen, weil nur so ein Verstehen der Situation möglich wird. Es sollen auf diese Weise die in der Alltäglichkeit gegebenen Chancen einer komplexen, betroffenen Handlungsorientierung genutzt und Räume geschaffen werden, in denen sich qualifiziertes Handeln entfalten kann.
-Ziel der Arbeit ist, wie ausgeführt, ein „gelingenderer Alltag“ (THIERSCH 1992: 27). Damit ist gemeint, dass es für den Betroffenen stets ein Stückchen vorangeht. Pädagogen sehen sich vor die Aufgabe gestellt, immer wieder zu motivieren, die Adressaten ihrer Arbeit zu ermuntern, Engagement zu zeigen und auch bei Frustrationen nicht aufzugeben. Ziel ist es, das ganze Subjekt und dessen Alltag zu erreichen.
-Die kritische Selbstreflexion des Pädagogen - über die eigene Funktion und die eigene Arbeitsweise - ist dabei essenziell. Man muss sich der besonderen Grenzen der Alltäglichkeit bewusst sein.

Thiersch öffnet mit dieser Theorie einen kritischen Reflexionsrahmen für die Sozialpädagogik und angrenzende helfende pädagogische Disziplinen, wie die Heil- und Sonderpädagogik. Eine solche alltagsorientierte pädagogische Arbeit versucht mit einem kritischen Alltagskonzept als Hintergrund ein Verknüpfen der Stärken einer institutionalisierten und professionalisierten Arbeitsweise mit dem Bewusstsein von der Struktur und den Bedürfnissen des Alltags der Betroffenen. Die wichtigste Methode auf dem Weg zur Zielerreichung ist eine beständige wechselseitige Kritik der institutionalisierten und professionalisierten Möglichkeiten und dem Alltag in der Person der in ihm Lebenden (vgl. THIERSCH 1986: 48f.). Die pädagogisch Handelnden sollen mit diesem Theorieansatz aufgefordert werden, am Boden zu bleiben, beim Alltag zu bleiben, denn ihr Wirken umfasst ebendiesen Alltag (vgl. ebd.).

1.4. Die Grenzen und Nachteile dieses Ansatzes

Zu fragen bleibt, worin dieser alltagsorientierte Ansatz seine Grenzen hat und worin seine Nachteile liegen.

Auch hierzu hat Thiersch Überlegungen angestellt, die im Folgenden referiert werden.

Zum einen liegen die Grenzen sicherlich in der Unübersichtlichkeit des Alltags. Pädagogen oder Sozialarbeiter müssen aus verschiedenen Aussagen zum Alltag der jeweiligen Person ein Gesamtbild entwickeln können. Hiermit ist oftmals ein hoher Zeitaufwand verbunden.

Dem Pädagogen muss zudem trotz der geforderten starken Vertrautheit mit dem Alltag der Klienten eines bewusst sein: Er kann und soll zwar immer den Menschen bejahen, sich aber mit den Taten, den Problemen nie identifizieren. Die Trennung sollte er zu seinem Selbstschutz etablieren, zumal das Eindringen in den Alltag der Betroffenen nicht eine Annahme dieses Alltags mit all seinen Konsequenzen zur Folge haben darf. Dies ist eine sehr bedeutende Grenze des Konzeptes einer alltagsorientierten Sozialarbeit, denn sie engt die von Thiersch geforderte Alltagsorientierung stark ein.

Weiterhin steht eine sich dem Alltag zu weit öffnende Pädagogik in der Gefahr, ihre spezifischen, institutionellen und professionellen Ressourcen zu verspielen und nicht zur Arbeit an einem „gelingenderen Alltag“ beizutragen.

Zusätzlich besteht das Problem, dass der Verzicht auf methodisches Handeln und auf Reflexion aufgrund des Wirkens an zu vielen Anknüpfungspunkten und Zielsetzungen gleichzeitig Ineffektivität zeitigen kann. Das Aufgeben professionellen Selbstbewusstseins kann für den Pädagogen bedeuten, sich in schwierige und schwer auszuhandelnde Konkurrenz zu Betroffenen oder Ehrenamtlichen zu begeben.

Außerdem kann auch vorkommen, dass der Pädagoge die Chancen von Distanz und Provokation nicht nutzt. Ein Einlassen in den Alltag des Adressaten macht es erforderlich, von diesem angenommen und akzeptiert zu werden. Er möchte sein, was er nicht ist – ein Mensch im Alltag wie jeder – und traut sich nicht zu, das zu praktizieren, was seinem Können und den Umständen entspricht. Somit wird sein Handeln selbst und in der Folge die ganze Situation undefiniert, undeutlich und belastend in einem (vgl. ebd.). Thiersch schreibt hierzu:

„Intimität und Intensität alltagsorientierter Sozialarbeit wird zum Agent totaler Kontrolle, wenn sie sich nicht selbst, im Wissen um ihr machtbesetztes institutionell-professionelles Anderssein, begrenzt, zurückhält, raushält“ (ebd.: 48).

Jedoch formulieren auch andere Autoren Kritik und sehen Schwachpunkte im alltagsorientierten Ansatz. Beispielsweise setzt Schulzes Kritik (vgl. SCHULZE 1996) bereits bei der Semantik des Alltagsbegriffes an, da dieser im Kontext der Umgangssprache natürlich anders gebraucht wird als im pädagogisch-soziologischen Kontext. Alltag beschreibt für ihn eher eine Struktur als eine Intention. Es gibt nämlich keine Verbform, die eine alltagsbezogene Tätigkeit bzw. keine Substantivierung, die eine hiermit in Beziehung stehende Berufsbezeichnung ausdrückt, also nicht etwa: „Ich alltägliche“ (ebd.: 72) oder „die Alltäglicherin“ (ebd.). Schulzes Beanstandung gilt darüber hinaus dem Umstand, dass der Alltagsbegriff zwar durchaus konkret und unmittelbar verständlich scheint, aber bei genauem Hinsehen gerade gegenüber dieser Selbstverständlichkeit Vorsicht geboten ist. Der Alltagsbegriff tendiert zur Reduktion, indem er andere - vielleicht bessere Lebensmöglichkeiten - durch seine Selbstverständlichkeit überdeckt. „Er lenkt den Blick auf das Zum-Überleben-Notwendige, auf die zuverlässige Grundlage für weiterreichende Aktivitäten, Wünsche und Unternehmungen und das heißt: auf elementare Bedürfnisse“ (ebd.). Schulze resümiert, dass Alltag zum Gegenbegriff wird, der von vornherein eine kritische Betrachtungsweise erfordert. Er wird dialektisch aufgeladen und damit zwielichtig: „Er meint etwas und meint das Gegenteil“ (ebd.). Alltag wird mit einem moralischen Anspruch ausgestattet und zur Aufgabe stilisiert. Befangenheit und Äußerungen ohne deutliche inhaltliche Benennungen resultieren.

Abschließend legt Schulze das Statische des Alltagsbegriffs, genauer, die Tatsache, dass er einen Zustand und nicht eine Entwicklung beschreibt, dar. Es sind zwar durchaus Entwicklungen und Entwicklungsansätze innerhalb und mit ihm denkbar, diese müssen aber immer hinzugedacht werden. Summa summarum ist der Alltagsbegriff laut Schulze einfach zu schlicht, um ihm ohne Hinzusetzen anderer Elemente seine Bedeutung und seine theoretischen Implikationen anzumerken.

1.5. Das Dennoch einer alltagsorientierten Annäherung

Als Fazit lässt sich Folgendes diagnostizieren: Hans Thiersch liefert mit seiner theoretischen Annäherung an die Sozialarbeit eine Struktur derselbigen. Seine theoretischen Konstruktionen bedürfen allerdings einer Adaptation durch die Praxis. So betont Liebau die Universalität des Ansatzes und bezeichnet es als „ein vorpädagogisches, wenn man so will, ein philosophisches oder auch politisches Konzept“, das, „um pädagogisch fruchtbar zu werden, in jedem Fall der Konkretisierung bedarf“ (LIEBAU 1996: 121ff).

Es ergibt sich eine Vielzahl von Zugangsmöglichkeiten. Die genaue professionelle Ausgestaltung, das „Wie“, lässt Thiersch offen, sagt aber, dass eine alltags- und lebensweltorientierte pädagogische Arbeit durchaus einen professionellen Unterbau besitzt. Noch zu Lebzeiten wurde sein Ansatz zum – u.a. von Engelke (vgl. ENGELKE 1999: 325-328) so bezeichneten – Klassiker. Er öffnet einen weiten Fokus hinsichtlich der Rekonstruktion heil- und sonderpädagogischer Elemente in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Beeinträchtigung.

Trotz der aufgezeigten Nachteile und Schwierigkeiten halte ich diesen Theorieansatz aus folgenden Gründen für die Herangehensweise an die vorliegende Arbeit für geeignet: Wo sonst, wenn nicht in der alltäglichen Lebenssituation der Adressaten helfender und unterstützender pädagogischer Intervention, kann man deren Erfolg ableiten? Das trifft vor allem für einen derart ungenauen und komplexen Gegenstand zu, wie es die Sexualität von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ist.

Ein Insistieren auf einer alltagsorientierten Betrachtung öffnet einen Rahmen der professionellen Ausgestaltung, der für die Klärung sich aufdrängender Fragen notwendig ist, die unter anderem wie folgt lauten: Warum können wir nicht einfach geistig beeinträchtigte Menschen und ihre dazugehörige Sexualität als Bestandteil deren Alltags akzeptieren? Ist die kausale Verknüpfung darin zu suchen, dass diese „andersartige“ Sexualität nicht unserer Norm entspricht oder darin, dass wir unsere eigenen Ängste auf die beeinträchtigte Person projizieren?

Die Anmerkungen von Liebau zu Thierschs Ansatz befürworten die Vorgehensweise, den Inhalt der vorliegenden Arbeit auf Thierschs Gedanken aufzubauen:

„Gelingender oder auch nur gelingenderer Alltag (...). Das Konzept ist, jedenfalls dem Ansatz nach, universell; es schließt niemanden aus. Alle Menschen, große und kleine, sind hier gemeint. Dementsprechend ist es auf die unterschiedlichsten Praxisfelder beziehbar (...). Das ist einerseits eine Stärke, andererseits aber vielleicht auch eine Schwäche des Konzeptes: es ist zunächst einmal nicht spezialisiert (...)“ (LIEBAU 1996: 12).

Außerdem verweist Liebau darauf, dass das Konzept einen allgemeinen Wahrnehmungs- und Deutungsrahmen bietet, der die Aufmerksamkeit des Pädagogen lenkt. Ebenso beinhaltet es eine allgemeine Perspektive, bedarf aber, wie zuvor erläutert, in jedem Fall der Konkretisierung. Und eben eine solche Konkretisierung, in der zum Ausdruck kommen soll, dass der Eigensinn der darin enthaltenen Praxis durch Wissenschaft nicht entwertet werden darf, soll im Rahmen dieser Arbeit aufgezeigt werden.

Der weite, hier zugrunde gelegte Begriff von Pädagogik wird benötigt, um alle Erscheinungsformen derselbigen erfassen zu können. So können in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Beeinträchtigung die relevanten Handlungsfelder identifiziert werden.

Abschließend und zusammenfassend versucht eine am Alltag ihrer Klientel orientierte Sonder- und Sozialpädagogik, Probleme stets in der Komplexität des Alltags der Betroffenen zu lösen. Der professionell handelnde Pädagoge sieht und akzeptiert vorhandene Erfahrungen, Interpretationen, Lösungsstrategien und Möglichkeiten. Dabei nimmt er keine Beschränkungen hinsichtlich Alter, Geschlecht oder Lebensumständen bzw. sozialen Bezügen der Adressaten vor, sondern besitzt vielmehr im Sinne des alltagsorientierten Ansatzes die Professionalität, den Alltag „stellvertretend zu deuten“ (vgl. OEVERMANN 1983: 141f., vgl. DEWE 1988: 256), um die hieraus gewonnenen Erkenntnisse wieder in den Alltag zurückfließen zu lassen. Somit arbeitet er in Solidarität mit den Vorhaben und Möglichkeiten, die sich im Alltag der Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zeigen. Nicht zu vernachlässigen ist dabei das Erledigen auch einfachster Handreichungen durch den Pädagogen. Freundliches Auftreten und Menschenwürde als oberster Maßstab allen Tuns sind unabdingbare Voraussetzungen (vgl. BMFSFJ 1999: 23, vgl. ANTOR/ BLEIDICK 2000: 77-78).

[…]

Ende der Leseprobe aus 48 Seiten

Details

Titel
Ein gelingender Alltag als Ziel: Sexualität im Kontext geistiger Beeinträchtigung
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
48
Katalognummer
V262981
ISBN (eBook)
9783656528715
ISBN (Buch)
9783656531074
Dateigröße
644 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
sexualität, menschen, beeinträchtigung
Arbeit zitieren
Eva Schürmann-Lanwer (Autor:in), 2010, Ein gelingender Alltag als Ziel: Sexualität im Kontext geistiger Beeinträchtigung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262981

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