Die NATO im 21. Jahrhundert

Hat die NATO zwischen Transformation und sich stetig ändernden sicherheitspolitischen Anforderungen eine Zukunft als bedeutsamer Akteur des 21. Jahrhunderts?


Bachelorarbeit, 2013

57 Seiten, Note: 2,0

Maximilian Frescher (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Eine Allianz im Wandel: theoretische Erklärungsansätze
2.1. Realistische/Neorealistische Ansätze
2.2. Ansätze des neoliberalen Institutionalismus
2.3. Konstruktivistische Ansätze

3. NATO-Historie
3.1. Exkurs: Das Konzept kollektiver Sicherheit
3.2. Entwicklungsphasen der NATO bis heute
3.2.1. NATO I: 1949 bis 1989
3.2.2. NATO II: 1990 bis 1999
3.2.3. NATO III: 1999 bis heute

4. Politische und militärische Strukturen der NATO
4.1. Die politische Struktur der NATO
4.2. Die militärische Struktur der NATO

5. NATO: Wandel ihrer Aufgaben im Rollenfindungsprozess
5.1. Die Osterweiterung der NATO
5.2. Kampfeinsätze der NATO
5.2.1. Von „out of area“ zu „out of treaty“ ?
5.2.2. „Humanitäre Intervention“ als völkerrechtliche
Problematik
5.2.3. Operative Praxis: Von Bosnien-Herzegowina bis
nach Libyen
5.3. Partnerschaftsprogramme der NATO
5.4. Schlussbemerkung zum Rollenfindungsprozess

6. Schlussbemerkung

7. Literatur- und Quellenverzeichnis

8. Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

9. Abkürzungsverzeichnis

10. Anhang
10.1. NATO Vertrag

1. Einleitung

Anhänger der neorelaistischen Theorie internationaler Politik prognostizierten mit dem Zusammenbruch des bilateralen Systems Anfang der 1990er Jahre auch der NATO ein jähes Ende. Es sei nur eine Frage der Zeit wie lange sie noch als bedeutsamer Akteur und Sicherheitsinstitution im internationalen System erhalten bleibe. Dennoch, fast 25 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, existiert die NATO noch immer in einer Schlüsselfunktion für transatlantische Sicherheit weiter. Kaum vorstellbar, hatte man erwartet, dass den dramatischen Veränderungen und dem Strukturbruch durch das Ausscheiden des Warschauer Pakts aus der internationalen Politik auch die zweite Institution der alten Konstellation zum Opfer fallen würde. [1] Doch, so muss man gestehen, hat die neue NATO nicht mehr viel mit der alten gemein. Während der grundlegende Sicherheitsaspekt der NATO bei ihrer Gründung noch um die territoriale Verteidigung, Abschreckung und auch die Behauptung der Souveränität war, sind diese Aspekte mehr und mehr in den Hintergrund gerückt. [2] Hatte sich die ‚NATO II‘ nach dem Ende des Ost-West-Konflikts weiter nach Osten ausgedehnt, transformierte sie sich als ‚NATO III‘ in ein Operationsbündnis, das eine Vielzahl von Akteuren und Entwicklungen entgegentreten konnte, die die NATO vielleicht nicht existentiell, aber dennoch in besonderer Hinsicht bedrohten. Der scheidende amerikanische Vertreter der Allianz Ivo Daalder spricht im Vorgriff auf den Abzug der Truppen aus Afghanistan von der NATO IV, einer Versicherungspolice gegen militärische Überraschungen. [3]

Doch stellt sich die Frage, ob die Allianz überhaupt einen weiteren Wandel vollziehen kann, ohne daran zu zerbrechen. Hierzu soll unter Mithilfe des Neorealismus, des neoliberalen Institutionalismus und des Konstruktivismus analysiert werden, wie es um die NATO nach 23 Jahren wechselnder strategischer Konzepte und Ausweitungen ihrer Aufgabenbereiche steht und welchen Einfluss diese auf die Wahrnehmung der NATO durch die Mitgliedsstaaten selbst hatten.

Hierzu sollen zuerst die theoretischen Konzepte vorgestellt und auf die Situation der NATO in ihrem Prozess der Rollenfindung seit 1990 bezogen werden. Anschließend soll die Geschichte der NATO seit ihrer Gründung dargestellt werden, um den fortlaufenden Veränderungsprozess des Bündnisses zu verdeutlichen.

Es soll die Frage geklärt werden: Hat das transatlantische Bündnis überhaupt eine Zukunft als bedeutsamer Akteur internationaler Politik oder sollen die Anhänger neoklassischer Theorie doch Recht behalten und die NATO befindet sich bereits in einem andauernden Auflösungsprozess?

Anschließend an die theoretischen Konzepte wird in der Arbeit im zweiten Kapitel zunächst das grundlegende Konzept zur Gründung von Regionalbündnissen, die kollektive Sicherheit, eingeführt, um aufbauend die Entwicklung der NATO anhand dreier großer Phasen darzustellen. Deren Kenntnisse sind für das Verständnis der künftigen NATO fundamental. Im dritten Kapitel soll eine Einführung in die militärischen und politischen Strukturen der NATO zum Verständnis der Entscheidungsfindung und Hierarchiestrukturen innerhalb der NATO beitragen, bevor im vierten Kapitel die Phasen der NATO in ihrem Rollenfindungsprozess und den neuen strategischen Konzepten dargestellt werden. Genauer handelt es sich dabei um den Prozess der Osterweiterung, theoretische wie praktische Probleme der operativen Praxis sowie die Partnerschaftsprogramme der NATO. Abschließend sollen die Erkenntnisse in einer Schlussbemerkung resümiert und in Hinblick auf die Leitfrage zusammengefasst werden.

2. Eine Allianz im Wandel: theoretische Erklärungsansätze

Betrachtet man den im nachfolgenden Verlauf der Arbeit beschriebenen Wandel in nahezu allen Politikfeldern der NATO, so verlangt dieser nach einer Erklärung. Die fortlaufende Relevanz der NATO lässt sich nur durch das anhaltende Engagement seiner Mitglieder als Reaktion auf das sich strukturell verändernde sicherheitspolitische Umfeld zurückführen. Um diese Entwicklung anhand theoretischer Erklärungsansätze begreiflich machen zu können, kann auf verschiedene Theoriestränge internationaler Beziehungen zurückgegriffen werden. Neben dem Neorealismus und dem neoliberalen Institutionalismus, welche zu den einflussreichsten Denkschulen im Forschungsbereich der internationalen Politik zählen, bietet auch der Konstruktivismus hilfreiche Thesen, welche im folgenden Kapitel vorgestellt werden sollen. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass nicht eine Theorie am Ende die vermutlich ‚besten‘ Erklärungsansätze liefern wird, sondern dass alle drei Ansätze zu einem Erkenntnisgewinn beitragen können.

Während der Realismus/Neorealismus versucht, den Zusammenhang von Bedrohungen und Allianzkohäsion zu fokussieren, betrachtet der neoliberale Institutionalismus genauer, welchen Mehrwert die Mitgliedsstaaten durch die Anpassung der Institution an die veränderten Gegebenheiten erhalten könnten. Der Konstruktivismus hingegen befasst sich im Besonderen mit der kollektiven Identität der Mitgliedsstaaten und dessen Einfluss auf eine etwaige institutionelle Loyalität. [4]

2.1 Realistische/Neorealistische Ansätze

Die Grundannahme des Neorealismus, dem auch die klassischen Allianz-, Koalitions-, oder Bündnistheorien zugeordnet sind, betrachtet Staaten als rational orientierte und handelnde Akteure im Bestreben ihr Eigeninteresse zu behaupten. Ziel ist es, in einem anarchisch strukturierten internationalen System, ohne übergeordnet regulierende Instanz, das eigene Überleben zu sichern. Demnach also ist das Verhalten der Staaten im System durch die vorhandenen Strukturen bestimmt. Unter den gegebenen Voraussetzungen ist staatliches Handeln weiter durch das Sicherheitsdilemma terminiert. Durch die Unsicherheit, ob ein Nachbar jetzt oder in Zukunft feindseliges Verhalten an den Tag legt, versucht ein Staat stetig sein eigenes Kapital an Macht zu vergrößern, um unabhängig überleben zu können. „States regard capabilities as the ultimate basis for their security because of the difficulties in gauging the future intention of other states.” [5] Das Sicherheitsdilemma besteht nun darin, dass eben dieses Verhalten von anderen Staaten wiederum als Bedrohung wahrgenommen wird. Begründet liegt das darin, dass Macht im internationalen System als Nullsummenspiel wahrgenommen wird. Ein Machtzuwachs einer Partei bedeutet gleichzeitig einen Machtverlust einer anderen. Die zu erwartende Bedrohungs- und Rüstungsspirale widerspricht dann dem eigentlichen Interesse einer balance of power bzw. einer balance of threat. Die Möglichkeit, dem System durch Allianzen entgegenzutreten, da man nie in der Lage sein wird, vollständige Informationen über die Absichten und Intentionen seiner Partner zu sammeln und so zwangsläufig über externe Partnerschaften nachdenkt, wird durch das Sicherheitsdilemma teilweise wieder reduziert. Zwar kann man sich kurzfristig auf den Mehrwert der Allianz verlassen, aber letztendlich bleibt ein Staat darauf bedacht, in einer Allianz dem Partner nicht mehr relativen Machtzuwachs zukommen zu lassen, als für sich selbst möglich ist. Es fehlt die Sicherheit, dass dieses ‚mehr‘ an relativem Machtzuwachs in Zukunft nicht gegen einen selbst verwendet werden kann. Beispielsweise die Verpflichtung zu kollektiver Verteidigung aber stellt nicht nur eine Möglichkeit zu Machtakkumulation dar, sondern bedeutet gleichzeitig einen massiven Verlust nationaler Autonomie. Somit muss von jeder Partei gründlich abgewogen werden, ob der Zugewinn an Sicherheit durch Kooperationen den Verlust an nationaler Handlungsfreiheit aufwiegen kann. Dennoch gehören Allianzen und Bündnisse in verschiedensten Formen zu den wichtigsten Instrumenten von Staaten, um im durch Unsicherheit bestimmten anarchischen System ihre Existenz zu sichern. [6] In Defensivbündnissen, so die Annahme entlang der klassischen Allianztheorie, verbünden sich Staaten, weil ihre allgemeinen Gesellschaftsordnungen auf gemeinsamen Wertevorstellungen basieren, sie die balance of power erhalten oder wiederherstellen wollen, und/oder sie aufgetretene Bedrohungspotenziale auszubalancieren versuchen. [7]

Nach Theiler werden Staaten den durch Bündnisse generierten Autonomieverlust nur solange dulden, wie aufgrund der Bedrohung der Zugewinn an Sicherheit die nationalen Interessen überwiegt. „ Bei einer nachlassenden Bedrohungssituation [wird] der Wunsch der Staaten nach Autonomie über die machtpolitische Notwendigkeit zur Allianzbildung siegen und das Bündnis im Endeffekt an den divergierenden nationalen Interessen seiner Mitglieder zerbrechen.“ [8]

Andere Vertreter Realistischer Denkansätze hingegen bestreiten, dass eine Reduzierung der Bedrohungslage automatisch mit der Auflösung der Allianz einhergehen muss. Stattdessen verweisen sie darauf, dass der Fortbestand einer Allianz ohne einen Bedrohungsfaktor und über ihren Zweck hinaus nicht innerhalb dieses theoretischen Konzepts erklärbar sei. Walt beschreibt es damit, dass the smaller the threat, the less cohesive an strong the alliance will be” [9] und führt weiter fort, “ because realism sees alliances as primarily a response to external threats, the absence of a major threat will inevitably weaken the glue binding the member states together, and will allow previously suppressed conflicts of interests to reemerge ”. [10]

Das Ende des Kalten Krieges beschreibt den praktischen Fall eines solchen Szenarios. Mit der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts verlieren die Mitgliedsstaaten die ursprüngliche externe Bedrohung und die NATO ihre Funktion als Gegenpol im bilateralen System, also faktisch ihre existenzielle Bedeutung für ihre Mitglieder. Geht man davon aus, dass anders als einige Vertreter der Realistischen Denkschule postulierten nicht automatisch das Ende der NATO eingeläutet wird, so muss sich dennoch eine gravierende Veränderung der inneren und äußeren Wahrnehmung des Bündnisses nachweisen lassen, da nachweislich keine neue Bedrohung ähnlichen Ausmaßes an die Stelle des Warschauer Pakts getreten ist. [11]

In der Tat liefert insbesondere das nachfolgende Kapitel 4 zahlreiche Hinweise, die diese These unterstützen. Die operativen Einsätze der NATO seit 1990 zeigen immer wieder deutliche Meinungsverschiedenheiten der Mitglieder untereinander auf. Diese resultieren in besonderem Maße aus der Tatsache, dass eine sehr heterogene Masse an Meinungen darüber besteht, welche Einsätze zu welchen Kosten letztendlich wirklich in den Handlungsbereich der NATO fallen. Das Fehlen einer direkten Bedrohung für die eigenen Staats- und Gesellschaftsformen, die eigene Bevölkerung oder das Territorium der NATO differenzieren die Ansichten bezüglich möglicher und realer Kosten eines Einsatzes unter den Mitgliedern erheblich. Diese Tatsache gestaltet es fast unmöglich eine gemeinsam gewählte Strategie in der Praxis kohärent durchzusetzen. Als besonderes Beispiel hierfür dient die ISAF Mission in Afghanistan. In weniger ausgeprägter Form sind die grundlegend heterogenen Meinungen auch im Vorfeld des Osterweiterungsprozesses und in Teilen der Partnerschaftsprogramme nachzuweisen. Zusammengenommen, auch wenn dies in der Arbeit nicht explizit behandelt wird, zeigt sich diese Problematik in allen (neuen) strategischen Konzepten der NATO bezüglich ihrer zukünftigen Ausrichtung. Dies verdeutlicht, dass es starke Anzeichen für einen Zusammenhang zwischen der Kohäsion einer Allianz und der bestehenden externen Bedrohungslage geben muss.

2.2 Ansätze des neoliberalen Institutionalismus

Auch wenn dem Realismus für allgemeine Theorien der internationalen Beziehungen sowie für die Allianztheorie im Besonderen große Leistungen nachgewiesen sind, so zeigt sich dennoch, dass er in vielen Fällen einfach zu mechanisch und eingeschränkt agiert. Im neoliberalen Institutionalismus wird versucht, diese Probleme und Schwachstellen des Neorealismus aufzugreifen und aufzuheben. Er erweitert das bisherige Spektrum der staaten- und machtorientierten Analyse des Realismus mit seinen Annahmen eines anarchischen internationalen Systems und erweitert diese um institutionstheoretische Aspekte. [12] Es wird davon ausgegangen, dass staatliches Verhalten demnach, auch in Bereichen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, zu einem hohen Grad von der bestehenden institutionellen Ordnung abhängt. Weiter besitzen laut des neoliberalen Institutionalismus die institutionellen Regeln, Normen und Verfahren einen Kooperationsmehrwert für die beteiligten Staaten einer Allianz, da diese das Sicherheitsdilemma unter ihnen abschwächen oder auflösen können. Die institutionelle Kooperation hat demnach also entscheidende Rückwirkungen auf die weitere Interessensdefinition eines Staates. [13] Da Staaten ihrerseits also in Institutionen investieren, ergibt sich daraus zwangsläufig, dass sie selbst ein Interesse daran entwickeln, den geschaffenen Kooperationsmehrwert auch im Lichte neuer Rahmenbedingungen weiter zu erhalten. Gesetzt der Annahme, dass die Aufbaukosten einer neuen Institution die Kosten [14] einer institutionellen Reform deutlich übersteigen, so ist es zu erklären, dass Institutionen auch Zeiten von Ineffizienz [15] überdauern können. [16]

Darüber hinaus ist anzunehmen, dass ein hoher Grad an Institutionalisierung ebenso mit der Entstehung eines großen Teils von Bürokratie einhergeht. Diese wiederum hat im Zuge des Selbsterhaltungstriebs ein Eigeninteresse daran, das eigene Fortbestehen sowie die Weiterentwicklung der Institution selbst zu fördern. Das bedeutet für einen hohen Grad an Institutionalisierung, dass the more highly institutionalized the alliance, the more likely it is to endure even in the face of a significant shift in the array of external threats”. [17]

Betrachtet man nun unter diesen Annahmen die Neuausrichtung der Institution NATO, mit der sie auf die geänderten sicherheitspolitischen Anforderungen und Probleme reagiert hat, so erhält sie dadurch einen Kooperationsmehrwert für ihre Mitglieder. Als besonderes Beispiel hierfür werden oftmals die Osterweiterung und der damit einhergehende Stabilitäts- und Sicherheitstransfer in die MOE-Staaten ins Feld geführt. [18] Gleichermaßen fungiert aber auch die Ausweitung der Kernkompetenzen von einem reinen Verteidigungsbündnis hin zu einem strategischen Krisenmanager kollektiver und kooperativer Sicherheit, als passendes Beispiel einer Anpassungsleistung zur Generierung eines Kooperationsmehrwerts. Theiler resümiert daraus, dass die NATO als Sicherheitsinstitution bestehen und ihre zentrale Bedeutung für die europäische Sicherheitsordnung behalten könne, da sie durch ihre jüngsten Reformen in der Lage sei, weiterhin wichtige nationale Interessen ihrer Mitgliedsstaaten zu befriedigen und somit deren grundsätzliches Interesse an einer Fortsetzung der sicherheitspolitischen Kooperation erhalten könne. [19]

Ausschlaggebend ist weiterhin zu beachten, dass das internationale sicherheitspolitische Umfeld der NATO auch weiterhin einem stetigen Wandel unterliegen wird. [20] Daraus resultierend muss die NATO auch in Zukunft immer wieder ihre Anpassungsfähigkeit an das veränderte sicherheitspolitische Umfeld beweisen um die existenziell notwendige Bedeutung für ihre Mitglieder nicht zu verlieren. Problematisch aber gestaltet sich, sollte sich im Zuge der Anpassungsprozesse auch die Berechenbarkeit ihrer Mitglieder reduzieren. Dies würde einen erreichten Kooperationsmehrwert der Institution durch den Verlust ihrer Handlungsfähigkeit wiederum verwerfen. Der Kooperationsgewinn der Mitgliedsstaaten würde deutlich sinken, sollte die NATO nicht mehr in der Lage sein verlässliche und stabile Verhaltensmuster an den Tag zu legen. Ebenso zeigt sich, dass die Osterweiterung, wie auch die Partnerschaftspolitik, inzwischen bereits an ihre strukturellen Grenzen gestoßen sind. Zusätzlich kann ein zusätzlicher Kooperationsmehrwert einer weiteren Ausdehnung durchaus bezweifelt werden.

Resümierend lässt sich entgegen der allgemeinen Annahme also festhalten, dass die NATO den Wandel nicht zum Selbstzweck auf der Suche nach einer belastbaren Rolle vollzieht, um ihre eigene Relevanz zu unterstreichen, sondern Wandel und Anpassung existenzielle Bedeutung für den Kooperationsgewinn der NATO-Mitgliedsstaaten aufweisen. [21]

2.3 Konstruktivistische Ansätze

Die Schule des Konstruktivismus und des neoklassischen Institutionalismus liegen in ihren spezifischen Annahmen nahe beieinander. Der Konstruktivismus jedoch übersteigt den neoklassischen Institutionalismus in Hinblick auf den Einfluss von Institutionen gegenüber Staaten deutlich. Im Konstruktivismus, so die Annahme, wird die Identität ihrer Mitglieder, also ihre Interessen wie auch ihr Verhalten, durch die Institution selbst geprägt. Daraus resultiert, dass Interessen nicht mehr als fix und unveränderbar betrachtet werden können, sondern vielmehr als endogener Bestandteil der theoretischen Konzeption verankert sind. Somit kann die NATO unter Berücksichtigung des Konstruktivismus auch nicht auf eine Abrechnungsstelle nationaler Interessen und Werte reduziert werden, die einzig das nötige Forum zur Konsultation stellt. Vielmehr impliziert die Denkrichtung die Annahme, dass gleiche Werte sowie eine gemeinsame Kultur Grund genug für eine fortgesetzte Kooperation zwischen Staaten liefern können, auch wenn eine explizite externe Bedrohungslage nicht existent ist. [22] Teil dessen ist die Schaffung einer ‚Sicherheitsgemeinschaft‘ durch den Sozialisierungsprozess. Dieser, so die These, schafft durch den ständigen Austausch im Rahmen der Institution eine kollektive Identität. Weiter werden die vorhandenen Normen durch Interaktion internalisiert und gestärkt. Dies zusammengenommen verschafft den Mitgliedsstaaten einen hohen Grad an institutioneller Loyalität. [23] Die implementierte Pfadabhängigkeit der Annahme zeigt auf, dass eine bestehende Kooperation in Zukunft zu mehr Kooperation führen würde und sich demnach eine stetig steigende kollektive Identität der Mitgliedstaaten abzeichnen ließe.

Auf diese Weise lässt sich die Dauerhaftigkeit der NATO im internationalen System vielleicht besser und genauer analysieren als es unter Annahme des neoliberalen Institutionalismus möglich gewesen wäre.

Zu einem Bruch der Pfadabhängigkeit und einer sinkenden Kohäsion der Allianz kenn letztendlich nur ein Bruch der Normen durch einen oder mehrere Mitgliedsstaaten führen. Kommt es zu einer differenten Wahrnehmung über die gleichverteilte Belastung innerhalb des Bündnisses, wird nicht nur hinterfragt, welches Verhalten normal, bzw. die Norm ist, sondern es wird zeitgleich die gemeinschaftliche Identität hinterfragt. Reagiert ein kritisierter Staat mit einem Anpassungsprozess, so löst sich die Problematik auf. Reagiert er hingegen auf die Kritik mit einem Emanzipationsprozess, so schwächt dieser automatisch die institutionelle Bindung der gesamten Allianz. [24]

Beispielhaft hierfür dient im Fall NATO die Kritik an den deutschen Beiträgen in Afghanistan sowie die Zurückhaltung im Libyenkonflikt. Die Annahme einiger Mitgliedsstaaten, Deutschland leiste keinen angemessenen Beitrag an der ISAF Mission und werde auf diese Weise seinen Verpflichtungen gegenüber der Allianz nicht gerecht, dient als gutes Beispiel von kollidierenden Normen innerhalb eines Bündnisses unter Berücksichtigung konstruktivistischer Theoriebildung. Signalisierte der Beitrag Deutschlands an der ISAF Mission aus nummerischer Sicht immer einen signifikant hohen Anteil und kann vordergründig als der Norm entsprechend eingestuft werden, so zeigen eine Reihe von Analysen hingegen erhebliche Dissonanzen zwischen den aus der NATO Strategie folgenden Erfordernissen und dem was Deutschland bereit zu leisten scheint. Daraus resultierend wurde der Wert Deutschlands als verlässliches Mitglied innerhalb des Bündnisses in Frage gestellt. Besonders die Staaten die hohe Verluste ihrer Soldaten in Afghanistan hinnehmen mussten [25] drängten die Bundesregierung dazu, bestehende politische Beschränkungen bzgl. des Bundeswehreinsatzes zurückzufahren und die notwendigen Risiken mit den anderen Staaten zu teilen, um die Mission nicht nachhaltig zu gefährden. [26] Deutschland reagierte und bot an, die Führung im Norden des Landes zu übernehmen. Nach dem scheidenden US-amerikanischen Botschafter der NATO Ivo Daalder resultierte diese Entscheidung aber nicht auf amerikanischen Druck: „Damit haben wir nichts zu tun. Es liegt im deutschen Interesse, so zu handeln“. [27]

Schenkt man der Aussage glauben, so erklärt es aus konstruktivistischer Sicht, wie die Bundesrepublik Deutschland auf die Kritik mit einem Anpassungsprozess reagiert hat und somit die gemeinschaftliche Identität wieder herstellen konnte.

[...]


[1] Vgl. Woyke, Varwick 2000: 13.

[2] Vgl. Giegerich 2012: 7.

[3] Vgl. FAZ 2013.

[4] Vgl. Giegerich 2012: 107f.

[5] Zitiert Hellmann, Wolf 1993: 9.

[6] Vgl. Theiler 2003: 17-20.

[7] Vgl. Wolf 1992: 4.

[8] Zitiert Theiler 2003: 22.

[9] Zitiert Walt 2000: 13

[10] Zitiert Walt 200: 21.

[11] Vgl. Giegerich 2012: 110f.

[12] Vgl. Theiler 2003: 29.

[13] Vgl. Varwick 2008: 79.

[14] Kosten sind hier aus spieltheoretischer Sicht definiert. Das heißt sie umfassen neben den finanziellen Kosten beispielsweise auch weitere Faktoren wie Zeit und Anstrengungen.

[15] Ineffizienz einer Institution kann beispielsweise im strukturellen Wandel des internationalen Systems begründet liegen.

[16] Vgl. Giegerich 2012: 111.

[17] Zitiert Walt 2000: 15.

[18] Vgl. Giegerich 2012: 112.

[19] Vgl. Theiler 2003: 37f.

[20] Die Statik des Kalten Krieges durch Blockbildung in einem bilateralen System ist historisch betrachtet eine absolute Ausnahme im System internationaler Beziehungen.

[21] Vgl. Giegerich 2012: 113.

[22] Giegerich 2012: 114f.

[23] Adler, Barnett 1998: passim.

[24] Berenskoetter, Giegerich 2010: 423-426

[25] Hier zu nennen wären u.a. Die USA, Großbritannien, Kanada und die Niederlande.

[26] Vgl. Giegerich 2012: 114-116.

[27] Vgl. FAZ 2013.

Ende der Leseprobe aus 57 Seiten

Details

Titel
Die NATO im 21. Jahrhundert
Untertitel
Hat die NATO zwischen Transformation und sich stetig ändernden sicherheitspolitischen Anforderungen eine Zukunft als bedeutsamer Akteur des 21. Jahrhunderts?
Hochschule
Universität Bielefeld  (Fakultät für Soziologie)
Note
2,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
57
Katalognummer
V262875
ISBN (eBook)
9783656568278
ISBN (Buch)
9783656568254
Dateigröße
986 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
nato, jahrhundert, transformation, anforderungen, zukunft, akteuer, jahrhunderts
Arbeit zitieren
Maximilian Frescher (Autor:in), 2013, Die NATO im 21. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262875

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