Das Fahrrad. Ein technisches Artefakt der Pädagogik


Seminararbeit, 2012

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Zu den Dingen
2.1. Geburt des Fahrrades
2.2. Moderne Entwicklungen
2.3. Verschmelzung von Körpern und Dingen

3. Den Gebrauch von Dingen lernen
3.1. Können-Lernen & Wissen-Lernen
3.2. Praxis mit Dingen im Sinne der Peirceschen Trichotomie
3.3. Lernen mit den Dingen am Beispiel des Radfahrens

4. Zusammenfassung

5. Literaturverzeichnis

1. Einführung

„Das Subjekt der Neuzeit begreift sich vor allem vom Denken her. Es sieht, riecht, schmeckt, hört oder fühlt das Ding nicht, es urteilt, daß das Ding so oder so ist. Es unterwirft die Dinge seiner Ordnung und eliminiert Überschüsse.“1

Wir leben in einer Welt voller Dinge. Doch sind wir uns dessen überhaupt noch bewusst? Wenn wir morgens aufstehen und uns die Zähne putzen, die Zeitung lesen oder mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, sind wir von Dingen umgeben. Was Käte Meyer-Drawe mit diesem Satz ausdrücken möchte, ist dass die Dinge unserer Welt sowie deren bildende Bedeutung in Vergessenheit geraten sind.

Grundlage dieser Arbeit ist ein Seminar „Zur Pädagogik der Dinge“, in dem es darum ging sich der Dingwelt zu öffnen und deren pädagogische Bedeutung zu erkennen. Für einige mag sich diese Idee zunächst absurd anhören, doch es gibt diverse Dinge unseres Alltags, die eine erzieherische Wirkung auf uns haben. Betrachten wir beispielsweise Bürostühle. Viele Stühle haben eine ergonomische Form und erziehen uns unbewusst zu einer aufrechten Sitzhaltung. Elektrische Zahnbürsten geben uns vor, wie lange wir uns die Zähne putzen sollen.

Unser Handeln und unser Lernen sind durch eine Verwobenheit mit den Dingen gekennzeichnet. Beides möchte ich in dieser Arbeit an einem für mich besonderen Objekt veranschaulichen - dem Fahrrad.

Hierzu werde ich zunächst das Ding an sich betrachten, wozu auch die Vergangenheit und Entwicklung eines Objektes gehört. Darauf aufbauend wird die Verbundenheit mit den Dingen erörtert und auf die Handlung des Radfahrens übertragen. Nachdem die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt bzw. Mensch und Fahrrad betrachtet wurde, soll der Gebrauch der Dinge aus lerntheoretischer Sicht beschrieben werden, um diese letztendlich auf die Praxis des Radfahrens übertragen zu können.

2. Zu den Dingen

Das tägliche Handeln Erwachsener mit Dingen ist von einer tiefen Dimension der Erfahrung geprägt, welcher wir uns jedoch nicht immer bewusst sind. Dinge stehen uns zumeist nicht mehr gegenüber, sondern sind eng mit uns verbunden und wir mit ihnen. Heidegger beschreibt unsere Beziehung zu den Dingen als vortheoretisch. Dinge sind uns demnach Zuhanden, aber verweisen nicht mehr ständig auf anderes. Stieve erklärt das Zuhandene am Beispiel des Hammers. Der Hammer ist einem zur Hand, um damit beispielsweise einen Nagel in die Wand zu schlagen. Der Hammer verweist somit lediglich auf einen Handlungszusammenhang („Um-zu“)2, aber ist an sich unthematisch. Erst wenn dieser Zusammenhang aufgebrochen wird, entsteht ein theoretischer Zusammenhang zu den Dingen. So wird uns der Hammer erst bewusst, wenn wir z.B. ein Bild aufhängen wollen und den Hammer benötigen, um den Nagel in die Wand zu schlagen. Je bedeutender das Fehlende erscheint, desto bewusster werden die Objekte plötzlich um uns herum. Heidegger beschreibt dies als „Aufdringlichkeit“ der Dinge.3

Ähnlich verhält es sich mit der Verbundenheit von Mensch und Fahrrad. Täglich fahren Menschen mit dem Fahrrad. Es ist ein Ding unseres Alltags. Wir nutzen es, um zur Arbeit zu fahren, Sport zu treiben oder einfach um die Landschaft aktiv zu genießen. Fahrräder sind Dinge, von denen wir regelmäßig Gebrauch machen, die zuhanden sind und deren Handlungszusammenhang für uns selbstverständlich ist. Während wir den Hammer nutzen, um einen Nagel in die Wand zu schlagen, nutzen wir das Fahrrad, um bestimmte Strecken damit zurückzulegen. Beide Werkzeuge dienen dem Menschen zur eigenen Kompetenzsteigerung, der Hammer verstärkt die Kraft der Hand und das Fahrrad verstärkt die Kraft der Beine. 4

Doch weiterführend als bei dem Hammer werden dem Fahrrad bzw. der Handlung des Fahrradfahrens diverse Charakteristika zugeschrieben. Radfahren macht mobil und ist zudem gesund und ökologisch. Radfahren hat zudem soziale Bedeutung.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Fahrrad zum Vehikel der Emanzipation.

Frauen zeigten sich sportlich gekleidet und trainiert.5

In England gilt das Fahrrad heute als Symbol der Eleganz, wenn die „Sloane Rangers“ in London in teuren Nadelstreifanzügen darauf zu Bank und Börse fahren.6

Darüber hinaus kann das Fahrrad als „Nonplusultra des Funktionalismus“ oder als „technisches Wunder“ angesehen werden, da es im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln mit der geringsten Bewegungsenergie auskommt.7

Die Entwicklung des Fahrrades zeigt eine Geschichte der Verflechtung von Gesten, Körpern und Objekten, die vom einfachen Reiter entspringend, zu einer höchst komplexen Maschine führte.

2.1. Geburt des Fahrrades

Anthropologisch betrachtet, entwickelt sich der Gedanke des Fahrrades und des Radfahrens aus dem Reiten bzw. dem Kutscher. Das Vorbereiten des Pferderückens würde in diesem Gedankenspiel den Sattel des Fahrrades darstellen. Bei diesem neuartigen Prinzip verschmelzen Reiter und Pferd miteinander, da der Radfahrer oder die Radfahrerin die fortbewegende Aufgabe des Pferdes übernimmt. Diese Vorstellung könnte auch auf das Pferdefuhrwerk übertragen werden, in dem der Langbaum des Fuhrwerkes die Verlängerung des Pferderückens darstellt und der Kutscher den Reiter. Durch die Verbindung von Pferd und Reiter ist der eigentliche Vorläufer des Radfahrers demnach der Kutscher.8

Betrachtet man Entwicklung des Fahrrades aus Sicht der Technikgeschichte, so wurde sie von drei bedeutenden Erfindungen geprägt. Auch wenn das Rad bereits seit einigen Jahrtausenden bekannt war und Anfang des 19. Jahrhunderts zweispurige Fahrzeuge, wie Kutschen oder Karren bereits zum Straßenbild gehörten, waren die Menschen immer noch auf kräftige Zugtiere angewiesen. Schlechte Ernten von 1812 bis 1817 erschöpften alle Getreidevorräte und verursachten eine Hungersnot, in der die Menschen bald ohne Pferde auskommen mussten.9 In diesem Zeitraum begann Karl Friedrich Drais diverse Fahrmaschinen zu entwickeln, bis er im Jahr 1817 die erste zweispurige Laufmaschine, auch „Draisine“ genannt, konstruierte. Die lenkbare Holzkonstruktion mit zwei hintereinander montierten Rädern ist somit der erste Vorläufer des Fahrrades. Zwar fehlte diesem Objekt noch Wesentliches im Vergleich zum heutigen Fahrrad, dennoch verlangte das Laufrad den Menschen neues Wissen und Können ab.10 Um sich mit dem Laufrad fortbewegen zu können, mussten die Menschen mit der Maschine in Balance bleiben, welches für den Großteil der damaligen Bevölkerung eine neue Herausforderung darstellte.11

Etwa ein halbes Jahrhundert später, mit der Erfindung der Pedale durch Henri Michaux, wurde das einfache Laufrad von Fahrrädern mit Kurbelantrieb abgelöst und dem heutigen Prinzip des Fahrradfahrens näher gebracht. Für den endgültigen Durchbruch des Fahrrades fehlte jedoch noch eine wesentliche Entwicklung, das Speichenrad. James Starley gelang es, die massigen und wuchtigen Räder mit Holzoder auch Eisenspeichen durch leichtere Speichenräder zu ersetzen.12

Die Geschichte des Fahrrades ist aber nicht nur die Zusammenfügung drei individueller Erfindungen. Das Fahrrad ist das Ergebnis kollektiver Ideen und Leistungen. Mit der Geburt des Fahrrades entwickelte sich auch der Radsport, der von Beginn an die Massen begeisterte. Die Rennradtration spiegelt sich in einem der bekanntesten Frühjahrsklassiker des Radsports „Paris Roubaix“ wieder, welches seit 1896 gefahren wird und noch heute stattfindet. Mit der zunehmenden Popularität des Fahrrades wuchs auch der Markt an und brachte eine Vielzahl an Modellen, Marken und Typen des Fahrrades hervor.

2.2. Moderne Entwicklungen

Heutzutage gibt es Mountainbikes, Dirt-Bikes, Rennräder, Zeitfahrräder, Crossräder, Citycruiser und viele weitere Abwandlungen und Variationen, die dem Fahrrad als Oberkategorie zugeordnet werden können.

Die neuste Entwicklung auf dem Fahrradmarkt sind Fahrräder mit integrierten Elektromotoren, so genannte E-Bikes oder Elektrofahrräder. Diese ermöglichen eine zusätzliche Fahrunterstützung und verringern dadurch den notwendigen Kraftaufwand während der Fahrt. Die neusten E-Bikes sind sogar mit einer Automatikschaltung versehen, welche vollautomatische Gangwechsel verspricht und dem Fahrer / der Fahrerin eine Optimierung der Kraftübersetzung ermöglicht.13

Auch der Rennsport hat sich durch technische Entwicklungen stark entwickelt. In den vergangenen Jahren wurden mechanische Schaltungen durch elektronische Schaltungen ersetzt. Elektronische Gangschaltungen ermöglichen schnellere und präziserere Schaltvorgänge. Die digitale Technik schaltet immer mit der gleichen Kraft und der gleichen Präzision und ist somit zuverlässiger als der Mensch. Darüber hinaus kann die Computereinheit die Schräglage der Kette berechnen und justiert die Position des Umwerfers automatisch, um die Kettenreibung zu verhindern. Die elektronische Schaltung wurde dafür entwickelt, menschliche Fehler zu reduzieren und sportliche Leistungen zu optimieren.14

Diese Beispiele zeigen, dass Fahrräder sich nach und nach zu High-Tech-Maschinen entwickelt haben, die computergestützt funktionieren. Doch welche Bedeutung kann dies für die Mensch-Ding-Interaktion haben?

2.3. Verschmelzung von Körpern und Dingen

Bereits die Entstehungsgeschichte des Fahrrades lässt das Fahrrad zu einem besonderen Ding werden. Der Leitgedanke des Prinzips des Fahrradfahrens stammt von der symbolischen Verschmelzung von Reiter bzw. Kutscher und Pferd ab, in welcher der Radfahrer die Fortbewegung des Pferdes übernimmt.

Doch ist der Mensch nun alleiniger Akteur im Prozess des Radfahrens? Der Mensch selber konnte das Pferd nicht ersetzen und stellte dafür eine Maschine her. Der Mensch ist demzufolge noch eng mit dem Ding bzw. Objekt verbunden. Synonyme für das Fahrrad, wie Drahtesel oder Stahlross würden dies untermalen. Der Mensch ist in der Handlung des Fahrradfahrens kein alleiniger Akteur, sondern partizipiert mit dem technischen Artefakt. Mit der Verbindung von Menschen und Dingen beschäftigt sich vor allem die Techniksoziologie. In den Geistes- und Sozialwissenschaften beschäftigte sich unter anderem Bruno Latour intensiv mit der Beziehung zwischen Menschen und technischen Artefakten. Latour spricht bei der Interaktion zwischen Subjekt und Objekt von menschlichen Akteuren und nichtmenschlichen Aktanten, die gemeinsam als Hybrid-Akteure handeln. So schreibt Latour: „Handeln ist nicht das Vermögen von Menschen, sondern das Vermögen einer Verbindung von Aktanten.“15

Nach Latour stellt die Handlung des Radfahrens eine Verbindung von Mensch und Fahrrad dar. Latour versucht dadurch die Dichotomisierung in Subjekte und materielle Objekte aufzuheben und nichtmenschliche Wesen als vollwertige Akteure in unserem Kollektiv darzustellen.16 Dies beschreibt er am Beispiel des Türschließers. Menschen sind undiszipliniert im Türschließen. Sie drücken oder ziehen an Türen, um Räume bzw. Gebäude zu betreten oder zu verlassen. Doch Menschen haben sich angewöhnt die Türen nicht wieder zu schließen. Zur Lösung dieses Dilemmas könnte man versuchen die Menschen zu disziplinieren oder durch eine dazu delegierte Person zu ersetzen, dessen Aufgabe darin besteht die Türen zu öffnen und zu schließen - einen Portier. Doch auch diese Person scheint nicht vollends zuverlässig zu sein. Daraus ergibt sich eine weitere Möglichkeit, nämlich den unzuverlässigen Menschen durch eine nichtmenschliche Figur zu ersetzen - den Türschließer. Latour beschreibt den Türschließer und dessen Arbeit bereits als anthropomorph, da er unter anderem die Handlung der Menschen ersetzt.17

Dem Ersetzen menschlicher Handlungen durch Technik, wie Latour es hier beschreibt, nähern Rammert und Schulz-Schaeffer sich differenzierter.18 Sie stimmen Latour unter der Verwendung eines schwachen Handlungsbegriffes zwar zu, differenzieren den Begriff der Handlung in Verbindung mit Artefakten jedoch in drei Qualitäten, in denen das Handeln:

[...]


1 Meyer-Drawe, 1999, S. 330

2 vgl. Heidegger, 1979, S. 69

3 Heidegger, 1979, S. 73

4 vgl. Stieve, 2008, S. 25f

5 vgl. Wich et al., 2010, S. 83

6 vgl. Russo, 2000, S. 45f

7 vgl. ebd., 2000, S. 40f

8 vgl. ebd., 2000, S. 43

9 vgl. Lessing, 2003, S. 114f

10 Das Aneignen von Wissen und Können und dessen Unterscheidung im Sinne eines Lernens mit den Dingen wird im folgenden Kapitel näher erläutert.

11 vgl. S. 11

12 vgl. Russo, 2000, S. 42

13 Die Automatikschaltung beruht auf dem Prinzip des neuen Systems TranzX AGT. AGT steht dabei für die Begriffe Automatik Gear Transmission (siehe auch www.elektrobike-online.de, 2011).

14 Vorreiter der elektronischen Schaltung ist die elektronische „Dura ce Di2“ von Shimano (siehe auch www.dura-ace.com).

15 Latour, 2000, S. 221

16 vgl. ebd., S. 211 und vgl. Johnson, 2006, S. 246

17 vgl. Johnson, 2006, S. 242ff

18 vgl. Nohl, 2011, S. 40

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Das Fahrrad. Ein technisches Artefakt der Pädagogik
Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg  (Allgemeine Pädagogik)
Veranstaltung
Zur Pädagogik der Dinge
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
23
Katalognummer
V262289
ISBN (eBook)
9783656504979
ISBN (Buch)
9783656507345
Dateigröße
703 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pädagogik der Dinge, Nohl, Käte Meyer-Drawe, Fahrrad, Können-Lernen, Wissen-Lernen, Körper und Dinge, Bruno Latour, Trichotomie, Lernen mit den Dingen, Lernen, Dinge
Arbeit zitieren
Edith Papsin (Autor:in), 2012, Das Fahrrad. Ein technisches Artefakt der Pädagogik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262289

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