Sexueller Missbrauch an türkischen Mädchen - Grundlegende Überlegungen zur Psychodynamik in der Familie


Examensarbeit, 2003

77 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Was ist sexueller Missbrauch? – Problematik eines Begriffes

3. Dunkelziffern und Schätzungen – Epidemiologie

4. Die Rechte des Kindes – Juristische Aspekte sexueller Gewalt in Deutschland

5. Die Rechte des Kindes II – Sexualität, Ehe und Gesetz im islamischen Kulturkreis

6. Tradition oder Anpassung? - Türkische Familien zwischen den Kulturen

7. Das Recht des Stärkeren – Zur Ätiologie des sexuellen Missbrauchs
7.1 Der individuumzentrierte Ansatz
7.2 Der interaktionszentrierte Ansatz
7.3 Der feministische Ansatz
7.4 Finkelhors „Modell der vier Voraussetzungen“

8. „Eine Persönlichkeit voller Schamgefühle“ – Wer sind die Täter?
8.1 Persönlichkeit des Täters
8.2 Der Grooming Prozess nach Bullens
8.3 Der Kreislauf der Tat nach Wolf
8.4 Das Verantwortungs – Abwehr – System nach Deegener

9. Zwischen Liebe und Angst – Die Folgen des Missbrauchs für das Opfer
9.1 Eigenschaften der Opfer
9.2 Traumatisierungsfaktoren
9.3 Initialfolgen
9.4 Langfristige Folgen

10. Psychodynamik des sexuellen Missbrauchs in der Familie
10.1 Gibt es Risikofamilien?
10.2 Abwehrmechanismen und Reaktionen der Mütter
10.3 Reaktionen des Opfers

11. Sexueller Missbrauch in türkischen Familien
11.1 Zur Situation von Migrantenfamilien in Deutschland
11.2 Familienstrukturen
11.3 Abwehrmechanismen der Angehörigen bei sexuellem Missbrauch
11.4 Türkische Mädchen in Mädchenhäusern

12. Fazit

13. Anhang

14. Literatur

1. Einleitung

Kaum ein Verbrechen stößt in der Gesellschaft auf soviel Ratlosigkeit, Unverständnis und Abscheu wie der sexuelle Missbrauch eines Kindes. Sowohl Ärzte als auch Lehrer und Mitarbeiter der Jugendhilfe wissen oft nicht, wie sie mit missbrauchten Kindern umgehen sollen, da sie solche Fälle bisher lediglich aus skandalträchtigen Berichten der Massenmedien kannten. Auch die Angehörigen des Opfers sind mit der Situation meist überfordert, vor allem, wenn der Täter selbst aus dem familiären Umkreis stammt.

In den letzten Jahren wurden verstärkt Anstrengungen unternommen, das Thema „Sexueller Missbrauch in der Familie“ durch empirische Studien und wissenschaftliche Bearbeitung von den vielen Mythen, die es umgeben, zu befreien. Ein sachlicher Umgang und die systematische Erforschung sollen die Verunsicherung der professionellen Helfer mindern, um so die Entwicklung adäquater Hilfsangebote für alle Betroffenen zu ermöglichen.

Über den Umgang mit missbrauchten Kindern aus türkischen Familien gibt es leider außer einigen Erfahrungsberichten von Mitarbeiterinnen aus Hilfseinrichtungen noch keine wissenschaftliche Literatur. Diese Erfahrungsberichte sind zwar sehr informativ und praxisnah, lassen jedoch häufig eine objektive Sicht auf die islamische Kultur vermissen. Stattdessen werden als herausragende Merkmale dieser Kultur die Unterdrückung der Frau, rückständige Erziehungsmethoden und ein für uns unverständliches Konzept von „Ehre“ angesehen.

Aufgrund ihrer verschiedenen Sozialisation haben sexuell missbrauchte Mädchen aus türkischen Familien jedoch in vielen Punkten andere Hilfsbedürfnisse als deutsche Mädchen. Um auf diese Bedürfnisse angemessen reagieren zu können, ist es notwendig, die Situation nicht nur aus deutscher Sicht zu beurteilen, sondern sowohl der Migrationshintergrund als auch die Herkunft des Mädchens aus einer moslemischen Kultur müssen berücksichtigt werden.

Ziel dieser Arbeit ist eine sachliche Auseinandersetzung sowohl mit der Problematik des innerfamiliären sexuellen Missbrauchs als auch mit dem kulturellen Hintergrund türkischer Migrantenfamilien. Auf der Grundlage dieser Betrachtungen werden die besonderen Schwierigkeiten, die bei sexuell missbrauchten Mädchen türkischer Herkunft auftreten, dargestellt, um dann Schlüsse für die praktische Arbeit zu ziehen.

Da die Bedeutungen der verschiedenen Begriffe zum sexuellen Missbrauch stark voneinander abweichen, erfolgt zuerst ein Vergleich der verschiedenen Definitionen, aus denen die der Arbeit zugrunde liegende Definition hervorgehoben wird. Anschließend werden einige Studien zum Ausmaß des sexuellen Missbrauchs dargestellt, das aufgrund der hohen Dunkelziffer nur sehr schwer zu bestimmen ist.

Bezüglich der rechtlichen Situation sexueller Gewalt wird sowohl das deutsche als auch das islamische Gesetz untersucht, da türkische Migrantenfamilien in und mit beiden Kulturen leben. Im Falle des sexuellen Missbrauchs spielen beide Kulturen eine Rolle, auch wenn ein deutsches Gericht das tatsächliche Strafmaß festlegt. Diese Hin - und Hergerissenheit zwischen den Kulturen in allen Lebensbereichen, die besonders junge Migranten betrifft, wird im Anschluss beschrieben.

Nachdem dann die wichtigsten Ansätze zur Entstehung sexuellen Missbrauchs dargestellt werden, erfolgt eine Darstellung der verschiedenen Persönlichkeitsmerkmale des Opfers und des Täters. Außerdem werden die unterschiedlichen Erlebens - und Umgangsweisen beider Seiten vor und nach der Tat und die spezielle Psychodynamik der Familien, in denen sexueller Missbrauch auftritt, veranschaulicht.

Der letzte Teil der Arbeit verknüpft die theoretischen Grundlagen zum sexuellen Missbrauch mit den Überlegungen zur Situation türkischer Migrantenfamilien.

Im Fazit werden Schlüsse für die praktische Arbeit mit sexuell missbrauchten Mädchen türkischer Herkunft und den Umgang mit ihren Angehörigen gezogen.

2. Was ist sexueller Missbrauch? – Problematik eines Begriffes

Zur Problematik des sexuellen Missbrauchs existieren in der Literatur und in der Forschung viele verschiedene Begrifflichkeiten und Definitionen, die nach Bange und Deegener (1996, S.95) sehr unterschiedliche Auswirkungen auf die Forschungsergebnisse haben können. Einige dieser Begriffe sollen hier kurz dargestellt und diskutiert werden.

Der im Deutschen wohl gebräuchlichste Begriff ist der des „sexuellen Missbrauchs“, dessen größter Vorteil darin liegt, dass dem Täter die alleinige Verantwortung zugewiesen und so das Opfer entlastet wird. Andererseits könnte der Begriff „Missbrauch“ den Eindruck erwecken, es gebe auch einen gerechtfertigten „Gebrauch“ eines Kindes. In der Fachliteratur hat sich diese Bezeichnung jedoch durchgesetzt und sie wird auch in dieser Arbeit verwandt werden.

„Inzest“ bezeichnet den nicht legitimen sexuellen Kontakt zwischen Blutsverwandten. Da jedoch sexueller Missbrauch nicht nur zwischen leiblichen Eltern und Kindern geschieht, sondern im Gegenteil häufiger von anderen den Kindern nahestehenden Personen verübt wird, trifft dieser Begriff das Thema dieser Arbeit nicht genau. Außerdem verstehen einige von Amann und Wipplinger (1997, S. 17) aufgeführte Autoren unter Inzest nur den vollzogenen Geschlechtsverkehr, während die Bezeichnung „sexueller Missbrauch“ auch andere Handlungen umfasst.

Brockhaus und Kolshorn (1993, S. 30) verwenden den Begriff „sexuelle Gewalt“ als Bezeichnung für sexualisierte Gewalt gegen Frauen, Mädchen und Jungen. Um die gesellschaftliche Dimension und die „Faktoren struktureller Gewalt“ deutlich zu machen, umfasst der Begriff auch das Nachpfeifen oder anzügliche Blicke. Synonym verwenden Brockhaus und Kolshorn den Ausdruck „sexuelle Ausbeutung“, um den Machtaspekt zu betonen.

Die Definition des sexuellen Missbrauchs kann große Auswirkungen auf die Ergebnisse einer Studie haben, je nachdem, ob eine enge oder eine weite Definition verwendet wird. Engere Definitionen schließen weniger Kriterien mit ein und bieten deshalb den Vorteil einer genauen Abgrenzung gegenüber anderen Handlungen. So wird die Stichprobe der Betroffenen eingegrenzt und präzisiert. Der Nachteil besteht darin, dass manche sexuellen Handlungen, z.B. solche ohne Körperkontakt, nicht unter diese Definition fallen und so aus der Stichprobe ausgeschlossen werden.

Weite Definitionen werden häufiger von feministischen Autorinnen angewandt und umfassen nach Brockhaus und Kolshorn (1993, S. 29) ein breites Spektrum möglicher sexuell gewalttätiger Vorfälle. Jedoch berücksichtigen sie dabei die unterschiedlichen gesellschaftlichen und situativen Gegebenheiten einer Handlung nicht. So können auch Situationen einbezogen werden, in denen fragwürdig ist, ob es sich um sexuellen Missbrauch handelt.

Um zu einer Definition zu gelangen, die dieser Arbeit zugrundegelegt werden kann, sollen nun verschiedene Definitionskriterien diskutiert werden.

Nahezu alle Autoren nennen als ein wichtiges Kriterium den Macht - und Autoritätsmissbrauch, der die Anwendung von körperlicher Gewalt und Zwang nicht unbedingt einschließt. Da missbrauchte Kinder häufig emotional vom Täter abhängig sind, ist die Anwendung von Gewalt oft nicht nötig und nach Meinung von Bange und Deegener (1996, S. 104) als Definitionskriterium nicht geeignet, obwohl Zwang, Gewalt und Drohungen eine große Rolle spielen können.

Bei der Nennung einer verbindlichen Altersgrenze findet man in der Literatur unterschiedliche Angaben. So nennen Bange und Deegener (ebd., S. 105) und Draijer (1990, S. 60) eine Altersgrenze von 16 Jahren für das Opfer, Elliger und Schötensack (1991, S. 150) setzen eine Grenze von 14 Jahren. Aufgrund der verschiedenen Entwicklungsstände von Jugendlichen wird häufig der Altersunterschied zwischen Täter und Opfer als ausschlaggebend angesehen, hier liegt die Grenze meist bei fünf Jahren (z.B. bei Wenninger 1994, S. 3). Dies hat jedoch zum Nachteil, dass sexueller Missbrauch unter Gleichaltrigen nicht erfasst wird.

Ohne Zweifel hat der Missbrauch schädliche Folgen für die meisten der Opfer, doch können diese Folgen nicht als Kriterium für eine Definition gelten, da nicht jeder sexuelle Missbrauch gleichermaßen traumatisch sein muss. Es gibt Langzeitfolgen, die erst nach Jahren auftreten und deshalb vor Gericht nicht aufgeführt werden können, um den Missbrauch zu beweisen.

Zudem reagieren Kinder unterschiedlich auf Missbrauchssituationen. Ein Kind, das in einer schützenden Familie aufwächst und den Täter vorher nicht kannte, wird höchstwahrscheinlich weniger traumatisiert sein als ein Kind, das von seinem Vater missbraucht und nicht durch die Familie aufgefangen wird – trotzdem wird man in beiden Fällen von Missbrauch sprechen müssen.

Um das Gefühl der Ohnmacht abzumildern, versuchen manche Kinder unbewusst den Missbrauch als gewollt und angenehm umzudeuten, da sie so die Situation scheinbar unter Kontrolle haben und sich nicht in die Opferrolle begeben müssen. Dadurch können sie ihr enges Verhältnis zum Täter, der ja häufig eine Vertrauensperson ist, aufrechterhalten und sind nicht gezwungen, ihr Bild von ihm zu revidieren und so vielleicht einen vermeintlichen Freund zu verlieren. Oft begreifen sie erst Jahre später, aus der Erwachsenenperspektive, die wahre Bedeutung der Geschehnisse. Das kindliche Erleben und die Folgen der Tat können demnach nicht als Definitionskriterium für sexuellen Missbrauch angesehen werden.

Auch die sexuelle Erregung des Täters ist nicht ausschlaggebend, da auch wenn der Täter nicht erregt ist, Missbrauch vorliegt. Häufig spielen Gefühle wie Ekel, Hass und Wut eine Rolle statt einer sexuellen Erregung im ursprünglichen, d.h. im angenehmen Sinn.

Wie Bange und Deegener (1996, S. 96) ausführen, sind Kinder aufgrund ihres Informationsstandes und ihrer Unerfahrenheit in keinem Fall in der Lage, die Bedeutung eines sexuellen Kontaktes mit einem Erwachsenen in vollem Umfang zu verstehen, und können deswegen diesem auch nicht ihr „wissentliches Einverständnis“ geben. Sie sind zudem meist abhängig von Erwachsenen und haben gelernt, deren Entscheidungen nicht infrage zu stellen, sondern ihnen zu gehorchen.

Das fehlende wissentliche Einverständnis ist wichtiger Bestandteil vieler Definitionen sexuellen Missbrauchs, so auch der von Bange und Deegener (ebd., S. 105), die ich meiner Arbeit zugrunde lege:

„Sexueller Missbrauch an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätsposition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“

3. Dunkelziffern und Schätzungen – Epidemiologie

Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik wurden im Jahr 2002 in Deutschland 53860 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung erfasst, davon in 15998 Fällen sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB) und in 1881 Fällen sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB). In Berlin waren es 856 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern. Dies entspricht einer Häufigkeitszahl von 25,3 pro 100 000 Einwohnern (BKA Wiesbaden, Polizeiliche Kriminalstatistik 2002).

Der Nachteil dieser Inzidenzangabe, also der Angabe über die jährlich neu aufgetretenen (bzw. bekannt gewordenen) Fälle, besteht in der hohen Dunkelziffer. Nicht jeder sexuelle Missbrauch wird entdeckt oder sogar angezeigt, und so muss man, um die Dunkelziffer zu bestimmen, auf sozialwissenschaftliche Studien zurückgreifen. Diese prüfen die Prävalenz, also die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch in der Bevölkerung während eines bestimmten Zeitraums. Doch auch bei diesen Angaben besteht noch immer eine große Unsicherheit, da bei den Befragungen nicht sicher ist, ob die Betroffenen (aus Scham oder aus anderen Gründen) ehrlich antworten. Ein weiteres Hindernis stellen die unterschiedlichen Definitionen sexuellen Missbrauchs dar (siehe oben), die den Studien zugrundegelegt werden, und die Verschiedenheit der untersuchten Stichproben. So befragten einige Wissenschaftler Studentinnen und Studenten (z.B. Bange 1992), andere jedoch männliche und weibliche Mitarbeiter von Beratungsstellen, z.B. Burger und Reiter in ihrer für das Bundesministerium für Familie und Senioren durchgeführten Studie (Burger / Reiter 1993).

Trotzdem werden einige dieser Studien hier kurz dargestellt:

Nach ihrer 1984 durchgeführten Untersuchung schätzten Kavemann und Lohstöter (1984, S. 28), dass jährlich in den alten Bundesländern etwa 300 000 Kinder sexuell missbraucht werden, und gingen dabei von einer Dunkelziffer von 1:18 aus. Diese recht hohe Angabe sorgte für Aufregung, da in der Studie einige Unregelmäßigkeiten auftraten. So sind in der Untersuchung auch Fälle von Exhibitionismus und sexueller Gewalt gegen 18jährige Frauen enthalten, die üblicherweise nicht als sexueller Kindesmissbrauch bezeichnet werden, die also die Ergebnisse höher erscheinen lassen.

Finkelhor (1997, S.80) zufolge kamen finnische Forscher (Sariola und Uutela) bei einer Befragung von Schülern zu sehr niedrigen Ergebnissen (5 – 7 % der Mädchen und 1 – 4 % der Jungen), da dieser Studie eine enge Definition zugrundegelegt wurde. Bei der Befragung südafrikanischer Studenten dagegen wurde eine sehr hohe Prävalenzrate ermittelt ( 34 % der Frauen und 29 % der Männer), da hier ein sehr detaillierter Fragebogen ausgegeben wurde und die Definition z.B. auch nichtkörperliche Kontakte einschloss (ebd., S. 75).

In den folgenden Ausmaßuntersuchungen wurden Prävalenzraten festgestellt, die aus den oben genannten Gründen zwar noch auseinander klaffen, doch kann man Ähnlichkeiten erkennen, wenn man die Stichproben und die Definitionen angleicht. Nach Darstellung von Ernst (1997, S. 69) kommen europäische und US - amerikanische Studien zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass circa 10 – 15 % der Frauen und 5 – 10 % der Männer bis zum Alter von 14 oder 16 Jahren mindestens einmal einen als unangenehm empfundenen sexuellen Kontakt erlebt haben.

4. Die Rechte des Kindes – Juristische Aspekte sexueller Gewalt in Deutschland

Der sexuelle Missbrauch fällt unter die Strafvorschriften gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174 – 184 StGB) des Strafgesetzbuches (StGB), die auch Menschenhandel, Zuhälterei und Verbreitung pornografischer Schriften umfassen. Hier sollen vor allem die §§ 174 (Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen) und 176 StGB (Sexueller Missbrauch von Kindern) eingehender betrachtet werden.

In § 174 StGB wird der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen unter ein Strafmaß von drei bis fünf Jahren Freiheitsstrafe gestellt, je nachdem, ob sexuelle Handlungen an oder vor dem Schutzbefohlenen vorgenommen wurden. Als Schutzbefohlene werden hier Personen „unter sechzehn Jahren, die ... zur Erziehung, Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut“ sind, bezeichnet (§ 174 (1), Satz 1). Das bedeutet, dass auch ein nichtleibliches Kind, z.B. die Stieftochter, bis zu seinem 16. Lebensjahr geschützt ist (bzw. geschützt sein sollte), wobei das Alter des Täters und der Altersunterschied zum Opfer hier keine Rolle spielen. Weiterhin gelten als Schutzbefohlene „noch nicht achtzehn Jahre alte leibliche oder angenommene“ Kinder (§ 174 (1), Satz 3).

Kinder unter 14 Jahren genießen absoluten gesetzlichen Schutz durch den § 176 StGB, der sexuelle Handlungen an Kindern unter eine Strafe von mindestens sechs Monaten, höchstens zehn Jahren stellt, es sei denn, es liegt eine besondere Schwere des Falles vor (§ 176a). Dies gilt, wenn die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird, bei Penetration oder sonstiger schwerer Gefährdung des Kindes oder wenn der Täter schon wegen sexuellen Missbrauchs vorbestraft ist. In diesen Fällen beginnt das Strafmaß erst bei einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis hin zur lebenslangen Freiheitsstrafe bei sexuellem Missbrauch mit Todesfolge (§ 176b StGB).

Weiterhin ist der sexuelle Missbrauch von Jugendlichen, d.h. Personen unter sechzehn Jahren, durch Erwachsene (über achtzehn Jahren) unter Ausnutzung einer Zwangslage oder gegen Entgelt strafbar (§ 182 (1) StGB).

In § 174 ist eine Einschränkung vorgesehen, wenn „bei Berücksichtigung des Verhaltens des Schutzbefohlenen das Unrecht der Tat gering ist“ (§ 174 (4) StGB). Diese Einschränkung wird von Fastie (1994, S. 32) scharf kritisiert, da die Verantwortung für die Tat so leichter vom Täter auf das Opfer verschoben werden könne. Bei fehlender oder unzureichender Gegenwehr kann der Täter zum Beispiel behaupten, er habe mit dem Einverständnis des Opfers gerechnet und nicht gewusst, dass dieses Schmerzen oder Angst empfinde.

Auch Brockhaus und Kolshorn (1993, S. 35) führen an, dass die Definition minder schwerer Fälle und deren geringeres Strafmaß dazu führen können, dass der Täter vor Gericht versucht, dem Opfer aufgrund seiner aufreizenden Kleidung oder seines provokativen Verhaltens eine Mitschuld zuzuschreiben.

Je nach Tatbestand verjährt sexueller Missbrauch nach fünf oder nach zehn Jahren, wobei die Verjährungsfrist von sexuellem Missbrauch an Kindern nach § 176 erst mit dem 18. Lebensjahr des Opfers beginnt.

Da Sexualstraftaten Offizialdelikte sind und deshalb juristisch verfolgt werden müssen, sobald Polizei oder Staatsanwaltschaft davon erfahren haben, sollten das Opfer und seine Helfer sich über die Konsequenzen einer Anzeige bewusst sein. Sie kann nicht mehr zurückgezogen werden, auch wenn das Kind merkt, dass es das Verfahren psychisch nicht verkraften wird. Braecker und Wirtz - Weinrich (1991, S.67) sehen hier die Gefahr der sekundären Traumatisierung durch den Prozess, auf die ich später noch eingehe (vgl. Kapitel 9.2).

Im Prozess tritt statt des eigentlichen Opfers die Staatsanwaltschaft als Ankläger auf. Für die Betroffene besteht jedoch die Möglichkeit zur Nebenklage, wobei Burgsmüller (2002, S. 385) es für ratsam hält, sich auch hier anwaltlich vertreten zu lassen. Der Nebenklägerin bzw. ihrer gesetzlichen Vertretung werden einige Rechte eingeräumt, zum Beispiel darf sie den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen, während der gesamten Hauptverhandlung anwesend sein, Prozessakten einsehen und Zeugen benennen. Auch die Prozesskosten muss sie nicht übernehmen, und die anfallenden Anwaltskosten können auf Antrag erstattet werden.

Dies ist vor allem für Mädchen aus Einwanderungsfamilien von Bedeutung, da sie bei der Bewältigung des Missbrauchs oft weder ideell noch finanziell von ihren Familien unterstützt werden und deshalb auf Hilfe angewiesen sind, und zwar sowohl finanzieller als auch beratender Art. Meist besteht eine große Schwellenangst gegenüber deutschen Behörden, und da die Mädchen das deutsche Rechtssystem oft nicht durchschauen, wissen sie weder um ihre Rechte und Möglichkeiten, noch, wie sie diese Rechte durchsetzen können.

Die Frage nach dem Realitätsgehalt von Kinderaussagen über sexuellen Missbrauch wird in den letzten Jahren kontrovers diskutiert. Vor allem gegen feministische Mitarbeiterinnen von Beratungseinrichtungen wurde von Undeutsch (1994, S.173) der Vorwurf erhoben, sie würden Aussagen und Verhaltensweisen von Kindern überbewerten oder Kinder suggestiv befragen und so die Zahlen der vermeintlich sexuell missbrauchten Kinder hochtreiben. Um diesem Problem aus dem Weg zugehen, gibt es die Möglichkeit der Glaubwürdigkeitsbegutachtung durch einen unabhängigen Psychologen, die im Gerichtsverfahren jederzeit beantragt werden kann.

Abgesehen von der rechtlichen Möglichkeit der Strafanzeige kann das Kind bei Gefährdung des Kindeswohls auch gegen den Willen der Eltern außerhalb der Familie untergebracht werden. Dazu muss jedoch das Jugendamt eingeschaltet werden, das die formalen Bedingungen für eine Fremdunterbringung nach dem Kinder - und Jugendhilfegesetz (BMfFSFJ, 1999) prüft. Hier gilt § 42 (3) des KJHG (Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen). Diese Möglichkeit wird meist genutzt, um erstens das Kind vor dem Täter zu schützen und zweitens diagnostische oder therapeutische Maßnahmen einzuleiten.

Nach Darstellung von Ulonska und Koch (1997, S. 123) wird das Opfer so nicht mit einem Strafprozess belastet, bevor es dazu bereit ist, sondern kann erst zur Ruhe kommen und später selbst entscheiden, ob es Anzeige erstattet.

5. Die Rechte des Kindes II – Sexualität, Ehe und Gesetz im islamischen Kulturkreis

Das islamische Recht beruht auf dem Koran (arabisch: Qur’an), der nach moslemischem Glauben dem Propheten Mohammed vom Erzengel Gabriel verkündet und nach dem Tode Mohammeds von seinen Begleitern niedergeschrieben wurde. Er bildet die Grundlage der islamischen Religion.

Innerhalb dieser Religion gibt verschiedene Rechtsschulen, von denen vier vom sunnitischen Islam, der in der Türkei dominiert, als gleichberechtigt anerkannt werden: Die sehr konservative Schule der Malikiten, die vor allem in Nord – und Westafrika und im Sudan verbreitet ist, die Schule der Hanbaliten (Saudi – Arabien, Oman und Bahrain), die ebenfalls eine strenge Gesetzgebung vertritt, die schafiitische Schule (Naher Osten, Indien und Indonesien) und die Lehre der Hanafiten. Diese ist nach Meinung von Marburger (1987, S.197) die liberalste der sunnitischen Rechtsschulen und hat ihre Anhänger vor allem in der Türkei, in Ägypten und in Zentralasien.

Obwohl Mustafa Kemal (Atatürk) in der Türkei 1926 die bis dahin geltende islamische Rechtsordnung abschaffte und durch das Schweizer Zivilrecht ersetzte, sind islamische Traditionen noch weit verbreitet. Dies äußert sich vor allem in Fragen des Familien – und Eherechts, aber auch im Alltagsleben. So sieht Marburger (ebd., S. 146) selbst bei nicht mehr praktizierenden Moslems eine große Verbundenheit mit dem Islam sowohl in der Lebensgestaltung als auch in der Denkweise. Aus diesem Grund befasse ich mich vor allem mit dem islamischen Recht und weniger mit dem türkischen Familienrecht, auch wenn dies das offiziell geltende ist.

Im Koran wird im allgemeinen eine positive Einstellung zur Sexualität beider Geschlechter deutlich, ausgeübt werden darf sie jedoch ausschließlich innerhalb der Ehe. Dabei besteht für beide Ehepartner eine Verpflichtung zur sexuellen Befriedigung des anderen. Die Sexualität der Frau wird als aktiv und unkontrollierbar angesehen. Mernissi (1991, S. 32) kritisiert, dass diese Sicht der weiblichen Sexualität die Überwachung der Frau nach sich zieht, um außereheliche Kontakte und eine Abwendung der Männer von ihren gesellschaftlichen Pflichten zu verhindern.

Sowohl der Ehebruch als auch voreheliche sexuelle Kontakte stehen in der Scharia, dem islamischen Recht, unter schwerer Strafe. Sie gelten als Zina (Unzucht), und damit als eine der schlimmsten Sünden, die nicht nur im Jenseits Vergeltung findet, sondern auch auf Erden mit hundert Peitschenhieben bestraft wird.

Auch Homosexualität, Onanie und Sodomie werden ausdrücklich als schwere Verbrechen der Unzucht im Koran erwähnt, nicht jedoch der sexuelle Missbrauch von Kindern. Dies kann daran liegen, dass Kinder vor Beginn der Pubertät zwar geschlechtsspezifisch erzogen, aber nicht als sexuelle Wesen gesehen werden und so die Möglichkeit des sexuellen Missbrauchs überhaupt ausgeblendet wird. Daher beschränke ich mich in der Darstellung der Rechtslage auf andere Aspekte, die mit unserem Verständnis von sexuellem Kindesmissbrauch in Verbindung gebracht werden können.

Sexuelle Kontakte sind nur innerhalb der Ehe erlaubt, alles andere gilt als Sünde. Deshalb sind bei der Betrachtung des innerfamiliären sexuellen Missbrauchs die Ehehindernisse (bzw. Inzestverbote) im Koran zu beachten, auch wenn sie sich nicht ausschließlich auf Kinder beziehen. In vielen islamischen Gesellschaften wurden (und werden immer noch) schon junge Mädchen verheiratet oder verlobt, sodass die Ehehindernisse, zu denen die Blutsverwandtschaft gehört, auch Kinder vor oder während der Pubertät betreffen können.

Die 4. Sure des Koran („Die Frauen“) befasst sich unter anderem mit dem Eherecht.

„Verboten sind euch eure Mütter und eure Töchter, eure Schwestern und eure Tanten väterlicherseits und mütterlicherseits, die Töchter eures Bruders und eurer Schwester, sowie die Mütter, die euch gestillt haben, eure Milchschwestern (von derselben Amme gestillte Kinder anderer Eltern, M.R.), die Mütter eurer Frauen, eure Stieftöchter, die sich in eurer Familiengemeinschaft befinden und von Frauen geboren sind, mit denen ihr bereits Verkehr gehabt habt...“ ( zit.n. Nagel 1991, S. 312)

Das ausdrückliche Verbot bestimmter Ehekombinationen rührt daher, dass in ländlichen Gebieten häufig innerhalb der Familie geheiratet wurde, um so den Zusammenhalt der Großfamilie zu stärken und den Erhalt des Landbesitzes zu sichern. Nach Schmied (1999, S. 57) ist diese Form der Ehevermittlung noch heute in vielen Migrantenfamilien in Deutschland üblich, meist zwischen türkischstämmigen Mädchen und ihren Cousins in der Türkei, um die Verbindung zum Heimatland zu stärken und die Familienstruktur in Deutschland zu erweitern.

Im ursprünglichen islamischen Recht lag das Mindestheiratsalter für Mädchen bei neun Jahren, für Jungen bei 15. Im Zuge der Reformbestrebungen in den meisten islamischen Ländern wurde dieses Alter auf 16 bzw. 18 Jahre hochgesetzt und der Abschluss von Kinderehen verboten. Die Gründe sieht Walther (1996, S. 619) jedoch nicht nur im Schutz der Kinder vor zu früher Eheschließung, sondern vor allem im Bestreben, Einfluss auf die Familienplanung zu gewinnen und so den hohen Geburtenzuwachs in ärmeren Ländern zu stoppen.

Das islamische Familienrecht sieht zwar eine Disziplinargewalt des Vaters über seine Kinder vor, sichert ihnen aber auch bestimmte Rechte und den Eltern bestimmte Pflichten zu. So sind sie zur Liebe gegenüber ihren Kindern verpflichtet. Der Vater muss sowohl mit ihrem Leben als auch mit ihrem Vermögen verantwortlich umgehen.

Bei schweren Vergehen kann dem Vater die elterliche Gewalt bzw. das Sorgerecht entzogen werden. In jedem Fall gilt dies bei einer Verurteilung wegen Unzucht oder sittlicher Verbrechen, wenn sie sich gegen das eigene Kind gerichtet haben oder vom eigenen Kind verübt wurden. Das bedeutet, dass der Vater verpflichtet ist, auch auf das Wohlverhalten seiner Kinder zu achten und deshalb für ihre sittlichen Vergehen bestraft werden kann. Die Gefährdung der Gesundheit, der Sicherheit, der Moral oder die Misshandlung eines der Kinder hat nach muslimischem Gesetz, wie es Fadlalla Ali (2001, S. 157) darstellt, ebenfalls den Entzug des Sorgerechts zur Folge.

Im türkischen Strafrecht gibt es zudem den Tatbestand der Blutschande, der die vaginale Vergewaltigung der Tochter bezeichnet und mit bis zu 14 Jahren Haft schwer bestraft wird. Weber und Rohleder (1995, S. 162) stellen jedoch heraus, dass diese Bestimmung weniger dem psychischen und physischen Schutz des Kindes dient, sondern vielmehr dem Erhalt ihrer Jungfräulichkeit, auf die höchster Wert gelegt wird. Sie begründen ihre Ansicht damit, das der Tatbestand nicht auf andere, ebenso schädliche sexuelle Handlungen ausgeweitet wird.

6. Tradition oder Anpassung? - Türkische Familien zwischen den Kulturen

„Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen.“

Max Frisch (zit. n. Geißler 2000, S. 31)

Die in den sechziger Jahren angeworbenen türkischen Arbeitskräfte stellen mittlerweile die größte in Deutschland lebende Zuwanderergruppe dar. Die meisten planen nicht, wie anfangs angenommen, die Rückkehr in die Türkei, sondern nutzten nach dem Anwerbestopp im Jahr 1973 das Recht auf Familienzusammenführung, um ihre Frauen und Kinder aus der Türkei nachzuholen und richteten sich danach auf einen längeren Aufenthalt in Deutschland ein.

Die deutsche Bevölkerung und die Politik jedoch gingen lange Zeit nicht von Einwanderern - die sie de facto waren - aus, sondern behielten die Vorstellung von „Gastarbeitern“, die, wie ursprünglich geplant, nach zwei Jahren zurückkehren und durch neue Arbeiter ersetzt werden würden. So wurde das Fehlen von Integrationsangeboten gerechtfertigt. Aufgrund der Verschiedenheit des christlich - abendländischen und des moslemischen Lebensstils wird ihre Notwendigkeit jedoch immer deutlicher, denn nach Angaben der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin (2001, S.46) stellen islamische Gemeinden mit insgesamt 2,3 Millionen Mitgliedern mittlerweile die drittgrößte religiöse Gemeinschaft in Deutschland dar – eine Bevölkerungsgruppe, die nicht mehr ignoriert werden kann.

Das islamische Wertesystem ist bei den türkischen Einwanderern trotz der laizistischen Grundordnung ihres Heimatlandes noch stark verankert. Obwohl sich viele Türken nicht als streng religiöse Moslems bezeichnen, stellt Heidarpur – Ghazwini (1986, S. 24) eine Rückbesinnung auf den Islam als Identifikationsmöglichkeit fest.

Dies beinhaltet auch die Beibehaltung des moslemischen Frauenbildes, das bei uns meist auf großes Unverständnis stößt. So ist das Tragen des Kopftuches für viele Deutsche ein Symbol für die Unterdrückung der Frau, und besonders jungen Türkinnen glaubt man nicht, dass sie es bewusst und freiwillig tragen. Eher werden sie als rückschrittlich und ihren männlichen Verwandten untergeordnet dargestellt, obwohl viele es selbst anders wahrnehmen.

Der Verlust der Großfamilie sorgte bei vielen aus den ländlichen Gebieten der Türkei stammenden Einwanderern für Vereinsamung, vor allem bei Müttern, die die Geborgenheit der Frauengemeinschaft gewohnt waren. Sie sind nun mit ihren Kindern allein zuhause, da der Mann arbeitet und sie zu den deutschen Frauen aufgrund der Sprachprobleme nur schwer Kontakte knüpfen können.

In vielen Großstädten bildeten sich eigene türkische Viertel, in denen es möglich ist, die wichtigsten alltäglichen Dinge ohne Kontakt zu Deutschen zu erledigen. In Kulturvereinen wird die islamische Kultur und Religion gepflegt, um so ein Gemeinschaftsgefühl (wieder-)entstehen lassen. Denn obwohl der Islam keine zentrale Organisationsform hat, wird er grundsätzlich in der Gemeinschaft ausgeübt.

Die große Distanz und Fremdheit auf beiden Seiten entsteht auch bei jungen Leuten und wird durch die noch immer bestehenden Sprachprobleme bei vielen türkischen Jugendlichen verstärkt. Sie beherrschen keine der beiden Sprachen perfekt, sondern sprechen situationsbedingt (zum Beispiel zuhause oder in der Schule) Türkisch oder Deutsch. Einer Studie von Heidarpur – Ghazwini (1986, S. 189) zufolge fühlen sich türkische Eltern verletzt, wenn ihre Kinder zuhause untereinander Deutsch sprechen, und fürchten die Entfremdung der Kinder von der türkischen Kultur. In der Schule jedoch wird erwartet, dass die Jugendlichen sich auf Deutsch unterhalten. Sie geraten dadurch in eine Situation, die Atabay (1994, S. 55) als „doppelte Halbsprachigkeit“ bezeichnet.

Auch die Werteerziehung ist von einer Zweigleisigkeit geprägt, die für die Jugendlichen eine Überforderung darstellen kann. Die wichtigsten Erziehungsziele der deutschen Schulen sind Verantwortungsbewusstsein, Unabhängigkeit und eine eigenständige Persönlichkeit, während nach Darstellung von Breuer (1998, S.144) türkische Eltern ihre Kinder eher zu Ehrlichkeit, Gehorsam, Leistungsbereitschaft und Gemeinschaftsgefühl erziehen und ihnen religiöse und traditionelle Werte nahe bringen wollen. In deutschen Schulen gibt es jedoch trotz der jüngsten Bemühungen noch keine moslemisch - religiöse Unterweisung, weshalb viele muslimische Eltern ihre Kinder parallel zur allgemeinbildenden Schule auf Koranschulen schicken, in denen diesen der Koran, islamisches Recht und Traditionen vermittelt werden. In der deutschen Öffentlichkeit sind diese Koranschulen jedoch in Misskredit geraten, da sie unter dem Verdacht stehen, antisemitische, islamistische und verfassungsfeindliche Inhalte zu verbreiten und die Kinder körperlich zu züchtigen. Laut Marburger (1987, S.181) sind diese Vorbehalte bei einem Teil der Koranschulen (jedoch nicht allen) berechtigt.

Entgegen der verbreiteten Vorstellung, die Rückbesinnung auf moslemische Werte käme allein von der Erfahrung der Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft und ihrer Ablehnung der islamischen Lebensweise, nennt Schiffauer (2001, S. 228) als Gründe auch die als unzulänglich empfundenen Moralvorstellungen der westlichen Welt, die nach Ansicht vieler Türken kaputte Familienverhältnisse, sexuelle Freizügigkeit und Alkoholmissbrauch nach sich ziehen. So erklärt er die Anziehungskraft streng religiöser oder sogar islamistischer Vereine auf gebildete junge Türken, die auch in der deutschen Gesellschaft Chancen auf gesellschaftliches Ansehen, z.B. als Arzt oder Ingenieur, haben.

Das Vorurteil gegenüber der westlichen Gesellschaft, Werte wie Familie, Ehre und Tradition spielten keine Rolle mehr, bewirkt bei vielen türkischen Vätern eine Angst um die Ehre ihrer Töchter. Die fehlende Geschlechtertrennung in deutschen Schulen und Jugendclubs hat nach Heidarpur – Ghazwini (1986, S. 182) enorme Konsequenzen für die Mädchen:

Manche Mädchen ordnen sich den Vorstellungen der Väter unter und bekommen deshalb Probleme in der Schule und mit ihren deutschen Altersgenossinnen. So können sie zum Beispiel aus Angst der Väter vor „Ehrverlust“ ihrer Töchter nicht an Klassenfahrten oder Schwimmunterricht teilnehmen. Kontakte zu Jungen sind generell verboten. Durch das Tragen des Kopftuches sind sie von ihren deutschen Klassenkameradinnen stärker abgegrenzt als türkische Jungen, denen auch mehr Freiheiten eingeräumt werden. Für andere Töchter wiederum zieht die ständige Kontrolle durch den Vater eine starke Auseinandersetzung mit den Eltern und die völlige Abgrenzung gegenüber der moslemischen Tradition nach sich, wobei jedoch häufig ein Gefühl der Entwurzelung entsteht, da sie auch in der deutschen Gesellschaft Schwierigkeiten haben, Fuß zu fassen.

Insgesamt stellte jedoch die Ausländerbeauftragte des Berliner Senats (1991, S.36) fest, dass in türkischen Familien nicht grundsätzlich mehr, sondern eher andere Probleme aufträten als in deutschen, und nennt als positive Aspekte gegenüber deutschen Familien das meist dichtere und tragfähigere emotionale Klima in diesen Familien.

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Sexueller Missbrauch an türkischen Mädchen - Grundlegende Überlegungen zur Psychodynamik in der Familie
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Rehabilitationswissenschaften)
Note
1,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
77
Katalognummer
V26132
ISBN (eBook)
9783638285575
Dateigröße
812 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sexueller, Missbrauch, Mädchen, Grundlegende, Psychodynamik, Familie
Arbeit zitieren
Mareike Rescher (Autor:in), 2003, Sexueller Missbrauch an türkischen Mädchen - Grundlegende Überlegungen zur Psychodynamik in der Familie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26132

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