Wolf Wondratschek als Poplyriker


Referat (Ausarbeitung), 2004

23 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Neue Subjektivität vs. politische Lyrik

3. Poplyrik und hermetische Lyrik

4. Das neue Verhältnis zu den Medien

5. Primärquellen
5.1 Ingeborg Bachmann: Dunkles zu sagen
5.2 Erich Fried: Anpassung
5.3 Erich Fried: Logik
5.4 Jakob van Hoddis: Kinematograph
5.5 Peter Schütt: Steckbrief
5.6 Wolf Wondratschek: Das alte sentimentale Gefühl
5.7 Wolf Wondratschek: In den Autos
5.8 Wolf Wondratschek: Was war los letzte Nacht

6. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Hiermit liegt die schriftliche Ausarbeitung eines Referats vor, das ich am 25.11.2003 im Rahmen des Hauptseminars „Popkultur und Literatur seit 1960“ unter der Leitung von Prof. Dr. Johannes Pankau gehalten habe. Nachdem in der vorangegangenen Sitzung die literaturtheoretischen und -geschichtlichen Bedingungen des Phänomens „Neue Subjektivität“ bereits eingehend thematisiert wurden, sollte dieses Referat exemplarisch anhand einiger lyrischer Texte Wolf Wondratscheks aus den siebziger Jahren das Neue an der Neuen Subjektivität[1] demonstrieren.

Zu diesem Zweck wurde zunächst anhand einiger Textbeispiele von Peter Schütt und Erich Fried rekapituliert, wie die politische Lyrik während dieser Zeit funktionierte. Dann wurde an Wondratscheks In den Autos ausführlich untersucht, wovon und auf der Grundlage welcher inhaltlicher Positionen dieser Text sich abgrenzt. In einem zweiten Schritt wurden Ingeborg Bachmanns Dunkles zu sagen und Wondratscheks Das alte sentimentale Gefühl einander gegenübergestellt, um Unterschiede zwischen hermetischer Lyrik und Poplyrik noch einmal deutlich zu machen. Zuletzt wurde am Beispiel des Kinos in den Gedichten Kinematograph von Jakob van Hoddis‘ und Was war los letzte Nacht von Wolf Wondratschek untersucht, wie sich das Verhältnis zu den Medien gewandelt hat.

Aus Zeitknappheit und weil unerwartet technische Probleme auftauchten, konnte in dem Referat nicht mehr auf die besondere Behandlung des Holocaust in Wondratscheks 806 Dachau eingegangen werden. Auch auf eine Diskussion auf der Grundlage eines Vergleichs von Wondratscheks Rock’n Roll Freak und Einsamkeit eines alternden Stones-Fans von F. C. Delius mußte leider verzichtet werden.

2. Neue Subjektivität vs. politische Lyrik

Dem Seminar war bereits bekannt, daß die Neue Subjektivität sich von der politischen Lyrik der sechziger Jahre abgrenzte. Um dies zu veranschaulichen, arbeiteten wir zunächst einige Grundzüge der politischen Lyrik dieser Zeit am Beispiel der Texte Steckbrief von Peter Schütt sowie Logik und Anpassung von Erich Fried[2] heraus.

Zu Beginn stellten wir uns die Frage, was das Besondere bzw. das Politische an Peter Schütts Steckbrief sei. In dem Text wird sehr deutlich die Ausbeutung von Arbeitern durch Arbeitgeber kritisiert, indem letztere als die Verbrecher dargestellt werden, denen dieser Steckbrief gilt. Gleichzeitig fiel nicht nur auf, daß wirtschaftliche Verhätnisse das Thema dieses Gedichts sind, sondern daß dieses Gedicht darüber hinaus auch einen didaktischen Anspruch besitzt. Ziemlich offensichtlich wird in dem Text eine politische Position vertreten, die gleichzeitig als Lösung der thematisierten Probleme betrachtet wird: „Nur das sozialistische Lager / blieb bisher von ihren Anschlägen verschont.“

Wir konnten an diesem Text jedoch nicht nur bemängeln, daß er mit ideologischen Plattheiten argumentiert, sondern auch daß er in sich widersprüchlich ist. So bestehe das Verbrechen der Arbeitgeber darin, sich „große Teile der Werte [...], die von den Arbeitern geschaffen werden“, anzueignen. Gleichzeitig heißt es aber, die „Bande“ der Arbeitgeber „Arbeitet ohne Maske und Pistole“. Wenn also auch die Arbeitgeber arbeiten, was unterscheidet sie dann von den Arbeitern? Auch die Verwendung einer Terminologie, die weniger eine poetische, sondern eher die Sprache von marxistischer Propaganda kennzeichnet, fand wenig Gefallen, so zum Beispiel „Staatsapparat“ oder die bereits zitierte Textstelle: „eignen sie sich / große Teile der Werte an, / die von den Arbeitern geschaffen werden“. Eher negativ bewertete das Plenum bei diesem Text auch die Rückgriffe auf Alltagssprache wie beispielsweise „Tagtäglich“ oder verbrauchte Metaphern wie das „Auge / der Öffentlichkeit“ und „von einflußreichen Kreisen / [...] unterstützt“, die Peter Schütt hier recht arglos in seinen Text einbaut.

Um nicht die Vorstellung aufkommen zu lassen, politische Lyrik sei prinzipiell schlechte Lyrik, sind wir noch kurz auf zwei Texte von Erich Fried eingegangen, Logik und Anpassung. Beide Texte wirken nicht gleich von vornherein politisch, sondern auf den ersten Blick eher wie epigrammhafte Sprachspiele. Der Text Logik zum Beispiel funktioniert auf Grundlage der morphologischen Parallelität von „gestattet“ und „bestattet“ respektive „erlaubt“ und „entlaubt“; diese Wörter unterscheiden sich lediglich aufgrund des jeweiligen Präfix. Eine im engeren Sinne politische Konnotation erhalten die Texte erst durch ihre Einbettung in den Gedichtzyklus und VIETNAM und. Der Titel des gesamten Gedichtbandes erst legt es dem Leser nahe, das Entlauben der Bäume auf den Vietnamkrieg und das von den Amerikanern eingesetzte Agent Orange hin zu interpretieren.

Daß die politische Lyrik der sechziger Jahre vor allem als gesellschaftskritische Literatur zu verstehen ist, wird exemplarisch an Erich Frieds Gedicht Anpassung deutlich, wo einerseits „Anpassung“ dadurch bedingt ist, daß das lyrische Ich lernt, „zu schweigen“, somit also auch auf die Möglichkeit verbaler Kritik verzichtet. Andererseits impliziert der Text, daß das Erlernen des Schweigens als logische Vorstufe einer Stagnation in der individuellen Entwicklung anzusehen ist, denn danach „höre ich / zu lernen auf“, was sich problemlos in eine marxistische Sprachtheorie einbetten ließe.[3] Anders als im besprochenen Text von Peter Schütt jedoch ist dies keine vom Text explizit vorgegebene Lesart.

Vor dem Hintergrund dieser Texte lasen wir nun Wolf Wondratscheks In den Autos[4] und betrachteten zunächst die Form des Gedichts. Wir stellten fest, daß es in acht Versgruppen gegliedert ist. Die erste und die letzte Versgruppe sind dabei identisch und bilden somit einen Rahmen für die kürzeren mittleren Versgruppen. Im Hinblick auf die Einordnung dieses Textes als Poplyrik erinnerte uns diese Wiederholung außerdem an den Refrain eines Popsongs; es wurde gesagt, daß so eine Technik charakterisitisch sei für das poetische Verfahren Wondratscheks, der oft mit refrainartigen Wiederholungen arbeite. In den Rahmenstrophen wird ein „Wir“ charakterisiert, das in den mittleren Versgruppen von anderen („einige“) abgegrenzt wird. Wir versuchten nun zunächst zu interpretieren, was das „Wir“ kennzeichnet. In einem zweiten Schritt untersuchten wir, wem es in den mittleren Versgruppen möglicherweise gegenübergestellt wird.

Im Hinblick darauf, daß In den Autos erstmals 1976 veröffentlicht wurde, und mit Blick auf die allgemeine gesellschaftliche Stimmung der Zeit (die als „Tendenzwende“ bezeichnete Abkehr von den politischen Idealen der Studentenbewegung) interpretierten wir den ersten Vers des Gedichtes – „Wir waren ruhig“ – als Abgrenzung zur 68er-Generation: das „Wir“ verhält sich „ruhig“ anstatt zu rebellieren, die Stimme zu erheben und politisch aktiv zu werden. Als ein ähnlicher Ausdruck von Passivität erschien uns der zweite Vers – „hockten in den alten Autos“. Bereits die Tätigkeit des Hockens erinnert viel stärker an phlegmatisches ‚Rumhängen‘ als es beispielsweise Sitzen tun würde; insbesondere das Hocken in alten Autos interpretierten wir als Abkehr von den Zielen der 68er und ihrem Drang nach Revolution und etwas Neuem. Gleichzeitig wird hier auch das alltägliche Moment der Lyrik der Neuen Subjektivität deutlich: Daß die Autos alt sind wirkt viel authentischer und entspricht eher einer gewissen ‚Alltagsmorbidität‘, wie sie oft in Gedichten von Rolf Dieter Brinkmann audgedrückt wird, als wenn hier die Rede von neuen Autos wäre, die gleichzeitig einen bestimmten Grad an wirtschaftlichem Wohlstand des „Wir“ implizieren würde, der wohl weder der Zielgruppe dieses Gedichts noch der Selbstinszenierung des Autors[5] entsprechen würde.

Mit dem Bild in der dritten Zeile – „drehten am Radio“ – wird einerseits wiederum die Passivität des „Wir“ ausgedrückt (denn Radio zu hören kann in diesem Kontext nur schwer als aktiver Vorgang interpretiert werden), andererseits läßt sich das Drehen am Radio als Symbol für die Suche nach neuen Idealen lesen: das Alte (also möglicherweise das alte Gerede der 68er) ist langweilig geworden.

Die nächsten beiden Zeilen – „und suchten die Straße / nach Süden“ – lassen sich ebenfalls im Sinne einer Absage an revolutionäre Konzepte (wie beispielsweise den „langen Weg durch die Institutionen“) interpretieren, wenn man den „Süden“ als Symbol für Glück nimmt, wie es in den Werbeprospekten von Reiseveranstaltern angepriesen wird. Dann würden diese Zeilen bedeuten: Wir suchten den (unseren eigenen) Weg zum Glück.[6]

Kommen wir nun zu den Versgruppen, die „Einige“ charakterisieren, von denen das „Wir“ in den Rahmenstrophen sich abgrenzt. Im Verlauf des Referats und während der Diskussion im Seminar hat sich gezeigt, das diese Verse nicht eindeutig zu deuten sind und mit guten Gründen an verschiedenen Stellen unterschiedliche Interpretationen möglich sind. Im folgenden sollen deshalb nur einige mögliche Interpretationen aufgelistet werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

So erinnerte die in der zweiten Versgruppe erwähnte „Einsamkeit“ in Kombination mit den darauf folgenden „endgültigen Entschlüssen“ einige Seminarteilnehmer an die Radikalität, die vielen Mitgliedern der Studentenbewegung zu Eigen war, und die sie letztlendlich den („endgültigen“) Entschluß fassen ließ, sich zurückzuziehen, um in ländlichen Kommunen einen alternativen Lebensstil zu erproben.

In ähnlicher Weise läßt sich ein Zugang zur fünften Versgruppe finden. Äußerst progressive Ideen, „radikaler [...] als jede Revolution“, waren bei Einigen zwar vorhanden, aber anders als bei denjenigen aus der zweiten Versgruppe wurden diese Ideen nicht realisiert, sie „träumten“ lediglich vom „Erwachen“.

[...]


[1] Im Rahmen dieses Referats wurden die Begriffe Poplyrik und Neue Subjektivität synonym gebraucht, weil mir eine differenziertere Diskussion dieser Termini hier nicht zweckgemäß schien.

[2] Die verwendeten Primärquellen finden sich allesamt im Anhang. Siehe: 5.5 Peter Schütt: Steckbrief, Seite 16, 5.2 Erich Fried: Anpassung, Seite 14 und ebenfalls auf Seite 14 Punkt 5.3 Erich Fried: Logik.

[3] Valentin Vološinov (aller Wahrscheinlichkeit nach ein Pseudonym von Michail Bachtin) deutet in seinem Buch Фрейдизм (Freudismus) an, wie eine solche marxistische Theorie der Sprache aussehen kann. Ausgehend von einer Kritik der Freudschen Psychoanalyse, legt er dort dar, daß die Fähigkeit zu komplexer sozialer Interaktion den Menschen vom Tier unterscheide (Friedrich Engels legte einen speziellen Fall komplexer sozialer Interaktion zugrunde, als er postulierte, daß nur die Arbeit den Menschen zum Menschen mache). Weiterhin erläutert Vološinov, warum man sprachliches Handeln immer nur als soziales Handeln interpretieren könne, und stellt zum Schluß fest, daß somit Sachverhalte, die nicht verbalisiert werden und damit auch nicht sozial relevant werden können, das Asoziale, also Animalische im Menschen bilden. Analog dazu läßt sich Frieds Gedicht lesen: Das beginnende Schweigen bewirkt die Rückentwicklung des Menschen, der daraufhin zu lernen aufhört.

[4] Siehe 5.7 Wolf Wondratschek: In den Autos, Seite 18.

[5] Auf dem Einband von Chuck’s Zimmer, Wolf Wondratscheks gesammelten Gedichten findet sich ein Foto des Autors in einer Motorrad-Lederjacke. Unter anderem das weist deutlich darauf hin, daß er nicht versuchte, sich als intellektueller Wohlstandsautor zu vermarkten.

[6] Berücksichtigt man noch weitere Gedichte Wondratscheks, so ist auch eine Lesart dieser Zeilen mit sexueller Konnotation möglich, mehr dazu unter 3. Poplyrik und hermetische Lyrik, Seite 7.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Wolf Wondratschek als Poplyriker
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Popkultur und Literatur seit 1960
Note
1,5
Autor
Jahr
2004
Seiten
23
Katalognummer
V25922
ISBN (eBook)
9783638284158
Dateigröße
502 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit werden Spezifika von Popliteratur anhand einiger lyrischer Texte Wolf Wondratscheks aus den siebziger Jahren dargestellt, indem sie mit beispielsweise mit politischer oder hermetischer Lyrik dieser Zeit verglichen werden.
Schlagworte
Wolf, Wondratschek, Poplyriker, Popkultur, Literatur
Arbeit zitieren
M.A. Martin Renz (Autor:in), 2004, Wolf Wondratschek als Poplyriker, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25922

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