Die mittelschottische Aeneis-Übersetzung des Gavin Douglas - Strategien der Übersetzung in der frühen Neuzeit


Magisterarbeit, 2003

88 Seiten, Note: 2.65


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einführung

2. Editionsgeschichte und Forschungsbericht
2.1. Editionsgeschichte
2.2. Forschungsbericht

3. Vergil und Gavin Douglas - ihr Leben und Werk
3.1. Leben und Werk Vergils
3.2. Leben und Werk des Gavin Douglas

4. Die schottische Sprache des Gavin Douglas
4.1. Geschichtlicher Abriß
4.2. Die sprachliche Entwicklung des Schottischen im Mittelalter
4.3. Unterschiede zwischen Inglis und Scottis
4.4. Gavin Douglas’ Begriff des Scottis

5. Die Strukturen von Aeneis und Eneados im Vergleich
5.1. Die Gestalt der Aeneis
5.2. Die Struktur der Eneados und ihre Abweichungen von der Aeneis

6. Die Übersetzungsstrategie des Gavin Douglas
6.1. Einleitung: Metrum und formale Aspekte
6.2. Douglas’ Übersetzungsprinzipien im literaturhistorischen Kontext
6.2.1. Übersetzen in der klassischen Antike: Cicero und Horaz
6.2.2. Übersetzen von der Spätantike bis zur Neuzeit: Hieronymus, Luther
6.3. Douglas’ Prinzipien der Übersetzung
6.3.1. Verbum pro verbo und sensus ad sensum
6.3.2. Erweiterungen des Textes
6.3.3. Sprachliches: Douglas’ Anreicherung des Scottis
6.4. Zusammenfassung

7. Die Übersetzung des Gavin Douglas
7.1. Auslassungen
7.2. Erweiterungen
7.2.1. Füllmaterial für Verslängen und Reimwörter
7.2.2. Hendiadyoin
7.2.3. Kommentare und Erklärungen
7.2.3.1. Patronymika und Toponymika
7.2.3.2. Sacherklärungen
7.2.3.3. Auflösung von Implikaturen
7.2.4. Abweichungen und Fehler

8. Zusammenfassung der Ergebnisse

Anh. A Statistisches zu Aeneis und Eneados

Anh. B Verzeichnis der verwendeten Literatur

ERKLÄRUNG ZUR MAGISTERARBEIT

Hiermit erkläre ich, daß die vorliegende Magisterarbeit ausschließlich von mir selbst ohne fremde Hilfe angefertigt wurde, daß keine anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt wurden, daß die verwendete Literatur im Literaturverzeichnis vollständig aufgeführt ist und wörtliche sowie sinngemäße Zitate hieraus als solche mit der Angabe der Quelle gekennzeichnet sind. Ferner versichere ich, daß ich die vorliegende Magisterarbeit bisher an keiner anderen Hochschule in der Bundesrepublik Deutschland oder im Ausland zu Prüfungszwecken vorgelegt habe.

München, 30. 09. 2003

(Martin Klinkhardt)

KAPITEL 1

EINFÜHRUNG

Was macht eine gute Übersetzung aus? Wer diese Frage gestellt bekommt, wird zunächst meist antworten, sie müsse richtig sein. Diese scheinbar triviale Antwort ist jedoch nur schwer genauer auszuführen. Ein breites Spektrum von Kriterien zeigt sich, das von der möglichst genauen Wiedergabe von Wortlaut, Satzstruktur und Stil über die umfassende Vermittlung des Sinns bis hin zur Bewahrung der Sprachmelodie reicht. Was davon als besonders wichtig erachtet wird, variiert nicht nur von einem Befragten zum nächsten, sondern auch zwischen verschiedenen Textgattungen.

Aus dieser überall leicht nachprüfbaren Tatsache erwachsen zwei Schlußfolgerungen: Jeder Mensch legt - erstens - andere Maßstäbe an die Qualität einer Übersetzung an und übersetzt dementsprechend anders. Daraus folgt auch, daß es - zweitens - keine absolut unübertreffliche Übersetzung gibt. Es gibt jedoch einen Konsens darüber, wie eine solche optimale Version beschaffen sein soll. Sie muß den Sinn des Originals richtig wiedergeben, also die Aussage jedes einzelnen Satzes und des Ganzen hinsichtlich Kommunikationsintention, literarischen Anspielungen, Konnotationen, Denotationen und weiterer Kriterien getreu vermitteln. Daneben soll sie die Wortwahl, den Bau und die Melodie des Satzes bewahren, damit die Akzentuierung der Satzbestandteile und eventuelle Wortspiele erhalten bleiben. Schließlich sollen die Stilebene, die Klarheit und, wo möglich, auch die Länge des Satzes gewahrt werden.

Eine solche ideale Übertragung, die all dies berücksichtigt, ist unerreichbar. Der Übersetzer steht vor der Aufgabe, die verschiedenen Anforderungen so zu gewichten, daß eine Version entsteht, die möglichst viele der genannten Kriterien möglichst gut erfüllt. Dabei kann er (in der heutigen Zeit) auf Modelle zurückgreifen, die Andere für frühere Übersetzungen benutzt haben. Im ausgehenden Mittelalter gab es überaus wenige solcher Modelle, und sie waren in aller Regel auf die Version ins Lateinische ausgerichtet. Die Übersetzung eines Textes in die Volkssprachen war ein unerhört neuer Gedanke. Wer sich damit befaßte, war gezwungen, eigene Kriterien für die Übertragung zu entwickeln. Einer dieser frühen Übersetzer in die Volkssprache ist der schottische Adlige und Bischof Gavin Douglas. Seine Eneados ist von besonderem Interesse, weil er eingehend reflektiert, wie er bei der Übersetzung vorgehen möchte, was zu tun und was zu vermeiden ist. Darüberhinaus wagt er sich an den bekanntesten und berühmtesten Text aus der klassischen Antike, nämlich an Vergils Aeneis, wodurch seinen Anstrengungen besonderes Gewicht zukommt.

Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit der Übersetzungsleistung von Gavin Douglas. Nach der Untersuchung der formalen Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Aeneis und Eneados und einer Einordnung von Douglas’ Sprache gilt das Hauptaugenmerk der Frage, welche Prinzipien Douglas für seine Übersetzung entwickelt. Dabei wird auch dargestellt werden, aus welchen (spät)antiken Quellen Douglas dabei schöpft. Nach der Diskussion der Form beschäftigt sich ein zweiter Teil mit der Darstellung der Prinzipien. Im Anschluß daran wird geprüft, inwiefern sich Douglas an seine eigenen Grundsätze hält. Das sich ergebende Bild wird abgerundet durch die Darstellung einiger relevanter Prinzipien, die Douglas zwar wahrt, jedoch nicht ausdrücklich nennt.

KAPITEL 2

EDITIONSGESCHICHTE UND FORSCHUNGSBERICHT

2.1 EDITIONSGESCHICHTE

Gewöhnlich müssen Herausgeber viel Aufwand treiben, um die Entstehungszeit eines Werkes der frühen Neuzeit zu ermitteln. Bei der Aeneis-Übersetzung des Gavin Douglas liegt der seltene Fall vor, daß wir präzise Daten über die Dauer und den Abschluß der Abfassung besitzen. Douglas selbst bezeugt, daß er das Werk „apon the fest of Marie Magdelane“1, also am 22. Juli 1513 nach achtzehnmonatiger Arbeit vollendet hat. Unklar bleibt allerdings ob dieser Zeitraum die Erstellung einer Reinschrift bereits mit einschließt. Von der Eneados sind fünf Handschriften erhalten, die sämtlich in den vier Dekaden zwischen dem Abschluß der Übersetzung 1513 und dem Erscheinen der ersten gedruckten Ausgabe 1553 entstanden sind:

Die älteste erhaltene Handschrift ist das sogenannte CAMBRIDGE MS., das seinen Namen von dem heutigen Aufbewahrungsort in der Library of Trinity College in Cambridge bezieht. Dem Kolophon nach wurde es von „Master Matho Geddes“ geschrieben, der sich als „Scribe or Writar to the Translatar“ zu erkennen gibt. Geddes war auch Douglas' Kaplan und wurde nach dessen Tod 1522 zu einem der Testamentsvollstrecker bestellt. Die enge Beziehung des Schreibers zu Gavin Douglas macht die Beschreibung des Cambridge MS. als „the first correck coppy nixt efter the Translatioun“ vollkommen glaubwürdig. Damit ist diese Handschrift dem Archetypus nicht nur zeitlich, sondern auch hinsichtlich der Überlieferungs- und Abschriftengeschichte am nächsten und stellt somit einen autoritativen Text dar. Small datiert die Handschrift auf „about the year 1525“ und merkt an „[I]t seems to have been in the hands of Douglas himself as it has several marginal glosses or notes in the Bishop's handwriting“. Wenn die Randnotizen tatsächlich von Douglas selbst stammen, muß das Manuskript früher entstanden sein. Terminus ante quem ist Douglas' Tod im September 1522. Bennetts Ansatz, der das Cambridge MS. „shortly after 1513“ verfaßt sieht, überzeugt mehr. Coldwell kommt zu einem ähnlichen Schluß, wenn er es als „presumably the author’s personal copy“2 betrachtet und vorsichtig auf zirka 1515 datiert. Es ist wahrscheinlich und nur natürlich, daß Douglas bald nach Vollendung der Übersetzung seinen Schreiber Matho Geddes beauftragt hat, eine Reinschrift zu erstellen. Auf sie trifft die oben zitierte Beschreibung als erste korrekte Kopie zu3.

John Small (Hildesheim, New York: Georg Olms, 1970), S. 231, V.1-4.

Das Cambridge MS. ist möglicherweise die erste Abschrift des Eneados- Manuskripts überhaupt. Sie stammt ohne Zweifel aus der nächsten Umgebung von Gavin Douglas und ist der älteste autoritative erhaltene Text der Eneados. Bennett zieht die Randglossen der Handschrift im übrigen nicht zur Datierung heran. Er notiert zwar „two other sixteenth-century hands“4, geht allerdings nicht auf die Frage ein, ob eine davon Douglas zuzuordnen ist. Coldwell hält dies für möglich und nimmt zwischen Small und Bennett eine vermittelnde Position ein.

Das ELPHYNSTOUN MS. ist vor oder im Jahre 1527 abgeschlossen worden. Coldwell findet, es „is probably of about the same age as the Cambridge MS.“5, ohne jedoch seine Datierung zu begründen. Als terminus ante quem finden sich unten auf der ersten Seite von zweiter Hand die Worte „W. Hay, 1527“. William Hay, damals Pfarrer in Turriff, Aberdeenshire, schenkte die Handschrift einem David Anderson. 1692 gelangt sie wiederum durch Schenkung in die Library of the University of Edinburgh. Ihren Namen hat sie von M. Joannes Elphynstoun, der die Abschrift erstellt hat.

Von den anderen Handschriften der Eneados unterscheidet sich das Elphynstoun MS. darin, daß es keinen Titel und kein Kolophon hat. Small deutet die Nennung zweier überaus komplexer Formen der Logik nach dem „explicit“ des 13. Buches dahingehend, daß Elphynstoun die Abschrift sehr anstrengend fand. Dessen ungeachtet ist das Manuskript sauber und leserlich geschrieben. Small merkt an, daß auch die Orthographie genauso gut oder besser sei als die des Cambridge MS.

Zwischen 1530 und 1540, vermutet Small, entsteht das RUTHVEN MS. Coldwell verficht auch hier eine frühe Datierung; er hält das Ruthven MS für zeitgleich mit dem Elphynstoun MS entstanden, das er auf 1515-1520 datiert. Der Name rührt von einem zwischenzeitlichen Besitzer her, dessen Name „W.Dñs. Ruthven“ gegenüber der Titelseite eingetragen ist. Ruthven wurde später zum Earl of Gowrie erhoben und 1584 hingerichtet. 1643 gelangt das Ruthven MS durch Schenkung von Graduierten an die Library of the University of Edinburgh, wo es auch heute noch liegt. Das Manuskript zeichnet sich aus durch eine saubere, markante Handschrift.

Der Aufbewahrungsort in der Library of the Archbishop of Canterbury im Lambeth Palace hat dem LAMBETH MS seinen Namen gegeben. Es ist sehr gut erhalten und wurde um 1545 erstellt. Small gibt als Entstehungszeit 1545-46 an und bezieht sich dabei auf die Datumsangaben in der Einleitung beziehungsweise im Kolophon. Sie nennen jedoch dasselbe Datum desselben Jahres (2. Februar 1545), das entweder den Tag bezeichnet, an dem die Abschrift begonnen, oder den Tag, an dem sie fertiggestellt wurde. Coldwell kommt zu demselben Ergebnis. Am Ende nennt der Schreiber seinen Namen, „Thomas Bellenden, of Auchinoull, Justice-clerk“.

Als Vorlage diente dem Kopisten wenigstens zeitweise das Cambridge MS. oder eine Handschrift aus dessen Überlieferungsstrang. Das ergibt sich daraus, daß er begonnen hat, die Marginalkommentare des Cambridge MS. an den entsprechenden Stellen seines Manuskripts einzutragen.

Das BATH MS ist die letzte Abschrift der Eneados vor dem Erscheinen der ersten gedruckten Ausgabe. Schreiber ist Henry Aytoun, „Notare publick“. Stolz nennt er den 22. November 1547 als den Tag, an dem er diese Arbeit abgeschlossen hat. Das Bath MS liegt in der Bibliothek des Marquis of Bath in Longleate, Wiltshire.

Vierzig Jahre nachdem Douglas seine Aeneis-Übersetzung vollendet hat, erscheint sie 1553 in London zum ersten Mal in gedruckter Form. Besorgt wurde die Ausgabe wahrscheinlich von dem Druckereibesitzer William Copland. Es ist unklar, welche Handschrift der Ausgabe zugrundelag. Möglicherweise basiert sie auf einem verlorenen sechsten Manuskript, das, wie Bennett vermutet, „in the same tradition as, but certainly not identical with, the Ruthven manuscript“6 steht. Coplands Ausgabe enthält, wie der Titel ausweist, „the xiii Bukes of Eneados of the famose Poete Virgill“. Small und Coldwell sind sich darin einig, daß Coplands

Ausgabe „remarkable for its inaccuracies“7 ist. Eine weitere Besonderheit besteht darin, daß Copland, in dessen Druckerei viele antikatholische Texte erschienen, die Eneados-Prologe sorgfältig von Katholizismen wie Erwähnungen der Jungfrau Maria und des Fegefeuers reinigte. Vermutlich haben sittliche Bedenken dagegen dazu geführt, daß Copland das Abenteuer von Dido und Aeneas im 4. Buch gestrichen hat.

Thomas Ruddimans Ausgabe der Eneados von 1710 ist wenig mehr als eine überarbeitete und teilweise verbesserte Neuauflage von Copland. Ruddiman legt den Text der Ausgabe von 1553 zugrunde. Viele Fehler von Copland treten trotz der guten philologischen Kenntnisse, die Small Ruddiman8 bescheinigt, wieder auf. Ruddiman räumt im Vorwort ein, daß die ersten 45 Seiten allein auf Copland basieren. Sie seien bereits fertiggestellt gewesen, als Ruddiman die Nachricht erhielt, daß noch eine Handschrift der Eneados existierte. Für den Rest der Ausgabe benutzt Ruddiman das Ruthven Manuskript9. Morisons Teilausgabe von 1787 bietet nur die Prologe zu den Büchern 4, 7, 8, 12 und 13; es handelt sich dabei lediglich um einen Nachdruck von Ruddiman.

Andrew Rutherford und George Dundas (später Lord Rutherford beziehungsweise Lord Manor) sind die Herausgeber des sogenannten Bannatyne-Drucks. Diese zweibändige Ausgabe entsteht für den Bannatyne Club in Edinburgh. Sie unterscheidet sich von den anderen Editionen vor allem dadurch, daß sie ausschließlich die Übersetzung bietet und auf die Wiedergabe der Prologe und Anmerkungen verzichtet. Rutherford und Dundas sind die ersten Herausgeber, die als Grundlage für ihre Edition mit dem Cambridge MS. den Text mit der höchsten Autorität heranziehen. Coldwell bescheinigt ihnen, eine „accurate copy of the Cambridge MS“10 erstellt zu haben.

Mit seiner vierbändigen Gesamtausgabe der Werke von Gavin Douglas legt John Small 1874 die erste Edition vor, die sich einer wissenschaftlichen Textausgabe nähert. Band 1 enthält Douglas' kleinere Werke, also „The Palace of Honour“, „King Hart“ und „Conscience“. Die Aeneis-Übersetzung nimmt die Bände 2-4 ein. Small legt ihr das Elphynstoun MS zugrunde, und zwar mit der erklärten Absicht, eine neue Handschrift im Druck verfügbar zu machen. Besonderen Wert gewinnt Smalls Ausgabe durch die „Biographical Sketch“, die einen recht detaillierten Blick über Douglas' Leben gibt. Die „Notices of the Manuscripts and Printed Editions of the Works of Gavin Douglas“ waren, wie oben bereits angedeutet, zum Zeitpunkt des Erscheinens schon widersprüchlich und sind heute überholt.

Die heute maßgebliche Ausgabe von David F.C. Coldwell ist bei der Scottish Text Society erschienen. Band II (1957) umfaßt Eneados 1-5, Band III (1959) bietet Eneados 6-10; Band IV (1960) schließt den Text mit Eneados 11-13 ab und der zuletzt erschienene Band I (1964) bietet neben dem Index einen Abriß zu Douglas' Leben. Coldwell baut auf dem Cambridge MS auf, das er als dasjenige mit der höchsten Textautorität anerkennt.

1964 veröffentlicht Coldwell auch eine Auswahl aus Douglas' Aeneisübersetzung. Sie umfaßt die Prologe zu den Büchern 1, 7, 12 und 13 jeweils komplett und bietet auch Auszüge aus den Büchern 1, 2, 4, 6 , 7 und 12 sowie aus den Prologen zu Eneados 4 und 9.

2.2 FORSCHUNGSBERICHT

Die Sekundärliteratur zu Vergils Aeneis ist Legion. Eine für Nicht-Altphilologen geeignete Einführung zu diesem Epos bietet die Veröffentlichung des emeritierten Münchener Klassischen Philogen Werner Suerbaum11. Sie enthält eine Bibliographie mit zahlreichen weitern Literaturhinweisen zu verschiedenen Aspekten der Aeneis.

Die Literatur zu Gavin Douglas’ Übersetzung Eneados fällt ungleich übersichtlicher aus, weil Douglas weniger Beachtung findet als seine englischen und schottischen Zeitgenossen. Die in ihrem Detailreichtum bis heute unübertroffene Darstellung von Gavin Douglas’ Leben stammt von John Small und befindet sich in der Einführung zu seiner vierbändigen Werkausgabe der Poetical Works (1874). Priscilla Bawcutt bringt Smalls Angaben in ihrer Critical Study (1976) auf den neuesten Stand, indem sie manches Detail ergänzt, korrigiert und auch eigene Hypothesen für die Datierung unter anderem des Frankreichaufenthaltes von Gavin Douglas präsentiert. Beide Lebensbeschreibungen ergänzen einander zu einem differenzierten Bild, insbesondere wenn man das Kapitel zum „Cultural background“ bei Frau Bawcutt hinzuzieht.

Die Handschriften der Eneados und ihre Überlieferungen sind erstmals ebenfalls bei Small (1874) dargestellt. Die dort vorgetragenen Datierungen sind jedoch deutlich inakkurat. Die verläßlichste Darstellung der handschriftlichen Tradition der Eneados stammt aus Coldwells Einleitung (1964) zu seiner vierbändigen Ausgabe der Eneados (1957 - 1964). Diese sollte nicht mit der durchaus nur mäßigen Einleitung zu den Selections from Gavin Douglas verwechselt werden, die Coldwell ebenfalls 1964 veröffentlicht und sich vor allem an den interessierten Laien wendet. In der „Introduction“ zu seiner Gesamtausgabe der Eneados präsentiert Coldwell erstmals ein längst überfälliges Stemma, das die Überlieferungswege sowie die Beziehungen der Manuskripte zueinander überzeugend darstellt. Dessen ungeachtet empfiehlt es sich, neben diesen Angaben zu beachten, was Frau Bawcutt und J.A.W. Bennett (1946) über die Datierung der Manuskripte ausführen.

Die besten Angaben zu den gedruckten Ausgaben finden sich bei Small und Bawcutt. Ihre Angaben werden hervorragend ergänzt durch Bennetts kurze Darstellung der Eneados-Rezeption bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.

Neben der für fast jeden wichtigen Aspekt der Eneados unverzichtbaren Critical Study von Bawcutt gibt es eine Reihe weiterer Studien, die sich mit der Sprache der Eneados befassen. Die älteste erwähnenswerte ist Schmidts „Schottische Aeneisübersetzung von Gavin Douglas“ (1910). Schmidt interessiert sich für die Eneados als das Produkt der Übersetzung. Welche Prinzipien Douglas dabei zum Tragen bringt, ist für ihn weniger relevant. Die vorliegende Arbeit verdankt ihm wertvolle Anregungen für das Vorgehen. Quentin George Johnsons Studie „Gavin Douglas as poet-translator“ (1967) befaßt sich vorwiegend mit stilistischen und formalen Aspekten der Übersetzung. Charles Blyths „Knychtlyke stile“ (1987) betrachtet die Eneados als einen noch dem Mittelalter verhafteten Text und untersucht, welche mittelalterlichen Traditionen sich in Douglas’ Arbeit manifestieren. Mit dem Lehngut in der Eneados befaßt sich die Dissertation von Josef Hofmann (1925), von der leider nur der Teil zu den „Nordischen Lehnwörtern bei Gavin Douglas“ veröffentlicht ist.

Eine Untersuchung, die sich mit einem ausgesprochenen Randgebiet der Forschung zur Eneados von Gavin Douglas befaßt, ist der Aufsatz „’The Fift Quheill’“ (1995). In ihm wird herausarbeitet, daß Douglas bei der Übersetzung der Aeneis-Fortdichtung von Maffeo Vegio ganz anders mit dem Text umgeht als er mit den vergilischen Aeneis-Büchern verfährt.

KAPITEL 3

VERGIL UND GAVIN DOUGLAS - IHR LEBEN UND WERK

3.1 LEBEN UND WERK VERGILS

Eine Biographie des Publius Vergilius Maro zu schreiben, ist nicht ganz einfach. Zwar gibt es viele Quellen und Zeugnisse zu seinem Leben aus der Antike, jedoch sind sie oft nicht verläßlich. Daneben sind die Informationen sehr ungleich verteilt: Über den sozialen Stand seines Elternhauses kann man kaum mehr als mutmaßen; dagegen ist bekannt, daß Vergil auf einer Reise mit Freunden nach Brindisi Magenbeschwerden hatte12. Viele Details seines Lebens entspringen auch Interpretationen seiner Werke und beruhen somit auf der nicht unumstrittenen Annahme, daß insbesondere die Eklogen Autobiographisches enthalten. Publius Vergilius Maro wird an den Iden des Oktober, also am 13. Oktober des Jahres 70 v.Chr. in Andes bei Mantua geboren. Der Gentilname deutet auf etruskische Abstammung hin. Italien kommt in dieser Zeit nach den politischen Erschütterungen des Bundesgenossenkrieges und des blutigen Bürgerkrieges zwischen Sullanern und Marianern ein wenig zur Ruhe. Die Familie hat die Wirren der Zeit offenbar so gut überstanden, daß Vergil im Jahre 52 v.Chr. vom väterlichen Landgut zum Rhetorik- und Grammatikunterricht nach Rom geschickt werden kann. Bald darauf zerbricht die römische Republik im Bürgerkrieg des vom Senat bevollmächtigten Pompeius gegen C. Iulius Caesar. Nach dessen Ermordung dauert es dreizehn Jahre, bis Octavian als Sieger über die Caesarmörder und über Marcus Antonius den Bürgerkrieg beendet. Wo Vergil diese Zeit verbringt, ist nicht gesichert. Möglicherweise hört er in Neapel philosophische Vorlesungen des Epikureers Siro.

In den Landverteilungen an die Veteranen (41 v.Chr.) wird das Familiengut enteignet, er selbst erhält jedoch eine Entschädigung dafür. Diese Situation spiegelt sich in den Eklogen wieder, an denen Vergil damals zu arbeiten beginnt. In ihnen zeigt sich „ein lebendiges Bild der Nöte jener Zeit“13. Sie werden ganz verschieden interpretiert: Als Flucht aus der grausigen Realität des Bürgerkrieges in eine idyllisch-bukolische Hirtenwelt, als Aufforderung zum Rückzug aus dem Politischen ins Private oder als Vision eines besseren Rom. Die Welt der Eklogen ist allerdings nicht makellos schön wie die vorangegangenen des Theokrit, auf die sich Vergil des öfteren bezieht, sondern trägt die Narben der Realität.

Die neue Herrschaftsform des Prinzipats, die Augustus einführt, sichert die politische Stabilität. Daneben sorgt der princeps durch seine umsichtige Politik für das Wiedererstarken der privaten und öffentlichen Moral (Ehegesetze,

Götterkulte), wirtschaftlichen Aufschwung und eine kulturelle Blüte. Es scheint, daß Vergil mit Augustus bekannt, vielleicht sogar befreundet ist: Eine Passage der ersten Ekloge legt nahe, daß der princeps selbst dafür gesorgt hat, daß Vergil für sein Landgut entschädigt wird. Freunde führen ihn in den Kreis um Augustus und Maecenas ein, wohl aufmerksam geworden durch den Erfolg der nur oberflächlich heiteren Eklogen.

Zwischen 37 und 30 v.Chr. arbeitet Vergil an der Georgica, einem vier Bücher umfassenden Lehrgedicht über die Landwirtschaft, in dem das Tagwerk des italischen Bauern verherrlicht wird. Sie sind von dem Gedanken durchflossen, daß stetige Arbeit (labor) und ethisch gutes Verhalten (virtus) das den Göttern gefällige Menschsein bewirken. „Die Schilderung des Bienenstaates [im 4.Buch der Georgica] schließlich soll über den vordergründigen Sinn hinaus Gleichnis sein dafür, daß die Herrschaft des Augustus, der Prinzipat, gottgewollt und natürlich sei.“14

Letzterer Gedanke kommt zur Vollendung in Vergils grandiosem Hauptwerk, der Aeneis. In ihr schreibt Vergil Homers Epen fort, indem er berichtet, was Aeneas, dem einzigen trojanischen Helden, der Trojas Untergang entkommen ist, widerfährt. Dabei nehmen seine Irrfahrten die eine, der Kampf um die Ansiedlung in Latium die andere Hälfte des Werkes ein. Wenn dem Aeneas prophezeit wird, daß sein Sohn Iulus eine stolze Stadt gründen wird, und er selbst bei einem Gang in die Unterwelt den Augustus als Vollender seines Strebens gezeigt bekommt, schließt sich der Bogen herrschaftlicher Legitimation aus göttlichem Willen und mythischer Herleitung heraus. Wie eindringlich die Aeneis schon damals gewirkt haben muß, illustriert eine Anekdote, derzufolge Livia, die Frau des Augustus, in Ohnmacht gefallen sein soll, als Vergil selbst dem Kaiserpaar die sogenannte „Heldenschau“ vortrug. Das Epos zu vollenden bleibt Vergil versagt; er stirbt am 21. September des Jahres 19 v.Chr. in Brundisium auf der Rückreise aus Griechenland. Über seinen letzten Willen, daß die Aeneis, der er nicht mehr den letzten Schliff geben konnte, vernichtet werden solle, setzt sich Augustus hinweg. Dem Kaiser selbst ist es also zu verdanken, daß das bedeutendste literarische Werk seiner Zeit den Tod seines Verfassers überlebt hat. Das Grabepigramm, das

Vergil auf dem Sterbebett selbst verfaßt haben soll, faßt seinen Lebensweg und sein Werk zusammen:

Mantua me genuit, Calabri rapuere, tenet nunc Parthenope; cecini pascua, rura, duces.

Bereits kurz nach ihrem Erscheinen erfährt die Aeneis eine starke Verbreitung und damit verbunden eine immense, positive Rezeption. Wenige Jahrzehnte nach seinem Tod wird Vergils Hauptwerk Schullektüre, wofür die Gründe nicht ausschließlich in der Qualität der Dichtung zu suchen sind, sondern vor allem in der Aussage des Textes: Die Rechtfertigung der römischen Weltherrschaft, die Aitiologien vieler historischer Konflikte, die Prophezeiung ewigen Ruhmes machen die Aeneis gleichsam zum Grundgesetz römischen Selbstverständnisses. Mit der Aeneis, der Kultlegende des Stammvaters der Römer hat Vergil

Rom das nationale und übernationale Epos geschenkt, das römische Eigenart und römisches Wollen so ausdrückt, daß die Römer in ihm ihr Bestes sofort und immer erkannten.15

Zeugen der Rezeption und der eindringlichen Auseinandersetzung mit der Aeneis finden sich in allen Jahrhunderten. Als Schultext ist er mindestens in der oberen Mittelschicht und der sozialen Elite bekannt, bereits Vergils Zeitgenossen spielen auf das Werk an16. Die Aeneis wird - eine ebenso seltene wie bemerkenswerte Auszeichnung - aus dem Lateinischen ins Griechische übertragen. In der Kaiserzeit und in der Spätantike entstehen Vergilcentones17, wichtige Kommentare werden verfaßt, um dem Leser, der zumeist mit der heidnischen Mythologie und oft auch mit bestimmten, sehr gehobenen Ausdrücken nichts mehr anzufangen weiß, den Text zu erhellen; besonders erwähnt sei hier der noch heute nützliche Kommentar des Servius. Im Mittelalter ist Vergil der Dichter schlechthin; Verfasser mancher Werke nennen ihn einfach poeta -‚den Dichter’. Büchner nennt das achte und neunte Jahrhundert mit L. Traube die aetas Vergiliana - keine Klosterbibliothek ohne Vergil18. Die Renaissance (besonders Scaliger) stellt Vergil und seine Aeneis noch über den Dichter, dessen Großepen

Ilias und Odyssee die Vorlage zum lateinischen Epos abgaben, über Homer selbst. In dieser Zeit nehmen sich viele Autoren Vergil zum Vorbild, im englischen Sprachraum ist der Beowulf von dem Römer geprägt, allen voran aber geht Dante Alighieri, dessen Divina Commedia ohne Vergil undenkbar ist. Gedruckt erscheint die Aeneis erstmals 1469 in Rom, im Jahr darauf in Venedig. Die erste Übersetzung ins Deutsche wird 1515 in Straßburg gedruckt. Ungefähr zur gleichen Zeit entsteht auch auf den britischen Inseln eine Übersetzung, angefertigt von einem Schotten: Gavin Douglas.

3.2 LEBEN UND WERK DES GAVIN DOUGLAS

Gavin Douglas wurde vermutlich Ende 1474 oder Anfang 1475 auf einem der Anwesen der Familie Douglas in Schottland geboren19. Der wahrscheinlichste Geburtsort ist Tantallon Castle in East Lothian: Ein Freund von Douglas, der unweit von Tantallon Castle zur Welt kam, spielt darauf an, daß Douglas und er aus derselben Gegend stammten. In Frage kommen aber auch Castle Douglas (Lanarkshire), Dudhope bei Dundee oder Abernethy. Die Festlegung des Geburtsjahres errechnet sich aus einem anderen Datum: Douglas schreibt sich 1489 oder 1490 an der Universität von St.Andrews ein. Die Forschung (z.B. Schmidt20, Hofmann21, Small22, Bawcutt23 ) stimmt überein, daß ein Studium gewöhnlich im Alter von 15 Jahren begonnen wurde, und erschließt daraus das wahrscheinliche Geburtsdatum 1474/75.

An der Universität St.Andrews genießt Douglas eine hervorragende Ausbildung in den klassischen Künsten, der Literatur, Theologie und des Rechtes. Die Studieninhalte scheinen seinen Neigungen zu entsprechen und schlagen sich später in juristischer Tätigkeit für seine Familie, seinen kirchlichen „Beruf“ und der schriftstellerischen Tätigkeit nieder. 1494 beendet Douglas sein Studium an St.Andrews. Hofmann spricht vom Erwerb des Magister Artium, während Bawcutt darauf hinweist, daß es dafür keine Belege gibt24.

Douglas' Aufenthaltsort in den nächsten zwei Jahren ist unklar. Ein Aufenthalt an der Universität von Paris zur Komplettierung seines Studiums 1495/96 wird vielfach erwogen und allgemein verneint. Falls Douglas diese Zeit in Paris verbracht hat, ist es möglich, wenn auch recht unwahrscheinlich, daß er dem französischen Bischof und Vergilübersetzer Octavien de Saint-Gelais begegnet ist. Saint-Gelais' Dichtung Sejours d'Honneur wird verschiedentlich als Vorlage für den Palace of Honour angesehen, inzwischen gilt aber als gesichert, daß die direkte Vorlage für Douglas' Dichtung Geoffrey Chaucers House of Fame ist.

Für einen Frankreichaufenthalt spricht der Umstand, daß Douglas des Französischen hinreichend mächtig war, um eine diplomatische Mission nach Paris zu übernehmen, dagegen spricht, daß sein Name in den - allerdings ohnehin nur unvollständig erhaltenen - Matrikellisten der Pariser Universität fehlt. Bis 1496 oder 1497 muß Douglas auch die Priesterweihe empfangen haben, da er in diesem Jahr die Pfründe Monymusk erhielt. Im Jahr darauf erhält Douglas auch die Pfarrei in Glenquhom.

Auf 1501 ist die Entstehung des ältesten erhaltenen Werkes von Gavin Douglas, des „Palace of Honour“ datiert. In dieser Traumallegorie findet sich eine Anspielung darauf, daß Douglas vor dem „Palace of Honour“ bereits die „Remedia Amoris“ von Ovid übersetzt hat25. Dieses Werk ist allerdings verloren, und es ist nicht völlig auszuschließen, daß es sich dabei um einen topischen Verweis handelt, der nur Gelehrsamkeit demonstrieren soll.

Der „Palace of Honour“ verweist auf ein weiteres, sehr wohl existierendes Werk von Gavin Douglas. Gegen Ende des Gedichtes gibt Venus ihm „a book to put in rhyme, by which, doubtless, the poet meant Virgil.“26. Zu dieser Zeit plante Douglas offenbar schon, die Aeneis zu übersetzen; möglicherweise begann er bereits mit Vorarbeiten zu dieser Arbeit.

Die Huldigung an James IV, mit der der „Palace of Honour“ endet, bringt Douglas ein neues Amt an. Wohl noch 1501, spätestens aber vor März 150327 wird er Dean oder Provost der Kollegiatenkirche St.Giles in Edinburgh. Damit hat Douglas eine Position in der nach der Chapel Royal in Stirling wichtigsten Kirche Schottlands inne.

Die große Lücke, die Small zwischen 1502 und 1513 im Lebenslauf von Gavin Douglas sieht, hat sich durch die Forschungsarbeit von Priscilla Bawcutt weitgehend geschlossen. Die Präbende und das Amt des canon von Linton/Hauch (heute Prestonkirk) bekam Douglas wohl erst nach dem Februar 1504 verliehen. Im folgenden Jahr ist er zweimal bei Sitzungen der Lords of the Council zugegen, Zwischen 1505-1509 gibt es keine Belege dafür, daß sich Gavin Douglas in Schottland aufgehalten hat. Bawcutt vermutet für diese Zeit einen Frankreichaufenthalt von Douglas. Für eine solche Reise sprechen mehrere Anzeichen: Ein Brief von Douglas' Zeitgenossen John Major, der dessen Freundschaft tam domi quam Parisiis rühmt, sowie Douglas' Französischkenntnisse, die ihn für das diplomatische Parkett qualifizieren. Von einem fiktionalen „Dialogus inter duos famatos viros magistrum Douglaiseum ... et magistrum Dauidem Crenstonem“ behauptet Bawcutt, er sei möglicherweise „the literary counterpart to arguments and debates in which Douglas had participated fairly recently“28. Da mit David Cranston der eine Disputant in der Zeit vor dem Erscheinen des Buches in Paris studierte, folgert Bawcutt, daß die Gespräche, die dem 1510 erschienenen „Dialogus“ zugrundeliegen, wenige Zeit zuvor in der französischen Hauptstadt stattgefunden haben müssen. Eine solche Argumentation baut stark auf Annahmen. Dennoch ist Bawcutts Datierung von Gavin Douglas' Frankreichaufenthalt eine elegante Lösung für das Problem, daß Douglas Zeit in Paris verbrachte, in der Zeit aber, in der die ältere Forschung (Small, Hofmann u.a.) ihn in der französischen Hauptstadt sieht (1494-6), seine Priesterweihe erhielt und erste kirchliche Aufgaben übernahm.

Im Jahre 1509 ist Douglas allerdings sicher wieder in Schottland. In diesem Jahr nimmt er wieder an einer Sitzung der Lords of the Council teil. Im darauffolgenden Jahr vollendet er die Dichtung „King Hart“. Ob Douglas tatsächlich der Autor des „King Hart“ ist, wurde lange bestritten. In den letzten Jahren neigt die Forschung wieder dazu, Douglas' Urheberschaft anzuerkennen. Mit diesem Werk beginnt die Phase, während der Gavin Douglas den Höhepunkt seiner literarischen Produktivität erreicht. Im Januar 1512 beginnt Douglas die Arbeit an der Aeneis-Übersetzung, die er „apon the fest of Marie Magdelane“29, also am 22. Juli 1513 vollendet. Die Eneados ist mit deutlichem Abstand das längste Werk, das Douglas verfaßt. Bald nach Abschluß der Arbeit entsteht mit dem Cambridge MS. die erste Abschrift des Werkes, die aus der Feder von Douglas' Sekretär Matthew Geddes stammt.

Die Schlacht von Flodden am 19. September verändert das Machtgefüge in Schottland nachhaltig. Im Kampfe gegen ein englisches Heer kommen ein großer Teil des schottischen Hochadels sowie König James IV. selbst um. In dem so entstandenen Machtvakuum wächst der Familie Douglas eine neue große Bedeutung zu. Zehn Tage nach der Schlacht wird Gavin Douglas als neues Mitglied in den Kronrat berufen, gegen Ende Oktober 1513 als ständiger Berater der Königinwitwe Margaret, die für ihren Sohn James V. die Regierungsgeschäfte führt. Die Stadt Edinburgh anerkennt Douglas' einflußreiche Stellung, indem sie ihn mit dem Bürgerrecht der Stadt ehrt.

Im Juni 1514 wird Gavin Douglas zum Abt der reichsten schottischen Abtei Aberbrothock berufen; er wird allerdings nie vom Papst bestätigt und scheint das Amt auch nicht angetreten zu haben. Die Hochzeit seines Neffen, des 6. Earl of Angus, mit der Königinwitwe Margaret im August desselben Jahres rückt für Douglas eine höhere Würde in greifbare Nähe. Er bemüht sich darum, Erzbischof von St. Andrews zu werden. Es gibt lange Streitereien und Intrigen, in deren Zuge Douglas schließlich unterliegt. Andrew Forman wird der neue Erzbischof und überdies auch Abt von Aberbrothock. Margaret empfiehlt dem Papst Douglas als Bischof von Dunkeld, das zu Glasgow, dem anderen Erzbistum in Schottland, gehört. Auch andere Personen von Rang verwenden sich für Douglas; unter anderem schreibt König Henry VIII. von England dem Papst. Im Mai 1515 beruft der Papst Douglas zum Bischof von Dunkeld; gleichzeitig wird Douglas auch Vormund für James V. Aufgrund des Vorwurfs, Dunkeld unrechtmäßig erworben zu haben, wird Gavin Douglas im Juli 1515 angeklagt, verurteilt und bleibt fast ein Jahr in Haft auf der Festung Edinburgh. 1516 sitzt Douglas allerdings wieder im Kronrat. In diesem Jahr wird er auch ins Episkopat eingeführt, allerdings nicht vom „zuständigen“ Erzbischof von Glasgow, sondern von seinem persönlichen Konkurrenten Andrew Forman, Erzbischof von St. Andrews. Von Mitte Mai bis Ende August 1517 reist Gavin Douglas in diplomatischer Mission nach Frankreich; die Gesandtschaft bereitet den Vertrag von Rouen vor, der das Bündnis zwischen Schottland und Frankreich erneuert. Der währenddessen weiter schwelende Konflikt zwischen Forman und Douglas wird 1518 erst dadurch beendet, daß Douglas sich Forman unterwirft und Gehorsam gelobt. Der Konflikt mit dem Herzog von Albany, der zwischenzeitlich die schottische Regentschaft übernommen hat und der Machtstellung der Familie Douglas offenbar mißtraut, spitzt sich in den folgenden Jahren so sehr zu, daß Douglas 1521 vor Albany nach London flieht. In der Folge verliert er die Bischofswürde und alle anderen Einkünfte. Der letzte erhaltene Brief von Douglas datiert vom 31.Januar 1522 und zeigt ihn als zwar getroffenen, aber nicht gebrochenen Mann. Drei Wochen darauf - inzwischen herrscht Krieg zwischen England und Schottland - wird Gavin Douglas zum Hochverräter erklärt. Er stirbt später in diesem Jahr im Hospital von St.Clements in London an einer Seuche.

KAPITEL 4

DIE SCHOTTISCHE SPRACHE DES GAVIN DOUGLAS

Um beurteilen zu können, inwiefern es sich bei der Sprache, in der die Eneados des Gavin Douglas abgefaßt ist, tatsächlich um Scottis handelt, muß zunächst einmal geklärt werden, wie Scottis zu beschreiben ist. Diese Beschreibung muß diachron stattfinden, vermittels einer Darstellung der Entwicklung der Sprache(n) in Schottland bis auf Douglas' Zeit, denn eine synchrone Aufstellung von Charakteristika der schottischen Sprache, soweit diese nicht mit spezifischen Ereignissen der Sprachgeschichte verbunden werden können, ist nicht hilfreich; es besteht die Gefahr des Zirkelschlusses, weil eines der umfassendendsten Textcorpora, die zur Ermittlung solcher Eigenheiten herangezogen werden können, das mit dieser Liste zu vergleichende ist.

4.1 GESCHICHTLICHER ABRISS

In der frühesten historisch faßbaren Zeit siedeln drei Völker im Gebiet des heutigen Schottland. Im Osten und Nordosten leben die Pikten. Im Westen, vor allem in Argyll, und später auch im Lothian siedeln die Skoten. Die Briten schließlich siedeln im Süden der Lowlands. Jedes dieser Völker spricht seine eigene Sprache. Das Piktische, über das nicht viel bekannt ist, war eine nicht- indoeuropäische Sprache; es wird abgelöst von einer Varietät des Keltischen, die zum Brythonischen gehört. Die Skoten sind Einwanderer, die aus ihrer nordirischen Heimat eine Variante des Goidelischen mitbringen. Die Briten sprechen Brythonisch, und es ist anzunehmen, daß der Sprachwandel der Pikten sich durch ihre Nachbarschaft ergab. Die sprachliche Vormachtstellung in Schottland fällt an die Skoten, deren Sprache die Hauptsprache des Gebietes wird und sich im Laufe der Zeit zum Schottischen Gälisch weiterentwickelt. Unter dem schottischen König Kenneth McAlpin vereinigt sich das schottische mit dem piktischen Reich, wodurch die Pikten von der historischen Bildfläche verschwinden.

Anglische Siedler bringen im 6. Jahrhundert aus dem Süden der Insel eine neue Sprache nach Schottland, nämlich das Englische. Die von ihnen gegründeten kleineren Herrschaftsbereiche, die um 600 zum Königreich von Bernicia vereinigt werden, erstrecken sich vom Humber bis zum Forth. Damit wird erstmals ein altenglischer Dialekt Herrschaftssprache in einem Teil Schottlands. Aus der Tatsache, daß Nordengland und Südschottland ein einheitliches Reich bildeten, folgt auch, daß die Sprache beiderseits der Borders kaum verschieden war.

Im Jahre 867 institutionalisieren die Dänen und Skandinavier den Einflußbereich, den sie sich durch Einfälle und Ansiedlungen erworben haben. Das Gebiet des Danelaw bewirkt eine Abtrennung Lothians vom bernicischen Kernreich. Die schottischen Königs ziehen dieses Gebiet an sich, das 973 auch formal von König Edgar von England an Kenneth II. von Schottland abgetreten wird. Geographisch hat dies zur Folge, daß Schottland in etwa seine heutige Ausdehnung erreicht. Die sprachlichen Konsequenzen wiegen jedoch ungleich schwerer: Zu Schottland gehört nunmehr ein gut besiedeltes Gebiet, dessen zahlreiche Bewohner eine andere Sprache sprechen als die 'alten' Bewohner.

Schottland ist um die Jahrtausendwende zwar territorial weitgehend geeinigt, zerfällt aber sprachlich in drei Teile. Die Bevölkerung der Highlands und der vorgelagerten Hebriden spricht Gälisch, in den Lowlands wie auch zunehmend am schottischen Hof ist das Nordenglische die Umgangssprache. An der Ostküste schließlich haben sich viele Wikinger angesiedelt und benutzen ihre eigene Sprache, das Norn.

4.2 DIE SPRACHLICHE ENTWICKLUNG DES SCHOTTISCHEN IM MITTELALTER

Eine systematische Anglisierung Schottlands beginnt mit Malcolm III., der nach starken Wirren um die Krone, die in Gestalt von Shakespeares Macbeth literarisch verewigt wurden, 1057 den Thron besteigt. Der König hat fünfzehn Jahre lang am Hofe des englischen Königs gelebt und spricht daher den westsächsischen Dialekt, zumal seine Frau Margaret Westsächsin ist. Nach der Niederlage der englischen Truppen gegen die Normannen bei Hastings fliehen viele Engländer nach Schottland. Die schottischen Könige engagieren sich zunehmend in der Politik ihres südlichen Nachbarn. Im 12.Jahrhundert wird das Lehnswesen eingeführt. Belehnt werden vielfach Normannen, die auch in England Landbesitz haben. Sie selbst sprechen Anglonormannisch, was dazu führt, daß ihre Variante des Französischen die Sprache der gehobenen Schichten, der Politik und des Rechts wird. Damit wird, mit Ausnahme des religiösen Bereichs, die lateinische Sprache unbedeutend. Relevanter für das Schottische ist die Tatsache, daß die normannischen Lehnsleute englischsprachiges Personal mitbringen. Sie siedeln zunächst auf den Lehen ihres Patrons, ziehen bald aber zunehmend in die neu entstehenden ‚burghs’, die Städte. Die sprachliche Situation wird dadurch keineswegs klarer: „The population must have become even more polyglot in the

[...]


1 Gavin Douglas, „Tyme, space, and dait [...]“, in: Gavin Douglas, The Poetical Works Vol.4 ed.

2 David F.C. Coldwell, “Introduction”, in: Virgil’s Aeneid: Translated into Scottish verse by Gavin Gouglas, Bishop of Dunkeld ed. with notes and glossary by David F.C. Coldwell (Edinburgh, London: William Blackwood & Sons, 1964), S.1-127, hier: S. 106.

3 Aufgrund der Formulierung „first correck coppy“ anzunehmen, daß bereits vorher fehlerhafte Abschriften im Umlauf waren, ist gewagt. Wer hätte früher als Douglas' Sekretär so lange Zugang zum Manuskript gehabt, daß die Erstellung einer oder gar mehrerer Abschriften möglich würden?

4 J.A.W. Bennett, „The early Fame of Gavin Douglas’s Eneados“, Modern Language Notes 61 (1946), 83-88, hier: S.84.

5 David F.C. Coldwell, “Introduction”, S. 98.

6 Bennett, „The early Fame”, S.84.

7 John Small, „Notices of the Manuscripts and printed editions of the works of Gavin Douglas“, in: Gavin Douglas, The Poetical Works Vol.4 ed. John Small (Hildesheim, New York: Georg Olms, 1970), S. clxviii -clxxxii, hier: S. clxxviii.

8 John Small, „Notices of the Manuscripts”, S. clxxxi.

9 Small behauptet bei der Darstellung der erhaltenen Handschriften, daß Ruddiman auch das Bath MS. herangezogen habe (John Small, „Notices“, S.clxxvii). Ich bin überzeugt, daß Ruddiman nicht von der Existenz des Bath MS wußte, zumal er offenbar nur durch Zufall erfahren hatte, daß es überhaupt noch Eneados-Manuskripte gab. Ruddiman, der das Ruthven MS in der Library of the University of Edinburgh benutzte, „does not seem to have been aware of the existence of the other and older MS. [the Elphynstoun MS.] which that Library contains“ (Small, “Notices”, S. clxxxii)

10 David F.C. Coldwell, “Introduction”, S. 104.

11 Werner Suerbaum, Vergils „Aeneis“: Epos zwischen Geschichte und Gegenwart, RUB 17618 (Stuttgart: Reclam 1999).

12 Dieses Detail verdanken wir dem iter Brundisinum des Horaz (sat. I,5).

13 Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius Band 1, 2.Aufl. (München: dtv, 1997), S.532.

14 Heinrich Krefeld, Res Romanae. Begleitbuch für die lateinische Lektüre, 1.Aufl. (Berlin: Cornelsen, 1999), S.96.

15 Karl Büchner, „Publius Vergilius Maro“, in: Der Kleine Pauly Bd.5 hrsg. Ziegler, Sontheimer, Gärtner (München: dtv, 1979) Sp.1196.

16 So beispielsweise Horaz in seinen Oden.

17 Ein cento ist ein Gedicht, das aus Versatzstücken anderer Dichtungen zusammengesetzt ist.

18 Karl Büchner, „Publius Vergilius Maro“, in: Der Kleine Pauly Bd.5 hrsg. Ziegler, Sontheimer, Gärtner (München: dtv, 1979) Sp.1199.

19 Dieses Kapitel stützt sich besonders auf Smalls überaus detaillierte „Biographical Introduction“ (John Small, „Biographical Introduction“ in: Douglas, Gavin, The Poetical Works Vol.1 ed. John Small (Hildesheim, New York: Georg Olms, 1970), S. xix-cxxvii) und die klugen, teils ergänzenden, teils abweichenden Erkenntnisse von Frau Bawcutt (Bawcutt, Priscilla, Gavin Douglas: A critical study (Edinburgh: Edinburgh University Press, 1976).

20 Edmund Schmidt, Die schottische Aeneisübersetzung von Gavin Douglas, Diss. Leipzig 1910.

21 Josef Hofmann, Die nordischen Lehnwörter bei Gavin Douglas, Diss. München 1925.

22 John Small, „Biographical Introduction“ in: Douglas, Gavin, The Poetical Works Vol.1 ed. John Small (Hildesheim, New York: Georg Olms, 1970), S. xix-cxxvii.

23 Bawcutt, Gavin Douglas.

24 Hofmann, Lehnwörter, S.3. Dagegen: Bawcutt, Gavin Douglas, S.4.

25 John Small, „Biographical Introduction“, S.ix and S.cxxviii.

26 John Small, „Biographical Introduction“, S.cxxxv.

27 Bawcutt, S.8. Sie zitiert einen Brief vom 11.März 1503, in dem Douglas „provest of Sanct Gelis kirk“ genannt wird, und zwar nach: Accounts of the Lord High Treasurer of Scotland vol.2, ed. T.Dickson and J.Balfour Paul (Edinburgh 1877-1916, S.360.

28 Bawcutt, Gavin Douglas, S.28.

29 Gavin Douglas, „Tyme, space, and dait, of the translatioun of this buik“, V.1-5.

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Die mittelschottische Aeneis-Übersetzung des Gavin Douglas - Strategien der Übersetzung in der frühen Neuzeit
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Englische Philologie)
Note
2.65
Autor
Jahr
2003
Seiten
88
Katalognummer
V25503
ISBN (eBook)
9783638281072
Dateigröße
1215 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Komparatistischer u. systematischer Vergleich und Kommentierung der Übersetzungsstrategie mit den Zielen: Vergleich der Länge, Unterscheidung von wörtlich/sinngemäßem Übersetzen, Charakter der Fehler, Weglassungen und Zusätze. Reicher Hintergrund: Editionsgeschichte, Lebensläufe, Entwicklung des Schottischen, Stand der Sprache im 16.Jh und ältere Übersetzungsgeschichte.
Schlagworte
Aeneis-Übersetzung, Gavin, Douglas, Strategien, Neuzeit
Arbeit zitieren
Martin Klinkhardt (Autor:in), 2003, Die mittelschottische Aeneis-Übersetzung des Gavin Douglas - Strategien der Übersetzung in der frühen Neuzeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25503

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