Hedda Gabler - Die moderne Tragödienheldin. Analyse einer Tragödie von Henrik Ibsen


Hausarbeit (Hauptseminar), 1993

18 Seiten, Note: ohne Benotung


Leseprobe


Die Literatur über das Tragische und die Tragödie ist heute kaum noch überschaubar. Schon in den Ausgangspunkten der Frage herrscht keine Übereinstimmung, so dass keine Einigung erzielt werden kann, was eigentlich tragisch sei.

Von der „Poetik“1 Aristoteles` über Schellings „Philosophie der Kunst“2 bis hin zu Dürrenmatts „Theaterprobleme(n)“3 diskutieren die großen Geister über die Kunst und das Wesen der Tragödie. Das Gemeinsame alles Tragischen kommt wohl der Deutung Emil Staigers von der „Grenzsituation“ sehr nahe. Die Struktur der „Grenzsituation“ werde in der Tragödie so anschaulich, dass sie sich nur auf „paradoxe“, d.h. rein logisch betrachtet, „widerspruchsvolle Weise“ verstehen lässt. In diesen Paradoxien der Tragödie spiegelt sich stets das gleiche Grundproblem. Eine vollkommene, vom Sinn durchdrungene, in sich geordnete und vernünftige Welt kann nicht tragisch sein. Ebenso eine völlig chaotische Welt, die sich im Sinnlosen verliert und nur noch gegenseitige Vernichtung der Werte kennt, löst das Tragische in den Nihilismus auf. Die Tragödie bewegt sich am Rande des Abgrundes zwischen Nihilismus und Theodizee.

Seit Aristoteles fragt man nach den Regeln der Tragödie, und seither wandeln sich die Antworten. Die strenge aristotelessche Dramaturgie ignorierend, verschieben sich die Begründungen des Tragischen epochenspezifisch. Die Akzentverlagerung von der Bewusstheit der klassischen Tragödie und ihrer Konflikte zu den Formen des Unbewussten umschreibt den Spielraum der Tragödie in der Zeit der Moderne. Nie zuvor drohte die Kunstform der Tragödie dem Scheitern so nahe zu sein, wie bei den Naturalisten, die ihrerseits die Moderne für sich beanspruchten.

Doch gilt das Interesse der vorliegenden Abhandlung nicht den Ursachen des drohenden Untergangs der Tragödie oder der Krise des tragischen Helden. Vielmehr sucht sie am Beispiel eines Dramas von Henrik Ibsen, andere neuere Erscheinungsformendes Tragischen hervorzukehren, die abweichen von der Tragödienform klassischen Stils.

Das 1890 vollendete Drama „Hedda Gabler“ ist möglicherweise die größte Herausforderung, die Ibsen bis dahin darbot. Es ist so ironisch in seiner Darstellung der Charaktere und Begebenheiten, dass es beinah zu voreingenommenen, widersprüchlichen Interpretationen verleitet; dennoch ist Ironie nicht die endgültige und vorherrschende Grundstimmung des Dramas. Das Stück verlangt nach einem ungeheuren Verständnis für Boshaftigkeit und Absurdität ebenso wie dem Begreifen des möglichen Nebeneinanderbestehens mit positiveren Qualitäten. Kein Stück Ibsens ist so voller Dramatik wie dieses. Es gilt, aufmerksam die dramatische Poesie zu würdigen, um unter die ironische Oberfläche zum Innern vorzudringen.

Gleich zu Beginn des Dramas stellt sich bei dem Zuschauer eine ungemeine Erwartungshaltung ein. Obwohl es nach Hedda benannt ist, tritt sie erst spät in Erscheinung. Tante Julle und ihr ehemaliges Hausmädchen Bertha sprechen im Flüsterton über Hedda, ohne jedoch ihren Namen auszusprechen. Heddas Verhalten bestätigt die vorangegangene Unterhaltung. Die herzliche, warme Begrüßung von Tante Julle wird umgehend von einer unterkühlten, formellen Erwiderung zurückgewiesen, so dass auch die Tante genötigt wird einen distanzierten Ton anzuschlagen. Hedda fährt fort, sich über die Sonne und die vielen Blumen zu beklagen, die die Szene erhellen und zieht die Vorhänge zu. Sie bemerkt scheinbar beiläufig, das Dienstmädchen habe „ihren alten Hut auf dem Stuhl liegengelassen“, wohl wissend , dass es sich um den Hut der Tante Juliane handelt.

Heddas Erscheinung, ihr Verhalten, ihre Reaktionen suggerieren eine Frau, die unfähig ist zu genießen, sich an Dingen zu erfreuen, die gewöhnlich Freude bereiten, sei es die liebevolle Geste, die sich hinter den Willkommens-Blumensträußen verbirgt, oder seien es die Blumen selbst.

Trotz alledem, so böswillig und überheblich wie sie zu sein scheint, ist Hedda nicht unempfindlich. Sie wendet sich entschieden ab, als Tesman auf ihren üppigen Körper anspielt.

Indem Tante Julle, von dem Gedanken gerührt Hedda könnte schwanger sein, ihr die Stirn küsst und sie segnet, befreit sie sich „mit sanfter Entschiedenheit“ – aber es ist jene Sanftheit von absoluter Selbstbeherrschung, wie auch ihre Worte zeigen: „Oh – bitte !“. Ihre Abscheu vor Intimitäten dieser Art bereitet schon auf den nächsten dramatischen Schock vor. Als sie alleingelassen auf der Bühne zurückbleibt, zeigt jene kalte, dominierende Frau, dass auch sie letztlich verwundbar ist. Sie durchquert unruhig den Raum, hebt ihre Arme und ballt ihre Fäuste wie eine Wahnsinnige. Die Gardinen, die sie eben ordentlich zugezogen hat, reißt sie nun jäh auf. Doch tut sie dies nicht, um dem Sonnenschein zu frönen, sie starrt in den Garten auf die verwelkenden Blätter, auf die Zeit, wie sie vergeht.

Diese kurze Episode verdeutlicht, dass Heddas Widerwille gegenüber menschlich Anziehendem tiefer steckt, als es zunächst scheint. Sie hasst ihre Schwangerschaft und ihre aggressive Reaktion ist sicher ungewöhnlich für eine Frau in diesem Zustand. Schnell gewinnt sie wieder die Kontrolle über sich und lenkt Tesman ab, um ihre Schwangerschaft möglichst vor ihm zu verbergen. Sie, die sich nicht als zur Familie zugehörig fühlt, lehnt es ab, Tesmans Tante Julle „Tante“ zu nennen, was ihre Bewegungen noch unterstreichen: Sie wendet sich von ihrem Gatten ab und nähert sich dem Zimmer, in dem das Bild ihres Vaters alles beherrscht. Ihr merkwürdiger Hass auf Blumen nimmt noch zu, als sie bemerkt, dass sie von Thea Elvstedt stammen. Hier implizieren ihre Worte Eifersucht: „Die mit diesem irritierenden Haar, mit dem sie herumlief und Aufsehen erregte“. Die Tragweite jenes Gefühls wird erst deutlich, als Frau Elvstedt die Bühne betritt. Sie scheint in jeder Hinsicht, das genaue Gegenteil Heddas zu sein – zart, sanft, verletzlich, ängstlich, nicht besonders modisch gekleidet – nicht im geringsten der Frauentsprechend, die Hedda charakterisierte. Es ist dieses eine Merkmal, dem Hedda mit ihrem spärlichen, dünnen Haaren unterliegt: das ungewöhnlich üppige, weißblonde Haar Thea Elvstedts. Dafür, dass es so schön ist, widert es sie an.

Mit übertriebener Freundlichkeit und Anteilnahme begegnet sie nun Thea Elvstedt, in der Absicht ihr das Geständnis zu entlocken – denn sie ahnt es schon – Thea, eine verheiratete Frau habe ein Verhältnis mit dem Hauslehrer. Zum erstenmal zeigt Hedda aktives Interesse an einer anderen Person. Die Ernüchterung folgt bald, kurz aber eindeutig, als Hedda auf Schulmädchen-Vertraulichkeit besteht, da sie einst gemeinsam ins Lyzeum gingen. Thea ist verwirrt und gesteht, sie habe immer Angst vor Hedda gehabt: „... jedesmal wenn wir uns auf der Treppe begegneten, haben sie mich an den Haaren gezerrt“, „... und einmal, da haben sie gesagt, sie wollen mir die Haare absengen“. Diese Hinweise lassen erkennen, dass ihre Eifersucht eine lange Vorgeschichte hat.

Für eine Frau, die großen Wert auf anständiges Benehmen legt, ist Hedda überraschend aktiv, andere zu erforschen und ihnen Geheimnisse zu entlocken. Es bereitet ihr offensichtlich große Freude, in ihrem Verdacht vom unanständigen Verhältnis bestätigt zu werden. Ihre Neugier ist beinah unverschämt, doch scheut sie sich nicht, die treue Freundin zu spielen. Von Zeit zu Zeit zeigt Hedda, dass sie beeindruckt ist, von der Frau, die sie verachtet; beeindruckt und überrascht zugleich, dass Thea Elvstedt den Mut besaß, ihr Heim zu verlassen, um nach Lövborg zu schauen, dass sie so offen handelte, ohne sich um die Meinung der Leute zu kümmern, dass sie eine gewisse Macht über das Genie Lövborg erlangte. Hedda spottet über die Art, wie sie – Thea – jene Macht gebrauchte: „Dann hast du ihn also, wie man sagt, wieder auf die rechte Bahn gebracht“. Es ist ihr Anliegen, mehr über die Beschaffenheit jener Macht zu erfahren. An dieser Stelle macht sie scheinbar vollkommen unmotiviert eine seltsame Bemerkung als Antwort auf eine Aussage Theas:

Frau Elvstedt: Ja ! Wenn er irgend etwas schrieb, musste ich

immer dabeisein und daran teilnehmen.

Hedda: Dann wart ihr also – wie zwei gute Kameraden.

Frau Elvstedt (lebhaft): Kameraden ! Ja, stell dir vor, Hedda –

genauso nannte er es auch !

In dem Dialog gibt es keine Erklärung für Heddas Satz. Er taucht auf wie ein unbestimmtes Wissen um etwas; und als Thea erwidert dies genau seien Lövborgs Worte gewesen, entsteht ein vager Verdacht, dass Hedda Lövborg hier zitierte. Jener Verdacht, der die Möglichkeit eines Verhältnisses zwischen Hedda selbst und Lövborg eröffnet wird noch verstärkt, als Thea erwähnt, dass da der Schatten einer Frau zwischen ihr und Lövborg stünde. Heddas Anspannung, ihre Begierde herauszufinden, wie viel Lövborg Thea erzählt habe, ihre kalte und abrupt abweisende Reaktion auf die Geschichte der Frau, die Lövborg mit einer Pistole bedrohte, ihr „Unsinn ! So was tut man doch nicht“, reichen aus, um anzunehmen, dass es sich tatsächlich um Hedda hätte handeln können. Wäre dem so, so wäre die Drohung an Lövborg ihn zu erschießen, ein zweiter Hinweis darauf, wie gefährlich und zerstörerisch Hedda zu sein vermag; aber ebenso wie gut sie es beherrscht jene Verhaltensebene hinter einer perfekten Fassade des Anstands, zu verbergen. Doch scheint mehr dahinter zu stecken, als oberflächlicher Snobismus und weibisches Gehabe. Die Lage ist allzu gespannt.

Als Brack auftritt und Thea geht, ist Hedda zum erstenmal entspannt. Bracks Erscheinung unterscheidet sich enorm von der der anderen. Er steht ihrem gesellschaftlichen Niveau näher, er strahlt verwegene Männlichkeit aus. Ihre Vertraulichkeit und die Tatsache, dass Hedda zum erstenmal lacht, wirken erhellend auf die Szene. Sie scheinen einander auch etwas verbunden.

Die letzte Szene verdeutlicht erneut, das Hedda nichts mit ihrem Ehemann verbindet. Als Brack Tesman darauf hinweist, dass seine Ernennung zum Professor unsicher sie, da nun Lövborg aufgetaucht sei und einen Konkurrenten darstelle, bleibt Hedda ungerührt. Ebenso wenig Interesse bekundet sie, wenn Tesman über Wirtschaft schwätzt. Ihr Wusch ist es, möglichst unberührt von diesen banalen Alltäglichkeiten zu bleiben. Sie zieht es vor, sich die Zeit mit den Pistolen ihres Vaters, General Gabler zu vertreiben; womit neben ihrer Unnahbarkeit wiederum ihre zerstörerischen Eigenschaften hervortreten.

Der erste Akt war in mehrfacher Hinsicht ein voller Triumph für Hedda. Zwar musste sie den Tatsachen ins Auge blicken, jener Gesellschaft, in die sie hineingeheiratet hat, jedoch waren all ihre Unternehmungen, ihren Gatten und seinen Bekanntenkreis von oben herab zu behandeln erfolgreich. Es gelang ihr, jedwede sich ihr aufdrängende Freundlichkeit und Vertraulichkeit abzuwehren. Ihr Erfolg spiegelt sich zu Beginn der 1. Szene des 1. Akts wieder: all die Blumen wurden entfernt, der Raum ist nun eher nach Heddas Geschmack, weniger belebt und bunt. Dennoch zeigt sie auch hier Unzufriedenheit. In einem Anfall von Wut riss sie im 1. Akt die Vorhänge beiseite, um hinaus auf die verwelkenden Blätter zu starren. Jetzt steht sie an der offenen Verandatür, Verbitterung und Leichtsinn ausstrahlend schießt sie mit den Pistolen in den Garten.

Die Handlung spricht für sich. Sie verweist auf die Frau, die einst Lövborg bedrohte, die das Haar von Thea anzünden wollte – ihr Gewaltpotential scheint noch aktiv, und extremer denn je zu sein. Bracks Vorhaltungen zeigen zudem, dass ihr Hobby kein neues ist. Pure Langeweile und Zerstörungslust treiben sie dazu. Es kommen keine Gäste und ihr Mann ist unausstehlich einschläfernd. Doch es ist mehr denn Langeweile. Abscheu spricht aus ihren Worten, wenn sie klagt „ – immer und ewig zusammensein zu müssen mit – mit ein und demselben -“. Eine versteckte Andeutung auf ihr Sexualleben klingt mit, als Brack ihr zugesteht: „Jaja, von früh bis spät – bei Tag und Nacht !“ Schlimmer noch, so findet es Hedda, dass es „für immer und ewig“ ist. Ihr Widerwille offenbart sich, als Brack einen Augenblick später andeutet, dass sie ihren „Fachgelehrten“ liebe, woraufhin Hedda heftig abwehrt: „Oh – benutzen sie doch bitte nicht dieses dumme, abgegriffene Wort“, worüber selbst Brack überrascht ist.

Im Folgenden, gibt Brack sein Interesse an einem lockeren unverbindlichen Dreiecksverhältnis zu erkennen. Hedda hat dagegen nichts einzuwenden – allerdings darf nichts an die Öffentlichkeit gelangen. Sie mag seine Gesellschaft und findet Gefallen daran,

[...]

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Hedda Gabler - Die moderne Tragödienheldin. Analyse einer Tragödie von Henrik Ibsen
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Fachbereich Germanistik)
Veranstaltung
Tragödie und Tragödientheorien
Note
ohne Benotung
Autor
Jahr
1993
Seiten
18
Katalognummer
V25183
ISBN (eBook)
9783638278928
ISBN (Buch)
9783638747905
Dateigröße
448 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dichter Text - einzeiliger Zeilenabstand.
Schlagworte
Hedda, Gabler, Tragödienheldin, Analyse, Tragödie, Henrik, Ibsen, Tragödie, Tragödientheorien
Arbeit zitieren
Claudia Zundel (Autor:in), 1993, Hedda Gabler - Die moderne Tragödienheldin. Analyse einer Tragödie von Henrik Ibsen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25183

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