Strafe als Erziehungsmittel


Vordiplomarbeit, 2003

55 Seiten, Note: 1,6


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Einführung: Erziehungsmittel und Strafe
1.1. Was sind Erziehungsmittel?
1.2. Was versteht man unter Strafe als Erziehungsmittel?

2. Strafe in der Erziehung – Historischer Abriss
2.1. Antike bis Viertes Jahrhundert
2.2. Viertes bis Dreizehntes Jahrhundert
2.3. Vierzehntes bis Siebzehntes Jahrhundert
2.4. Achtzehntes Jahrhundert
2.5. Neuzehntes bis Mitte Zwanzigstes Jahrhundert
2.6. ab Mitte Zwanzigstes Jahrhundert

3. Konzepte zur Strafe
3.1. Straftheorien
3.1.1. Retributive oder Vergeltungstheorie
3.1.2. Präventive oder Abschreckungstheorie
3.1.3. Sühne
3.1.4. Besserungstheorien
3.2. Strafformen
3.2.1. Geißlers Unterteilung in Disziplinar- und Erziehungsstrafe
3.2.1.1. Disziplinarstrafe
3.2.1.2. Erziehungsstrafe
3.2.2. Körperstrafe

4. Wirksamkeit des Erziehungsmittel Strafe
4.1. Wirkung von Strafe in der Erziehung
4.2. Strafe als legitimes Erziehungsmittel

Zusammenfassung

Literatur

Einleitung

Ich denke jeder von uns hat im Verlaufe seiner Kindheit eine mehr oder weniger intensive Strafe im Rahmen der elterlichen Erziehung miterlebt. Von mir kann ich sagen, dass meine Eltern mich relativ antiautoritär erzogen haben, ich aber trotzdem in manchen Situationen „bestraft“ wurde. Ich erinnere mich an eine Ohrfeige, die mich damals schwer getroffen hat, weniger des körperlichen Schmerzes wegen, sondern ich empfand sie als zutiefst demütigend und herabwürdigend. Doch diese Ohrfeige bildete die Ausnahme in der Erziehung, Strafen wie Fernseh- und Weggehverbot waren meist die Antwort meiner Eltern auf ein „unangemessenes“ Verhalten oder Fehlhandlungen meinerseits.

Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen, die ich mit Strafe gemacht habe, und meinem allgemeinen Interesse daran, wie bestimmte Faktoren in der Kindheit die Entwicklung eines Menschen zeitlebens prägen können, habe ich mich für das Thema „Strafe als Erziehungsmittel“ entschieden.

Welche Rolle die Strafe in der Erziehung spielt, und welche Berechtigung ihr als Erziehungsmittel überhaupt zugestanden werden kann, sind zentrale Momente meiner Überlegungen. Gerade die wichtige Frage, ob der Strafe in der heutigen modernen Erziehung noch eine Bedeutung zukommt, kann meines Erachtens nur vor dem Hintergrund einer genauen Betrachtung, was Strafe im erzieherischen Kontext darstellt, weitestgehend geklärt werden.

Diesem Anspruch, systematisch das Thema Strafe in der Erziehung von verschiedenen Blickwinkeln her zu beleuchten, möchte ich mit dieser Arbeit gerecht werden, damit man sich eine eigene, aber trotzdem inhaltlich fundierte Meinung darüber bilden kann, ob Strafe in der Erziehung heutzutage noch von Bedeutung ist oder nicht.

Zunächst erscheint mir dabei wichtig zu klären, was man unter Strafe überhaupt versteht, und wie Strafe als Erziehungsmittel in der Erziehung eingeordnet werden kann. Damit werde ich mich im ersten Teil meiner Arbeit beschäftigen. Dies soll zugleich ein gedanklicher Einstieg sein in die komplexe Strafproblematik. Im zweiten Teil möchte ich mich dann der historischen Entwicklung von Strafe im Kontext der Erziehung zuwenden. Meines Erachtens wird durch den veränderten Umgang mit Strafe durch die Jahrhunderte deutlich, wie variabel der Begriff der Strafe eigentlich ist, und wie verschieden er ausgelegt und begründet werden kann durch den Einfluss unterschiedlichster Wertvorstellungen und Normsetzungen, die selber wiederum einem zeitlichen Wandel unterworfen sind. Im dritten und umfangreichsten Teil meiner Arbeit wende ich mich Konzepten zur Strafe zu, in denen ich verschiedene Theorien und Ansätze vorstellen möchte, die grundlegende Wesenszüge von Strafe verdeutlichen sollen. Im Anschluss, im vierten Teil, soll dann die Wirksamkeit von Strafe im Mittelpunkt meiner Betrachtung stehen. Die letzten beiden Teile meiner Arbeit erscheinen mir für die zentrale Frage, welche Rolle die Strafe in der Erziehung spielt, und welche Rolle sie spielen sollte oder auch nicht, als besonders wichtig.

Ebenfalls wird es interessant sein zu sehen, inwieweit selbst in der Kindheit erlebte Bestrafungen, in meinem Falle zum Beispiel die demütigende Ohrfeige, im wissenschaftlichen Zusammenhang erklärt und interpretiert werden.

1. Einführung: Erziehungsmittel und Strafe

1.1. Was sind Erziehungsmittel?

Möchte man sich mit der Thematik, was Strafe in der Erziehung bedeutet, beziehungsweise welche Position die Strafe als Erziehungsmittel im allgemeinen einnimmt, näher befassen, so muss zunächst geklärt werden, was man unter Erziehungsmitteln überhaupt versteht.

Geißler definiert Erziehungsmittel als „Maßnahmen und Situationen, mit deren Hilfe Erziehende auf Heranwachsende einwirken, in der Absicht, deren Verhalten, Einstellungen oder Motive zu bilden, zu festigen oder zu verändern“. (Geißler 1982, S.22) Erziehungsmittel können unter anderem Maßnahmen des Lobes und Tadels, der Erinnerung und Ermahnung, der Strafe, die Situation des Spiels, des Wetteiferns und der Arbeit sein. Aber auch die Gewöhnung, das Gespräch, das Beispiel und Vorbild kann man im weiteren Sinne zu den Erziehungsmitteln zählen. (vgl. Geißler 1982, S.22)

Der Erzieher kann zum einen direkt auf ein Kind einwirken, er kann es loben oder strafen. Diese Maßnahmen nennt man direkte Erziehungsmittel, wo der Impuls direkt vom Erzieher ausgeht.

Zum anderen spricht man von indirekten Erziehungsmitteln, wenn der Impuls von der Situation und nicht vom Erzieher selbst ausgeht, der Erzieher aber trotzdem absichtlich Situationen funktionaler Erziehung arrangiert hat. Indirekte Erziehungsmittel wären zum Beispiel das Spiel, die Arbeit oder der Wetteifer. Meist kommt den indirekten Erziehungsmitteln eine besondere pädagogische Bedeutung zu.

Laut Geißler liegt die Funktion der Erziehungsmittel darin, dass ein außer ihnen liegender pädagogischer Zweck erreicht werden soll, ob den einzelnen Maßnahmen dabei eine mehr stützende, mehr lenkende oder mehr gegenwirkende Absicht zugrunde liegt, ist dabei von der jeweiligen Situation und Einstellung des Erziehers abhängig. (vgl. Geißler 1982, S.24)

Erziehungsmittel kann man einteilen in Evolutions- und Progressionshilfen sowie Gegenwirkungen und Transformationsmaßnahmen.

Evolutionshilfen sind „sichernde, unterstützende, fortlenkende Einwirkungen, die den Leistungs- und Reifestand eines Heranwachsenden zu verbessern suchen“ (Geißler 1982, S.24). Dies kann im körperlichen, psychischen und geistigen Bereich erfolgen. Allen Evolutionshilfen liegt die Erfahrung zugrunde, dass die menschliche Entwicklung immer ein Produkt aus Lern- und Reifungsprozessen ist.

Progressionshilfen beziehen sich, im Gegensatz zu den Evolutionshilfen, die sich mehr mit der „Natur“ des Menschen beschäftigen, auf die menschliche „Kultur“. Man kann Progressionshilfen auch sinngemäß mit dem Begriff der „Bildung“ umschreiben. Aufgabe der Progressionshilfen laut Geißler ist es, „einen möglichst adäquaten, möglichst sicher haftenden und [...] möglichst unkomplizierten, angenehmen und schnellen Wissens- und Fertigkeitserwerb durch Lernen vorzubereiten“ (Geißler 1982, S.25). Weiterhin sollen Progressionshilfen dem Lernenden bestimmte Wertverhältnisse des Gesellschaftlichen, Politischen und des Moralischen vermitteln.

Evolutions- sowie Progressionshilfen wirken unterstützend und fortlenkend. Eine dritte Gruppe der Erziehungsmittel aber, die sogenannten gegenwirkenden Maßnahmen, haben eine eher hemmende Wirkung.

Gegenwirkende Maßnahmen wollen nichts vorantreiben, sondern wollen Entwicklungen abbremsen, die erzieherisch nicht toleriert werden können. Sie können nach zwei verschiedenen Wirkmodellen konstruiert sein. Zum einen nach dem in der Erziehungspraxis zwar verbreiteten aber sehr problematischen Wirkungsmodell des Leides, der Furcht oder der natürlichen Konsequenz ( sogenannte „natürliche Strafe“), zum anderen nach dem ebenfalls sehr verbreiteten Wirkungsmodell des Entzugs von Vergünstigungen, wo ebenso bestimmte Lust- und Unlustgefühle sowie Empfindungen des Angenehmen und Unangenehmen beim Kind hervorgerufen werden. Im Rahmen der gegenwirkenden Maßnahmen ist die Strafe als Erziehungsmittel anzusiedeln.

Doch mit Gegenwirkung allein kann es, wenn es um Erziehung geht, schwerlich getan sein. Es bedarf der sogenannten Transformationsmaßnahmen. Anstelle des schlechten Verhaltens soll schließlich ein besseres treten, gute Motive sollen die fragwürdigen ablösen. Zum Beispiel darf man bei einem Tadel nicht nur den Mangel feststellen, sondern man sollte gleichzeitig versuchen, das Kind zu besseren Verhaltensformen oder qualifizierteren Leistungen umzulenken.(vgl. Geißler 1982, S. 26)

Laut Geißler sollte in allen Erziehungsmitteln ein Stück Transformation innewohnen, er stellt sogar die These auf, dass „alle Erziehungsmittel ihre besondere Qualität letztlich daran messen müssen, in welchem Maße sie transformierende Eigenschaften besitzen“ (Geißler 1982, S.28). Dies gilt, wie oben bereits erwähnt, vor allem für die gegenwirkenden Maßnahmen: „Vor allem die gegenwirkenden Erziehungsmittel des Tadels, der Ermahnung, der Strafe müssen eine solche zusätzliche, auffangende, transformierende Wirkung an sich haben, wenn sie pädagogisch qualifiziert und mehr als disziplinierendes Reglement sein wollen.“ (Geißler 1982, S.28)

1.2. Was versteht man unter Strafe als Erziehungsmittel?

Bevor ich auf den Zusammenhang zwischen Strafe und Erziehungsmittel näher eingehen möchte, muss zunächst geklärt werden, was im allgemeinsten Sinne unter dem Begriff der Strafe verstanden wird.

Strafen gehört laut Reble „zu den negativen Einwirkungen auf den Menschen. Mindestens etwas an ihm wird negiert, eine bestimmte Handlung mit ihren Folgen, bestimmte Motive einer Handlung, eventuell seine ganze Haltung. Etwas, was in ihm ist, soll nicht sein, wird angerechnet und verurteilt, soll gesühnt und geändert werden.“ (Reble 1980, S.10)

Beim Phänomen der Strafe gibt es für Reble grundlegende Momente, die bei der Erfassung der Strafe im allgemeinen von Bedeutung sind. Der Grund für Strafe liegt für ihn in der Verfehlung eines Gebots, einer Norm oder einer Forderung, die von einer Autorität gesetzt und von dem zu Bestrafenden verletzt wird. Dabei wird vorausgesetzt, dass das gesetzte Gebot einsichtig und erfüllbar war, und man dadurch dem zu Bestrafenden eine gewisse Schuld zusprechen kann. Strafe ist immer mit etwas Unangenehmen, mit Leid antun verbunden, da die Verletzung der Autorität immer mit einer Missbilligung einhergeht. Das Gefühl der Angemessenheit einer Strafe spielt dabei stets eine wichtige Rolle, denn nur so kann die Strafe als eine Art Reinigung für Strafenden und Bestraften wirken., die den Zweck erfüllt, die Ordnung zwischen den beiden wieder herzustellen. (vgl. Reble 1980, S.12)

Rombach liefert in seiner philosophischen Untersuchung „Pädagogik der Strafe“ von 1967 gleich zu Beginn dem Leser eine Definition von Strafe: „Strafe besagt Zufügung eines fühlbaren Nachteils um eines geschehenen Unrechts willen. Das Strafgeschehen richtet sich gewöhnlich gegen die Gefühls- oder Antriebssphäre des Delinquenten und beantwortet sein Unrecht mit einer Beeinträchtigung, die ihn in relativ elementarer Erlebnissphäre trifft.“ (Rombach 1967, S.3)

So plausibel die meisten Begriffsdefinitionen von Strafe auch klingen, es wird trotzdem deutlich, dass es schwer ist, einen so vielschichtigen Begriff wie Strafe in eine einzige und alles umfassende Definition zu bekommen.

Auch Geißler stellt die Frage „Was ist Strafe?“, und kommt zu dem Schluss, dass Strafe keineswegs ein eindeutig festgelegter Begriff ist, sondern vielmehr eine Bezeichnung für Sachverhalte, die deutlich unterschieden werden müssen.

Zum einen ist für ihn Strafe ein moralischer Begriff, der im Zusammenhang mit Gewissen, Schuld und Sühne steht, das heißt in diesem Falle ist Strafe einsichtsorientiert, zum anderen versteht Geißler Strafe auch als ein Lenkungsmittel nach Art des Stimulus im bedingten Reflex. Hier ist Strafe zum größten Teil anpassungsorientiert und kann sowohl absichtlich auftreten, als auch die natürliche Folge einer Handlung sein. (vgl. Geißler 1982, S.149)

Fasst man Strafe als moralischen Begriff auf, so ist sie immer die Folge eines Unrechts. Vorausgesetzt bei dieser Form von Strafe wird der Täter und dessen Schuld. Moralisch verstanden ist für Geißler Strafe die „Folge eines durch subjektive Schuld entstandenen Unrechtes und bedeutet dann für den Täter einen fühlbaren Nachteil (Ehren-, Freiheits-, Eigentumsstrafen oder zugefügten körperlichen Schmerz)“ (Geißler 1982, S.149). Dieser Nachteil ist zugleich das auslösende Moment für das Strafleid.

Versteht man Strafe hingegen als gewohnheitsbildendes Lenkungsmittel, so hat sie die Aufgabe, individuelle Interessenbereiche gegenseitig abzugrenzen. Laut Geißler bedarf es dazu „eines sanktionierten Regelsystems einer gesellschaftlichen Ordnung oder eines nach diesem System geordneten Verhaltens der Individuen, das wir gewöhnlich Disziplin nennen“ (Geißler 1982, S.151). Um diese Disziplin herzustellen, benötigt man nach Geißlers Auffassung die Strafe als gewohnheitsbildendes Lenkungsmittel, die durch einen unlustauslösenden außengesteuerten Stimulus wirkt.

Zusammengefasst kann Strafe laut Geißler also dreierlei meinen: zum einen einen fühlbaren Nachteil als Folge einer moralischen Verschuldung (Strafe als Sühne), zum anderen ein über Unlust wirkendes Lenkungsmittel (Strafe als Reglement), und schließlich eine mit einer Handlung verbundene unangenehme Erfahrung („natürliche Strafe“). (vgl. Geißler 1982, S.151)

Die bereits erwähnten grundlegenden Wesenszüge von Strafe findet man auch im erzieherischen Bereich. Hier wird Strafe im Rahmen der gegenwirkenden Maßnahmen erwähnt. Unter Gegenwirkungen versteht man den „Widerstand der Erzieher gegen Einflüsse, die sie für schlecht und schädlich halten; und ihr Widerstand gegen Neigungen des Kindes, sich solchen Einflüssen zu überlassen oder sich den nötigen Anforderungen zu entziehen“ (Flitner 2000, S.98). Strafe kann also als ein Erziehungsmittel mit hemmender Wirkung verstanden werden.

Die von Geißler genannten Aspekte des fühlbaren Nachteils, der Unlust und der unangenehmen Erfahrung findet man auch hier, indem man schaut, wie Strafe in der Erziehung wirken kann. Einerseits wirkt sie durch Leid oder Furcht, was für die Erziehung nicht ganz unproblematisch sein kann, andererseits kann Strafe aber auch durch den Entzug von Privilegien wirken. Aufgrund des geschehenen Unrechts eines Kindes, wird dieses nun eine gewisse Unlust fühlen und unangenehme Empfindungen verspüren in Form einer Bestrafung.

Im erzieherischen Raum gibt es allerdings verschiedene Formen von Gegenwirkungen, also Maßnahmen, die etwas Negatives beseitigen wollen. Hierzu gehört zum Beispiel das unmittelbare Ansprechen des Positiven als Gegenkraft. Wir sehen also, dass Strafe nur eine dieser Gegenwirkenden Maßnahmen ist, und zwar eine ganz direkt zielende, die, laut Reble „das Negative am unmittelbarsten angeht, dafür aber auch den Menschen am tiefsten trifft und am schärfsten zwingt“ (Reble 1980, S.10).

Möchte man versuchen zusammenzufassen was Strafe als Erziehungsmittel bedeutet, so kann man zum einen formulieren, dass Strafe ein auf ein (Fehl)verhalten des Kindes folgendes unangenehmes oder schmerzhaftes Ereignis (vom Erzieher herbeigeführt) ist, welches die Absicht verfolgt, das unerwünschte Verhalten abzuschwächen oder das Wiederauftreten des unerwünschten Verhaltens zu unterbinden. Zum anderen kann Strafe in der Erziehung auch als Maßnahme bei Regelverstößen aufgefasst werden, oder aber Strafe wird zu einem Instrument der Verhaltensbeeinflussung.

Durch erzieherisch angemessenes Strafen sollte man als Erzieher versuchen, das Wiederauftreten einer unerwünschten Handlung beziehungsweise eines unerwünschten Verhaltens zu unterbinden, mit dem Ziel, im Kind die Bereitschaft zu erzeugen, dass es in Zukunft das erwünschte Verhalten zeigen kann.

2. Strafe in der Erziehung – historischer Abriss

Die Strafe in der Erziehung geht eng mit der Entwicklung der Kindheit und der Formung der Eltern-Kind-Beziehung einher. Möchte man nun das Thema Strafe aus dem Blickwinkel der geschichtlichen Entwicklung und deren Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte näher betrachten, ist es notwendig, sie in Beziehung zu setzen mit den allgemeinen Auffassungen über Kinder, und mit deren Umgang in der Vergangenheit. Aber im Gegensatz zur Geschichte großer Ideen und die der Bildungsinstitutionen weiß man noch recht wenig über die Real- und Sozialgeschichte der Erziehung. Wie sah der Alltag einer Familie in der Vergangenheit aus? Welche Bedingungen im ökonomischen und sozialen Bereich prägten das Familienleben und damit auch die Erziehung der Kinder?

Zwei bedeutende Werke über die Geschichte der Kindheit lieferten uns Philippe Ariès (1960) und Lloyd de Mause (1977), die mit ihren Studien zum ersten mal die Lage der Kinder in der Vergangenheit beleuchteten.

Ich möchte die Kernpunkte beider Studien kurz aufzeigen, um deutlich zu machen, das Ariès und de Mause von unterschiedlichen Grundideen ausgingen, die zu einer kontroversen Interpretation einer Geschichte der Kindheit führten.

Ariès vertrat die Meinung, dass die Lebenssphäre von Kindern im Mittelalter noch nicht von der der Erwachsenen getrennt war, da es zu der Zeit noch keine pädagogischen Einrichtungen gab; man kannte weder eine Schulpflicht noch Kindergärten. Dies bedeutete für die Kinder und Erwachsenen in dieser Zeit ein ständiges Zusammenleben im räumlichen und kulturellen Bereich. Im 16. und 17. Jahrhundert kam es nun zu einer Ausgliederung der Kinder aus dem Leben der Erwachsenen. Für Ariès begann damit die Leidenszeit der Kinder, denn mit der Entdeckung der Kindheit wurden die Kinder aus ihrer Freiheit und Ungezwungenheit ihrer ganzheitlichen Lebenswelt herausgehoben und es folgte für sie eine „pädagogische Dressur der Gesellschaft mit Schule und Kleinfamilie“ (Gudjons 2001, S.77).

De Mause hingegen beurteilt die Lage der Kinder bis ins 17. Jahrhundert hinein eher kritisch, da die Kinder in jener Zeit weitgehend schutzlos waren, weil es an emphatischer Fürsorge der Eltern fehlte. Im Gegensatz zu Ariès war das Mittelalter für ihn geprägt von einer mangelnden Ernährung und Hygiene am Kind, sowie einer hohen Kindersterblichkeit und der weit verbreiteten Kindstötung und Aussetzung von Kindern. Im 18. Jahrhundert kam es dann zur Entdeckung der Kindheit, die für de Mause einen großen Wandel in der Beziehung der Eltern zu ihren Kindern darstellte .Es war der Beginn des Weges in eine befreite Kindheit, die immer mehr durch die Empathie und Fürsorge der Erwachsenen zum Kind geprägt war. (vgl. Gudjons 2001, S. 77)

In meinen Ausführungen über die geschichtliche Entwicklung der Strafe in der Erziehung möchte ich mich vordergründig an de Mauses Gedankengang orientieren. Meines Erachtens stellt er zentrale Momente, die für die Bearbeitung meiner Strafthematik wichtig sind, näher in den Vordergrund. Bei ihm wird deutlich, wie sich der Umgang mit Kindern im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat, und wie eng die Humanisierung in der Wahl der Erziehungsmittel mit der wachsenden Respektierung der Kinder als Persönlichkeit einherging.

Grundlegend für den Umgang mit Kindern in der Vergangenheit müssen die von de Mause geprägten Begriffe der Projektiven und Umkehr-Reaktion geklärt werden. Sie sollen dem besseren Verständnis dienen, warum es den Eltern früher an Empathie zum Kind fehlte.

Die Frage ist, was geschieht, wenn ein Erwachsener einem Kind gegenüber steht, das bestimmte Bedürfnisse hat. Einmal kann er „ das Kind als ein Vehikel für die Projektion von Inhalten seines eigenen Unbewussten benutzen“ (de Mause 1977, S.20), dies nennt man Projektive Reaktion, oder er benutzt „das Kind als Substitut für eine Erwachsenenfigur [...], die in seiner eigenen Kindheit wichtig war“ (de Mause 1977, S.20). Dies bezeichnet man dann als Umkehr-Reaktion.

Beide Reaktionen der Erwachsenen gegenüber Kindern waren in der Vergangenheit weit verbreitet und erklären zum Teil, warum Eltern mit ihren Kindern noch nicht so fürsorglich umgingen, wie es heute in der Regel der Fall ist.

Durch den ständigen Wechsel zwischen Projektiver und Umkehr-Reaktion, zwischen dem Kind als Bösewicht und dem Kind als Erwachsenen, kommt es zu einer bizarren Erwachsenenvorstellung , was Kindsein überhaupt bedeute, und bildete damit eine der Voraussetzungen, warum Kinder früher so hart bestraft und so oft geschlagen wurden.

Im folgenden möchte ich nun näher auf die geschichtliche Entwicklung der Kindheit , und damit auch auf den Umgang mit Strafe im Kontext der sich verändernden Kindererziehung näher eingehen.

Als zeitliche Gliederung stütze ich mich auf de Mauses Periodisierung der Formen der Eltern-Kind-Beziehung. (vgl. de Mause 1977, S.82ff.) Dabei möchte ich aber erwähnen, dass zum einen die Zeit bis zum 17. und 18. Jahrhundert noch keine entscheidende Rolle spielt wie die folgenden Jahrhunderte, ich sie aber der Vollständigkeit halber ebenso berücksichtige. Zum anderen ist wichtig betonen, dass zeitliche Grenzen in der Geschichte nie haargenau gezogen werden können, denn gerade die Entwicklung der Erziehung ist ein Prozess und kann nicht genau in Perioden eingeteilt werden. Es sind vielmehr fließende Übergänge, bei denen man durch eine Periodisierung versucht, eine Art Systematik herzustellen.

Wie langsam und schwerfällig Entwicklung sich im Umgang mit Kindern vollziehen kann, zeigt sich allein schon daran, wie im Laufe der Jahrhunderte eine immer engere Eltern-Kind-Beziehung erst dadurch zustande kam, dass jede neue Elterngeneration ihre Ängste allmählich überwand und mehr und mehr die Fähigkeit entwickelte, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu erkennen und zu befriedigen.

2.1. Antike bis viertes Jahrhundert

De Mause charakterisiert diesen Zeitabschnitt mit dem Begriff Kindesmord. Dieser war in jener Zeit von entscheidender Bedeutung, denn wollten sich die Eltern von ihren Ängsten hinsichtlich der Fürsorge für die Kinder befreien, so tötete man sie einfach. Für die überlebenden Kinder hatte das einen entscheidenden Einfluss auf ihr Heranwachsen. Die Projektive Reaktion war stark ausgeprägt sowie die Umkehr-Reaktion, die sich vor allem im verbreiteten sexuellen Gebrauch von Kindern zeigte. (vgl. de Mause 1977, S.82)

2.2. viertes bis dreizehntes Jahrhundert

Geprägt wird diese Zeit laut de Mause durch das Weggeben von Kindern. Grund war der, dass man erkannte, dass Kinder eine Seele haben. Die eigenen Projektionen der Eltern im Kind waren aber nach wie vor sehr stark, das Kind war immer noch böse und musste daher geschlagen werden. Also gab man das Kind weg, um den Gefahren der eigenen Projektionen zu entrinnen. Ließ man das Kind doch Zuhause bei sich, litt es meist an völliger Vereinsamung. Dennoch ließ sich ein Rückgang der Umkehr-Reaktionen in dieser Zeit verzeichnen, da sich der sexuelle Gebrauch von Kindern deutlich verminderte. (vgl. de Mause 1977, S.82)

Auch spielte die Kirche in spätrömischer und frühmittelalterlicher Zeit mehr und mehr eine Rolle. Sie zeigte ein größeres Mitgefühl für Kinder und proklamierte, dass Kinder für Gott von Bedeutung seien, man sie unterrichten könne und man sie nicht verstümmeln dürfe. Trotzdem war der Gewinn für Kinder in dieser Zeit meist nur theoretischer Art. Von den Eltern wurden die theoretischen Erkenntnisse kaum wahrgenommen und selbst wiederholte Verbote von staatlichen und religiösen Autoritäten konnten grausame Handlungen an Kindern nur wenig unterbinden.

Im neunten bis dreizehnten Jahrhundert traten nun wichtige Probleme der Kindheit deutlicher in den Vordergrund. Man kann in dieser Zeit von einem deutlichen Konflikt zwischen einerseits destruktiv-abweisenden und andererseits stützend-helfenden Einstellungen gegenüber Kindern sprechen.

Die Vorstellung, das Kind sei Besitz und Eigentum der Eltern war immer noch fest verankert und beeinflusste deren Einstellungen und Handlungen, auch im Umgang mit harten Strafen, aber es entwickelten sich langsam jene Gefühlshaltungen gegenüber Kindern, die in den darauffolgenden Jahrhunderten an Kraft gewannen und schließlich vorherrschend wurden: Ein Kind ist ein Wesen mit eigenen Rechten und die Kindheit ist die entscheidende Lebensphase, wo der Mensch geprägt wird.

[...]

Ende der Leseprobe aus 55 Seiten

Details

Titel
Strafe als Erziehungsmittel
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Sozialpädagogik, Sozialarbeit)
Note
1,6
Autor
Jahr
2003
Seiten
55
Katalognummer
V24477
ISBN (eBook)
9783638273473
ISBN (Buch)
9783638723619
Dateigröße
608 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Umfassende Arbeit zum Thema Strafe, wird sowohl aus erzieherisch-pädagogischen sowie psychologischen und philosphischen Seiten her beleuchtet
Schlagworte
Strafe, Erziehungsmittel
Arbeit zitieren
Anke Lehmann (Autor:in), 2003, Strafe als Erziehungsmittel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24477

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