Christa Wolfs "Medea. Stimmen" zwischen Entmythisierung und Remythisierung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

28 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

I. Der mythische Held als Sündenbock: über René Girards Interpretation des Mythos als Zeugnis historischer Verfolgungs- und Ausgrenzungsprozesse

II. Christa Wolfs Medea. Stimmen: Entmythisierung eines Sündenbockmechanismus? Über Wolfs literarische Umsetzung der girardschen Mythentheorie

III. Mythos als Kulturprodukt - über zivilisationskritsche Aspekte in Medea. Stimmen, ChristaWolfs Begriff der Verkennung und die Frage nach der Exemplarität des medeischen Schicksals

Zusammenfassung

Literaturangaben

Einleitung

In ihrem 1996 erschienenen Roman Medea. Stimmen[1] stellt Christa Wolf ihre Titelheldin in ein Licht, das sich nicht radikaler von dem uns seit vielen Jahrhunderten überlieferten, traditionellen Bild der mythologischen Medea entfernen könnte. Anstelle des Scheusals Medea, der barbarischen Wilden und bösen Zauberin, der betrogenen Ehefrau, deren leidenschaftliche Liebe in vernichtende Raserei umkippt und der kaltblütigen Bruder- und Kindermörderin steht bei Wolf eine homöopathische Heilerin, eine Exiliantin aus politischer Überzeugung, die in ihrer Wahlheimat Korinth auf die Spur eines grausamen Staatsverbrechens gerät und schließlich aufgrund ihrer staatsfeindlichen Nachforschungen zum Opfer eines gezielt inszenierten Rufmordes wird, aufgrunddessen Medea in die Rolle eines Sündenbocks getrieben, als Mörderin abgestempelt und der kollektiven Gewalt einer wütenden Volksmasse ausgesetzt wird.

Christa Wolfs provozierende Mythenneubearbeitung verbindet sich überdies mit einem noch provozierenderen Anspruch: Dem Anspruch nämlich, ihren Lesern nicht nur irgendeine neue Variante des altbekannten Mythos zu liefern, sondern überdies auch noch die einzige wahre und richtige Variante, aufgrundderer alle vorherigen "schnellfertige[n] Urteile" (MS: 9) über Medea von Grund auf widerrufen werden müssen. Medea aus dem "Dunkel" einer jahrhundertealten "Verkennung" (ebd.: 10) zu lösen, das ist die Aufgabe, die Wolf ihrem Prosawerk explizit voranstellt:

Kindsmörderin? Zum ersten Mal dieser Zweifel. (ebd.: 9)

Der dem Roman vorangestellte Prolog verspricht eine bewußte Auseinandersetzung mit dem uns bisher bekannten, in zahlreichen Mythenvarianten immer wieder ähnlich überlieferten Medea-Bild. - In Form einer Polyphonie authentischer "Stimmen", die aus der Vergangenheit zu uns sprechen, wird das Schicksal Medeas aus verschiedenen Perspektiven vor dem Leser ausgebreitet. Vor unseren Augen entrollt sich eine Reihe unterschiedlicher Erzählstränge, die jedoch bei näherem Hinsehen letztendlich an einem entscheidenden Punkt zusammenlaufen: So tragen am Ende alle von Wolf zur Berichterstattung eingeladenen "Gäste" (ebd.) aus der Vergangenheit zur Entlarvung des Medea-Mythos als Geschichte einer historischen Fälschung bei -- als Lebensgeschichte eines kollektiven Sündenbocks. -- Den wissenschaftlich-theoretischen Rahmen für Wolfs Neuinterpretation des Mythos liefert dabei die in den 80ger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte Mythentheorie des französischen Soziologen und Kulturwissenschaftlers René Girard, der in seinen Untersuchungen La Violence et le sacré (Das Heilige und die Gewalt) und Le Bouc émissaire (Der Sündenbock) Mythen auf indirekte weil verschlüsselte Zeugnisse realer historischer Verfolgung zurückführt und auf den Wolf in ihrem Roman an verschiedenen Stellen zitierend Bezug nimmt.

Ausgehend von einem etwas genaueren Blick auf einige zentrale Thesen Girards und deren Umsetzung in Medea. Stimmen möchte sich die vorliegende Arbeit folgenden Fragen widmen: Inwieweit führt Wolfs Rückgriff auf die von Girard entwickelten sozialpsychologischen Interpretationsmuster insgesamt zu einer entmythisierenden Erzählweise? Inwieweit gelingt es Wolf durch die Thematisierung der Genese des Mythos "Medea" auf der Textoberfläche die Lebensgeschichte Medeas über das Persönliche hinaus als exemplarischen Fall eines Sündenbock- und Verfolgungsmechanismus darzustellen? Welche Probleme ergeben sich bei der literarischen Umsetzung dieser Intention? Und schließlich: Inwieweit läßt sich das von Christa Wolf entworfene Persönlichkeitsbild Medeas mit dem Versuch einer Entindividualisierung und Verallgemeinerung ihres Schicksals als das eines prototypischen Sündenbocks vereinbaren?

I. Der mythische Held als Sündenbock: über René Girards Interpretation des Mythos als Zeugnis historischer Verfolgungs- und Ausgrenzungsprozesse

In seinem 1982 erstmals erschienenen Buch Le Bouc émissaire (Der Sündenbock)[2] stellt René Girard seine These vom Ursprung des Mythos als einer historischen Verfolgungsgeschichte bewußt in die Tradition einer mittlerweile altbewährten und allgemein anerkannten Verfahrensweise zur Interpretation und Analyse historischer Quellentexte. Er geht dabei exemplarisch von einer mittelalterlichen Textüberlieferung des französischen Dichters Guillaume de Machaut aus, der in seinem Werk Le Jugement du Roy de Navarre von einer Serie schrecklicher Naturereignisse berichtet, in deren Folge ganze Städte vernichtet und viele ihrer Einwohner getötet werden. Guillaume schreibt die Schuld an den Todesfällen, zumindest teilweise der Boshaftigkeit der Juden zu, von denen berichtet wird, daß sie Bäche und Brunnen vergiftet haben, um die einheimische Bevölkerung auszurotten. Der Text berichtet weiterhin von der Bestrafung der Missetäter durch Massakrierung. -- Über die richtige Interpretation eines solchen Quellentextes kann, so argumentiert Girard an dieser Stelle, keinerlei Zweifel herrschen und selbst für einen historischen Laien liegt die richtige Auslegung des Textes klar auf der Hand: Der Text vermengt ganz offensichtlich einige historische Ungereimtheiten und Falschaussagen- vor allem die höchst unwahrscheinlichen Aussage über die Brunnenvergiftungsaktionen seitens der jüdischen Bevölkerung - mit einer Reihe von Aussagen, die der historischen Wirklichkeit entsprechen - der Bericht über die unzähligen Todesfälle nämlich (die in Wirklichkeit die Folge einer Pestepidemie sind) sowie das Massaker an der jüdischen Bevölkerung. Der Leser wird keinen Augenblick an der Richtigkeit seiner Interpretation zweifeln - und an seiner Überlegenheit gegenüber dem Autor des Textes, Guillaume selbst, der offensichtlich fest von der Theorie der jüdischen Brunnenvergifter und der Bosartigkeit der angeblichen Missetäter überzeugt ist. Der aufrichtig gemeinten Berichterstattung eines Guillaume de Machauts zum Trotz fühlen wir uns heute wie selbstverständlich dazu in der Lage, den Text als Zeugnis eines Sündenbockmechanismus zu entschlüsseln, der der jüdischen Bevölkerungsgruppe die Verantwortung für eine - in Wirklichkeit von außen in Form einer Epidemie- über die Bevölkerung hereinbrechende Katastrophe aufhalst. Diese Lesart ist für uns so selbstverständlich, daß wir ihre radikale Distanzierung von den Aussagen des Quellentextes keineswegs als problematisch erachten. Im Gegenteil: Für die äußerste Aufrichtigkeit des Textautors selbst, seine feste Überzeugung, in seinem Text die Abfolge der historischen Ereignisse wahrheitsgetreu wiederzugeben, spricht vor allem der unübersehbare Haß des Autors auf die als schuldig empfundenen Juden -- und dieser macht uns die vorgetragene These der Brunnenvergiftungen äußerst verdächtig. Die von seiten des Leser vorgenommene Zuordnung der in einem historischen Text gemachten Aussagen als wahr oder unwahr ist somit keineswegs rein willkürlicher Natur, sie beruht nicht auf einer bloßen Gefühlsentscheidung, sondern auf einer Interpretationsweise, in der beide Typen von Aussagen in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit voneinander wahrgenommen werden:

Gibt es tatsächlich eine Epidemie, so könnte sie durchaus latente vorhandene Vorurteile aktivieren. Vor allem in Krisenzeiten konzentriert sich der Verfolgungsdrang vornehmlich auf religiöse Minderheiten, und umgekehrt könnte eine wirkliche Verfolgung durchaus mit jener Art Anschuldigung gerechtfertigt werden, die Guillaume leichtgläubig übernimmt. [...] Zwar erkennen wir durchaus das Imaginäre, aber nicht irgendein beliebiges Imaginäres, sondern das ganz spezifische Imaginäre von Menschen, die nach Gewalt dürsten.(SB: 15).

Der eigentliche Schlüssel zur Interpretation historischer Verfolgungstexte liegt demnach für Girard in der Berücksichtigung eines dem Menschen immanenten Gewaltdursts, eines Verfolgungsdranges, der die Menschen insbesondere in Krisenzeiten lenkt und beherrscht und bei den historischen Berichterstattern selber zu einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit führt, zu einer von ihm selbst nicht durchschaubaren Vermischung von Imagination und tatsächlichen Tatbeständen. -- Es ist dies derselbe Schlüssel, so lautet die zentrale These, die

Girard aus den bisherigen Überlegungen heraus weiterentwickelt, der uns auch das Tor zum Mythos und dem Wesen des Mythischen zu öffnen vermag:

Am Ursprung des Mythos steht ein reales Opfer und eine reale kollektive Gewalt (SÜ: 43)

Girard konfrontiert seine Leserschaft in seinen folgenden Ausführungen mit einer auf den ersten Blick ebenso einfachen wie provokativen Ausgangshypothese. - Ihr Anspruch ist umfassend: In der Rückführung des Mythos auf Zeugnisse historischer Verfolgungen liegt für Girard nicht nur der Schlüssel zur Interpretation aller Mythen sondern zugleich ein allgemeingültiges Ursprungsmodell des Mythischen, dessen eigentlicher Ausgangspunkt, so Girard, in einem kollektiv ausgeführten Gewaltakt - meist einem kollektiven Mord - zu suchen ist. - Am oben aufgeführten Beispiel eines historischen Verfolgungstextes konnte demonstriert werden, wie Girard die auf der Textoberfläche geschilderten, monströsen Züge des Sündenbocks als sicheres Zeichen einer impliziten, weil aus der Sicht der Verfolger verzerrten, kollektiven Anklage zu entschlüsseln weiß. Es wurde darauf hingewiesen, daß die im Rahmen des historischen Verfolgungstextes vorgenommene Interpretation dem heutigen Leser als vollkommen selbstverständlich erscheinen muß. Dennoch, so führt Girard weiter aus, genügt bereits ein schlichter Wechsel der Textgattung - nämlich der Wechsel vom historischen Verfolgungstext zum mythischen Text - und sofort verliert dasselbe Interpretationsschema jeglichen Anspruch auf Selbstverständlichkeit. Wie läßt sich dies erklären? Die Antwort auf diese Frage ist in der scheinbar offensichtlichen Gegensätzlichkeit der hier miteinander verglichenen Textgattungen zu suchen: Während uns der historische Verfolgungstext auf der einen Seite von dem am kollektiven Sündenbock begangenen Gewaltakten Bericht erstattet, so scheinen die mythischen Texte auf der anderen Seite von nichts anderem zu erzählen als von den übernatürlichen Kräften einer Gottheit, die das Schicksal der menschlichen Gemeinschaft lenkt und beherrscht.

Wir verstehen nicht, daß es sich in beiden Fällen [d. h. im Falle des Opfers und im Falle der Gottheit] um die gleiche Figur handelt, weil wir uns nicht vorstellen können, daß es so starke verfolgungsspezifische Verzerrungen gibt, daß sie das Opfer sakralisieren. (SÜ: 84)

Um die Gemeinsamkeiten hinter den scheinbaren Gegensätzen erkennen können, müssen wir davon ausgehen, daß die in beiden Texttypen dargestellten Verbrecher - die Hexen oder Brunnenvergifter des historischen Verfolgungsdokuments auf der einen, die mythischen Dämonen und zürnenden Gottheiten auf der anderen Seite - nur zwei unterschiedliche Varianten einer Maske darstellen, hinter der sich das Gesicht des realen Opfers verbirgt. Es gibt nun einen einfachen Grund dafür, so Girard weiter, daß uns im ersteren Falle auf Anhieb gelingt, was im letzteren Falle bei einer oberflächlichen Textanalyse geradezu als anmaßend erscheinen muß - einen Blick hinter jene Maske zu erheischen, die der Text dem Opfer verleiht: Während nämlich jene Maske des historischen Verfolgungstextes bereits deutliche Spuren eines gewissen Zerfallsprozesses aufzeigt, ist die des mythischen Textes noch so vollständig intakt, daß der Betrachter sie als Maskierung eines realen Sachverhaltes nicht einmal wahrnehmen kann. In letzterem Falle "läßt sich das Opfer nur schwer als Opfer erkennen, weil es

durch und durch Ungeheuer ist" (SÜ:56). Bei genauerer Betrachtung ist es jedoch gerade die auf der Textoberfläche geschilderte Monstrosität des mythischen Helden, die uns den sichersten Hinweis auf die Wirksamkeit eines in seiner Intaktheit gänzlich unangetasteten Sündenbockmechanismus liefern kann: Sobald man einmal davon absieht, in den Taten des mythischen Helden nichts weiter aus bloße Fiktion zu sehen, sobald man diese monströsen Züge stattdessen in den Interpretationsrahmen des Sündenbockmechanismus setzt, so Girards Argumentation, kann sich hinter ihnen nichts anderes mehr verbergen als hinter jenen "unbestimmt-monströsen", halb mythischen Hexen- und Dämonenfiguren der mittelalterlichen Verfolgungstexte -- nämlich eine Inkarnation aller Anklagen und Schuldzuweisungen, die der kollektive Sündenbock auf sich vereint. Der Sündenbockmechanismus selbst folgt dabei einem einfachen Schema: Umso größer die Fähigkeit einer kollektiven Gemeinschaft ist, alle Schuld und Verantwortung für die Gewalt, in die sie verstrickt ist, auf eine einzige Person - den Sündenbock - zu projizieren, umso schrecklicher und gewalttätiger wird diese Figur in den späteren Überlieferungen dieser Gemeinschaft erscheinen. Die wachsende Monstrosität des Sündenbocks, die also in Wirklichkeit nichts anderes darstellt als die veräußerlichte Gewalt der Gemeinschaft selbst, zieht nun jedoch unmittelbare Konsequenzen für jene Rolle nach sich, mit der die kollektiven Verfolger sich selbst im Rückblick auf den einmal ausgestandenen Akt der Sündenbockaustreibung schildern werden: Wird die der kollektiven Gemeinschaft immanente Gewalt als eine dem Menschen äußerliche Gewalt erlebt, so können die Mitglieder der Gemeinschaft ihre Rolle im Spiel des Sündenbockmechanismus nicht anders denn als passiv erleben; die Gemeinschaft selbst fühlt sich auf jede nur erdenkliche Weise manipuliert von einer ungeheueren destruktiven Macht, die stärker ist als sie selbst und die wie eine unaufhaltsame Naturgewalt von außen in sie eindringt. Mit anderen Worten: der Sündenbock wird so sehr verantwortlich für alle internen Zwistigkeiten der Gemeinschaft, alle von ihr ausgeübten Gewaltakte, die zu Beginn der Krise die Situation innerhalb der Gemeinschaft kennzeichnen, daß auf dem "Konto" der Gemeinschaft selbst am Ende buchstäblich nichts mehr übrig bleibt. Wenn sich am Ende in der rückblickenden Berichterstattung der "naiven Verfolger" selbst - in den mythischen Texten also - keinerlei Spuren mehr von kollektiven Gewaltakten finden lassen, wenn uns der Text selbst also nicht den leisesten Hinweis auf ein Moment der kollektiven Anklage gegen einen Sündenbock liefert, geschweige denn von der gewalttätigen Austreibung desselben, dann ist hierin letztlich nichts anderes als die äußerste Konsequenz jenes Transformationsprozesses zu sehen, als der der Sündenbockmechanismus sich uns darstellt. Was auf den ersten Blick als ein vollkommenes Paradox erscheinen mag - die Interpretation eines Textes auf der Grundlage eines Sündenbockmechanismus, der im Text selbst nicht, und auch nicht nur annäherungsweise in Erscheinung tritt, liefert auf den zweiten Blick gerade den sichersten Beweis für die Wirksamkeit eben dieses Mechanismus. Umgekehrt, so läßt sich aus dieser Überlegung schlußfolgern, sind es dementsprechend gerade die in ihrer anvisierten Wirkung bereits abgeschwächten Sündenbockmechanismen, die sich dem Textinterpreten am deutlichsten als solche zu erkennen geben.

Unsere mittelalterlichen Vorfahren nahmen die verrücktesten Fabeln ernst: Brunnenvergiftungen durch Juden oder Leprakranke, Ritualmorde an Kindern, Hexenbesen und teuflische Orgien bei Vollmond. Ihre Mischung von Grausamkeit und Leichtgläubigkeit scheint uns unübertrefflich. Und trotzdem wird sie von den Mythen übertroffen; die historischen Verfolger gehören in den Bereich eines bereits verblaßten Aberglaubens. (SÜ: 58)

Es gibt demnach also keinen grundsätzlichen, sondern lediglich einen graduellen Unterschied zwischen dem Texttyp des historischen Verfolgungsdokuments und dem Texttyp des Mythos: Die historischen Verfolgungsdokumente spiegeln ein Zerfallsstadium des Sündenbockmechanismus wider, in dem dieser seiner ursprünglichen Wirkungskraft bereits zu Teilen verlustig geworden ist und somit Einblicke auf die ihm zugrundeliegende Struktur ermöglicht. Die dem Opfer angelasteten Verbrechen, von denen der Mythos uns noch "im gemessenen Stil der unbezweifelbaren Tatsachen" (ebd.) zu berichten wußte, bedürfen im Rahmen des historischen Verfolgungstextes bereits ihrer Rechtfertigung, erfordern Beweise von Seiten der Ankläger und werden gerade hierdurch für den Leser als Anklagen kenntlich. Es ist nun jedoch gerade dieser Zerfallscharakter, der den historischen Verfolgungstext für den heutigen Textinterpreten zu einem unschätzbaren Wert werden läßt: Indem er uns Einblicke in die Funktionsweise des Sündenbockmechanismus liefert, ermöglicht er uns die Konstruktion eines Interpretationsschemas, das, so Girard, als ein erstes "Sprungbrett", als "Faden der Ariadne" (ebd.) zur Entschlüsselung des Mythos dienen kann.

Bevor ich mich nun im folgenden einer zusammenfassenden Betrachtung dieses Interpretationsschemas zuwenden und im Anschluß hieran überprüfen möchte, inwiefern dieses Schema auch als Grundlage für Christa Wolfs Neuinterpretation des Medea-Mythos betrachtet werden kann, sei an dieser Stelle noch einmal zusammenfassend auf ein wesentliches Ergebnis der bislang ausgeführten Überlegungen verwiesen: Die vergleichende Gegenüberstellung der Texttypen historisches Verfolgungsdokument und mythische Überlieferung führt Girard nicht nur zu dem Ergebnis, daß beiden Textsorten bei näherer Betrachtung ein und dieselbe Struktur - die des Sündenbockmechanismus - zugrunde liegt, sondern es läßt sich überdies feststellen, daß sich die beiden auf den ersten Blick scheinbar so unterschiedlichen Textsorten sobald

ihr innerer Zusammenhang einmal erkannt ist, auf äußerst fruchtbare Weise wechselseitig beleuchten und ergänzen. - Während der historische Verfolgungstext einen Einblick in die Entstehung des Sündenbockmechanismus, seine äußeren Begleitumstände, die Art der Anklagen gegen das Opfer usw. ermöglicht, dem Leser jedoch nur ein abgeschwächtes Zeugnis seiner Wirkungskraft liefert, kommt letztere in den mythischen Texten auf, um mit Girard zu sprechen, wesentlich "höheren Touren" (ebd.) zum Tragen. Die Mythen berichten uns auf eklatanteste Weise von den Ergebnissen eines noch gänzlich intakten Sündenbockmechanismus

und seinen Auswirkungen auf gesellschaftlicher Ebene, der Mechanismus selbst zeigt sich jedoch niemals an der Oberfläche des Textes; seine Thematisierung im Text ist gänzlich ausgeschlossen, da er von den Verfassern des Textes niemals als solcher erkannt wurde. Warum dies so ist, wird im folgenden noch näher aufzuzeigen sein; was die Interpretation der wolfschen Neuschreibung des Medea-Mythos anbelangt, stellt sich uns jedoch bereits an dieser Stelle eine wichtige Frage: Eingangs wurde darauf hingewiesen, daß Wolfs Roman grundsätzlich mit dem Anspruch verbunden ist, die Wahrheit des Mythos ans Licht zu bringen, indem die historische Person Medea aus ihrer "Verkennung" gelöst und der tatsächliche Verlauf der historischen Geschehnisse um diese Person rekonstruiert werden soll. Auf der Textoberfläche selbst bürgt dabei die "Authentizität" der unmittelbar aus der Vergangenheit zu uns sprechenden "Stimmen" für den Wahrheitsgehalt des Erzählten - es gibt keine Vermittlerinstanz zwischen uns und den "authentischen" Stimmen der Vergangenheit, die den Blick trüben, das Erzählte nachträglich verändern oder manipulieren könnte. -- Was wäre jedoch, so müssen wir mit Girard an dieser Stelle fragen, wenn die authentischen "Stimmen" der Vergangenheit dennoch lügen? Was wäre wenn die historischen Verfolger selbst, und dies ist die Ausgangshypothese des girardschen Mythosmodells, getrübt von der Wahrnehmung ihrer eigenen Gewalt als einer veräußerlichten, auf das kollektive Opfer projizierten Gewalt, gar nicht dazu in der Lage wären, ihre eigene Rolle als Verfolgerrolle und die Rolle des Opfers als Sündenbock zu durchschauen, geschweige denn uns als Zuhörer davon getreulich Bericht zu erstatten. Eine vorsichtige, schrittweise Annäherung, so lautet Wolfs "Rezept" zur Entzifferung des Mythos, ein Verzicht auf vorschnelle Urteile und falsche Fragen wird es uns ermöglichen, das "Geheimnis" der Toten (MS: 9) aus ihrem eigenen Munde zu erfahren - das Geheimnis um das wahre Wesen Medeas als Sündenbock und als Opfer falscher Anklagen, von dem im Roman denn auch einheitlich alle Stimmen Bericht erstatten. Das Ergebnis, zu dem Wolfs Roman den Leser führt - die Befreiung des Sündenbocks von seiner äußeren Maske (im Falle Medeas also von der Maske der Mehrfachmörderin und zürnenden Gottheit) stimmt zwar gänzlich mit dem Ergebnis überein, das René Girards Theorie uns liefert; der Weg allerdings, den Wolf einschlägt, um zu eben diesem Ergebnis zu gelangen, steht, bei näherer Betrachtung, in einem offensichtlichen Widerspruch zu eben dieser Theorie: Der Blick auf Girards Theorie des Mythos als Verfolgungsgeschichte, soweit sie bis zu diesem Punkt erläutert wurde, hat deutlich werden lassen, daß es gerade die "authentische" Sichtweise der Verfolger selbst ist, die das "Geheimnis" des Mythos so sicher zu hüten weiß -

ein Geheimnis, dessen geheime Natur so groß ist, daß es den Mythenerzählern selbst - und ihnen am wenigsten - niemals offenbar werden kann. Am Beispiel Guillaume de Machauts zeigt Girard auf, daß lediglich eine radikale Reinterpretation es dem heutigen Leser ermöglicht, den aus der Sicht der Verfolger selbst verfassten, historisch überlieferten Bericht eines im Mittelalter begangenen Judenmassakers auf die einzig mögliche und einzig richtige Art zu deuten - nämlich als Dokument eines Sündenbockmechanismus. Bedenken wir weiterhin, daß nach girardschen Modell die falschen Überzeugungen des Textautors, d.h. der historischen Verfolger, uns im Rahmen des mittelalterlichen Verfolgungsdokuments in einer gegenüber dem mythischen Text bereits abgeschwächten Form gegenüberstehen: Um wieviel größer muß dann die Distanz zwischen der Kompetenz des Interpreten auf der einen Seite, und der Fähigkeit zu einer authentischen Darstellung der tatsächlichen historischen Ereignisse seitens der historischen Verfolger auf der anderen Seite sein, die die Entschlüsselung eines mythischen Textes erfordert? Um dem "Geheimnis" des Mythos auf die Spur zu kommen, werden

wir uns demensprechend von den authentischen Stimmen der Verfolger selbst wenig Hilfe erhoffen dürfen.

Wie Christa Wolf mit diesem offensichtlichen Widerspruch umzugehen weiß, warum die von ihr "vernommenen" und an uns weitergeleiteten "Stimmen" der Vergangenheit uns die Genese des Mythos Medea nach wolfschem Konstrukt dennoch aufdecken können, und inwiefern die von Wolf vorgenommene Relektüre des Medea-Mythos insgesamt ihrem Anspruch auf Entmysthifizierung gerecht wird, wird im folgenden noch näher auszuführen sein. - Zunächst möchte ich mich an dieser Stelle einer zusammenfassenden Darstellung des von René Girard entwickelten mythentheoretischen Interpretationsschemas zuwenden, wobei die wichtigsten Argumentationspunkte herausgearbeitet werden sollen. Hierbei wird insbesondere auch auf den bislang noch nicht erwähnten Begriff des "Heiligen" einzugehen sein, der für Girards Theorie eine zentrale Rolle spielt.

Die Entstehung eines Mythos als das Ergebnis einer realen historischen Verfolgung läßt sich nach Girard auf ein ebenso stabiles und zeitübergreifendes wie allgemeingültiges Schema zurückführen: "Der Leitgedanke der vorliegenden Hypothese, so erklärt Girard, "scheint klar zu sein. Eine Gemeinschaft, die in Gewalt verstrickt ist oder vom Unheil bedrängt wird, dem sie nicht Herr werden kann, stürzt sich oft blindlings in die Jagd auf den 'Sündenbock'. Instinktiv wird nach einem rasch wirkenden gewalttätigen Mittel gegen die unerträgliche Gewalt gesucht. Die Menschen wollen sich davon überzeugen, daß ihr Unglück von einem einzigen Verantwortlichen kommt, dessen man sich leicht entledigen kann." (HG: 121)

Die hier geschilderte konfliktgeladene Ausgangssituation tritt, so Girard, üblicherweise in Zusammenhang mit einer Reihe recht unterschiedlicher äußerer (Epidemien, Naturkatastrophen, Hungersnot usw.) sowie innerer Begleiterscheinungen (politische oder religiöse Unruhen und Konflikte) auf. Wesentlich für Girards Theorie ist hierbei jedoch nicht eine genaue Bestimmung der tatsächlichen Ursachen für die am Anfang jedes Mythos stehende gesellschaftliche Krisensituation, sondern vielmehr die Art und Weise, wie diese Krisensituation vom Kollektiv selbst wahrgenommen und erlebt wird: Der Vielfalt der tatsächlichen Ursachen steht hier eine im Wesentlichen sehr einheitliche Wahrnehmungsweise gegenüber:

Als stärkster Eindruck bleibt in jedem Fall das Gefühl eines radikalen Verlustes des eigentlich Sozialen zurück - der Untergang der die kulturelle Ordnung definierenden Regeln und "Differenzen". (SÜ: 24)

Girard führt an dieser Stelle den Begriff der "Entdifferenzierung" ein. Gemeint ist hiermit ein radikaler und vollkommener Zusammenbruch aller offiziellen und inoffiziellen Gesetze, die in krisenfreien Zeiten die zwischenmenschlichen Beziehungen regulieren. Durch die Auflösung jeglicher Institutionen, sei es auf familiärer, staatlicher, religiöser, beruflicher Ebene usw. werden alle hierarchischen und funktionalen Unterschiede getilgt, die bislang das Leben innerhalb der Gemeinschaft bestimmten.

Die Gesetze werden gebrochen, niemand geht mehr zur Arbeit, der Zusammenhalt innerhalb der Familien bricht auseinander, und die Straßen sind verlassen. Es herrscht ein furchtbares Durcheinander. Alles bricht zusammen [...]. Die Menschen verfallen ohne Unterschiede des Standes oder Vermögens in tödliche Trostlosigkeit. (ebd.: 24).

Der hier von Girard beschriebene Prozeß der gesellschaftlichen Entdifferenzierung bildet einerseits den Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Krise, darüber hinausgehend führt er die kollektive Gemeinschaft zwangsläufig in einen Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint: Während die den Beginn der Krise hervorrufende Gewalt zur Zerstörung aller Unterschiede innerhalb der Gemeinschaft führt, ist es dieser Prozeß der Entdifferenzierung selbst, der wiederum die zerstörerische Gewalt nährt und schürt: Wo es keine Unterschiede mehr zwischen den einzelnen Gegnern des gesellschaftlichen Konfliktes gibt, ist keine Parteinahme mehr möglich. Es herrscht ein tödliches Gleichgewicht, eine Schlichtung des Konflikts scheint undenkbar, da die Anklagen auf beiden Seiten diegleichen sind, Racheakt folgt auf Racheakt, der Streit ist seiner Natur nach nicht entscheidbar und dadurch endlos; zwangsläufig zieht jeder Konflikt einen zweiten, noch größeren Konflikt nach sich.

Die Unentscheidbarkeit des ersten Konflikts überträgt sich ganz natürlich auf den zweiten, der den ersten wiederholt und auf eine Vielzahl von Personen ausweitet. (HG: 72) [...] In der gänzlich entfesselten Gemeinschaft scheint ein unbeschreibbares Chaos zu herrschen. Kein roter Faden scheint all diese Konflikte, all diesen Haß, all diese einzelnen Faszinationen miteinander zu verbinden. (ebd.: 120).

Für die Natur der Gewalt selbst ergibt sich aus dem bisher gesagten für Girard eine ganz wesentlich Konsequenz: Es ist dies die Erkenntnis der absoluten Grundlosigkeit jeglicher Form von Gewalt, die die kollektive Gemeinschaft erschüttert:

Die Menschen geben nur widerwillig zu, daß die "Gründe" auf beiden Seiten [d. h. zwischen den Gegnern eines jeden beliebigen der sich ständig vermehrenden Einzelkonflikte] die gleichen sind, daß also die Gewalt grundlos ist. (ebd.)

Auf dem Höhepunkt der Krise steht die Existenz der gesamten Gemeinschaft auf dem Spiel. Die Umstände für eine endgültige Lösung der Schuldfrage, die alleinig den die gesamte Gemeinschaft erschütternden reziproken Anklagen und Beschuldigungen ein Ende setzen könnte, scheinen äußerst ungünstig. - Bei näherer Betrachtung, so führt Girard weiter aus, steht die Gemeinschaft jedoch gerade auf dem Höhepunkt des Chaos, in einer Situation also, die durch die totale Auslöschung aller Unterschiede geprägt ist, in der jeder mit jedem verfeindet ist und aufgrunddessen alle Beschuldigungen, Haßgefühle und Anklagen beliebig austauschbar werden, einer plötzlichen und unverhofften Kehrtwendung der bedrohlichen Situation so nahe wie nie zuvor: Das Geheimnis dieser Kehrtwendung ist das plötzliche Umkippen der reziproken Gewalt in eine die gesamte Gemeinschaft umfassende gewalttätige Einmütigkeit - eine Kehrtwende, die gewaltig erscheint, und zu deren Umsetzung es dennoch, so Girard, in einer Situation vollkommener Entdifferenzierung "nichts oder fast nichts" (HG: 121) bedarf.

Wenn die Gewalt die Menschen tatsächlich gleich macht, wenn jeder der Doppelgänger [...] seines Gegenspielers wird, [...] dann kann irgendeiner von ihnen zu irgendeinem Zeitpunkt der Doppelgänger aller anderen werden und so Gegenstand einer umfassenden Faszination und eines umfassenden Hasses sein. Ein einziges Opfer kann an die Stelle aller potentiellen Opfer treten, [...] mit anderen Worten: es tritt an die Stelle ausnahmslos aller Menschen innerhalb der Gemeinschaft. (ebd.: 120).

[...]


[1] Wolf, Christa: Medea. Stimmen. Gütersloh 1996. Im folgenden abgekürzt durch MS.

[2] Girard, René: Der Sündenbock. Zürich und Düsseldorf 1998. Im folgenden abgekürzt durch SÜ.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Christa Wolfs "Medea. Stimmen" zwischen Entmythisierung und Remythisierung
Hochschule
Universität Bayreuth  (Lehrstuhl für neuere dt. Literaturwissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
28
Katalognummer
V24397
ISBN (eBook)
9783638272834
ISBN (Buch)
9783638648332
Dateigröße
584 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dichter Text - einzeiliger Zeilenabstand.
Schlagworte
Christa, Wolfs, Medea, Stimmen, Entmythisierung, Remythisierung
Arbeit zitieren
Magistra Artium Verena Krauch (Autor:in), 2004, Christa Wolfs "Medea. Stimmen" zwischen Entmythisierung und Remythisierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24397

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