Geschlechterdifferenz im Romanwerk von Marlen Haushofer


Magisterarbeit, 1999

105 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

Einleitung

Teil I – Theorie der Geschlechterdifferenz
1. Feministische Thesen „vor“ und „nach“ Marlen Haushofer
1.1 1949: Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“
1.2 80er und 90er Jahre: Thesen zur Geschlechterdifferenz
2. Versuch einer Definition: Was heißt Geschlechterdifferenz?

Teil II – Geschlechterdifferenz bei Marlen Haushofer
1. Von äußerer Freiheit in Eine Handvoll Leben bis zur Befreiung nach innen in Die Mansarde: Der Zusammenhang der Romane
1.1 Eine Handvoll Leben: Der Lebensentwurf Freiheit
1.2 Die Taptetentür: Der Entwurf „normales Leben“
1.3 Wir töten Stella: „Exkurs“ – Wissen und Verrat
1.4 Die Wand: Ein neuer Ansatz – weibliche Autonomie als Lebensform
1.5 Himmel, der nirgendwo endet: Reprojektion – der Lebens-Raum Kindheit
1.6 Die Mansarde: Die Befreiung nach innen
2. Positionen der Geschlechterdifferenz
2.1 Die Kindheit
2.1.1 Sozialisation
2.1.2 Die Tochter-Vater-Beziehung
2.1.3 Keine Rückkehr möglich
2.2 Liebe
2.2.1 Die zwei Seiten des Mannes
2.2.2 Das Scheitern der Liebe
2.3 Funktionalisierung der Frau durch die Männer
2.3.1 Geliebte
2.3.2 Hausfrau
2.3.3 Mutter
2.4 Der Ausschluß der Frau
2.4.1 Heimatlosigkeit
2.4.2 Die Welt des Mannes
2.5 Das Körper-Geist-Problem
2.6 Wissen und Verrat
2.6.1 Handlungsunfähigkeit
2.6.1.1 Denken heißt Nicht-Handeln
2.6.1.2 Einsicht in die innere Notwendigkeit
2.6.1.3 Nichtstun als Beihilfe
2.6.2 Das Zusammenwirken der Geschlechter
2.6.2.1 Die fehlende Kommunikation
2.6.2.2 Die Stabilisierung der patriarchalen Ordnung
2.6.2.3 Wände und Schutz-Räume
2.7 Strategien des Überlebens
2.7.1 Substitution
2.7.2 Erinnern und Vergessen
2.7.3 Erstarrung und „Scheintod“
2.8 Auswege ohne Veränderungspotential
2.8.1 Die Unmöglichkeit einer Veränderung
2.8.1.1 Mutter und Sohn
2.8.1.2 Die Macht des Patriarchats
2.8.2 Mögliche Auswege
2.8.2.1 Die weibliche Autonomie
2.8.2.2 Die Befreiung nach innen

3. Zusammenfassung

Schluß

Bibliographie

Teil I – Theorie der Geschlechterdifferenz

I.1. Thesen zur Geschlechterdifferenz

Das Thema Geschlechterdifferenz ist ein äußerst kompliziertes und komplexes Gebiet, da es einerseits die Grundlage der feministischen und überhaupt jeglicher philosophischen Diskussion ist, andererseits der Begriff jedoch nicht klar faßbar wird und sich einer einheitlichen und universal einsetzbaren Definition entzieht. Wenn wir von Geschlechterdifferenz sprechen, ist von einem gegebenen und gleichzeitig erklärungsbedürftigen Phänomen die Rede. Und dieses geht weit über die einfache Tatsache, daß es zwei verschiedene Geschlechter gibt, hinaus: Eine Theorie der Geschlechterdifferenz muß sich damit beschäftigen, wie sich dieser (scheinbar naturgegebene) „kleine Unterschied“ auf die Position der Menschen – von feministischer Warte aus insbesondere der Frau – in der Welt und Gesellschaft auswirkt, muß die Gründe für die Andersartigkeit und Ungleichheit der Geschlechter untersuchen, und sie muß nicht zuletzt Veränderungsmöglichkeiten und Lösungen entwerfen: Wie könnten die Menschen in Zukunft vernünftig mit der Geschlechterdifferenz umgehen, wie könnten Hierarchien abgebaut werden, wie können Mann und Frau zusammenleben, ohne daß eines der beiden Geschlechter unterdrückt wird?

Die hier angeführten Thesen erheben keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit – wollte man diesen erfüllen, hieße das, die gesamte Philosophie von ihren Anfängen bis zur Gegenwart auf das Phänomen Geschlechterdifferenz hin zu untersuchen und auch sämtliche Vertreterinnen der feministischen (Literatur-)Theorie zu Wort kommen zu lassen. Dies würde mehr als genug Stoff für eine eigene Arbeit liefern. Da ich mich in dieser Arbeit sehr nah an den Texten Marlen Haushofers entlangbewegen werde, habe ich im folgenden nur einige wenige Pionierinnen der feministischen Theoriebildung – Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Judith Butler – zur genaueren Betrachtung herangezogen, um an ihnen exemplarisch darzustellen, in welche Richtung die Erforschung der Geschlechterdifferenz ging und geht und um wichtige Termini und Kategorien hervorzuheben, die später im Lektüreteil wieder auftauchen werden.

I.1.1. 1949: Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“

Das erste Buch, das sich ausführlich und erklärend mit der Geschlechterdifferenz und der Situation der Frau beschäftigt, ist die Abhandlung Le Deuxième Sexe[1] von Simone de Beauvoir, die in der Originalausgabe 1949 in Paris erschien. Bereits 1951 kam die deutsche Ausgabe auf den Markt. Man kann davon ausgehen, daß auch Marlen Haushofer das umfangreiche Werk (über 900 Seiten in der Taschenbuchausgabe) gelesen hat, denn in ihrer persönlichen Bibliothek wurde ein Exemplar von Das andere Geschlecht gefunden.

Beauvoirs Werk ist in zwei große Abschnitte unterteilt: Das erste Buch, „Fakten und Mythen“, untersucht im Kapitel „Schicksal“ die biologischen Gegebenheiten, den psychoanalytischen Standpunkt sowie den des historischen Materialismus; dem Kapitel „Geschichte“ folgt als dritter Teil die Untersuchung des „Mythos“ Frau mit Untersuchungen literarischer Werke. Im zweiten Buch, „Gelebte Erfahrung“, geht es um den Werdegang und die Situation der Frauen, ihre Rechtfertigungen und schließlich um den Weg zu einer Befreiung.

Bereits in der Einleitung umreißt Beauvoir das Verhältnis der Geschlechter:

In Amtsregistern und auf Personalbögen sind die Rubriken »männlich« und »weiblich« nur der Form halber symmetrisch. Das Verhältnis der beiden Geschlechter ist nicht das zweier elektrischer Ströme, zweier Pole: der Mann vertritt so sehr zugleich das Positive und das Neutrale, daß im Französischen les hommes (die Männer) die Menschen schlechthin bezeichnen, da die spezielle Bedeutung des Wortes vir in der allgemeinen von homo aufgegangen ist. Die Frau dagegen erscheint als das Negative, so daß jede Bestimmung ihr zur Einschränkung gereicht, ohne daß die Sache umkehrbar wäre. (G 11)

Hier wird eine grundlegende Kategorie von Beauvoirs Denken über die Geschlechterdifferenz und ein Basisproblem der feministischen Theorie formuliert: der Mann ist das Eine, das Absolute, das Subjekt, während die Frau das Andere ist, das Objekt: „Sie wird mit Bezug auf den Mann determiniert und differenziert, aber nicht mit Bezug auf sich.“ (G 12)

Beauvoir erklärt den Objektstatus der Frau mit dem Bedürfnis der Subjekte, der Männer, ein Objekt zu haben, sich durch das Andere zu begrenzen und zu negieren, um sich selbst behaupten und setzen zu können.[2]

Es ist die Existenz der anderen Menschen, die jeden einzelnen Menschen aus seiner immanenz herausreißt und es ihm ermöglicht, die Wahrheit seines Seins zu erfüllen, sich als Transzendenz, als Sichentgehen auf das Objekt hin, als Entwurf zu erfüllen. (G 190)

Hier taucht ein neues Begriffspaar auf, das in Das andere Geschlecht eine große Rolle spielt: Transzendenz versus Immanenz, also Über-sich-Hinausgehen in einen Bereich, der jenseits der Erfahrungen liegt, gegenüber dem Verharren in der erfahrbaren Welt, dem Eingeschlossensein. Bei Beauvoir wird dem Mann stets die Transzendenz zugeschrieben, während die Frau immanent bleibt. Auch wenn das Streben nach der Existenz (die mehr ist als das bloße, immanente Sein) schwierig ist und Unruhe mit sich bringt, ist es doch das Leben, das der Mann zu verwirklichen sucht und die Frau nicht: Der Mann wird durch seine Transzendenz frei und konstituiert sich als Individuum, die Frau bleibt in ihrer Immanenz gefangen. Denn der Mann braucht sie als das Andere, um sich als Subjekt zu setzen, weil er in der Unruhe des Sich-Überschreitens gleichzeitig Ruhe sucht:

Die Verkörperung dieses Traums ist eben die Frau: sie ist der ersehnte Mittelweg zwischen der dem Mann fremden Natur und dem Gleichen, der zu identisch mit ihm ist. (G 191)

Damit der Mann die Frau für seine Existenz benutzen kann, muß er sie sich unterwerfen, es muß eine hierarchische Beziehung geben, eine Herr-Knecht-Beziehung, in der die Frau die untergeordnete Rolle einnimmt:

Sie ist das Unwesentliche gegenüber dem Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere. (G 12)

Der Widerspruch in dieser Beziehung ist offensichtlich: Der Herrschende, das Subjekt, setzt sein Objekt als unwesentlich, obwohl er sein Bewußtsein der Existenz über eben dieses unwesentliche Objekt erlangt. Daraus folgt die Frage: warum setzen sich die Frauen, also die „Knechte“, nicht selbst als wesentlich und Subjekt? Beauvoirs Antwort darauf ist zunächst folgende:

Neben dem ethischen Anspruch jedes Individuums, sich als Subjekt zu behaupten, gibt es in ihm die Versuchung, seine Freiheit zu fliehen und sich als Ding zu konstituieren: ein unheilvoller Weg, denn passiv, entfremdet, verloren, ist fremden Willen ausgeliefert, von seiner Transzendenz abgeschnitten, jedes Wertes beraubt. Aber es ist ein bequemer Weg: man vermeidet so die Angst und Spannung einer selbstverantwortlichen Existenz. Der Mann, der die Frau als eine Andere konstituiert, trifft bei ihr also auf weitgehendes Einverständnis. Die Frau erhebt nicht den Anspruch, Subjekt zu sein, weil ihr die konkreten Möglichkeiten dazu fehlen, weil sie ihre Bindung an den Mann als notwendig empfindet, ohne deren Reziprozität zu setzen, und weil sie sich oft in ihrer Rolle als Andere gefällt. (G 17)

Die Frauen werden also mit Passivität gleichgesetzt, während den Männern Aktivität zugesprochen wird. Gleichzeitig wird sie als „jedes Wertes beraubt“ dargestellt, die Passivität und Immanenz also negativ konnotiert. Das wirft natürlich die Frage auf, woher denn die (weibliche) Vorstellung von Werten kommt. Beauvoir selbst stellt klar, daß von einer Neutralität nicht die Rede sein kann:

Die Vorstellung von der Welt ist, wie die Welt selbst, das Produkt der Männer: sie beschreiben sie von ihrem Standpunkt aus, den sie mit dem der absoluten Wahrheit gleichsetzen. (G 194)

Warum die Frauen sich nicht gegen ihre Unterdrückung wehren, hat noch andere Gründe, die Beauvoir ausführlich erklärt. Die Frau ist eine spezielle Gruppe von „Anderen“, nicht zu vergleichen mit anderen Unterdrückten wie etwa den Schwarzen oder sonstigen Minderheiten. Dadurch, daß „diese Welt immer den Männern gehört hat“ (G 18), besitzen die Frauen keine ihnen eigene Geschichte. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Männer, und die Frauen spielen keine Rolle darin:

Nie haben die Frauen eine Kaste für sich gebildet, und in Wirklichkeit haben sie nie als Geschlecht eine Rolle in der Geschichte spielen wollen. Die Theorien, die das Hervortreten der Frau als Fleisch, Leben, Immanenz, als das Andere verlangen, sind männliche Ideologien, die in keiner Weise weibliche Forderungen ausdrücken. Die Mehrzahl der Frauen schickte sich in ihr Los, ohne irgendeinen Versuch zum Handeln zu machen; diejenigen, die es zu verändern suchten, hatten nicht die Absicht, sich auf ihre Eigenart zu versteifen und sie durchzusetzen, sondern sie zu überwinden. (G 180)

Es gibt also kein Gemeinschaftsgefühl unter den Frauen, keine Solidarität, denn durch das patriarchale System der Ehe und Familie sind sie „enger mit bestimmten Männern (...) verbunden als mit anderen Frauen“ (G 15), sie solidarisieren sich also mit den Männern ihrer Gesellschaftsschicht statt mit den anderen Frauen. So aber verharren sie im Objektstatus und in ihrem Bezug auf die Männer und können sich keine eigene Identität als Frauen schaffen, in der sie selbst das Eine und Subjekt wären. Das obige Zitat verdeutlicht außerdem den Mechanismus der Männerherrschaft: Bestimmungen wie Passivität, Immanenz, Fleischlichkeit, Kindlichkeit, Verantwortungslosigkeit, Unterordnung unter den Mann (vgl. G 20) etc. wurden den Frauen von den Männern zugeschrieben und als „Natur“ hingestellt, es sind die oben benannten „männlichen Ideologien“, die von den Frauen teilweise nicht mehr als solche erkannt werden, weil sie sie schon so verinnerlicht haben. Doch Beauvoir stellt fest: „... sein heißt geworden sein, heißt zu dem gemacht worden sein, als was man in Erscheinung tritt.“ (G 20).

Die logische Schlußfolgerung formuliert Beauvoir im wohl berühmtesten Satz ihres Buches Das andere Geschlecht: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ (G 334). Weiblichkeit ist für Beauvoir also keine biologische Gegebenheit, sondern eine soziale Konstruktion. Hier zeigt sich schon die Trennung zwischen biologischem und sozialen Geschlecht, die Jahrzehnte später in der sex/gender-Diskussion die zentrale Rolle spielen sollte. Beauvoirs Argumentation folgend begreifen sich Kinder anfangs nicht als geschlechtlich differenziert:

Nur die Vermittlung anderer kann ein Individuum zum Anderen machen. (...) Für Mädchen wie für Knaben ist der Körper zunächst die Ausstrahlung einer Subjektivität, das Werkzeug zum Verständnis der Welt: sie erfassen das Universum mit den Augen, mit den Händen, nicht mit den Geschlechtsteilen. (G 334)

Die geschlechtliche Spezifizierung eines Mädchens ist keineswegs „geheimnisvolle(n) Instinkte(n)“ (G 335) zuzuschreiben, sondern weil von der frühesten Kindheit des Mädchens an in sein Leben eingegriffen wird und „seine Berufung ihm schon in den ersten Jahren unabweislich eingetrichtert wird.“ (ebd.) – Weiblichkeit also als Ergebnis einer Sozialisation in der Kindheit. Da immer die Mütter die Töchter erziehen, geben sie ihnen ihre von der Gesellschaft oktroyierten Weiblichkeitsmuster weiter; die Mutter

... zwingt dem Mädchen ihre eigene Bestimmung auf: eine Art, stolz auf ihre Weiblichkeit Anspruch zu erheben, sich andererseits aber dafür zu rächen. (...) Entsprechend setzen die Frauen, wenn ihnen ein Mädchen anvertraut wird, großen, mit arrogantem Stolz und Rachsucht gemischten Eifer darein, es in eine Frau nach ihrem Ebenbild zu verwandeln. (G 349)

Auch, um es den Mädchen in einer von Männern dominierten Welt leichter zu machen, werden dem Kind systematisch die Verhaltensregeln und Muster beigebracht, die sie zu einer ‚richtigen Frau‘ machen sollen. Das Mädchen wird zur Passivität angeleitet (vgl. G 364), und so schließt sich der circulus vitiosus: Die Frauen unterstützen mit der Erziehung ihrer Töchter das System, das sie unterdrückt:

Das Mädchen wird Ehefrau, Mutter, Großmutter. Genau wie seine Mutter wird es den Haushalt führen, es wird die Kinder umsorgen wie es selbst umsorgt worden ist. Es ist zwölf Jahre alt, und schon steht seine Geschichte in den Himmel geschrieben. Es entdeckt sie Tag für Tag, ohne sie je selbst zu machen. Es ist neugierig, aber entmutigt, wenn es an dieses Leben denkt, das in allen Etappen vorausgeplant ist, auf dessen Weg es unausweichlich jeden Tag einen Schritt weiter voranbefördert wird. (G 369)

Hier zeigen sich auch wieder die Kategorien der Immanenz und Transzendenz: Das Mädchen ist in einem begrenzten Raum gefangen, der kleine Junge dagegen kann sich frei fühlen, denn ihm stehen alle erdenklichen Möglichkeiten im Leben offen.

Die junge Frau hingegen wird zur Beute des Mannes, zu seinem Objekt, um ihren Körper zu transzendieren, „um Beute zu machen“ (G 412). Im Patriarchat, das dem Besitzdenken und dem Prinzip des Privateigentums gehorcht, sind die Frauen „Teil der Güter, die den Männern gehören und die ein Tauschmittel unter ihnen sind.“ (G 97). Sie sind also Besitz der Männer und ihre Beute, wollen dies nicht sein, wissen aber, daß sie nur so einen Mann ‚bekommen‘ können. Das Mädchen befindet sich in einem existentiellen Dilemma:

Es ist nicht mit dem Schicksal einverstanden, das ihm von der Natur und von der Gesellschaft zugewiesen wird, lehnt sein Los aber auch nicht entschieden ab: es sit innerlich viel zu gespalten, um gegen die Welt zu kämpfen. Es beschränkt sich darauf, die Wirklichkeit zu fliehen oder symbolisch anzufechten. Jeder Wunsch, den es empfindet, geht mit Angst einher: begierig will es die Zukunft in Besitz nehmen, fürchtet sich aber, mit der Vergangenheit zu brechen. Es möchte einen Mann »haben«, jedoch um keinen Preis seine Beute sein. Und hinter jeder Angst verbirgt sich ein Begehren: der Gedanke an eine Vergewaltigung erfüllt das junge Mädchen mit Schrecken, aber es sehnt sich nach Passivität. Derart zur Unaufrichtigkeit verurteilt, wird es entsprechend gerissen, anfällig für jede negative Zwangsvorstellung, aus der eine Ambivalenz von Furcht und Begehren spricht. (G 430)

Später, in der Ehe, wird die Frau auch rechtlich zum Objekt des Mannes, sie wird quasi per Gesetz zur Immanenz und Passivität gezwungen:

Er ist es, der die Transzendenz verkörpert. Die Frau soll der Arterhaltung und dem Haushalt dienen, das heißt, sie ist zur Immanenz verurteilt. (G 521)

Die Frau wird als Mutter und Hausfrau funktionalisiert. Dem Haus kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Da die Frau in der Ehe eingeschlossen ist, geht es für sie darum, „dieses Gefängnis in ein Königreich zu verwandeln“ (G 551). Diese Dialektik ist für Beauvoir übertragbar auf die allgemeine Situation der Frau, die „nimmt, indem sie sich zur Beute macht“ (ebd.) und sich befreit, indem sie auf Macht und Herrschaft verzichtet. Weitergeführt bedeutet diese Dialektik aber auch, daß sie sich von der übrigen Welt aussperrt, indem sie sich im Haus einsperrt, und vor allem, daß sie auch in diesem Haus ausgeschlossen ist, da es immerhin dem Mann gehört, genauso wie sie ihm gehört. Die Tätigkeit der Hausarbeit steht im krassen Gegensatz zu der produktiven Arbeit des Mannes, der diese außerhalb des Hauses, in der Außenwelt, verrichtet:

Jede Lehre von Transzendenz und Freiheit ordnet die Niederlage des Bösen dem Fortschritt zum Guten unter. Doch die Frau ist nicht berufen, eine bessere Welt zu errichten. Das Haus, das Zimmer, die schmutzige Wäsche, der Parkettboden sind starre Dinge: sie kann immer nur das sich einschleichende Böse vertreiben. Sie geht gegen den Staub, die Flecken, den Dreck, das Schmierige vor. Sie bekämpft die Sünde und ringt mit dem Satan. (G 557)

Diese ungerechte und undankbare Arbeitsteilung der Geschlechter (vgl. G 563), in der der Mann außerhalb produktiv ist, während die Frau im Inneren unwesentliche Arbeiten verrichtet, die zur Aufrechterhaltung des status quo dienen und zu sonst nichts, spiegelt das Schema von Transzendenz und Immanenz, von Aktivität und Passivität, von Freiheit und Eingeschlossensein wider und erneuert es ständig. Die Hausarbeit befreit die Frauen also nicht, sondern macht sie von ihrem Mann und ihren Kindern abhängig, für die ihre Arbeit und damit sie selbst einen Sinn und damit eine Existenz- oder besser Seinsberechtigung darstellt (vgl. G 567).

Die Eheleute bleiben einander fremd, denn sie kommt aus einer weiblichen Welt mit weiblichen Prinzipien, die man ihr lange genug eingetrichtert hat, während der Mann völlig andere Werte und Prinzipien hat (vgl. G 577). Paradox für die Frau ist an der Ehe außerdem, „daß sie eine erotische und soziale Funktion zugleich erfüllt“ (ebd.). So bleiben die Ehepartner einander fremd:

Der Ehemann respektiert seine Frau zu sehr, als daß er sich für die Wandlungen ihres psychologischen Lebens interessierte: wenn er das täte, würde er ihr eine verborgene Autonomie zubilligen, die sich als störend, als gefährlich erweisen könnte. Hat sie wirklich ihren Spaß im Bett? Liebt sie ihren Mann wirklich? Ist sie wirklich glücklich, ihm zu gehorchen? Er zieht es vor, sich nicht danach zu fragen ... (G 597)

Die Frau kennt umgekehrt ihren Ehemann ebensowenig, weil sie seine Transzendenz außerhalb des Hauses – und nur dort erlebt sie ihn ja – nicht versteht und sieht. Die Welt des Mannes, in der er sich die meiste Zeit aufhält, bleibt der Frau fremd, und da er stets der Handelnde und sie die Passive bleibt, selbst wenn es ihr gelingen sollte, sich mit Ratschlägen an seiner Arbeit zu beteiligen: „der Mann bleibt die einzige handelnde und verantwortliche Freiheit“ (G 599f.). In der Ehe herrscht also Einsamkeit und Kommunikationsunfähigkeit, wie Beauvoir es mit der Skizze eines typischen Abends treffend schildert:

Das Essen und der Rest des Abends vergehen in gedämpfter Stimmung. Lesend, mit einem Ohr dem Radio lauschend, ab und zu ein paar belanglose Worte redend, bleibt unter dem Deckmantel der Vertrautheit jeder allein. (G 601)

Als Fluchtmöglichkeiten sieht Beauvoir „Träume, Komödien, Krankheiten, Manien, Szenen“ (G 602), die andere Konsequenz einer Frau, die sich nicht völlig aufgeben will, ist eine innere, abstrakte Freiheit, die aber zu Erstarrung und Einsamkeit führt:

... ihre Befolgung der Formel »halt aus und enthalte dich« stellt nur eine negative Haltung dar. Erstarrt im Verzicht und im Zynismus, fehlt ihr ein positiver Einsatz ihrer Kräfte. (ebd.)

Resignation, Zynismus, Erstarrung, Handlungsunfähigkeit – exakt dieses Kategorien, in die sich die Frau begibt und mit denen sie die Herrschaft des Mannes stabilisiert, werden uns in Teil II bei der Lektüre der Werke Haushofers noch begegnen. Auch die Austauschbarkeit der Frau im Eheleben, die Haushofer in ihren Romanen beklagt, findet sich bei Beauvoir thematisiert: Die Frau leidet darunter, „auf ihre bloße Allgemeinheit reduziert zu sein. Sie ist die Hausherrin, die Ehefrau, die einzigartige Mutter ohne besondere Kennzeichen“(G 667).

Im Kapitel „Rechtfertigungen“ führt Beauvoir eine Überlebensstrategie der Frau an, die wir bei der Lektüre der Haushoferschen Werke in ausführlicher Form wiederfinden werden: die Rückprojektion unerfüllter Wünsche in die Kindheit.

Es ist bekannt, wie sehr die meisten Frauen an ihren Kindheitserinnerungen hängen. (...) Während die Kindheit in männlichen Autobiographien gewöhnlich nur einen zweitrangigen Platz einnimmt, beschränken weibliche Autoren sich oft auf die Darstellung ihrer ersten Lebensjahre, die auch für ihre Romane und Erzählungen den bevorzugten Stoff abgeben. (...) Fast alle bewahren diese Zeit in nostalgischer Erinnerung. Solange sie die wohlwollende und starke Hand des Vaters über sich spürten, konnten sie die Freuden der Unabhängigkeit genießen. Durch die Erwachsenen geschützt und gerechtfertigt, waren sie autonome Individuen, denen sich eine freie Zukunft öffnete. (G 787)

Im Gegensatz zur Kindheit sind die Frauen in der Ehe zu Objekten des Mannes geworden, eingesperrt in der Immanenz, austauschbar, unfrei, nicht länger individuell. Deshalb versuchen die Frauen, die Kindheit „in sich wiederzubeleben“ (ebd.) – laut Beauvoir wird sie zur Narzißtin.

Doch wie stellt Simone de Beauvoir sich die Lösung dieser Probleme, der Probleme, die aus der Geschlechterdifferenz resultieren, vor? Ihr Lösungsansatz besagt zunächst, daß die Frau die Männer nicht meiden soll: „Eine Frau, die sich nicht als Sklavin des Mannes versteht, legt keinen Wert darauf, ihm dauernd davonzulaufen.“ (G 500). Das Dilemma der Frau macht es ihr jedoch schwer, unabhängig, autonom und frei zu werden. Denn die Frau ist gespalten, weil sie sich zum Objekt machen soll, um weiblich zu sein, sich also reduziert. Würde sie konsequenterweise deshalb auf ihr Geschlecht verzichten, wäre sie auch kein vollständiges Individuum mehr (vgl. G 844). Die Frau muß also ein geschlechtliches Wesen bleiben, um autonom zu werden, aber sie darf sich nicht der Weiblichkeit unterwerfen, wie sie von der Männerwelt entworfen und vorgeschrieben wird.

Um ein vollständiges, dem Mann gleichgestelltes Individuum zu sein, muß die Frau Zugang zur männlichen Welt haben, wie der Mann ihn zur weiblichen hat, sie muß Zugang zum anderen haben. (G 847)

Das heißt in anderen Worten, daß die Frau ihre Immanenz überwinden und sich selbst als Objekt setzen soll, transzendent sein soll. Dafür ist es laut Beauvoir notwendig, die von Männern definierte Kategorie der Weiblichkeit als solche zu verändern: „solange Mann und Frau sich nicht als Gleich anerkennen, das heißt, solange die Weiblichkeit als solche bestehen bleibt“ (G 885), wird der Streit der Geschlechter andauern. Beauvoir vertritt die Meinung, daß es nichts nützen würde, die Gesetze, Institutionen und Sitten zu ändern, solange die Mädchen in ihrer Kindheit zu Frauen gemacht werden (vgl. G 892). Ihre Theorie ist, daß ein Mädchen von Anfang an „wie seine Brüder“ (G 893) erzogen werden müßte, um nicht den Weg der Passivität einzuschlagen. Kritisiert wurde dieser Ansatz später häufig, weil Beauvoir mit ihrem Lösungsvorschlag genau das übersieht, was sie zuvor anprangert: daß die Welt von jeher von Männern bestimmt und definiert wurde und deshalb so kein Ausgangspunkt für eine Veränderung sein kann, die der Frau gerecht wird. Wenn empfohlen, wird, die Frauen sollten es den Männern gleich tun und sich selbst als Subjekt setzen, wird dabei übersehen, daß damit gerade das herrschende System bestätigt werden würde, da es durch die Aneignung akzeptiert wird. Immer noch würde die Welt von der Warte des Mannes aus definiert werden.

... erst wenn die Versklavung der einen Hälfte der Menschheit mitsamt dem ganzen verlogenen System, das dazugehört, einmal abgeschafft ist, wird die Unterteilung der Menschheit ihre authentische Bedeutung offenbaren, wird das von zwei Menschen gebildete Paar seine wahre Gestalt finden. (G 899)

Bleibt die Frage, ob eine Gleichheit der Geschlechter und eine wechselseitige Anerkennung das Problem der Geschlechterdifferenz zu lösen imstande sind...

I.1.2. 70er bis 90er Jahre: Luce Irigaray, Judith Butler

a) Luce Irigaray

Die französische Psychoanalytikerin und Philosophin Luce Irigaray wird zusammen mit Hélène Cixous und Julia Kristeva dem Gebiet des „french feminism“ zugeordnet. Hier soll jedoch stellvertretende Irigarays Denkweise näher erläutert werden, da sie sich genauer als Cixous und Kristeva auf das Thema der vorliegenden Arbeit, die Geschlechterdifferenz, bezieht und hierfür elementare Modelle und Erkenntnisse liefert. Ich beziehe mich vor allem auf die Aufsatz- und Interviewsammlungen Das Geschlecht, das nicht eins ist[3], Zur Geschlechterdifferenz[4] und Die Zeit der Differenz[5], aus denen Irigarays Aussagen und Forderungen am klarsten und deutlichsten herauszulesen sind.

Irigaray wirft der Psychoanalyse (und damit meint sie hauptsächlich die Theorien Sigmund Freuds) vor, daß in ihrer Sexualtheorie nicht zwei Geschlechter existieren, sondern lediglich eines, nämlich das männliche:

Für Freud gibt es nicht zwei Geschlechter, deren Differenzen sich im Geschlechtsakt, und allgemeiner in den imaginären und symbolischen Prozessen artikulieren, die das gesellschaftliche und kulturelle Funktionieren regulieren. (1979, 71)

Die Freudsche Theorie wird von Irigaray als paradox aufgefaßt, weil sie auf der einen Seite dazu beitrage, „die philosophische Ordnung des Diskurses zu erschüttern“ (1979, 74), ihr aber doch – bezogen auf die Definition der Geschlechterdifferenz – unterworfen bleibe, indem sie eben gerade ihre Voraussetzung zeige, nämlich die sexuelle Indifferenz, also das Existieren nur eines statt zweier Geschlechter (vgl. ebd.). Von dem – positiven, absoluten – männlichen Geschlecht ausgehend, wird das weibliche (das als solches noch zu definieren ist) nicht gewertet:

Und ihr Geschlecht, das nicht ein Geschlecht ist, wird als kein Geschlecht gezählt. Als Negativ, Gegenteil, Kehrseite dessen, das einzig sichtbare und morphologisch bezeichenbare (...) Geschlecht zu besitzen: den Penis. (!979, 26)

Zudem ist dieses Geschlecht nicht nur nicht ein Geschlecht – die Weiblichkeit der Frau ist nicht die ihre, sondern eine Rolle von Weiblichkeit, die der Frau von den Männern vorgeschrieben wird. So kann nicht der Wunsch der Frauen aussehen, weiblich zu sein. Trotzdem übernehmen die Frauen die ihnen zugedachte Rolle, da sie nichts anderes kennen:

Tatsächlich ist aber diese »Weiblichkeit« eine Rolle, ein Bild, ein Wert, der den Frauen durch die Repräsentationssysteme der Männer auferlegt wird. In dieser Maskerade der Weiblichkeit verliert sich die Frau, und sie verliert sich darin, gerade weil sie Weiblichkeit spielt. (1979, 86)

Und nicht nur die Weiblichkeitsrollen und -bilder werden von den Männern und dem Patriarchat diktiert, es geht noch viel weiter: selbst die emanzipierten und freien Frauen sind laut Irigaray sozial und kulturell abhängig, „weil die Ordnung, die für uns das Gesetz ausmacht, durch das männliche Geschlecht gekennzeichnet ist“ (1991, 35). Dadurch, daß sich die Frau stets dem Mann anschließen muß, wird sie spätestens als Ehefrau und Mutter abhängig und unfrei. Sie ist für das Kinderkriegen und deren Erziehung zuständig, für die Versorgung des Haushalts, und durch diese Arbeitsteilung wird die Frau ein rechtloser Besitz des Mannes, eine Ware:

... die Frau ist traditioneller weise Gebrauchswert für den Mann, Tauschwert zwischen den Männern. (1979, 31)

Die Frauen werden unmündig gemacht, als „Güter des Mannes“ (1991, 15) betrachtet, da die Männer in einem Besitzsystem leben, das Eigentum immer für wichtiger befand als das Leben (vgl. 1991, 37). Am schärfsten kritisiert Irigaray diese Tatsache in dem Gespräch Un autre mode de sentir (Eine andere Kunst des Genießens) in der Sammlung Zur Geschlechterdifferenz:

In unserer Zivilisation sind Frauen Privatbesitz. Der Vater beziehungsweise Mann besitzt die Tochter beziehungsweise die Frau – und die Kinder – als sein Hab und Gut. Ihr Körper, ihre Arbeit und ihre Lust gehören dem Familienoberhaupt und sind das Fundament für Bestand und Reproduktion der Familienzelle. Vermittelt über den Vater oder Ehemann sind die Frauen gleichzeitig Besitz der Gesamtgesellschaft, des Staates. (1987, 20)

Der Ort des Privateigentums ist das Haus, und wie schon Simone de Beauvoir feststellte, wird die Unterdrückung der Frau durch den Mann zum großen Teil dadurch stabilisiert, daß sie im Haus eingesperrt wird (vgl. 1979, 85). Aus Kultur und Gesellschaft hingegen wird die Frau ausgegrenzt und ausgeschlossen, werden „als Material, als Objekte, Einsätze dieser Kultur gebraucht“ (1987, 87) und sind demzufolge nicht ‚drinnen‘ wie die Männer, sondern ‚draußen‘, ausgeschlossen. Das bringt allerdings auch den Vorteil mit sich, daß sie – im Gegensatz zu den Männern, die Produkt ihrer eigenen Kultur sind – diese interpretieren können und ihr gegenüber nicht vollkommen blind sind (vgl. 1991, 26).

Weil die Frauen Besitz und Waren sind, so Irigaray – korrelierend mit Beauvoir – können sie keine produktive Beziehung untereinander entwickeln:

Wie könnte diese Ware zu den übrigen Waren eine andere Beziehung haben, als die einer aggressiven Eifersucht auf dem Markt? (1979, 31)

Die Frauen sind unfähig, „sich zu organisieren, sich untereinander zu verständigen und einen gemeinsamen Willen auszubilden“ (1991, 33), was auch daher rührt, daß sie im Patriarchat stets voneinander getrennt werden, indem sie den männlichen Familien zugeordnet werden und keine eigenen weiblichen Genealogien bilden könne, also auch keine eigene Klasse. Hier erinnert Irigarays Argumentation sehr an die Beauvoirs, die besagt, daß die Frauen immer solidarisch mit den Männern ihrer Klasse seien statt mit den Frauen allgemein – weil sie von den Männern als Besitz vereinnahmt werden.[6]

So ist die Frau also im patriarchalen System „in einer Situation spezifischer Ausbeutung“ (1979, 87). Diese Ausbeutung (als Beute des Mannes, als Ehefrau, Mutter, Erzieherin, Haushälterin, also als funktionalisierte Frau) wird begünstigt durch das Schweigen der Frau:

Das Schweigen der Erde, das Schweigen des Tieres, das des »Wilden«, des Kindes, des »Verrückten«, das Schweigen der Frau... so viel Schweigen, das Ausbeutung möglich macht. (1987, 78)

Dieses Schweigen und die Handlungsunfähigkeit, die aus der fehlenden Gemeinschaft unter den Frauen resultiert und daraus, daß die Frauen keine eigene Identität bilden können (darauf werde ich gleich zu sprechen kommen), führt dazu, daß sie zu Komplizinnen des Systems werden, das sie unterdrückt: Mit „gelähmten Gliedern“ (1987, 20) spielen sie eine Rolle,

„... ohne sie bewußt mitzuspielen. Sie nehmen nicht aktiv an der Leitung des Systems teil, das sie in Gang halten. Sie unterliegen Gesetzen, die sie nicht gemacht haben. (ebd.)

Diese Mittäterschaft der Frau an der Stabilisierung des patriarchalen Systems und seiner Ordnung wird uns im Lektüreteil noch beschäftigen.

Aber nun noch ein paar Worte Luce Irigarays zur fehlenden Identität der Frau. Für das Weibliche, also für die Frau, gibt es keinen Ort im Diskurs. Ihre Identität, das heißt die Identität ihres weiblichen Geschlechts, ist ihr aufgezwungen, weil durch die Männer bestimmt (vgl. 1979, 87):

Die Verpflichtung, Kinder zu gebären oder das Haus zu besorgen, begründet keine weibliche Identität. Vielmehr eine Funktion oder eine soziale Rolle, nicht mehr. (1991, 39)

Die wirkliche weibliche Identität – Irigaray sagt jedoch nicht genauer aus, wie sie denn aussähe – unterliegt der Verdrängung und Zensur (vgl. 1987, 154).

Bis hierher erinnert Irigarays Argumentation noch sehr an die Simone de Beauvoirs, viele Positionen findet man wieder: das weibliche Geschlecht als Negativ, die vorgeschriebenen Weiblichkeitsrollen, die Ausbeutung und der Ausschluß der Frau, die Arbeitsteilung, die Frau als Besitz und Ware und so weiter. Interessant und wesentlich für eine Theorie der Geschlechterdifferenz werden jedoch besonders Irigarays Lösungsvorschläge, die sich deutlich von Beauvoirs Veränderungsempfehlungen unterscheiden und einen Schritt weiter führen.

Als erstes ist wichtig, daß Irigaray es ablehnt, die Geschlechterverhältnisse schlichtweg umzukehren (wie es Beauvoir noch andeutete):

Wenn jedoch ihr Vorhaben [das der Frauen, A.G.] einfach die Umkehrung der Verhältnisse beabsichtigte – nehmen wir einmal an, das wäre möglich ... –, würde die Geschichte letztendlich wieder zum Gleichen zurückkehren. Zur Phallokratie. Weder ihr Geschlecht, noch ihr Imaginäres, noch ihre Sprache würden darin ihren Ort (wieder-) finden. (1979, 32)

Die Frau soll also keineswegs ein Mann werden, denn genau das würde ja seine unumschränkte Herrschaft bestätigen und rechtfertigen – das männliche Geschlecht hätte eindeutig über das weibliche gesiegt und es total verdrängt.

In die selbe Richtung zielt auch Irigarays Ansatz, daß die Geschlechterdifferenz keineswegs auszulöschen sei, wie es in der Gegenwart geschehe, wo sie nicht nur nicht kultiviert, sondern wo versucht wird, sie aus der Welt zu schaffen (vgl. 1991, 28). Im Gegenteil, die Verwirklichung der Geschlechterdifferenz ist erklärtes Ziel der Frauenbewegung:

Die soziale und kulturelle geschlechtliche Differenzierung ist noch lange nicht verwirklicht, und die Befreiung der Frauen kann kein anderes Ziel haben. (1991, 35)

Anderes soll nicht in Gleiches zurückgeführt werden (vgl. 1979, 76), die Andersheit der Geschlechter soll unbedingt bestehen bleiben, zumal sie auch die gegenseitige Attraktion (oder Ablehnung) der Geschlechter erklärt und bedingt (vgl. 1987, 69). Natürlich – so Irigaray – sollen die Stereotype von Männlichkeit und Weiblichkeit abgeschafft werden, allerdings nicht mit dem Ziel, damit die Geschlechterdifferenz auszlöschen (vgl. 1987, 72). Diese soll ausdrücklich bejaht werden, damit sich etwas in der Beziehung der Geschlechter ändern kann:

Die Bejahung der Differenz der Geschlechter bringt Begrenzungen zwischen Männern und Frauen ins Spiel, die die Beziehungen zwischen Positiv und Negativ verändern. (1987, 154)

Irigarays Schlußfolgerung: das weibliche (soziale) Geschlecht darf nicht reduziert werden auf die Funktion der Fortpflanzung, es darf kulturell nicht geleugnet oder neutralisiert werden, sondern muß seine eigene Phänomenologie zurückerhalten (vgl. 1987, 157).

Als möglichen Weg dorthin sieht Irigaray die Mimetik:

Es geht darum, diese Rolle freiwillig zu übernehmen. Was schon heißt, eine Subordination umzukehren in eine Affirmation, und von dieser Tatsache aus zu beginnen, jene zu vereiteln. (...) Mimesis zu spielen bedeutet also für eine Frau den versuch, den Ort ihrer Ausbeutung durch den Diskurs wiederzufinden, ohne sich darauf einfach reduzieren zu lassen. (1979, 78)

Um einen Ort für sich und ihre eigene Identität, ihre eigene Weiblichkeit zu finden, muß die Frau also das männliche Imaginäre mimetisch, also spielerisch nachahmend, durchqueren (vgl. 1979, 169). Dabei ist eine Beziehung der Frauen untereinander unerläßlich, insbesondere die Beziehung zwischen Mutter und Tochter, die im Patriarchat systematisch untergraben und zerstört wird. Irigaray spricht davon, daß die Frauen sich „zeitweise von den Männern fernhalten“ (1979, 32) müßten und daß es nötig ist, das „vergessene Geheimnis der weiblichen Genealogien“ (so ein Vortrag in Die Zeit der Differenz) wieder zu entdecken:

Um wieder eine grundlegende soziale Gerechtigkeit herzustellen, um die Erde vor einer totalen Unterwerfung unter männliche Werte zu retten (die oft die Gewalt, die Macht, das Geld favorisieren), ist es notwendig, diesen Pfeiler wieder aufzurichten, der in unserer Kultur fehlt: die Mutter-Tochter-Beziehung und die Achtung der weiblichen Rede und der weiblichen Jungfräulichkeit. Dazu bedarf es einer Veränderung der symbolischen Codes, insbesondere der Sprache, des Rechts, der Religion. (1991, 142)

Die Geschlechterdifferenz ist für Luce Irigaray Ausgangspunkt einer neuen Gesellschaftsordnung – hier kehren wir zum Anfang ihrer Argumentation zurück: es muß eben zwei voneinander grundsätzlich verschiedene Geschlechter geben, nicht nur ein absolutes, männliches, von dem aus das weibliche definiert wird.

b) Judith Butler

Butlers Buch Gender Trouble, Das Unbehagen der Geschlechter[7], erschien in Deutschland im Jahr 1991. Judith Butler eröffnete damit eine neuartige Diskussion: sie stellt in Das Unbehagen der Geschlechter sowohl die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht in Frage als auch die Annahme der Geschlechterdifferenz selbst, die ja – wie oben gezeigt – die Grundlage der feministischen Diskussion vor allem im „french feminism“ ist.

Aber zunächst zur Untersuchung des Systems von biologischem und sozialem Geschlecht, sex und gender, in der deutschen Übersetzung von Butlers Buch als Geschlecht und Geschlechtsidentität bezeichnet.

Ursprünglich – so Butler – eingeführt, um abzustreiten, daß Biologie Schicksal bedeutet, war diese Unterscheidung dazu nütze, darzulegen, daß gender bzw. die Geschlechtsidentität eine kulturell konstruiert sind (vgl. B 22). Butler führt weiter aus, daß demzufolge die Geschlechtsidentität nicht aus dem biologischen Geschlecht folgt, daß sogar eine ausgesprochene Zusammenhanglosigkeit zwischen dem Körper als sexuell bestimmtem und der Geschlechtsidentität als kulturell determinierte besteht. Daraus ergibt sich für Butler die Frage:

Werden die angeblich natürlichen Sachverhalte des Geschlechts nicht in Wirklichkeit diskursiv produziert, nämlich durch verschiedene wissenschaftliche Diskurse, die im Dienste anderer politischer und gesellschaftlicher Interessen stehen? Wenn man den unveränderlichen Charakter des Geschlechts bestreitet, erweist sich dieses Konstrukt namens »Geschlecht« vielleicht als ebenso kulturell hervorgebracht wie die Geschlechtsidentität. Ja, möglicherweise ist das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen, so daß sich herausstellt, daß die Unterscheidung zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität letztlich gar keine Unterscheidung ist. (B 23f.)

Dieser Absatz formuliert ziemlich klar, worum es Judith Butler in Das Unbehagen der Geschlechter geht. Weder Geschlecht noch Geschlechtsidentität sind also biologisch determiniert, das Geschlecht war immer schon von der Bildung der Geschlechtsidentität abhängig. Butler fragt weiter, ob die Konstruiertheit der Geschlechtsidentität bedeute, „daß bestimmte Gesetze die Geschlechter-Unterschiede (...) an den universalen Achsen der sexuellen Differenz entlang hervorbringen“ (B 25). Sie fragt also nach den Voraussetzungen und Maßstäben der Konstruktion „Geschlechtsidentität“. Das führt uns zur Annahme der Geschlechterdifferenz, wie sie Beauvoir und Irigaray darstellten. Sie machten die Geschlechterdifferenz zum Thema und zum Zentrum der feministischen Bewegung, um eine Solidarität unter Frauen zu schaffen, die Voraussetzung für eine Veränderung werden sollte.

Judith Butler hingegen stellt fest, daß die Geschlechterdifferenz auf dem Prinzip der Heterosexualität beruht, die einfach vorausgesetzt und nicht weiter reflektiert wird[8]. Butler untersucht nun das Zustandekommen dieser Heterosexualität, des „Zwangsgesetz(es)“ (B 181), indem sie sich mit dem Inzestverbot beschäftigt:

Das Tabu erzeugt die exogame Heterosexualität, d. h. nach Lévi-Strauss die künstliche Vollendung einer nicht-inzestuösen Heterosexualität, die durch das Verbot aus einer natürlicheren und uneingeschränkten Sexualität gleichsam extrahiert wird. (B 71)

Das Begehren des anderen Geschlechts wird also künstlich durch ein Gesetz erzeugt, und damit erscheint auf einmal die Grundlage der Geschlechterdifferenz kulturell konstruiert, die Geschlechterdifferenz als Effekt einer Regulierung, was natürlich die ganze Diskussion ins Wanken bringt. Denn wenn man Butlers Annahme folgt, kann es kaum mehr darum gehen, die Differenz der Geschlechter zu bestärken, um die Befreiung der Frau zu fördern, bzw. die Frau als Subjekt des Feminismus zu hinterfragen[9]. Butler entwickelt zur Auflösung dieses Dilemmas Strategien, um zu zeigen, daß die Geschlechtsidentität „eher ein normatives Ideal als ein deskriptives Merkmal der Erfahrung“ (B 38) darstellt. Mit Parodie und Travestie kann man sich „sowohl über das Ausdrucksmodell der Geschlechtsidentität als auch über die Vorstellung von einer wahren geschlechtlich bestimmten Identität“ (B 201) lustig machen:

Die kulturellen Praktiken der Travestie, des Kleidertauschs und der sexuellen Stilisierung der butch/femmes -Identitäten parodieren sehr häufig die Vorstellungen von einer ursprünglichen oder primären geschlechtlich bestimmten Identität. (ebd.)

Die Vorführung von Travestie erhält ihren Unterhaltungswert dadurch, daß sie sich auf ein Spiel einläßt: das biologische Geschlecht unterscheidet sich absichtlich von der vorgeführten Geschlechtsidentität (vgl. B 202). Dadurch, so Butler, wird sowohl das Wesen also auch die ‚Natur‘ des Körpers als normative Bestimmungen entlarvt und nicht als Zustandsbeschreibungen.

Emanzipation heißt für Judith Butler also

... nicht politisches Handeln gegen die Träger einer patriarchalischen oder »phallogozentrischen« Ordnung, sondern eine spielerische Dekonstruktion soziokultureller gender -Konstrukte durch Grenzverschiebungen zwischen Körper, sex, gender identity und gender performance.[10]

Durch die Imitation der Geschlechtsidentität spiegelt die Travestie quasi wider, daß auch die ‚echte‘ Geschlechtsidentität nichts anderes als eine Imitation ist (vgl. B 202). Ein Original, das man als Grundlage der Parodie oder Travestie normalerweise annehmen würde, ist laut Butler eben nicht vorauszusetzen, im Gegenteil, gerade der Begriff Original soll in Frage gestellt werden (vgl. B 203).

Die Maxime der Geschlechterdifferenz soll also überwunden werden, da sie nicht als naturgegeben gesetzt werden kann – denn sie hat ihre Ursache in der erzwungenen Heterosexualität. Butler entwirft also einen völlig neuen Ansatz, der den bisherigen widerspricht und ein neues Licht auf das Problem der Geschlechterdifferenz wirft.

I.2. Versuch einer kurzen Theorie der Geschlechterdifferenz

Gleich zu Anfang dieses Abschnitts möchte ich darauf hinweisen, daß es sich tatsächlich nur um einen Versuch handeln kann, das Phänomen der Geschlechterdifferenz in Form einer knappen Theorie darzustellen. Außerdem sollen Begriffe und Termini, die für die Betrachtung von Marlen Haushofers Literatur in Hinblick auf ihre Darstellung der Geschlechterdifferenz und deren Folgen wichtig erscheinen, zusammengefaßt und der Untersuchung ihrer Romane als theoretischer Hintergrund und Ausgangspunkt vorangestellt werden.

Es gibt zahllose Abhandlungen über das Thema Geschlechterdifferenz, ich werde mich hier vor allem auf Geneviève Fraisse, Sigrid Weigel, die Philosophinnengruppe Diotima und Andrea Maihofer beziehen. Letztere sah sich durch die zunehmende Kritik des Differenz-Ansatzes in den 90er Jahren dazu angeregt,

... dem Vorwurf zu begegnen, die Forderung nach einer positiven nicht-hierarchischen Anerkennung der Geschlechterdifferenz sei unausweichlich mit einer biologistischen oder essentialistischen Geschlechtsauffassung verbunden sowie mit der Konservierung der bestehenden Geschlechterverhältnisse.[11]

Maihofer wendet sich dabei zunächst der zentralen Frage zu, ob das Geschlecht als natürliche Gegebenheit oder soziale Konstruktion verstanden wird. Diese beiden Argumentationslinien kennen wir bereits, es handelt sich hierbei einerseits um die Trennung zwischen sex und gender und andererseits um die Dekonstruktion dieser Spaltung und die Bestimmung des Geschlechtskörpers als soziales Konstrukt. Maihofer betont, daß die Neubestimmung des Begriffs „Geschlecht“ an der binären Struktur unseres Denkens scheitert und „in den Dichotomien zwischen Natur–Kultur, Körper–Geist, Materie–Bewußtsein befangen“[12] bleibt und so Gefahr läuft, daß der Begriff zum einen oder anderen Pol hin verengt wird. Maihofer zufolge gibt es allerdings zu diesem Binärdenken keine Alternative.

Im weiteren führt sie in ihrer Dissertation viele feministische Positionen aus, um im letzten Kapitel die Anerkennung der Geschlechterdifferenz zu fordern. Sie ist sich der Gefahr durchaus bewußt, daß die Differenzposition eine Reproduktion der Geschlechterhierarchie zur Folge haben könnte[13]. Maihofer weist aber darauf hin, daß diese Gefahr gemindert wird, weil sich

... »Geschlecht« und »Geschlechterdifferenz« sehr wohl als gesellschaftlich-kulturelles Phänomen verstehen [läßt, A.G.], und zwar sowohl was den scheinbar natürlichen Geschlechtskörper als auch was die Geschlechtsrollen, -normen und –identitäten anbetrifft.[14]

Sie findet also einen Mittelweg zwischen den Positionen von Irigaray und Butler – die Amerikanerin lehnte die Anerkennung der Geschlechterdifferenz wegen ihrer kulturellen Bestimmtheit ab, während die Französin sie wegen ihrer ‚Natürlichkeit‘ einforderte. Nach Maihofer geht es mit der Anerkennung der Geschlechterdifferenz nicht nur darum, die „Verschiedenheit pluraler Lebensformen“[15] zu akzeptieren, sondern auch die „grundlegenden Differenzen[16] gleichzuberechtigen. Außerdem beinhalte die Geschlechterdifferenz einen kritischen Standpunkt, der genützt werden müsse. Die Geschlechterdifferenz, deren Anerkennung von Maihofer gefordert wird, wäre demnach eine positive, nicht hierarchisierende Akzeptanz[17] der Verschiedenheit der Geschlechter.

„Die inhaltliche Bestimmung der Differenzen mußt dabei allerdings ausschließlich von den Frauen selbst ausgehen“[18], verlangt Maihofer, um – nach der Gleichberechtigung der Frau als Mensch – „die Gleichberechtigung der Frau nun auch als »Frau« zu garantieren“.[19]

Diese Untersuchung zeigt, wie vielfältig die Möglichkeiten und Lösungsvorschläge im Feld der Geschlechterdifferenz und ihrer Folgen sind und daß revolutionäre Ansätze wie der von Judith Butler keineswegs die ‚konservativen‘ feministischen Stankpunkte obsolet gemacht haben, sondern sie eher ergänzen. Jeder wird sich in seiner persönlichen Theorie für eine der vielen vorgeschlagenen Möglichkeiten entscheiden müssen – ‚richtige‘ oder ‚falsche‘ gibt es hier nicht.

In aller gebotenen Kürze werde ich nun auf Sigrid Weigel eingehen, wobei ich mich jedoch auf ihre Formulierung vom „doppelten Ort der Frau“ beschränke, da diese für die Lektüre der Texte Haushofers wichtig erscheint. Der Ort der Frauen ist deshalb doppelt, weil sie sich einerseits als die Schweigenden verstehen, andererseits aber die Sprache, die Normen und Werte verwenden, von denen sie gleichzeitig ausgeschlossen sind[20]:

Als Teilhaberinnen ihrer Kultur dennoch ausgegrenzt oder abwesend zu sein, das macht den spezifischen Ort von Frauen in der abendländischen Kultur aus.[21]

Dadurch erklärt sich, warum die Frauen sich so schwer tun, die wirkliche Weiblichkeit zu bestimmen – sie können nicht imaginieren oder sich erinnern, „was eine Frau war oder sein könnte vor bzw. außerhalb einer männlich geprägten (...) Geschichte“[22]. Wie Simone de Beauvoir und eigentlich alle feministischen Theoretikerinnen vertritt Weigel also die These, daß die Frauen und die Weiblichkeit schon zu lange von den Männern und dem herrschenden Patriarchat geprägt werden, als daß man eine ursprüngliche Weiblichkeit ausmachen könnte. Im Unterschied zu den kolonisierten Völkern, die durchaus noch ein ‚vorher‘ imaginieren können.

Für die weiße Frau aber ist die Maske, die ihr im Prozeß der Zivilisation aufgedrückt wurde, längst zum eigenen Gesicht (im Doppelsinn von Antlitz und Sehweise) geworden.[23]

Die Ambivalenz des Ortes der Frau, der sogenannte „doppelte Ort“, zeigt sich auch darin, daß Frauen meist Opfer und Täterinnen zugleich sind[24], sei es auch ‚nur‘ durch bloßes Wegsehen, Nichtstun, Schweigen.

Ein neueres Büchlein der Philosophin Geneviève Fraisse[25] zum Thema versucht das Problem der Gleichheits- bzw. Differenzthese neu von der Sicht der Philosophie aus zu beleuchten. Fraisse erklärt zunächst, daß die Geschlechterdifferenz in der philosophischen Tradition stets auf zwei Weisen repräsentiert und unterschieden wurde: Entweder ging es um eine Minder- bzw. Höherwertigkeit, oder es wurde, sozusagen horizontal, zwischen dem Selben und dem Anderen unterschieden.[26]

„Die Frau ist entweder die Minderwertige oder die andere oder beides zugleich.“[27] Fraisse propagiert nun im Gegensatz dazu eine Andersheit, bei der es nicht um die Stellung der Frau im Verhältnis zum Mann oder umgekehrt geht, sie will keinen Trennstrich ziehen, sondern die Geschichte der Geschlechterdifferenz ernst nehmen.

Und wer Differenz sagt, sagt nicht nur Unterschied, sondern auch Widerstreit. Die Geschlechterdifferenz läßt sich nicht denken, ohne daß man den Konflikt, den Widerstreit zwischen den Geschlechtern denkt.[28]

Damit schließt sie sich Andrea Maihofer an, die mit der Forderung nach Anerkennung der Geschlechterdifferenz eine Gleichberechtigung der Differenzen, nicht nur der Unterschiede zwischen den Geschlechtern erhoffte.

Laut Fraisse heißt „Andersheit denken“, die Gegensätze bewußt zu sehen, und zwar von beiden Seiten, von Mann und Frau aus, denkend.

Beim Gedanken des Konflikts habe wir es mit zwei Subjekten, zwei Identitäten zu tun, die auf Grund ihrer Differenz (ihres Unterschieds) eine Differenz (einen Streit) haben.[29]

Sie beschäftigt sich außerdem noch mit der feministischen Reflexion und ändert wesentliche Begrifflichkeiten leicht ab. Das Gegensatzpaar Gleichheit und Differenz, dessen Verkopplung die meisten Probleme schafft, wird von fraisse umgedeutet in das Begriffspaar Identität und Differenz – man sei eben nun mal identisch, statt gleich, oder different, verschieden.[30] Fraisse plädiert für eine Rückkehr zu Identität und Differenz, ohne dem Zwang zu unterliegen, sich für einen der beiden Pole entscheiden zu müssen, da die scheinbaren Gegensätze sich als Verbindung entpuppen. Daraus ergibt sich zwar eine Aporie, also die Unmöglichkeit, dieses philosophische Problem zu lösen, was jedoch eine Suche eröffne und nicht als Kompromiß verstanden werden dürfe.[31]

Ferner weist Fraisse darauf hin, daß Subjekt und Objekt im Diskurs der Geschlechterdifferenz sich nicht starr gegenüberstehen, sondern stets umeinander kreisen[32]:

Wir sehen, konstruiert wird das Philosophem nicht mit Hilfe der Differenz im Sinne eines Gegensatzpaares (das Selbe und das Andere, das Minderwertige und das Höherwertige, das Gleiche und das Ungleiche), sondern mit Hilfe der Zweiheit im Sinne von zwei Positionen, die ihre Struktur stets in einer Bewegung, einer dynamischen Beziehung gewinnen: Subjekt und Objekt, Ganzes und Teil.[33]

Dieser Ansatz ist also der Versuch, die Hierarchie der Geschlechter, deren Stabilisierung der bewußt eingeforderten Geschlechterdifferenz oft vorgeworfen wurde, zu ersetzen und auch die starre Subjekt-Objekt-Beziehung als einen dynamischen Prozeß zu begreifen.

Die Philosophinnengruppe Diotima, stark beeinflußt von den Lehren Luce Irigarays, faßt in ihrem Gemeinschaftsaufsatz, der im Buch Der Mensch ist zwei[34] abgedruckt ist, das Problem des Denkens der Geschlechterdifferenz zusammen:

In erster Linie geht es darum, die Auswirkungen der Herrschaft des Mannes über die Frau von den Äußerungen ihrer Differenz zu entwirren. Bei unserer Betrachtung stellen wir nämlich fest, (...) ..daß wir dazu neigen, auch die Auswirkungen der Herrschaft als ursprüngliche Differenz zu interpretieren oder umgekehrt die ursprünglichen Differenzen als Auswirkungen der Herrschaft.[35]

Dieses ‚Henne-Ei-Problem‘ oder Ursache-Wirkungs-Dilemma ist uns nicht neu. Die Gruppe fordert konsequenterweise, alle bipolaren Gegensätze, die die richtige Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz vernebeln, aufzugeben, keine Einteilung also mehr nach dem Schema männlich/weiblich (oder auch aktiv/passiv, höher/niedriger, Kultur/Natur) vorzunehmen[36] – denn bei diesem Schubladendenken weiß man ja nie, ob die Polarisierung ursprüngliche Geschlechterdifferenz ist oder durch die Männerherrschaft entstanden.

Auch diese italienischen Philosophinnen drücken aus, was Irigaray und schon Beauvoir über die Komplizenschaft der Frauen sagten:

Wer nämlich zu schweigen scheint, bringt den Sinn der Macht beredt zum Ausdruck und ist an der Gestaltung der Geschichte beteiligt.[37]

Wie soll die Emanzipation der Frau aussehen? Chancengleichheit reicht nicht aus, denn sie befriedigt nur das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, nicht aber das gesellschaftliche nach weiblicher Präsenz.[38] Die Frauen bleiben gespalten und unzufrieden, da sich auch bei scheinbarer Gleichberechtigung die Gesellschaft immer noch nach den Normen und Zielen der Männer ausrichtet. Diese „verstümmelnde Integration“[39] kann aber nicht das Ziel der Geschlechterdifferenz sein. Ihre Grundfrage muß demzufolge sein:

[...]


[1] Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau (Neuübersetzung), Reinbek bei Hamburg 1992. Im folgenden bei Seitenangaben immer abgekürzt G.

[2] vgl. ebd., S. 190.

[3] Irigaray, Luce: Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979, im folgenden bei Seitenangaben immer bezeichnet mit 1979.

[4] Irigaray, Luce: Zur Geschlechterdifferenz – Interviews und Vorträge, Wien 1987, im folgenden bei Seitenangaben immer bezeichnet mit 1987.

[5] Irigaray, Luce: Die Zeit der Differenz. Für eine friedliche Revolution, Frankfurt am Main 1991, im folgenden bei Seitenangaben immer bezeichnet mit 1991.

[6] vgl. Punkt I.1.1.

[7] Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies, Frankfurt am Main 1991, im folgenden bei Seitenangaben immer abgekürzt B.

[8] vgl. Frei Gerlach, S. 120.

[9] vgl. ebd., S. 121.

[10] Jutta Osinski: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft, Berlin 1998, S. 112.

[11] Andrea Maihofer: Geschlecht als Existenzweise (Diss.), Frankfurt am Main 1995, S. 16.

[12] ebd., S. 76.

[13] vgl. ebd., S. 170.

[14] ebd., S. 170.

[15] ebd., S. 171.

[16] ebd.

[17] vgl. ebd., S. 172.

[18] ebd.

[19] ebd.

[20] vgl. Sigrid Weigel, Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 262.

[21] ebd.

[22] ebd.

[23] ebd.

[24] vgl. ebd., S. 263.

[25] Geneviève Fraisse: Geschlechterdifferenz, Tübingen 1996.

[26] vgl. Fraisse, S. 128.

[27] ebd.

[28] ebd., S. 130.

[29] ebd., S. 133f.

[30] vgl. ebd., S. 135.

[31] vgl. ebd., S. 136.

[32] vgl. ebd., S. 137.

[33] ebd., S. 138.

[34] Diotima, Philosiphinnengruppe aus Verona / Carvarero, Adriana u.a. (Hrsg.), Der Mensch ist zwei: Das Denken der Geschlechterdifferenz, Wien 1989.

[35] ebd., S. 44.

[36] vgl. ebd.

[37] ebd., S. 57.

[38] vgl. ebd.

[39] ebd., S. 58.

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Geschlechterdifferenz im Romanwerk von Marlen Haushofer
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften)
Note
1,7
Autor
Jahr
1999
Seiten
105
Katalognummer
V243
ISBN (eBook)
9783638101851
Dateigröße
717 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Marlen Haushofer, Geschlechterdifferenz, feministische Literaturwissenschaft, Österreich, Frau
Arbeit zitieren
Anette Göttlicher (Autor:in), 1999, Geschlechterdifferenz im Romanwerk von Marlen Haushofer, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/243

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