Weht der "Wind" in der Presse? Eine inhaltsanalytische Untersuchung der Windenergie-Berichterstattung in ausgewählten Medien von 1998 bis 2002


Magisterarbeit, 2003

119 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1 Der Wind startet durch

2 Theoretische Vorüberlegungen
2.1 Konstruktion von Realität in den Medien
2.1.1 Operationalisierung der Medienpräsenz
2.2 Nachrichtenwerttheorie
2.2.1 Operationalisierung der Nachrichtenselektion
2.3 Objektivität im Journalismus
2.3.1 Das journalistische Qualitätskriterium Vielfalt
2.3.1.1 Operationalisierung von Vielfalt
2.3.2 Das journalistische Qualitätskriterium Ausgewogenheit
2.3.2.1 Operationalisierung von Ausgewogenheit
2.3.3 Das journalistische Qualitätskriterium Unparteilichkeit
2.3.3.1 Operationalisierung von Unparteilichkeit
2.4 Zusammenfassung und Forschungsfragen

3 Die Methode - Inhaltsanalyse
3.1 Untersuchungszeitraum
3.2 Stichprobenauswahl
3.3 Stichprobenziehung
3.4 Aufbau des Codebuchs
3.4.1 Formale Ebene
3.4.2 Inhaltliche Ebene
3.5 Probecodierung
3.6 Ablauf der Codierung
3.7 Reliabilitätstest

4 Ergebnisse der Windenergie-Untersuchung
4.1 Untersuchung der Medienpräsenz
4.1.1 Anzahl und Umfang der Windenergie-Artikel
4.1.2 Präsentationsform der Windenergie-Artikel
4.1.3 Thematischer Schwerpunkt der Windenergie-Artikel
4.1.4 Ergebnis: Die Medienpräsenz der Windenergie
4.2 Untersuchung der Nachrichtenselektion
4.2.1 Ergebnis: Der Nachrichtenwert der Windenergie
4.3 Untersuchung der Objektivität
4.3.1 Ausgewogenheit und Vielfalt in der Berichterstattung
4.3.1.1 Entwicklung der Akteure
4.3.1.2 Entwicklung der Argumente
4.3.2 Unparteilichkeit in der Berichterstattung
4.3.2.1 Argumentationslinie und Medium
4.3.2.2 Untersuchung der Opportunen Zeugen
4.3.3 Ergebnis: Die Objektivität der Windenergie-Berichterstattung

5 Der Wind lässt nach

6 Wo weht der Wind hin?

7 Literaturliste

8 Anhang
8.1 Zusatztabellen
8.2 Codebuch Windenergie
8.3 Codeplan Windenergie
8.4 Codebogen Windenergie
8.5 Tabellarischer Lebenslauf
8.6 Eidesstattliche Erklärung

1 Der Wind startet durch

Der Wind – himmlisches oder teuflisches Kind?

In Deutschland hat sich die Windkraft in den letzten 10 Jahren boomartig entwickelt und scheint von den regenerativen Energieträgern der hoffnungsvollste Stromproduzent. (Staiß, 2001, S. 4)

Den Grundstein für die Förderung der regenerativen Energien und der kommerziellen Windenergienutzung hat die Regierung Kohl mit dem Stromeinspeisegesetz (StrEG) vom Januar 1991 gelegt. Abgelöst wurde dieses Gesetz am 01. April 2000 durch das Erneuerbare Energien Gesetz (EEG), das als richtungsweisend für die neue europäische und globale Energiepolitik gilt. (BMU, Juli 2002, S. 2-3)

„Das Ziel des EEGs ist es, (…) den Beitrag Erneuerbarer Energien an der Stromversorgung deutlich zu erhöhen, um entsprechend den Zielen der Europäischen Union und der Bundesrepublik Deutschland den Anteil Erneuerbarer Energien am gesamten Energieverbrauch bis zum Jahr 2010 mindestens zu verdoppeln“. (Salje, 2000, S. 85)

Damit dieses Ziel erreicht werden kann, garantiert das EEG den regenerativen Erzeugern eine Stromeinspeisung zu einem gesetzlich festgesetzten Abnahmepreis. (BMU, Januar 2002, S. 12)

Die verschiedenen Interessengruppen in der Windenergie-Debatte

Subventionspolitik generiert immer Interessensgruppen, die in der öffentlichen Debatte ihren Standpunkt vertreten sehen wollen. In Deutschland hat sich aufgrund der gesetzlichen Förderung ein Pro- und Contra-Windenergie-Lager gebildet, das von insgesamt sechs Hauptakteuren bestritten wird.

Die Pro-Windenergie-Gruppe bildet die rot-grüne Regierung, die Metallindustrie, die Windkraftanlagenbetreiber und die Umweltschutzorganisationen. Während sich die Contra-Windenergie-Gruppe aus den Energieversorgungsunternehmen und den Anwohner von Windparks zusammensetzt. Die Standpunkte der einzelnen Akteure stellen sich wie folgt dar.

Die rot-grüne Regierung fördert die Windkraft, um den Energiewandel im Sinne des Klimaschutzes herbeizuführen und erwartet einen positiven Arbeitsmarkteffekt.

Den Arbeitsmarkteffekt und den größten wirtschaftlichen Nutzen von der Windkraftförderung trägt u.a. die Metallindustrie, die in der Windbranche einen bedeutenden Stahlabnehmer hat. (BMU, August 2003, S. 14-16)

Die dritten Windkraftförderer, vorwiegend von wirtschaftlichen Interessen getrieben, sind die Windmüller. Die meisten Windparks stellen eine sichere Geldanlage dar, für die durch das EEG eine Investitionssicherheit geschaffen wurde. (BMU, Januar 2002, S. 12)

Die Umweltschützer, allen voran Greenpeace, begrüßen im Sinne eines nachhaltigen Klimaschutzes die Windkraftförderung. (Teske, 2003) Die Naturschützer andererseits, wie der WWF, unterstützen die Windkraft, sofern die Eingriffe in die Natur und Landschaft möglichst verträglich gestaltet werden. (WWF, August 2003)

Die Energieversorgungsunternehmen[1] (EVU) dagegen sehen die Wirtschaftlichkeit der Windenergie kritisch. Sie müssen jede Kilowattstunde Windkraft zu einem festgelegten Betrag vergüten und in die Netze einspeisen. Das größte Problem mit dem Wind ist, dass er weht, wann er will. Durch die unkontrollierbare Zufuhr von Windenergie in das Stromnetz wird die Übertragungsleistung instabil. Für die Garantie einer sicheren Energieversorgung müssen diese Leistungsschwankungen mit Regelenergiezufuhr ausgeglichen werden, wodurch für die Unternehmen Folgekosten anfallen, die sie durch die Subventionen nicht gedeckt sehen. (Tauber, 2002; Sendner, 2003)

Die zweite treibende Kraft gegen die Windenergie kommt aus der Bevölkerung. Durch die Nähe zu den Windmühlen sehen die Anwohner ihre Lebensqualität gemindert und machen gegen den Ausbau der Windkraft mobil. Die Argumente sind unter anderem Lärmbelästigung durch den Rotorenschlag und Zerstörung des Landschaftsbildes durch die hohen Windtürme. (Windkraftgegner; BMU, Juli 2002, S. 8-10)

Die angeschnittenen Positionen skizzieren die verschiedenen Interessenslagen, die in der öffentlichen Debatte um Gehör kämpfen.

Forschungsziel der Windenergie-Untersuchung

In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie sich die Windenergie in den Medien darstellt. Laut Mathes (1989, S. 448) verändert sich die Tendenz einer Debatte im Verlauf in den Medien.

„Konflikte, die in den Medien ausgetragen werden, zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie im Zeitverlauf ihren Charakter ändern. Der Streitgegenstand macht im Konfliktverlauf meist mehrere Metamorphosen durch, was unter Umständen dazu führt, dass am Ende des Konflikts eine völlig andere Frage zur Diskussion steht als zu Beginn.“

Um herauszufinden, wie die Windenergie sich entwickelt und möglicherweise vom himmlischen zum teuflischen Kind wird, wird der Untersuchungszeitraum von 1998 bis 2002 gelegt. Das EEG im Jahr 2000 fungiert als Vergleichsachse. Die Vermutung ist, dass die Gesetzesnovellierung möglicherweise die Berichterstattung verändert hat.

Ein weiteres Ziel der Untersuchung besteht darin, festzustellen, wie die führenden deutschen Tageszeitungen und Zeitschriften über Windenergie berichten und welches Medienbild der Rezipient vermittelt bekommt. Einige kommunikationswissenschaftliche Studien konnten zeigen, dass die Tendenz der Bevölkerungsmeinung der Tendenz der Presseberichterstattung folgt. (Kepplinger, Donsbach, Brosius & Staab, 1986; Mathes, 1989) Für die Windenergie soll festgestellt werden, welche Tendenz die einzelnen Medien verfolgen, und ob sie journalistisch qualitativ über die Windenergie berichten, im Sinne von Vielfalt, Ausgewogenheit und Unparteilichkeit.

Studien zur Kernenergie konnten zeigen, dass diese erst durch eine engagierte Bürgergegnerschaft in den Medien zum Thema einer anhaltenden, breiten öffentlichen Diskussion geworden ist. (Buiren, 1980, S. 1). Da die Windenergie auch seitens der betroffenen Bürger umstritten ist, könnte sich diese Entwicklung bestätigen.

Zudem soll festgestellt werden, ob sich Nord-Süd-Unterschiede in der Berichterstattung über Windenergie feststellen lassen. Die Annahme ist, dass aufgrund der Nähe zu einem Windpark eine ausgeprägte Pro- oder Contra-Position dargestellt wird. Daher werden auch zwei Regionalzeitungen untersucht.

Aufbau der vorliegenden Arbeit

Die Arbeit ist in die drei Komplexe Theorie, Methode und Ergebnisse aufgeteilt.

Im Theorieteil wird erklärt, wie die Medien Realität konstruieren. Hierbei werden im Besonderen die Nachrichtenauswahl und inhaltliche Vermittlungsleistung der Journalisten in Bezug auf die Windenergie unter die Lupe genommen. Nach jeder theoretischen Erörterung erfolgt die Anwendung auf die Windenergie-Berichterstattung. Da keine Inhaltsanalysen zur Windenergie existieren, werden des öfteren Ergebnisse von Kernenergie-Studien zitiert, um einen Vergleichsansatz für die Untersuchung der Windenergie-Berichterstattung herstellen zu können. Das theoretische Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung und der sich daraus ergebenden Forschungsfragen.

Der Methodenteil erklärt, wie die Inhaltsanalyse aufgebaut ist und durchgeführt wurde.

Im Ergebnisteil werden die aufgestellten Forschungsfragen analog zum Theorieteil beantwortet und jeweils mit einem Fazit abgeschlossen.

2 Theoretische Vorüberlegungen

2.1 Konstruktion von Realität in den Medien

Um das Medienbild der Windenergie untersuchen zu können, wird vorab theoretisch erörtert, wie Journalisten generell Ereignisse darstellen.

Die Hauptaufgabe der Journalisten liegt in der Herstellung von Themen zur öffentlichen Kommunikation. (Rühl, 1980, S. 323) Ruhrmann (1994, S. 255) ist der Ansicht, dass Zeitgeschehen nicht einfach passiert, sondern als Nachricht konstruiert und mittels der Massenmedien verbreitet wird. Diese Ansicht schließt eine gewisse Subjektivität nicht aus. Schulz (1990, S. 8-9) teilt die Auffassung, dass keine Nachrichtenberichterstattung umfassend oder vollständig sein kann.

„Sie ist ihrem Wesen nach eher das Gegenteil: Ereignisse werden erst dadurch zu Nachrichten, dass sie aus der Totalität und Komplexität des Geschehens ausgewählt werden.“

Gerade diese Auswahl trägt bewusste als auch unbewusste Wirkungsabsichten. Kepplinger (1989e, S. 70) schlussfolgert, dass die Berichterstattung durch subjektive Weltansichten verzerrt sei. Er sieht in jedem journalistischen Handeln letztlich intentionales Handel, das sich je nachdem auf die Berichterstattung überträgt.

„Die Medien berichten nicht vorrangig über die Welt der Tatsachen, sondern sie konstruieren die soziale Bedeutung von Realität, in dem sie Tatsachen wertend interpretieren.“ (Kepplinger, 1996, S. 31)

Weischenberg (1994, S. 429) geht noch weiter und sieht Journalisten als Konstrukteure, die die Welt nicht abfotografieren, sondern in Ausübung ihrer Arbeit ein neues Weltbild konstruieren.

Die Berichterstattung spiegelt demnach nicht die Bedeutung der Sache wider, sondern kann auch Folge medialer Inszenierung sein. Der Umfang der Berichterstattung eines Reaktorunfalls, beispielsweise, spiegelt deshalb nicht unbedingt die Schwere der tatsächlichen oder möglichen Schäden. Es wird vielmehr die soziale Bedeutung, die diesem Geschehen zukommt, konstruiert. (Kepplinger, 1996, S. 31)

Dem Rezipienten wird demnach durch die Berichterstattung ein Ausschnitt der Realität vermittelt, die durch die Auswahl von bestimmten Informationen und das Weglassen von anderen zu einer Medienwirklichkeit wird. (Kepplinger, 1989e, S. 60)

Schulz (1989, S. 139) zieht das allgemeine Resümee der Forschungsliteratur, dass die Massenmedien in der Regel die Wirklichkeit nicht repräsentieren.

„(…) Die in den Medien dargebotene Wirklichkeit repräsentiert in erster Linie die Stereotype und Vorurteile von Journalisten (…).“

Doch das Problem bei der Konstruktion von Realität ist, dass der Maßstab, was eigentlich Realität ist, fehlt. Wenn die Publizistik versucht, die Realität möglichst genau abzubilden, dann muss sich die Wissenschaft laut Donsbach (1990, S. 18) fragen,

„auf welche Weise es möglich ist, die Angemessenheit der journalistischen Realitätsdarstellungen empirisch zu überprüfen.“

Letztlich kennt niemand die Wahrheit.

2.1.1 Operationalisierung der Medienpräsenz

Die Theorie hat festgestellt, dass die Journalisten die Realität verzerren können. Eine empirische Überprüfung wäre nur möglich, wenn verlässliche Daten über die Realität vorlägen. Da dies für die Untersuchung der Windenergie-Berichterstattung nicht der Fall ist, wird ein Vergleichsmaßstab geschaffen. Um eine Situationsaufnahme zu vermeiden, wird der Zeitraum von 1998 bis 2002 untersucht, womit das Jahr der EEG-Novellierung (2000) zur Vergleichsachse wird. Somit werden die Jahre vor und nach der Novellierung miteinander verglichen, um gegebenenfalls Veränderungen feststellen zu können.

Als Erstes muss für die Windenergie-Untersuchung festgestellt werden, ob sie überhaupt von den Journalisten als Thema wahrgenommen wird. Die Medien haben eine Thematisierungsfunktion, das heißt, sie können Konflikte aufgreifen und zu einem öffentlichen Thema machen oder unberücksichtigt lassen. Eine umfangreiche Berichterstattung ist ein Indikator für eine hohe Publizität und so mit einer hohen sozialen Bedeutsamkeit gekoppelt. Unterbleibt eine Berichterstattung, so scheint der Konflikt nicht zu existieren. (Mathes, 1989, S. 456)

In einer Studie von Kepplinger und Mathes (1998) zur Technikdarstellung in der deutschen Presselandschaft[2] zwischen 1965 und 1986 hatten drei regenerative Energieträger[3] zusammen einen Präsenzanteil von 8%[4]. Dieses Ergebnis wirft die Frage auf, ob ein einzelner alternativer Energieträger – wie die Windenergie - in den Medien überhaupt als Thema wahrgenommen wird.

In den Jahren vor der Gesetzesnovellierung wird keine große mediale Beachtung erwartet. Vor dem EEG könnten beispielsweise mehr die Möglichkeiten der Windenergie in Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der Kernenergie diskutiert worden sein. Bei Umweltschützern gilt sie als der Ersatz für konventionelle und vor allem nukleare Kraftwerke. Spätestens mit der Gesetzesnovellierung müsste die Windenergie eine verstärkte Medienpräsenz erhalten haben und von den Journalisten als Thema wahrgenommen werden, da Subventionspolitik Pro- und Contra-Lobbyisten auf den Plan ruft, die für ihren Standpunkt in den Medien werben wollen. Insgesamt wird über die Jahre hinweg ansteigende Medienpräsenz der Windenergie erwartet.

Eine andere Studie hat festgestellt, dass über Kernenergie als auch über die regenerativen Energien vorwiegend im politischen Teil berichtet wird, was als Indikator für einen hohen Politisierungsgrad gewertet werden kann. (Mathes, Gärtner & Czaplicki, 1991, S. 149) Dieser Befund wird sich vermutlich für die Windenergie bestätigen. Da es um Subventionspolitik geht, wird angenommen, dass sie hauptsächlich unter politischen Aspekten Publizität erhält. Andererseits aber könnte die Windenergie durch den kontinuierlichen Leistungszuwachs von den Journalisten als Wirtschaftsthema betrachtet werden.

Neben der zeitlichen Entwicklung werden auch Auffälligkeiten zwischen den Medien betrachtet. Eine ausführliche Begründung der Medienauswahl ist im Methodenteil unter 3.2. Stichprobenauswahl nachzulesen.

Besonderes Augenmerk wird auf den Vergleich zwischen der norddeutschen und der süddeutschen Regionalzeitung gelegt. Hierbei besteht die Vermutung, dass aufgrund der Nähe zu einem Windpark die Berichterstattung im Norden umfangreicher ist.

2.2 Nachrichtenwerttheorie

In dem Kapitel 2.1 Die Konstruktion von Realität in den Medien wurde erklärt, dass Ereignisse erst durch die Auswahl aus der Gesamtheit zur Nachricht werden. Das bedeutet, dass Journalisten durch eine „instrumentelle“ Nachrichtenselektion eine favorisierte Position unterstützen können. (Kepplinger, 1989e, S. 69) Kepplinger konnte in einer Studie eindeutig feststellen, dass Redakteure Meldungen, die den eigenen subjektiven Standpunkt stützen, bevorzugt auswählen. (Kepplinger, 1989e, S 64)

Nach welchen Kriterien Journalisten Nachrichten selektieren, ist Gegenstand der Nachrichtenwerttheorie, deren Forschungshintergrund im Folgenden aufgezeigt und im Anschluss auf die Windenergie-Berichterstattung angewendet wird.

Durch die Auswahl von bestimmten Nachrichten und das Weglassen von anderen reduzieren die Journalisten die Weltkomplexität und bestimmen, was relevant ist. Die Urteilskriterien, die die Journalisten zur Nachrichtenauswahl anwenden, versucht die Nachrichtenwerttheorie mit den Nachrichtenfaktoren zu erfassen.

„Nachrichtenfaktoren steuern als perzipierte Ereignismerkmale die Auswahlentscheidungen in den Medien und bestimmen so den Inhalt der Nachrichten.“ (Eilders & Wirth, 1999, S. 35)

Laut Schulz (1999, S. 332) haben Ereignisse, die mehrere Nachrichtenfaktoren in sich vereinen oder stark ausgeprägte Faktoren besitzen, eine größere Chance, als Nachricht beachtet zu werden. Wird ein Ereignis auf Grund dieser Kriterien für nachrichtenwürdig gehalten, werden die Merkmale, die seinen Nachrichtenwert bestimmen, von den Medien überbetont.

„Diese Mechanismen verhindern eine gleichmäßige, repräsentative Auswahl von Ereignissen und bewirken zugleich eine systematische Verzerrung ihres ‚wahren’ Charakters.“ (Schulz, 1989, S. 139)

In Bezug auf die Nachrichtenwerttheorie gibt es viele widersprüchliche Ergebnisse, doch für die Faktorenbündel Reichweite/Relevanz, Schaden/Kontroverse, persönlicher Einfluss/Elite-Person/Prominenz und Kontinuität bzw. Themenetablierung gilt die Nachrichtenwerttheorie, laut Eilders & Wirth (1999, S. 35-36) für die journalistische Selektion als empirisch bestätigt.

Eilders (1997, S. 41) und Rosengren (nach Staab, 1999, S. 205) kritisieren an der Theorie den fehlenden Vergleichsmaßstab. Die Nachrichtenwerttheorie untersucht lediglich das Ergebnis der Nachrichtenselektion und stellt keinen Vergleich zu dem Auswahlangebot bzw. statistischen Daten aus der Realität her.

2.2.1 Operationalisierung der Nachrichtenselektion

Für die Windenergie-Berichterstattung soll herausgefunden werden, welche Nachrichtenfaktoren die Berichterstattung bestimmen und ob sich mit dem Gesetz für erneuerbare Energien die Nachrichtenauswahl verändert hat. Für dieses Analyse wird die Faktorenliste von Staab (1990, S. 120-121) als Vorlage verwendet und für die Windenergie-Berichterstattung adaptiert.

Die 22 Nachrichtenfaktoren von Staab, die er für eine empirische Analyse politischer Ereignisse erstellt hat, wurden auf 10 Faktoren reduziert.

Da die Windenergie nur für Deutschland untersucht wird, fallen die auf internationale Ereignisse bezogenen Faktoren weg.[5]

Die Faktoren institutioneller Einfluss, persönlicher Einfluss und Personalisierung messen alle die Bedeutung von Personen oder Institutionen zu einem Sachverhalt. Ganz im Sinne der Trennschärfe werden diese drei Nachrichtenfaktoren zu dem Faktor institutioneller/persönlicher Einfluss zusammengefasst.

Die Auswahlkriterien Prominenz und Aggression stehen in keinem Bezug zur Windenergie-Berichterstattung und werden deshalb weggelassen. Die drei Faktoren Status der Ereignisregion, Etablierung der Themen und Faktizität beziehen sich auf die gesamtpolitische Berichterstattung in Deutschland und sind für ein Einzelereignis nicht operationalisierbar.

Für die vorliegende Untersuchung werden folgende zehn Nachrichtenfaktoren angewandt:

- Institutioneller/persönlicher Einfluss
- Kontroverse
- Demonstration
- Überraschung, Abweichung
- Reichweite
- Tatsächlicher Nutzen/Erfolg
- Möglicher Nutzen/Erfolg
- Tatsächlicher Schaden/Misserfolg
- Möglicher Schaden/Misserfolg
- Zusammenhang mit Themen

Eine genaue Definition der einzelnen Faktoren ist im Methodenteil unter 3.4.2 Inhaltliche Ebene nachzulesen.

In einer Studie zur Kernenergie-Berichterstattung konnte Kepplinger[6] (1989b, S. 663) eine Überbetonung des Nachrichtenfaktors ‚möglicher Schaden’ zeigen. In jedem zweiten Beitrag wurden die möglichen Schäden der Kernenergie aufgezählt und in nur etwa jedem vierten der Nutzen erwähnt. Die Darstellung der Kernenergie war hochgradig spekulativ. Nach Eilders & Wirth (1999, S. 36) zählt der Nachrichtenfaktor ‚Schaden’ zu den als weitgehend empirisch bestätigten Faktoren.

Der hohe Nachrichtenwert von möglichen Schäden wird sich vermutlich nicht auf die Windenergie-Berichterstattung übertragen lassen. Die möglichen bzw. tatsächlichen Schäden, wie Lärmbelästigung, Landschaftsverschandelung, etc. dürften nur in der Nähe eines Windparks bemerkt werden und daher Gegenstand der Regionalzeitungen sein und weniger der Überregionalen.

Vielmehr wird eine von positiven Nachrichtenwerten dominierte Berichterstattung erwartet. Die Windenergie wird aufgrund ihrer dynamischen Entwicklung in den letzten Jahren durch das EEG noch stärker gefördert, um eine Energiewende herbeizuführen. Diese positiven Erfolge für den Klimaschutz könnten Hauptgegenstand der Medien Berichterstattung sein.

2.3 Objektivität im Journalismus

In den vorhergehenden theoretischen Kapiteln wurde dargestellt, dass Medienrealität nicht gleich Realität ist. (vgl. 2.1. Konstruktion von Realität in den Medien) Mittels der Nachrichtenselektion als auch der Interpretation des Geschehenen konstruieren Journalisten Realität, die von intentionalem Handeln und Vorurteilen geprägt wird.

Über allen publizistischen Grundsätzen steht jedoch die Forderung nach Objektivität. Jeder Journalist verpflichtet sich zur Einhaltung dieses Gebots. Kepplinger (1989e, S. 60) weist daraufhin, dass Journalisten den Ansichten bestimmter Gruppen eine gesamtgesellschaftliche Geltung verleihen können bzw. anderen nicht durch publizistische Beachtung bzw. Vernachlässigung. Mathes (1989, S. 457) bestätigt, dass die Medien eine so genannte „Strukturierungsfunktion“ besitzen und Konfliktaspekte in den Vorgrund oder Hintergrund spielen können, wodurch sie die soziale Bedeutung des Konflikts beeinflussen. Da an der Diskussion um Windenergie verschiedene Gruppen beteiligt sind, gilt es herauszufinden, ob die Berichterstattung durch solche Mechanismen verzerrt ist und eine Gruppe bzw. Position möglicherweise überrepräsentiert oder unterrepräsentiert wird.

Zuerst wird Objektivität im Journalismus theoretisch erklärt, um im zweiten Schritt die Windenergie-Berichterstattung daraufhin untersuchen zu können.

Saxer (1974, S. 211) definiert Objektivität im Journalismus als

„die Verpflichtung bzw. den Willen zu einer möglichst unverzerrten und daher allgemein annehmbaren publizistischen Beschreibung der Wirklichkeit.“

Aber in der Wirklichkeitsbeschreibung liegt genau das Problem. Erstens stellt sich die Frage, ob die Wirklichkeit überhaupt objektiv sein kann und zweitens muss geklärt werden, wie sich die publizistische Darstellung auf Objektivität untersuchen lässt.

Schulz (1989, S. 145) sieht in der Objektivität ein „Ideal“ und damit mehr eine Norm, die zum Ziel hat, Journalisten anzuhalten, so genau wie möglich zu arbeiten und dabei unparteilich zu bleiben. Eine empirische Überprüfung ist kritisch, aber man kann insoweit überprüfen, bis zu welchem Grad das Verhalten der Norm entspricht. (Schatz & Schulz[7], 1992, S. 705) Auch Saxer (1974, S. 206) räumt ein, dass es keine Objektivitätsnorm gibt, zumindest aber das entsprechende Postulat sowie journalistische Bemühungen und umfangreiche Diskussionen zu dieser Thematik.

Donsbach (1990, S. 27) kritisiert an allen derzeitigen Qualitätsnormen, dass sie zwar das journalistische Endprodukt betrachten jedoch nie den Entscheidungs- und Herstellungsprozess der Journalisten beleuchten.

Derzeit gibt es keine eindeutige Objektivitätsnorm im Journalismus. Aber die Wissenschaft ist zumindest soweit, dass sie zur Überprüfung der Qualität im Journalismus verschiedene Operationalisierungsmöglichkeiten entwickelt hat. Die journalistischen Aspekte Relevanz, Richtigkeit, Ausgewogenheit, Vielfalt und Unparteilichkeit eignen sich für die Bestimmung von Objektivität. (Hagen, 1995; Schatz & Schulz, 1992; Fahr, 2001; Schröter, 1995; Donsbach, 1990)

Für die vorliegende Untersuchung werden die Qualitätsdimensionen Vielfalt, Ausgewogenheit, und Unparteilichkeit ausgewählt. Mit diesen Aspekten kann aufgedeckt werden, welche Gruppen und Meinungen die Windenergie-Berichterstattung dominieren und ob einige Medien eine subjektive Tendenz verfolgen.

Das Relevanzkriterium kann nach Hagen (1995, S. 73) über die Nachrichtenfaktoren bestimmt werden. Da die Feststellung der Nachrichtenwerte für die Windenergie-Berichterstattung unter dem Kapitel 2.2.1 Operationalisierung der Nachrichtenselektion für die Windenergie abgehandelt wurde, wird auf diese Qualitätsdimension verzichtet, um Redundanzen zu vermeiden. Für die Bestimmung von Richtigkeit fehlt der Realitätsmaßstab. (Fahr[8], 2001, S. 27)

Jeder der drei Qualitätsdimensionen wird theoretisch erläutert und anschließend für die Windenergie-Berichterstattung operationalisiert.

2.3.1 Das journalistische Qualitätskriterium Vielfalt

Vielfalt ist ein unumstrittenes journalistisches Qualitätskriterium in einem demokratischen Staat und eine Voraussetzung für eine freie und umfassende Meinungsbildung. (Fahr, 2001, S. 15; McQuail, 1992, S. 682; Schatz & Schulz, 1992, S. 691). Sie ist eine medienrechtliche Forderung und wird aus dem Artikel 5 Abs. 1 des Grundgesetzes[9] abgeleitet. (Fahr, 2001; Schatz & Schulz, 1992)

Nach Fahr (2001, S. 15-16) bedeutet Vielfalt vor allem die Breite der Berichterstattung sowie das Streben nach möglichst viel Unterschiedlichem. Das heißt, die Medien sollten alle erkennbaren Strömungen in der Gesellschaft zu einem Thema widerspiegeln. Ist dies nicht der Fall und es tritt beispielsweise in allen Medien nur ein begrenztes Spektrum an Akteuren auf, wäre das ein Zeichen für Konsonanz.

Unter Konsonanz von Medieninhalten ist nach Noelle-Neumann (1973, S. 33) eine Angleichung der Medienurteile zu verstehen. Fahr (2001, S. 51) sieht in Konsonanz eine potentielle Gefahr für inhaltliche Vielfalt und einen Widerspruch zum Vielfaltspostulat.

Das Vielfaltspostulat bezieht sich laut Branahl (2000, S. 21) auf die gesamte journalistische Berichterstattung und nicht auf den einzelnen Artikel. Er meint, dass das Gesamtangebot dem Leser alle relevanten Informationen zu einem Thema liefern muss, so dass dieser sich eine Meinung bilden kann.

Gemäß der Auffassung von McQuail (1982, S. 685) müssen bei der externen Vielfalt möglichst viele unabhängige Medieneinheiten einen bestimmten Interessenstandpunkt vertreten. Die interne Vielfalt dagegen sieht den größten Beitrag zu freien Meinungsbildung erfüllt, je mehr Meinungen innerhalb eines Mediums angeboten werden. Der Bezugsrahmen von Vielfalt ist nicht ganz unumstritten.

2.3.1.1 Operationalisierung von Vielfalt

Da Vielfalt nach Hagen (1995, S. 126) ein Maßstab für Bewertungen ist, wird sie in empirischen Untersuchungen meist mit Vielzahl als Indikator gemessen. Zur Operationalisierung eignen sich Meinungs-, Themen-, Quellen- oder Akteursvielfalt. (Fahr, 2001, S. 17; Schatz & Schulz, 1992, S. 694; Hagen, 1995, S. 126; McQuail, 1982, S. 684)

Für die vorliegende Arbeit wird Vielfalt anhand des dargestellten Meinungs- und Akteursspektrums analysiert. In der Windenergie-Berichterstattung sollten alle Pro- und Contra-Argumente sowie alle Interessengruppen erwähnt werden, um einer einseitigen Darstellung vorzubeugen. Eine Fokussierung in der Berichterstattung auf die positiven Umweltwirkungen der Windenergie ohne die Nennung der wirtschaftlichen Nachteile entspräche nicht dem Vielfaltsgebot. Im Sinne der Vielfalt müssen alle Argumentationen und an der Diskussion beteiligte Gruppen Publizität erhalten.

Die Ergebnisse werden sowohl unter den Gesichtspunkten der internen als auch der externe Vielfalt interpretiert.

In Anlehnung an Mathes & Czaplicki (1993, S. 158) wird die Darstellung der Windenergie-Thematik in den Medien nicht als Endprodukt, sondern als ein Prozess gesehen. Die Berichterstattung wird daher im Zeitverlauf von 1998 bis 2002 untersucht, um nicht eine Momentaufnahme zu analysieren. Das Jahr der EEG-Novellierung im Jahr 2000 fungiert als Vergleichsachse. Die Grundannahme ist, dass sich mit einer Gesetzesänderung von nationaler Bedeutung ein anderes Berichterstattungsinteresse zeigt und sich die Journalisten auf Argumente fixieren, die diese Veränderung befürworten oder ablehnen.

Bei der Messung des journalistischen Qualitätskriterium ‚Vielfalt’ zählt nur, dass alle Argumente und Akteure vorkommen.

Ob die Verteilung ausgewogen ist und nicht nur in eine Richtung geht, klärt das Ausgewogenheitsmaß, das im nächsten Kapitel theoretisch besprochen und angewendet wird.

2.3.2 Das journalistische Qualitätskriterium Ausgewogenheit

Für die meisten Bürger stellen die Medien die wichtigste Quelle für ihre Meinungsbildung dar, womit die Medien eine große Verantwortung zur Meinungsbildung tragen. (Schulz, Berens & Zeh, 1998, S. 12) Das Ziel eines Journalisten sollte sein, dass er dem Rezipienten alle geglaubten und gelebten Wahrheiten vermittelt, damit dieser sein eigenes Urteil zu einer Debatte fällen kann. Damit der Leser zu seiner eigenen Entscheidungsfindung kommt, muss die journalistische Vermittlungsleistung gemäß dem Vielfaltsgebot (vgl. 2.3.1 Das journalistische Qualitätskriterium ‚Vielfalt’) alle betroffenen Positionen einer Debatte in einem ausgewogenen Verhältnis berücksichtigen.

Ausgewogenheit bezieht sich nach Schröter (1995, S. 37)

„auf die chancengleiche Darstellung verschiedener (notwendig subjektiver) Standpunkte. Nicht der meinungslose Journalist, nicht die meinungsfreie Mitteilung, sondern die vorurteilsfreie, nach allen Seiten offene und chancengleiche Vermittlung von kritischen und kontroversen Standpunkten kennzeichnet ausgewogene Berichterstattung.“

Über das Ausgewogenheitsmaß lässt sich sodann die Qualität der journalistischen Vermittlungsleistung zu einer öffentlichen Diskussion beurteilen.

Die Qualitätsdimension Ausgewogenheit wird mit den gleichen Häufigkeitsverteilungen wie Vielfalt gemessen, aber unter anderen Gesichtspunkten interpretiert.

„Ausgewogenheit wird als Verhältnis von Klassenhäufigkeiten, Vielfalt als Anzahl von Klassen gemessen.“ (Hagen, 1995, S. 124)

Der Argumentation von Hagen folgend werden die Kriterien Vielfalt und Ausgewogenheit in einer Forschungsfrage zusammengefasst und auch gemeinsam ausgewertet.

2.3.2.1 Operationalisierung von Ausgewogenheit

Für die Ausgewogenheitsanalyse der Windenergie-Berichterstattung werden die verbreiteten Pro- und Contra- Argumente und die vorkommenden Akteure[10] untersucht.

Nach Hagen (1995, S. 45) fordert Ausgewogenheit in der Berichterstattung, dass alle Gruppen und Meinungen zu einem kontroversen Thema gleichermaßen zu Wort kommen. Das impliziert für die öffentliche Windenergie-Diskussion, dass alle an dem Konflikt beteiligten Interessengruppen wie Anti-Wind-Bürgerinitiativen, Energieversorger, Windmüller, Politiker, Umweltorganisationen, etc. zu gleichen Teilen zu Wort kommen sollten, um ihre Position darstellen zu können.

Durch den größeren politischen Einfluss seitens der Energieversorgungsunternehmen wäre denkbar, das diese mehr Raum in der Berichterstattung einnehmen als beispielsweise verärgerte Anwohner. Ebenso dürfte der Standpunkt der rot-grünen Regierung in den Medien verstärkt Beachtung finden, schließlich ist deren Richtung zukunftsweisend für Deutschland.

Eine Technikstudie von Kepplinger & Mathes (1988, S. 150) fand heraus, dass die regenerativen Energien im Vergleich zur Kernenergie überwiegend positiv bewertet wurden. Das könnte bedeuten, dass über die Windenergie auch durchweg positiv argumentiert wird und die Energieversorgungsnachteile, wie beispielsweise die Unplanbarkeit durch das unregelmäßige Windaufkommen, unberücksichtigt bleiben.

Da eine einseitige positive Themenauswahl, wie schon unter 2.2. Die
Operationalisierung der Nachrichtenselektion für die Windenergie
besprochen, vermutet wird, besteht das Forschungsinteresse bei der Ausgewogenheitsanalyse im Besonderen darin, ob die Berichterstattung zumindest inhaltlich facettenreich die polarisierenden Positionen der Windenergie darstellt.

2.3.3 Das journalistische Qualitätskriterium Unparteilichkeit

Die Journalisten können die bevorzugte Konfliktpartei und Sicht unterstützen, in dem sie wertende Stellungsnahmen veröffentlichen. Somit können sie beim Rezipienten die Akzeptanz bestimmter Konfliktlösungen erhöhen bzw. reduzieren. Mathes (1989, S. 457) spricht von einer so genannten ‚Bewertungsfunktion’ der Medien. Durch diese Manipulationsmöglichkeit ist eine Realitätsverzerrung unvermeidbar.

Eines der wesentlichen Kriterien journalistischer Professionalität ist die Unparteilichkeit in der Berichterstattung, womit die Trennung von Nachricht und Meinung gemeint ist. (Schatz & Schulz, 1992, S. 703)

Diese journalistische Professionalität – die Trennung von Nachricht und Meinung - ist fraglich. Viele Studien konnten belegen, dass sich die Nachrichten in verschiedenen Medien erheblich voneinander unterscheiden und politisch gefärbt sind. (Hagen, 1992, S. 444) Schönbach (1977) hat herausgefunden, dass Medien synchronisieren, das heißt Kommentierung und Berichterstattung werden nicht mehr getrennt, sondern gehen konform. Es findet zwar laut Schönbach (1977) keine totale Synchronisation statt, aber wichtige Teile der Berichterstattung sind an die redaktionelle Tendenz angepasst, wodurch das strikte journalistische Postulat der Trennung von Nachricht und Meinung verwischt. Erbring bestätigt die These der Synchronisation, dass

„(...) sich in empirischen Untersuchungen zur Nachrichtenberichterstattung in deutschen Medien eine regelmäßig systematische Tendenz zu (…) einseitiger Auswahl von Nachrichten oder Quellen bis hin zur Synchronisation gezeigt hat.“ (Erbring, 1999a, S. 163)

Im Rahmen der Theorie der ‚instrumentellen Aktualisierung’ konnte Kepplinger (1989d; 1989e, S. 69) nachweisen, dass Journalisten Informationen, die ihre Konfliktsicht stützen, bevorzugen und ihnen sogar einen höheren Nachrichtenwert zusprechen als den Meldungen, die ihrer eigenen Sichtweise widersprechen.

In der Berichterstattung über Kernenergie konnte die oben beschriebene tendenziöse Berichterstattung festgestellt werden. Darin konnte Kepplinger (1989b) belegen, dass die vorhandenen und verfügbaren Expertenurteile bewusst und/oder unbewusst zur Stützung der redaktionellen Linie publiziert wurden.

„Je negativer die Aussagen der Journalisten von Tageszeitungen waren, desto eher veröffentlichten sie vor allem negative Aussagen von Experten, je positiver die Aussagen der Journalisten von Tageszeitungen waren, desto eher publizierten sie dagegen vor allem positive Aussagen von Experten.“ (Kepplinger, 1989b, S. 22)

Schulz, Berens & Zeh (1998, S. 80, S. 87) konnten die von Kepplinger herausgefundene instrumentelle Aktualisierung auch in der Berichterstattung über die Castor-Transporte zeigen. Sie fanden heraus, dass die linkspolitisch orientieren Medien wie die Süddeutsche Zeitung und die tageszeitung die Kernenergie eindeutig ablehnten. Das konservative Lager dagegen, repräsentiert durch Die Welt und die Frankfurter Allgemeine Zeitung, befürwortete die Kernenergie.

Dass die Medien Meinungen, die den eigenen Standpunkt stützen, größere Aufmerksamkeit zusprechen, bezeichnet Hagen (1992, S. 456) als das Phänomen der ‚Opportunen Zeugen’. Er hat in einer Inhaltsanalyse zur Volkszählungsdiskussion ebenfalls festgestellt, dass die Richtung der Argumente, die die Zeitungen veröffentlichten, stark von der redaktionellen Linie beeinflusst war, und dass die Zeitungen mehr Argumente von solchen Gruppen und Personen veröffentlichten, die im Sinne der redaktionellen Linie argumentierten. (Hagen, 1992, S. 455, S. 488)

2.3.3.1 Operationalisierung von Unparteilichkeit

Um herauszufinden, ob die Medien entsprechend der redaktionellen Linie berichten, möchte ich nach Hagen die ‚Opportunen Zeugen’ der Windenergie-Berichterstattung, sofern sie vorhanden sind, entlarven. Es soll herausgefunden werden, ob sich ein Zusammenhang zwischen der redaktionellen Linie und der Windenergie-Argumentslinie erkennen lässt und ob Zusammenhänge mit dem Aussagen-Urheber zu finden sind.

Die linkspolitischen Zeitungen müssten, nachdem sie die Kernenergie durchweg negativ bewertet haben, dem regenerativen Energieträger Wind positiver beleuchten als die politisch weiter rechts angesiedelten Medien. Demnach müsste die Windenergie von der SZ und der taz geschätzt und von der FAZ abgelehnt werden, denn wer einst ein Kernenergie-Gegner war, müsste heutzutage ein Windenergie-Befürworter sein.

Das könnte bedeuten, dass Argumente von grünen Politikern häufiger in einem Medium publiziert werden, das der Windenergie positiv gegenüber steht. Tritt dieser Fall ein, wäre bewiesen, dass die Aussagen zur Stützung der Medieneinstellung publiziert wurden.

Eine andere Möglichkeit, um Medienmeinung implizit zum Ausdruck zu bringen, sind Leserbriefe. Oft werden sie zur Stützung des eigenen Standpunktes ausgewählt und veröffentlicht (Schulz, Berens & Zeh, 1998, S. 77) Dieser Sachverhalt, ob durch die Leserbriefe die redaktionelle Linie unterstützt wird, soll auch für die Windenergie geklärt werden.

2.4 Zusammenfassung und Forschungsfragen

Der Einfluss und das Interesse der Medien an einem energiepolitischen Thema ist, wie zahlreiche Studien zur Kernenergie gezeigt haben, groß. Daher soll herausgefunden werden, ob ein regenerativer Energieträger wie die Windenergie ebenso die Medienlandschaft spaltet wie einst die Kernenergie.

Das Ziel dieser Arbeit ist die Windenergie-Berichterstattung formal als auch inhaltlich zu untersuchen. Die übergeordnete Forschungsfrage, deren Beantwortung als abschließendes Fazit erfolgt, lautet:

Wie hat sich die Windenergie-Berichterstattung von 1998 bis 2002 entwickelt?

Der Zeitraum wurde gewählt, weil mit der EEG-Novellierung eine Veränderung der Berichterstattung vermutet wird und das Jahr 2000 zur Vergleichsachse wird.

Die Beantwortung dieser Hauptforschungsfrage wird in drei weitere Forschungsfragen unterteilt. Bei allen Forschungs- und Teilforschungsfragen wird geprüft, ob die Novellierung des EEGs im Jahr 2000 zu einer Veränderung der Berichterstattung geführt hat.

Zudem werden die verschiedenen Medien in der Stichprobe untereinander verglichen, um herausfinden zu können, ob sie unterschiedliche Standpunkte vertreten. Hierbei wird besonderes Augenmerk auf den Vergleich von norddeutscher und süddeutscher Berichterstattung gelegt. Die Annahme ist, dass es aufgrund der Nähe zu einem Windpark unterschiedliche Berichterstattungsschwerpunkte gibt. Für diese Analyse werden Zeitungsartikel aus dem windmühlenreichen Norden mit dem windmühlenarmen Süden verglichen. Eine detaillierte Beschreibung der ausgewählten Medien wird in 3.2 Stichprobenauswahl gegeben.

Um die Entwicklung der Windenergie-Berichterstattung untersuchen zu können, muss als Erstes festgestellt werden, ob sie überhaupt für Journalisten von publizistischer Bedeutung ist.

Die Grundannahme ist, dass die Windenergie erst mit dem EEG in den Medien präsent wird. Die erste Forschungsfrage erörtert die formale Entwicklung.

[...]


[1] Die vier wichtigsten Energieversorgungsunternehmen in Deutschland sind: RWE, E.ON Energie, Vattenfall Europe und EnBW.

[2] Die quantitative Inhaltsanalyse von Kepplinger & Mathes (1988) umfasste folgende Medien: Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, Die Zeit, Spiegel und Stern.

[3] Die drei regenerativen Energien waren Wasser-, Sonne- und Windenergie.

[4] Möglicherweise ist der Anteil der erneuerbaren Energien in der Studie von Kepplinger & Mathes (1988) aufgrund des Technik-Schwerpunktes so klein. Wobei, wenn man den Untersuchungszeitraum betrachtet, 1965-1986, dann scheint ein Präsenz-Anteil von 8% doch sehr hoch. Schließlich wurden die erneuerbaren Energien (bis auf den Klassiker „Wasserkraft“) erst Anfang der 80iger öffentlich diskutiert. (Staiß, 2001, S. 1)

[5] Die folgende Faktoren betreffen nur internationale Ereignisse und kommen für die nationale Betrachtung der Windenergie-Berichterstattung nicht in Frage: räumliche Nähe, politische Nähe, wirtschaftliche Nähe, kulturelle Nähe. Status der Ereignisnation ist für nationale Ereignisse konstant und fällt daher auch weg.

[6] Kepplinger (1989b) hat eine quantitative Inhaltsanalyse von 1965 bis 1986 über die Kernenergie-Berichterstattung in der Frankfurter Rundschau, der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Zeit, dem Spiegel und dem Stern durchgeführt. Gegenstand der Untersuchung waren alle wertenden Aussagen über die Kernenergie.

[7] Schatz & Schulz (1992) haben die Qualität von Fernsehnachrichten untersucht. Die grundsätzlichen Überlegungen zu den Kriterien und zur Operationalisierung von journalistischer Qualität können meiner Meinung nach ohne weiteres auf Journalismus in Printmedien adaptiert werden.

[8] Fahr (2001) hat wie Schatz & Schulz (1992) die Qualität von Fernsehnachrichten untersucht. Seine grundsätzlichen Überlegungen zur Operationalisierung von journalistischer Qualität können meiner Meinung nach ohne weiteres auf Qualität in Zeitungsartikel adaptiert werden.

[9] Artikel 5, Abs. 1 des Grundgesetzbuches lautet: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ (Grundgesetz, 2001, S. 14)

[10] Unter Akteur wird der Handlungsträger verstanden und nicht der sprachlich Handelnde, das wäre der Urheber. Die Akteursliste ist in 8.2. Codebuch einzusehen.

Ende der Leseprobe aus 119 Seiten

Details

Titel
Weht der "Wind" in der Presse? Eine inhaltsanalytische Untersuchung der Windenergie-Berichterstattung in ausgewählten Medien von 1998 bis 2002
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung)
Note
2,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
119
Katalognummer
V24297
ISBN (eBook)
9783638272032
ISBN (Buch)
9783656068990
Dateigröße
859 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Weht, Wind, Presse, Eine, Untersuchung, Windenergie-Berichterstattung, Medien, Inhaltsanalyse, Berichtererstattung über Windenergie, Windenergie, Analyse der Windenergie
Arbeit zitieren
Livia Krentel (Autor:in), 2003, Weht der "Wind" in der Presse? Eine inhaltsanalytische Untersuchung der Windenergie-Berichterstattung in ausgewählten Medien von 1998 bis 2002, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24297

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Weht der "Wind" in der Presse? Eine inhaltsanalytische Untersuchung der Windenergie-Berichterstattung in ausgewählten Medien von 1998 bis 2002



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden