Von der Trommel zum Internet - Die Bedeutung des Internet für die orale Kultur Namibias


Magisterarbeit, 2004

111 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Einführung und Problemstellung
1.2 Vorgehensweise

2 Medien - Einfluss auf Wahrnehmung und Denken
2.1 Einleitung
2.2 Medien zur Machterhaltung - Harold A. Innis
2.3 The medium is the message - Marshall McLuhan
2.3.1 Die Orale Kultur
2.3.2 Die Skriptographische Kultur
2.3.3 Die Typographische Kultur
2.3.4 Die Elektronisch-Digitale Kultur
2.4 Zusammenfassung

3 Leben ohne Schrift - Orale Kulturen
3.1 Einleitung
3.2 Soziales Gedächtnis
3.3 Orale Poetik
3.4 Orale Noetik
3.5 Homöostase / Strukturelle Amnesie
3.6 Orale Mentalität
3.7 Sekundäre Oralität

4 Trommel und Palaver - Orale Kultur am Beispiel Namibias
4.1 Einleitung
4.2 Namibia – ein Überblick
4.2.1 Geschichte
4.2.2 Wirtschaft
4.2.3 Völker
4.2.4 Bildung
4.2.5 Sprachenvielfalt
4.3 Die mangelnde Literalisierung
4.4 Die Macht des Wortes
4.5 Das Palaver
4.6 Die Erzählkultur
4.7 Der Griot
4.8 Die Trommel
4.9 Das Radio
4.10 Zusammenfassung

5 Die kommunikativen Eigenschaften des Internet
5.1 Einleitung
5.2 Entstehungsgeschichte und technische Grundlagen
5.3 Das Internet als Medium
5.4 Die Narrative des Internet
5.4.1 Cyberspace
5.4.2 Information Highway
5.5 Kommunikationsformen im Internet
5.5.1 Asynchrone Kommunikation
5.5.2 Synchrone Kommunikation
5.6 Sprache im Netz
5.7 Hypertext
5.7.1 Multimedia
5.7.2 Interaktivität
5.8 Computive
5.9 Schlussfolgerung

6 Die Bedeutung des Internet für die orale Kultur Namibias
6.1 Einleitung
6.2 Orale Kultur und die Narrative des Internet
6.3 Orale Kultur und die Kommunikationsformen im Internet
6.3.1 Asynchrone Kommunikation
6.3.2 Synchrone Kommunikation
6.4 Orale Kultur und die Sprache im Netz
6.5 Orale Kultur und Hypertext
6.6 Orale Kultur und Computive
6.7 Ausblick: Der Simputer
6.8 Schlussbetrachtung

7 Literatur

1 Einleitung

1.1 Einführung und Problemstellung

Den Hintergrund der Arbeit bildet die aktuell in den Sozialwissenschaften, den Medien und der Wirtschaft geführte Diskussion um das digitale Medium Internet und seinen Wert für die Entwicklungsländer. Millionen Fördergelder sind bereits geflossen, um beispielsweise dem Kontinent Afrika und seinen zahlreichen Staaten, die vielfach den Status von Entwicklungsländern besitzen, Zugang zum globalen Netz zu verschaffen.

Befürworter dieser neuen Kommunikationstechnologie glauben, dass das Internet Afrika die Möglichkeit eröffne, seinen Rückstand gegenüber den Industrienationen aufzuholen. Sie erhoffen sich zahlreiche Vorteile für Bildung, Wirtschaft oder Politik und loben das Internet als demokratisierendes Medium, das allen Menschen Zugang zu Informationen rund um den Globus liefern kann. Ferner betonen sie die Vorteile einer schnellen globalen Geschäftskommunikation und erwarten eine verbesserte Schul-bildung durch computervermittelte Lerninhalte besonders in armen Ländern. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht verheißt das Internet als neues Kommunikationsmedium eine grundlegende Umwälzung massenmedialer Einflüsse, seine individuellen Nutzungsmöglichkeiten entziehen es der Kontrolle politischer oder sozialer Autoritäten, die Ausbildung seines kommunikativen Raums ermöglicht neue Formen einer weltweiten Kommunikation über alle sozialen und kulturellen Grenzen hinaus (vgl. Thimm 2000).

Skeptiker gehen hingegen davon aus, dass das Internet die Lücke zwischen Erster und Dritter Welt noch vergrößern werde. Es fehlt an technischen Voraussetzungen, nutzbarer Infrastruktur, politischem Willen und natürlich finanziellen Mitteln, um auch den unterprivilegierten Bewohnern des Kontinents einen Internetanschluss zu ermöglichen. In den Entwicklungsländern ist die Nutzung eines Internetanschlusses respektive die Anschaffung eines Computers für einen Großteil der Bevölkerung derzeit überhaupt nicht denkbar. Ein aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht wichtiger Aspekt sind überdies die unterschiedlichen Kommunikationskulturen, die in Afrika auf das Internet treffen. Viele afrikanische Völker sind auch heute noch orale Kulturen, ihre Sprache ist nie verschriftlicht worden. Diese Kulturen verfügen über keinerlei Schriftsysteme, weder zur Kommunikation noch zur Wissensspeicherung. Das Internet ist jedoch, zumindest bei dem heutigen Stand der Technik, ein Medium, in dem vorwiegend mittels geschriebener Sprache kommuniziert wird.

Marshall McLuhan und Harold Innis gehen in ihren Medientheorien davon aus, dass soziale Strukturen einer Gesellschaft von ihren Kommunikationsmitteln bestimmt werden. Medien bestimmen Art und Weise unserer Wahrnehmung, unseres Denkens und unserer Kultur. Durch den Wechsel des Kommunikationsmediums entsteht somit kultureller Wandel. Die Integration eines neuen Mediums in den kommunikativen Alltag einer Gesellschaft hat folglich weit greifende Folgen für die gesamte Kultur dieser Gesellschaft (vgl. McLuhan 1995a; Innis 1997). Auch das Internet als neues Medium beeinflusst die Kultur der jeweiligen Nutzer. Befürworter des Internet sehen in diesem Medium die Möglichkeit, die früheren Mündlichkeitskulturen wieder-herzustellen, die kommunikative Kultur, die vor der Einführung der Schrift herrschte, neu aufleben zu lassen. Kritiker befürchten die Bedrohung kultureller Identitäten durch die globale Vernetzung und die computervermittelte Kommunikation (vgl. Thimm 2000, Zurawski 2000a) sowie den Ausschluss nicht literalisierter Völker.

Welche Bedeutung das Internet als Kommunikationsmedium für Mitglieder oraler Kulturen hat, ob es Nutzungsmöglichkeiten bietet und wie diese aussehen könnten, ist die zentrale Frage dieser Arbeit. Ist Literalisierung Voraussetzung zur Nutzung des Netzes, oder bietet das Internet auch Mitgliedern oraler Kulturen Nutzungs-möglichkeiten? Ist es demzufolge überhaupt sinnvoll, „Internet für Afrika“ zu fordern? Um den Arbeitsrahmen einzugrenzen, liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf Namibia und seinen oralen Gesellschaften.

1.2 Vorgehensweise

Um die der Arbeit zugrunde liegende Frage beantworten zu können, wird zunächst der Gedanke der Medienabhängigkeit des Denkens nach Innis und McLuhan dargelegt. Damit soll verdeutlicht werden, welchen Einfluss die jeweiligen Kommunikations-medien auf die gesamte Kultur einer Gesellschaft besitzen. Das dritte Kapitel befasst sich mit den Eigenschaften oraler Kulturen, bietet einen kurzen Überblick über die Forschungsgeschichte und fasst die wichtigsten Resultate zusammen. Weiterhin werden die Unterschiede zwischen oralen und literalen Kulturen herausgearbeitet. Das vierte Kapitel ermöglicht dem Leser einen Einblick in die Kultur Namibias. Dabei werden die allgemeinen Länderdaten nur kurz umrissen; der Schwerpunkt liegt auf der oralen Kultur Namibias mit den ihr eigenen Charakteristika. Als wichtigstes „modernes“ Medium der Oralität Namibias wird dabei das Radio als heutige „Trommel“ beleuchtet. Auch wenn Fernsehen und Mobilfunk in steigenden Maße Einzug in Namibia halten, würde die Untersuchung der Bedeutung dieser Medien für die orale Kultur den Rahmen dieser Arbeit bei weitem sprengen. Kapitel fünf befasst sich mit dem Medium Internet und seinen kommunikativen Funktionen. Welches sind die Merkmale, die es von herkömmlichen Medien unterscheidet, und welchen Einfluss hat es auf Sprache und Denken der Nutzer? Mit Bezug auf die vorangegangenen Kapitel werden anschließend im sechsten Kapitel die Eigenschaften und speziell die Kommunikationsformen des Internet auf ihre Bedeutung für Menschen aus oralen Kulturen untersucht. Es wird dargelegt, welche Bedeutung das Internet für die Mitglieder der oralen Kultur in Namibia zum heutigen Zeitpunkt hat und ein Ausblick in reale Nutzungsmöglichkeiten für nicht literalisierte Menschen gewagt.

2 Medien - Einfluss auf Wahrnehmung und Denken

2.1 Einleitung

Der Begriff des „Mediums“ ist weit gefächert und zudem nicht zufriedenstellend definiert (vgl. Merten 1999: 133 ff.). Umgangssprachlich wird er als vermittelndes Element zwischen zwei Personen, Instanzen oder Objekten verstanden. Im Rahmen dieser Arbeit bezeichnet der Begriff des „Mediums“ ein Mittel der Kommunikation, einen Übermittlungsweg oder -kanal bzw. eine Organisationsform, mit deren Hilfe Information angeboten, verarbeitet oder verbreitet wird

Seit den 60er Jahren entstanden verschiedene Darstellungen zur europäischen Mediengeschichte, welche die Entwicklung der Kommunikation in verschiedene Abschnitte einteilten. Die Evolution der Kommunikation ist immer abhängig von der Evolution der entsprechenden Medien. Auch wenn die Zäsuren je nach Theorieansatz unterschiedlich gesetzt und gedeutet werden, haben sich einige Grundlinien heraus-gebildet, die in zahlreichen Publikationen identisch sind. Dabei werden vier Arten von Medien unterschieden, die aufgrund ihrer historischen Entwicklung technisch aufeinander aufbauen.[1]Als primäre Medien werden diejenigen bezeichnet, die an den menschlichen Körper gebunden sind: mündliche Rede, Mimik oder Gestik. Diese Medien dienen der Interaktion im direkten zwischenmenschlichen Kontakt (face-to-face-Kommunikation) und kommen ohne technische Hilfsmittel aus. Sie werden aus diesem Grund auch gelegentlich als Mensch-Medien bezeichnet. Kommunikation mittels primärer Medien zeichnet sich durch Wechselseitigkeit und raum-zeitliche Bindung aus. Charakteristisch für sekundäre Medien ist die Tatsache, dass die Zeichen zwar mit technischer Hilfe hergestellt werden, aber ohne technische Hilfsmittel rezipiert werden können. Die Rezipienten benötigen allerdings bestimmte Kenntnisse zur Dekodierung der Zeichen und Codes. Zu den sekundären Medien gehört beispielsweise die Schrift, bei der man mit Stift, Pinsel, Meißel etc. die Zeichen herstellt, aber zum Lesen keinerlei technische Hilfsmittel benötigt. Die tertiären Medien zeichnen sich dadurch aus, dass sowohl zur Herstellung, zur Übertragung als auch zum Empfang der Zeichen technische Hilfsmittel erforderlich sind. Elektronische Medien wie Fernsehen oder Radio werden zu den tertiären Medien gezählt. Die Quartärmedien basieren auf der digitalen Technik und der Nutzung des Computers.

Die europäische Mediengeschichte kann in vier Phasen unterteilt werden, die jeweils von den dominanten Medien geprägt sind und sich ihrerseits nochmals untergliedern lassen. Bis 1500 dominieren die Primärmedien. Dazu zählen Tanz, Erzählungen, Schauspiel etc. Den mündlich geprägten Zivilisationen, die, wenn überhaupt, als Mitteilungsformen einfache Bilderschriften oder Lautzeichen verwendeten, folgte mit der Einführung komplexer Schriften eine Phase der schriftlich geprägten Kommunikation. Diese wurde durch die Ausbreitung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts weiter fortgeführt. Von 1500 bis 1900 beherrschen die sekundären Medien die Gesellschaft, die früheren Kommunikationsmedien Tanz oder Schauspiel werden ab jetzt als künstlerische Medien verstanden. „An die Stelle von live-Medien wie Opferritual, Tanz, Priester, Aoide, Hofnarr, Fest, Bettelmönche, Fahrende waren endgültig Konservierungsmedien getreten. [...] Die Mensch-Medien hatten einer stärker von der Gemeinschaft geprägten Gesellschaft entsprochen; die Druckmedien entsprachen einer stärker vom Einzelnen geprägten Gesellschaft“ (Faulstich 2000: 36). Die Rolle der Schrift als vorherrschendes Kommunikationsmedium wurde erst um 1900 durch die chemisch-technischen Speicher- und Übertragungsmedien Telegraphie, Phonographie, Fotographie und Stummfilm relativiert. Diese Medien wurden durch Grammophon, Rundfunk, Fernsehen und Tonfilm erweitert. Die Dominanz verlagerte sich damit auf die tertiären, elektronischen Medien. Stimmen und Bilder konnten sowohl in akustischer und optischer Form gespeichert, als auch über weite Strecken transportiert werden. Ab Mitte der achtziger Jahre hat die Nutzung „des Personal Computers und dessen Vernetzung im Internet schließlich eine neue Revolution der Medientechnik und Mediennutzung ausgelöst, deren Folgen kaum absehbar sind“ (Schöttker 1999: 13). Die digitalen Medien lösen zum Anfang des 21. Jahrhunderts die Tertiärmedien generell in vielen Funktionen ab. In diesem Zusammenhang fällt die temporale Verkürzung der Gesamtentwicklung der Medien auf. Die Primärmedien prägen die menschliche Gesellschaft ca. dreißig- bis vierzigtausend Jahre. Die Phase der sekundären Medien dauert etwa vierhundert Jahre, die Zeit der Tertiärmedien nur noch einhundert Jahre. Die Zeit der Digitalen Medien müsste demzufolge noch kürzer währen (vgl. Faulstich 2000: 31).

Jedes Kommunikationsmedium wirkt in irgendeiner Form als sozialisierendes Moment auf die Gesellschaft ein. Die Gesellschaftsmitglieder projizieren in alle neuen Medien bestimmte Erwartungen betreffend ihrer Nutzungsmöglichkeiten oder Funktionen. Entsprechend dieser Vorstellungen, die die Menschen sich von dem jeweiligen Medium machen, wird dieses Medium dann auch genutzt. „Die Menschen müssen sich gemäß dem Programm und den sozialen Normen verhalten, die sie in die Technik hineinprojiziert und in ihr vergegenständlicht haben“ (Giesecke 1991: 50). Jedes Mal, wenn ein neues Kommunikationsmedium in eine Gesellschaft eingeführt wird, verändert sich demzufolge die Selbstbeschreibung dieser Gesellschaft. Das Kommunikationsmittel wird zum Unterscheidungsmerkmal, durch welches die Gruppe sich selbst definiert. „So wirkt jedes Kommunikationsmedium auf die Sinnesorgane des Menschen ein, sozialisiert sie in unterschiedlichem Maße und verändert damit deren Verhältnis untereinander“ (ebd.: 51). Die Einführung eines neuen Mediums hat also nicht allein Einfluss auf die Kommunikationsformen der Gemeinschaft, sondern immer auch auf das gesamte Gesellschaftsgefüge. Hinzu kommt, dass die Evolution medial vermittelter Kommunikation zur Ausbildung immer komplexerer Gesellschaftsformen führt. Die zunehmende Zahl der Medien und die daraus folgende Vergrößerung der Kommunikationsmöglichkeiten ermöglichen erst die Entwicklung von der Dorf- zur Weltgesellschaft (vgl. Merten 1994: 141ff.).

Dabei ist zu betonen, dass ein neues Medium nicht zwangsläufig ein altes verdrängt, sondern häufig einen Funktionswandel des alten bewirkt. Das jeweilige Medium wirkt als Katalysator, dessen Nutzung von der Gesellschaft gesteuert werden kann. Der handgeschriebene Brief beispielsweise wird zwar in den Zeiten von Telefon und Email nicht mehr alsdaszwischenmenschliche Kommunikationsmedium genutzt wie noch vor 200 Jahren, hat aber bestimmte Funktionen in der privaten Post beibehalten. In der Tat existieren alle alten Informations- und Kommunikationssysteme innerhalb der Gesellschaft weiter: „Man artikuliert weiter, man schreibt weiter, man druckt weiter“ (Giesecke 1992: 66).

2.2 Medien zur Machterhaltung - Harold A. Innis

Der kanadische Wirtschafts- und Medienhistoriker Harold Adam Innis (1894-1952) gilt als der eigentliche Begründer der „Toronto School of Communication“ und „als ’der’ Pionier der Medienwissenschaft“ (Maresch 1997). Seine grundlegende These besagt, dass Medien nicht nur Träger gesellschaftlicher Kommunikation sind, sondern auch Denk- und Verhaltensweisen prägen. Die Art und Weise der Informationsrezeption hat seiner Ansicht nach entscheidenden Einfluss darauf, wie man die Realität erlebt und interpretiert. Alle menschlichen Gesellschaften verdanken ihre zeitliche und räumliche Ausdehnung bestimmten Speicher- und Kommunikationsmedien. Medien werden als materielle Träger der Kommunikation verstanden, welche die soziale Welt sowohl in ihrer Form als auch in ihrem Verhalten prägen. Sie sind nach Innis nicht nur neutrale Träger von Inhalten, sondern beeinflussen durch ihre speziellen Eigenschaften die komplette Kultur. Die menschliche Geschichte lässt sich folglich in verschiedene kulturelle Epochen unterteilen, welche von dominanten Kommunikationsmedien geprägt sind. Die sozialen Strukturen einer Gesellschaft werden von Techniken der Kommunikation bestimmt: Innis begreift „die Form einer bestimmten Medientechnik […] als Generator gesellschaftlichen Wandels“ (ebd.) und untersucht in Bezug auf Altertum, Mittelalter und frühe Neuzeit die mediale Bedeutung von mündlicher Rede, Schrift und Buchdruck. Dabei verursacht jedes Medium eine spezielle Tendenz der Kommunikation.

„Dem Reich der Pharaonen etwa stand als ‚Kommunikationsmittel’ nur der Stein zur Verfügung, in den aufwendig und mühselig Hieroglyphen gemeißelt wurden. Diese monumentalen Speichermedien, zumal als Schmuck der Pyramiden, repräsen-tierten zwar ideal das ‚Prestige’ einer ‚absoluten Monarchie’, doch konnten sie ob ihres Gewichts kaum transportiert werden und faszinierten so nur Anwesende“ (Werber 1997).

Bis zur Erfindung des Papyrusbogen war das ägyptische Reich deshalb auf wenige Großstädte begrenzt. Mit dem leichten Papyrus konnte man zum einen schneller schreiben, zum anderen ließen sich die Schriftstücke einfacher transportieren. So ermöglichte dieses Medium erst die Ausbreitung des Reiches „vom Libanon bis nach Oberägypten, da nun die Fernkommunikation den Befehlsfluss zwischen Hauptstadt und Provinzen sicherstellte“ (ebd.).

Innis unterstellt Medien dem Gefüge von Wissen, Macht und Kommunikationstechnik: Jedes Imperium muss, wenn es Bestand haben will, Kontrolle über Zeit und Raum ausüben. Er ist der Ansicht, dass die

„[…] Stabilität einer Gesellschaft vom Gespür für das richtige Gleichgewicht zwischen Raum- und Zeitbegriffen abhängt. Wir kümmern uns nicht nur um die Herrschaft über weitausgedehnte räumliche Gebiete, sondern auch über lange zeitliche Strecken. Eine Zivilisation müssen wir sowohl bezüglich ihres Territoriums als auch ihrer Dauer beurteilen. Der spezifische Charakter eines jeden Kommunikationsmittels neigt dazu, eine Tendenz in der jeweiligen Kultur zu schaffen, die die Überbetonung entweder zeitlicher oder räumlicher Vorstellung begünstigt, und nur in seltenen Intervallen geschieht es, dass diese Tendenzen durch ein weiteres Medium ausgeglichen werden und Stabilität erreicht wird“ (Innis 1997: 122).

Die Kontrolle über den Raum auszuüben, fällt in den weltlichen und militärischen Bereich. Die zeitliche Überwachung besteht in der Bewahrung der mündlichen Überlieferungen und Glaubenseinrichtungen und fällt somit in den religiösen Bereich. Kontrollinstanzen sind die vorhandenen Medientechnologien einer Kultur. Politische Macht wäre demzufolge gleichzusetzen mit der Kontrolle über Zeit und Raum. Diese Macht gründet sich hauptsächlich auf die Kommunikationstechnologien, die den Herrschenden zur Verfügung stehen (vgl. Havelock 1997: 15 ff).

Orale und literale Kulturen unterscheiden sich in ihrem Bestreben nach Expansion und Machterhaltung voneinander eben durch diese Kontrolle von Zeit bzw. Raum. Die oralen Kulturen konzentrieren sich auf die Überwindung von Zeit; die moderne, literale (genauer: typographische) Welt ist mehr auf die Expansion im Raum ausgerichtet. „Die Verbreitung des gedruckten Wortes in der Neuzeit scheint er [Innis] mit der Herrschaft über den Raum in Verbindung zu bringen“ (ebd.: 16). Die vorherrschende Kommunikationstechnologie jedes Zeitalters bringt demzufolge ihre eigenen Tendenzen der Zeit- und Raumkontrolle mit sich. So lassen sich folglich soziale, politische und historische Veränderungen auf die aktuell in einer Gesellschaft vorherrschenden Medien beziehen. Durch den Wechsel eines Mediums entsteht zwangsläufig auch kultureller Wandel.

2.3 The medium is the message - Marshall McLuhan

Marshall McLuhan (1911-1980) steht in der direkten Tradition Harold Innis’. Er selbst wies immer wieder darauf hin, wie viel er ihm verdanke. „Er erwähnte ihn so häufig, dass man ohne weiteres behaupten kann, dass die Arbeit von Innis ohne McLuhan in Amerika größtenteils unbekannt geblieben wäre“ (Postman 1999: 12). McLuhan bezeichnete sein Buch „Die Gutenberg-Galaxis“ (1962) sogar als eine Fußnote zu Innis’ kommunikationsgeschichtlichem Hauptwerk „Empire and Communication“ (1950). Der bekennende Katholik und Anglistik-Professor greift Anfang der 60er Jahre Innis’ Gedanken der Medienabhängigkeit auf und lässt ihn in dem berühmten Slogan “Das Medium ist die Botschaft“ gipfeln.

Auch für ihn ist nicht entscheidend, auf welche Art und Weise man eine Technik oder ein Medium nutzt. Das Medium selbst wirkt direkt auf die menschlichen Sinne ein und kann daher als „bestimmendes Moment unserer Welterfahrung“ gelten (Kloock 1995: 40). Medien beeinflussen die Art und die Funktionsweise unserer Wahrnehmungen, da ihre Inhalte von der Form dominiert werden. Entscheidend sind die persönlichen und sozialen Auswirkungen von Medien, die sich aus ihrer Anwendung ergeben. Dabei ist bei McLuhan der Begriff des „Mediums“ weit gefasst: nicht nur Kommunikations-medien wie Radio, Fernsehen, Film etc. fallen darunter, sondern auch Geld, Transportwege, Kleidung oder sogar das Wetter. Medien sind Ausweitungen oder Verstümmelungen des menschlichen Körpers, der mit ihrer Hilfe erweitert, korrigiert und vervollständigt wird. Mensch und Medien bilden ein geschlossenes System, das von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt ist. McLuhan geht wie Innis davon aus, dass alle Zeitalter und Kulturen ihre bevorzugten Wahrnehmungs- und Erkenntnismodelle haben, welche wiederum von den jeweils aktuellen Medien geprägt werden. Im Gegensatz zu Innis, dessen Hauptaugenmerk auf sozialen, wirtschaftshistorischen und macht-politischen Entwicklungen liegt, interessiert McLuhan aber besonders das Zusammen-spiel zwischen Denken, Fühlen, Wahrnehmung und den jeweils dominierenden Medien.

In „Die Gutenberg-Galaxis“ liefert McLuhan eine Darstellung der Schriftkultur und des Druckwesens vom Altertum bis zur frühen Neuzeit. Er teilt die Mediengeschichte in vier Epochen ein, die jeweils durch ein Primärmedium beherrscht werden: die orale Stammeskultur, die literale Mauskript-Kultur, die mechanische Gutenberg-Galaxis als Kultur des Buchdrucks und das elektronische Zeitalter. Für die Zäsur zwischen den einzelnen Zeitabschnitten ist jeweils ein bestimmter Medienumbruch verantwortlich. Dabei werden speziell die kulturellen Folgen der Schriftkultur untersucht und erklärt, „warum die Wirklichkeitserfahrung der westlichen Welt so stark vom Sehsinn geprägt war. Das Buch geht davon aus, dass die Stammesgemeinschaft die normale Form des menschlichen Zusammenlebens ist, die im Westen jedoch durch die Erfindung des phonetischen Alphabets zerstört wurde und so nur im Westen vorhanden war.“ (Marchand 1999: 224). Auch in dem zwei Jahre später erschienenen „Understanding Media: The Extensions of Man“ (dt. „Die magischen Kanäle“) untersucht er den Einfluss der Medien auf die Formen der Wahrnehmung, des Denkens, der alltäglichen Erfahrung sowie auf Politik und Geschichte. McLuhan vertritt die Auffassung, dass die jeweiligen Medien, die in einer Gesellschaft vorherrschen, maßgeblich die Denkweisen der Gesellschaftsmitglieder beeinflussen und prägen.

2.3.1 Die Orale Kultur

McLuhan bezeichnet orale Kulturen als eine „Welt der Ohren“ (McLuhan 1995a: 22), denn die gesprochene Sprache ist das vorherrschende Medium. Sowohl Kommunikation als auch Wissensüberlieferung finden sprachlich statt. Das Medium Sprache beeinflusst dabei auf ganz eigene Art das Denken und die Wahrnehmung der Menschen: „Jede Muttersprache lehrt ihre Kinder, die Welt in einer ganz einmaligen Weise zu sehen und zu spüren und in ihr zu handeln.“ (McLuhan 1995b: 127). Sprache prägt das Denken der Menschen in jeder Kultur. Dabei ist eine Kommunikation auf vorwiegend akustischer Ebene durch Dynamik, Diskontinuität und Simultaneität bestimmt: Töne werden im Vergleich zu optischen Eindrücken anders rezipiert. Die Orientierung anhand des Gehörsinnes richtet sich daher nach „anderen Regeln als den visuellen Prinzipien der Kausalität“ (Kloock/Spahr 1997: 60). Diese Kommunikation ist durch das simultane Hören vieler Töne und Geräusche gekennzeichnet. In oralen Kulturen überwiegt die face-to-face-Kommunikation. Da keine Schriftsysteme bekannt sind, funktionieren Kommunikation und Informationsspeicherung über mehrere Sinne. Das gesprochen Wort impliziert Mimik und Gestik, Gesichts- und Tastsinn werden angesprochen. Auch die Organisation des Wissens wird ohne die Hilfe des Speichermediums Schrift auf eine ganz eigene Art vollzogen. Da die Verbreitung von Information nur mündlich erfolgt, ist die korrekte Verbreitung von Tatsachen nicht zweifelsfrei zu sichern. Wissen wird als Gerücht, Mythos oder Sage übermittelt; die Authentizität der Nachricht bleibt an die Person gebunden, welche die Nachricht übermittelt. Zur Absicherung der Wiedergaben-treue werden mnemotechnische Verfahren angewendet. Zusätzlich existiert die Möglichkeit der „metakommunikativen Absicherung durch Beweispflichten des übermittelnden Boten (z.B. Verwendung von Siegeln, Glaubwürdigkeit durch persönliche Bekanntheit des Boten usw.). Der Mangel an Authentizität und Glaubwürdigkeit verstärkt Tendenzen zur allfälligen Erzeugung und Weitergabe ungesicherter Informationsangebote“ (Merten 1999: 194). Aus diesen Gründen wird die Überlieferung relevanten Wissens dadurch gesichert, dass bestimmte Personen es auswendig lernen müssen. Gesetze, Mythen oder Stammbäume einer Gesellschaft bleiben dadurch personenabhängig in Erinnerung.

Die zugehörige Gesellschaft organisiert sich in Stämmen oder Clans. Die Mitglieder dieser relativ kleinen Gruppen sind durch ihre wechselseitige Abhängigkeit bestimmt, denn orale Kommunikation benötigt einen oder mehrere direkte Kommunikations-partner und deren Beteiligung am Gespräch. Die Größe eines Clans oder Stammes ist durch den Radius der Wahrnehmbarkeit ihrer Mitglieder begrenzt (vgl. Wilke 2000: 4). Entscheidungen, die für die gesamte Gemeinschaft relevant sind, müssen verbal kommuniziert werden, indem alle Mitglieder der Gruppe anwesend sind. Die orale Kultur endet mit der Erfindung der Schrift.

2.3.2 Die Skriptographische Kultur

Auch wenn häufig weder in der Alltagssprache noch in der Fachliteratur ein Unterschied zwischen handschriftlichen und gedruckten Medien gemacht wird (vgl. Giesecke 1991: 29), unterscheidet McLuhan ausdrücklich die Funktionen der skripto-graphischen und der typographischen Medien. Durch die Erfindung der Schrift[2](und besonders durch die Verwendung des phonetischen Alphabets) wird dem Menschen „ein Auge für ein Ohr“ (McLuhan 1995a: 33) gegeben, die visuelle Wahrnehmung wird zum beherrschenden Modus. Besonders durch die Institutionalisierung der Alphabet-schrift verliert das Ohr als Erkenntnisorgan gegenüber den Augen an Bedeutung. Das vormalige Chaos der Geräusche weicht der Ordnung, denn „der visuelle Wahrnehmungskanal ist linear und kausal zurechenbar, [...] weil er das Erkennen von Struktur (Regeln, Gesetzmäßigkeiten) fördert“ (Merten 1999: 465). Schrift wird zu Beginn nicht als autonomes Kommunikationsmittel verwendet, sondern als Gedächtnisstütze benutzt. Durch die Schrift geht das vormals personengebundene Wissen in das Buch über. Damit wird eine neue Mnemotechnik eingeführt, welche als Gedächtnisspeicher schriftverwendender Gesellschaften das Erinnern personen-unabhängig werden lässt. Giesecke deutet die skriptographischen Medien als „Verstärker der oralen Informationsverarbeitung und -verbreitung“ (Giesecke 1991: 30). Durch den Einsatz der Schrift ließen sich die oralen Kommunikationsformen perfekt unterstützen. Eine Rede konnte vor dem Vortrag vom Redner niedergeschrieben, überarbeitet und einfacher vorgetragen werden als wenn der Redner seine Worte nur im Gedächtnis gespeichert hätte.

Mit der Einführung von Schriftsystemen entsteht eine asymmetrische Form von Kommunikation, in der Sender und Empfänger räumlich und zeitlich voneinander getrennt sind. „Sie überwindet nicht nur die räumlichen Grenzen der unmittelbaren Kommunikation, sondern auch die zeitlichen in einem spezifischen Sinne“ (Klix 1993: 252). Die Interaktionsmöglichkeiten der mündlichen Rede sind nicht mehr gegeben. Somit hat die Schrift „eine Reihe von Trennungen eingeführt: zwischen Wissen und Wissendem, Sprache und Stimme, Zeichen und Körper“ (Assmann 2002). Die Eindeutigkeit der Buchstaben ermöglicht und befördert definitorische Verfahren, der Mythos der Stammesgesellschaft verliert allmählich seine Bedeutung. Wissen kann nun auf Trägermedien gespeichert werden und ist somit auch über eine längere Zeit immer wieder abrufbar. Dadurch kann Wissen ‚angehäuft’ werden und logisches Denken (nach unserem abendländischen Verständnis) entstehen.

Die Zeit zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert deutet Marshall McLuhan als eine Phase des Übergangs von der Kultur des Sprechens und Hörens zu einer Kultur des Lesens und Sehens in Europa (vgl. Schöttker 1999: 141). Da Manuskripte mühsam in Handarbeit verfasst und vervielfältigt werden, ist es nur einer bestimmten Elite vergönnt, Lesen und Schreiben zu lernen. Priester und Mönche, Kopisten und Schriftgelehrte besitzen das „Monopol des Wissens“ (Maresch 1997). Lesen ist in dieser Epoche ein aktiver gesellschaftlicher Akt: Manuskripte müssen vor Publikum laut gelesen werden, der Redner wird zum ‚Vorleser’. „Die Handschriften […] wurden laut gelesen, und Dichtung wurde rezitiert. Redekunst, Musik, Literatur und Zeichnen waren eng verbunden“ (McLuhan 1995b: 245). Die oralen Medien dominieren weiterhin den Großteil der gesellschaftlichen Kommunikation. Alle Formen der gesellschaftlichen Veröffentlichungen sind auf die gesprochene Sprache angewiesen (vgl. Giesecke 1990: 85). Trotzdem wird die Stammeskultur durch das Alphabetentum allmählich zerstört, der Einzelne „aus dem Trancezustand der nachhallenden Wortmagie und der Sippenbindung des Stammes befreit“ (ebd.: 133).[3]Durch die Einführung der Schrift lässt sich der Radius einer Gesellschaft beliebig vergrößern, da man zur Kommunikation von gesellschaftlich bedeutsamen Ereignissen nicht mehr auf die gleichzeitige Anwesenheit aller Gesellschaftsmitglieder angewiesen ist.[4]Die Hand-schriftkultur wird allmählich durch den Buchdruck beendet.

2.3.3 Die Typographische Kultur

Durch die Erfindung des Buchdrucks (um das Jahr 1450) wird der Akt des Schreibens mechanisiert. Bücher werden nicht mehr mühsam handschriftlich verfasst, sondern industriell produziert. Die Produktion von Büchern läuft nun schneller und billiger, der Buchdruck produziert eine Vielzahl neuer Buchtitel und -gattungen. McLuhan fasst die Typographie „nicht als eine völlig neue Phase in der Geschichte der Medien, sondern als Weiterführung der Schrift auf“ (Schöttker 1999: 142). Durch den Einsatz von Druckmaschinen wird das Schriftbild vereinheitlicht. Die „Gutenberg-Galaxis“ zeichnet sich durch Wiederholbarkeit und Präzision aus (vgl. McLuhan 1995b: 264), es entstehen allgemeingültige Regeln für Rechtschreibung und Schriftbild.

Durch das Rezipieren von gedruckten Büchern wird nach McLuhan hauptsächlich der visuelle Sinn angesprochen; die anderen Sinne verlieren an Bedeutung. Der Mensch erlebt seine Welt nun primär visuell. Durch die Ausweitung des Sehvermögens verstärkt der Buchdruck die Perspektive der linearen Anordnung der Welt. Auf individueller Ebene folgt aus der Gutenbergschen Erfindung die Fähigkeit der Distanzierung und des „Unbeteiligtseins“ des Einzelnen. Der Mensch kann „handeln, ohne zu reagieren“ (ebd.: 265) und ist somit in seinem Handeln frei von Fühlen und Empfinden. Auf diese Weise wird die Form der Argumentation und ihrer Logiken geändert. Mit Hilfe der typographischen Speicher sind nunmehr systematische Beweisketten möglich. „Das formal-logische Denken, die moderne Mathematik und ihre kulturell bedeutsame Verbreitung für die Naturwissenschaften ist ohne das typographische Gedächtnis nicht vorstellbar“ (Dörk 2003). Das Zeitalter der Mechanisierung beeinflusst das menschliche Denken, welches nun vollständig durch Linearität und Kausalzusammenhänge geprägt ist.

Auch die Gesellschaftsformen passen sich der Normierung des Buchdrucks an: McLuhan begreift den Buchdruck als eine Ursache für Nationalismus, Industrialisierung und Alphabetisierung der breiten Masse. „Die typographischen Grundsätze der Uniformität, Kontinuität und Linearität hatten die komplexen Formen der alten feudalen und oralen Gesellschaftsordnung überlagert“ (McLuhan 1995b: 32). McLuhan sieht die zunehmende Mechanisierung und die technischen Modernisierungen der Neuzeit als eine direkte Folge der Erfindung der Druckerpresse: „Der Buchdruck mit beweglichen Lettern stellte die erste Mechanisierung eines schwierigen Handwerks dar und wurde zur Grundform jeder weiteren Mechanisierung“ (ebd.: 261). Durch die unkomplizierte Reproduzierbarkeit wird die Fähigkeit des Lesens nicht mehr einer Elite vorenthalten, die Beherrschung der Techniken Lesen und Schreiben wird allmählich zur Selbst-verständlichkeit. Dies lässt sich als eine neue Möglichkeit der „Demokratisierung von Wissen“ deuten, durch die eine informierte, literarische Öffentlichkeit entsteht. „Je weiter verbreitet die Schriftbeherrschung ist, umso mehr Menschen können an Entscheidungsprozessen teilnehmen“ (Giesecke 1991: 187).

Die Menschen erhofften sich durch die Erfindung des Buchdrucks eine Überwindung der Zeit: „Diese von den Humanisten getragene Utopie des Druckmediums erkannte in der zerdehnten Kommunikationssituation keine kategoriale Trennung von Sender und Empfänger, sondern eine spektakuläre zeitliche Ausweitung des Kommunikations-horizonts und die Ermöglichung von Interaktion in einem ganz neuen virtuellen Zeit-Raum über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg“ (Assmann 2002). Zum ersten Mal wurden die Texte antiker Autoren durch den Druck philologisch aufbereitet und den neuzeitlichen Lesern zugänglich gemacht. Dadurch entstand bei vielen Humanisten die Illusion einer direkten Interaktion zwischen diesen Autoren und den Lesern. Die Überwindung der Zeit durch die Möglichkeiten des Buchdrucks betonte beispielsweise Francis Bacon, der die Buchstaben dafür gepriesen hatte, „dass sie wie die Schiffe der großen Entdecker zwischen den Jahrhunderten hin und her segeln und den Reichtum des Wissens von einer Zeit zur anderen befördern“ (ebd.). Die Utopie des Druck-zeitalters entwirft eine virtuelle Zeit, in der Kommunikation über Epochen hinweg möglich wird. Die typographische Kultur endet mit der Erfindung der Elektrizität.

2.3.4 Die Elektronisch-Digitale Kultur

Anfang des 20. Jahrhunderts bricht die Elektrizität in die Gutenberg-Galaxis ein. Mit der Entdeckung des gekrümmten Raums 1905 durch Einstein wird „die Gutenberg-Galaxis offiziell aufgelöst“ (McLuhan 1995a: 314). Die neuen elektronischen Medien lösen das typographische Medium des Buchdrucks ab und beenden das Zeitalter der Buch- und Schriftkultur.

McLuhan erwartet durch den Einbruch der elektronischen Medien in die Gutenberg-Galaxis einen tief greifenden Wandel der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit. Denn er versteht Elektrizität als eine der wichtigsten Expansionen des menschlichen Körpers: „Mit dem Aufkommen der Elektrotechnik schuf der Mensch ein naturgetreues Modell seines eigenen Zentralnervensystems, das er erweiterte und nach außen verlegte“ (McLuhan 1995b: 76). Die Turing-Galaxis als Zeitalter der neuen Medien ist aufgrund ihrer elektronischen Struktur von Querverbindungen und Vernetzungen geprägt, durch welche die Linearität des Buchdrucks aufgehoben wird. Der vormals dominierende visuelle Sinn verliert seine tragende Rolle, der Mensch benutzt von neuem alle Sinne gleichermaßen. „Es ist nicht mehr möglich, die erhabene und distanzierte Rolle des alphabetisierten Menschen weiterzuspielen“ (ebd.: 17). Wurde durch Schrift und Buchdruck die Welt komplexer und weitläufiger, wird sie nun durch die elektronischen Medien wieder minimiert: „Nach einem 3000 Jahre währenden Zeitraum der Explosionen treten wir nun in das Zeitalter der Implosion. Das elektronische Feld der Simultanität verbindet jeden einzelnen mit jedem anderen“ (McLuhan/Powers 1995: 132). Telefon, Funk, Fernsehen und Film prägen die Turing-Galaxis und verbinden die Menschen miteinander, so dass jede individuelle Handlung inklusive ihrer Auswirkungen von Jedem miterlebt werden muss. Der Mensch lebt nicht mehr für sich, sondern in einer großen Gemeinschaft: im „globalen Dorf“. Denn das elektronische Zeitalter verspricht die Wiederkehr der mündlichen Kultur mit anderen Mitteln, die menschliche Gesellschaft rückt mit Hilfe der Elektrizität wieder enger zusammen, wie zu Zeiten der archaischen Stammesgesellschaften. Da Elektrizität die Möglichkeit bietet, mit den Dingen direkt in Kontakt zu treten, ist sie nur „zufällig visuell und auditiv; sie ist in erster Linie taktil“ (McLuhan 1995b: 379). Die Literalität, die durch Alphabet und Buchdruck die Gesellschaft geprägt hat, wird durch die neuen Medien teilweise aufgehoben. Radio und Fernsehen bedingen ein anderes Rezipieren als die Schrift: „Telefon, Funk, Film und Fernsehen sind mediale Brüche, die sich von der Schrift differenziert und fortentwickelt haben“ (Dörk 2003). So bezeichnet McLuhan beispielsweise das Radio als „Stammestrommel“, als eine Erweiterung des menschlichen Nervensystems, welche die Menschen in die Stammesgesellschaft zurückführt. „Die unterschwelligen Tiefen des Radios sind erfüllt vom Widerhall der Stammeshörner und uralten Trommeln.“ Information wird beschleunigt, das Radio lässt „unersättlich dörfliche Bedürfnisse nach Klatsch, Gerüchten und persönlichen Bosheiten aufkommen“, weckt „alte Erinnerungen, Kräfte und Gefühle“ und ist als elektrisches Medium „eine dezentralisierende und pluralistische Kraft“ (McLuhan 1995b: 450-465). Das Radio führt zurück in eine neue Form von Oralität, es simuliert eine direkte Kommunikation von Mensch zu Mensch und spricht erneut den auditiven Sinn an.

Die neue Medienrevolution durch die digitalen Medien hat Marshall McLuhan nicht mehr erlebt. Trotzdem kann man auch diese „digitale Kultur“ im Hinblick auf seine Medientheorie bewerten, führt sie doch die Prognosen und Visionen der Turing-Galaxis fort. „Spätestens die mediale Erweiterung der Sinne über Kabel- und Funk-verbindungen, ausgebaut durch die Verschmelzung von Informatik und Medientechnik mit ihren zuvor ungeahnten Möglichkeiten zeitlich-räumlicher Omnipräsenz von Informationen, ihre Speicherbarkeit und willkürliche Gestaltbarkeit, verwandelt die Welt in Richtung eines vernetzten globalen Dorfes“ (Dörk 2003). Durch die zunehmende Digitalisierung der Medien, wie Radio, Fernsehen, Video etc. lassen sich diese auf ganz neue Art und Weise nutzen und miteinander vernetzen. Besonders durch die Verwendung des PC und die Nutzung des Internet lässt sich ein weiterer Schritt in die Richtung der Vision „globales Dorf“ beobachten. Die Utopie der digitalen Medien entwirft einen virtuellen Raum, in dem Kommunikation über große Entfernungen hinweg möglich wird. Der Computer dient als Universaltechnik zur Verarbeitung und Speicherung von Information, so dass man nach der Etablierung des Buchdrucks von einer neuen Epochenschwelle sprechen kann. Welche Auswirkungen die digitalen Medien, insbesondere das Internet, auf das Denken der Menschen haben, wird im Verlauf dieser Arbeit noch zu klären sein.

2.4 Zusammenfassung

Welche einschneidenden gesamtkulturellen Folgen der Wechsel eines Primärmediums hat, lässt sich deutlich an den mediengeschichtlichen Paradigmenwechseln zeigen. Dabei ist für die Definition des jeweils neuen Mediums die Abgrenzung zum zuvor das Zeitalter bestimmende Medium entscheidend. Die Leistungen der Schrift lassen sich im Vergleich zur reinen Mündlichkeit am deutlichsten aufzeigen; die Vorteile der Drucker-presse werden evident, wenn man sie im Gegensatz zur Handschrift betrachtet.

„Denn für die Definition und Selbstbeschreibung jedes neuen Mediums spielt die Dramatisierung des Gegensatzes zum vorangehenden Medium eine zentrale Rolle. Die Leistungen des elektronischen Mediums pflegen deshalb als Überwindung des Gutenbergzeitalters und Restitution dessen gefeiert zu werden, was die Druckkultur ihrerseits überwunden hatte“ (Assmann 2002).

Dabei ist nochmals zu betonen, dass die alten Medien in den meisten Fällen nicht von den neuen verdrängt, sondern neben ihnen weiter genutzt werden. Die im Laufe der Geschichte entstandenen Medien existieren zum großen Teil noch heute, erfüllen aber jeweils spezifische und sich wandelnde Funktionen.[5]Die Problematik des Aufeinander-treffens von oraler Kultur und digitalen Medien ist evident: Die oralen Gesellschaften sind stark von dem Fehlen jeglicher externer Speichertechniken geprägt. Die digitalen Techniken treffen damit auf Denkstrukturen, die durch eine reine Mündlichkeitskultur geprägt sind. Dieses Aufeinandertreffen von oralen Gesellschaften und digitalen Medien muss aufgrund der unterschiedlichen Kommunikationskulturen Differenzen mit sich bringen.

3 Leben ohne Schrift - Orale Kulturen

3.1 Einleitung

Als „Orale Kulturen“ definiert man Gesellschaften, deren Sprache nicht verschriftet worden ist. Sowohl Kommunikation als auch Wissensbewahrung funktionieren in oralen Kulturen ohne schriftliche Fixierung. Obwohl in allen Gesellschaften orale Kommunikationsformen existieren, sind diese in den wenigsten Fällen zentral für den gesellschaftlichen Alltag. Orale Gesellschaften hingegen sind vollständig auf das akustische Medium der mündlichen Sprache angewiesen. Orale Kulturen weisen tiefgreifende Unterschiede zu Kulturen mit Schriftsystemen auf und sind durch bestimmte Merkmale und Besonderheiten gekennzeichnet.

3.2 Soziales Gedächtnis

In einer Kultur, in der die Übermittlung von Wissen und Tradition ohne externe Speichermedien funktionieren muss, wird das soziale Gedächtnis, also die Vergangenheit und Geschichte der Gesellschaft, personengebunden überliefert. Die Eigenschaften oraler Kulturen lassen sich unter Berücksichtigung der Begriffes der „mémoire collective“ präziser darstellen. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs war der Erste, der in den 20er Jahren die gesellschaftlichen Rahmen-bedingungen des Gedächtnisses untersuchte (vgl. Burke 1991). Er wies darauf hin, dass Gedächtnis ein Konstrukt sozialer Gruppen ist. Es ist folglich kein neuronales oder psychisches, sondern vorwiegend ein gesellschaftliches Phänomen, welches nicht allein im einzelnen Menschen als individueller Erinnerungsspeicher entsteht, sondern innerhalb eines Gesellschaftssystems durch und in Kommunikation zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft (vgl. Halbwachs 1967). Zwischen dem sozialen Gedächtnis und einer Gemeinschaft besteht eine enge Wechselbeziehung: beide existieren und funktionieren miteinander durch Kommunikation. Das Kollektiv-gedächtnis haftet an seinen Trägern, es ist nicht beliebig übertragbar. Wer an ihm teilhat, bezeugt damit seine Gruppenzugehörigkeit. Die Eigenart und das Bestehen der Gesellschaft werden garantiert, indem nur das aus der Vergangenheit bewahrt wird, was sinnvoll und bedeutsam für die Existenz der Gesellschaft ist. Das kollektive Gedächtnis ist „nicht als Speicher für vergangene Zustände oder Ereignisse zu verstehen. Vielmehr geht es um ein laufendes Diskriminieren zwischen Vergessen und Erinnern“ (Luhmann 1996: 76). Was erinnert wird, entscheiden die Relevanzrahmen, die in einer Gesellschaft gültig sind. Erinnerungen sind folglich abhängig von der gesellschaftlichen Organisation ihrer Weitergabe und von den dabei genutzten unterschiedlichen Medien. Die soziale Gruppe bestimmt darüber, was wert ist, erinnert zu werden. Auf welche Weise das relevante Wissen von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, hängt dabei von den technischen Mitteln ab, die der Gesellschaft zur Speicherung der Erinnerungen zur Verfügung stehen: Medien wie Schrift oder Buchdruck bieten andere Möglichkeiten der Wissenskonservierung als mündliche Überlieferungen. Das kollektive Gedächtnis einer oralen Kultur unterscheidet sich augrund seiner Speicher-möglichkeiten von dem literalisierter Gesellschaften. Ohne Hilfe der Schrift ist das soziale Gedächtnis relativ kurz: es erstreckt sich in oralen Kulturen in der Regel nur über drei bis vier Generationen. Die darüber hinausgehende Erfahrung wird in mystischen Erzählungen tradiert. Vergangenheit und Gegenwart sind so stark miteinander verflochten, dass kein historisches Bewusstsein entstehen und die geschichtlichen Entfernungen nicht erinnert werden kann: „Das Vergangene existiert als Komponente des Gegenwärtigen“ (Rösler 1993:114).

Die Kommunikationsmedien oraler Kulturen begründen folglich ihre Vorstellung einer kreisläufigen Zeit. Goody und Watt gehen davon aus, dass sich ohne schriftliche Aufzeichnung kein historisches Empfindungsvermögen, kein Geschichtsbegriff und auch keine Vorstellung konstanter Raum-Zeit Relationen entwickeln können. Die zyklische Zeitvorstellung betont die Wiederholbarkeit aller Geschehnisse. „Wenn man Zeit als das ‚Maß der Veränderung’ definiert, ist dieses Maß [...] traditionellerweise nicht wie in der westlichen Überlieferung von der abstrakten Gleichförmigkeit des Zählens von Sekunden, Minuten etc., sondern von konkreten Abläufen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens bestimmt“ (Mabe 2001: 701). Von Bedeutung sind immer wiederkehrende Ereignisse wie Geburt und Tod, Regen- bzw. Trockenzeit oder die Bewegungen der Gestirne. Die Vergangenheit wird fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Gegenwart gesehen. Erst durch die Linearität der Schrift entsteht die Vorstellung eines linearen Zeitverlaufs. Aus dieser physikalischen oder natur-wissenschaftlichen Perspektive wird Zeit als eine ins Unendlich reichende Linie verstanden, auf der Zeitpunkte oder Zeitspannen festgelegt werden können. Die Nutzung der Schrift hat eine „neue Zeiterfahrung zur Folge, nämlich die einer linearen Zeit, eines Stroms des unwiderruflichen Fortschritts, der dramatischen Unwieder-holbarkeit, des Entwurfs: kurz der Geschichte“ (Flusser 1997: 26). In dieser Vorstellung existieren die verschiedenen Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nach dem linearen Zeitverständnis muss deswegen die zur Verfügung stehende Zeit in der Gegenwart genutzt werden, da sie ansonsten unwiederbringlich vorbeigezogen ist. Die nichtlineare, zyklische Zeitkodifizierung lässt sich nicht mehr aufrecht erhalten, wenn historische Ereignisse mit Hilfe der Schrift fixiert werden.[6]

3.3 Orale Poetik

Da oralen Kulturen die Schrift als Speichertechnik fehlt, liegt nun die Frage nah, auf welche Weise und mit welchen Mnemotechniken die Menschen in schriftlosen Gesellschaften ihr Wissen bewahren. Der Altphilologe Milman Parry gilt als der Begründer der „Oral-Poetry-Forschung“, die sich mit den Techniken und Regeln mündlicher Kompositionen beschäftigt. Er konnte nachweisen, dass die homerischen Epen, die „Ilias“ und die „Odyssee“, ursprünglich mündliche Dichtungen waren, die erst Jahrhunderte nach Homer aufgezeichnet worden waren. Anhand dieser Epen untersuchte er die Techniken des Memorierens und des Vortrages in schriftlosen Gesellschaften.

Er belegte, dass sich orale und literale Kulturen nicht nur in der Art der Wissensüberlieferung unterscheiden, sondern auch unterschiedliche Denkstrukturen hervorbringen: Die orale Gedankenwelt gründet auf formalisierten Denkmethoden. Jedes charakteristische Merkmal der homerischen Dichtung lässt sich mit oralen Kompositionsregeln begründen. Eine wichtige Mnemotechnik ist beispielsweise die Verwendung von Hexameterversen. Durch den regelmäßigen Rhythmus des Textes ist es einfacher, sich an die Elemente des Textes zu erinnern bzw. sie vorzutragen. Diese Mnemotechnik, die Worte und ihre Stellung innerhalb einer Syntax nach rhythmischen Formeln zusammenfasst, ist auch in heutigen oralen Kulturen noch gegenwärtig. Homers Hexameter bestehen aus einer Reihe von Formeln, aus Gruppen von Worten, die bestimmte Themen umfassen. Der Text wird dementsprechend aus bestimmten Phrasen „zusammengestückelt“. Der Dichter besitzt einen Fundus an feststehenden Phrasen, der es ihm ermöglicht, metrisch korrekte Verse herzustellen und jeweils neu zusammenzufügen. Besondere Bedeutung gewinnen dabei die Epitheta. In oralen Kulturen haben sich bestimmte zusammengefügte Ausdrücke im Laufe der Generationen herausgebildet. „Odysseus ist ‚polymetis’ (klug), nicht nur, weil ihn dieses Attribut charakterisiert, sondern weil er ohne dieses Epitheton nicht ins Versmaß passen würde“ (Kloock/Spahr 1997: 241). Diese Epitheta werden auch heute noch in oralen Kulturen verwendet. Der regelmäßige Rhythmus der Verse legt die Vermutung nahe, dass der Erzähler seinen Vortrag mit Musik und Tanz untermalte, wie es auch in heutigen oralen Traditionen Brauch ist. Parrys Forschungen beweisen, dass sich Wissen in oralen Gesellschaften durch einfache Mnemotechniken über Jahrhunderte bewahren und überliefen lässt. Seine Theorien kann er durch ethnologische Feldforschungen an lebendigen epischen Traditionen in Jugoslawien empirisch belegen.

3.4 Orale Noetik

Ausgehend von diesen grundlegenden Untersuchungen zu Charakteristiken oraler Gesellschaft äußerte sich in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts ein verstärktes interdisziplinäres Interesse an der Erforschung von oralen Kulturen. McLuhans Gedanke der Medienabhängigkeit des Denkens ließ die orale Poesie, die bis dahin ausschließlich Forschungsfeld von Philologen und Ethnologen war, auch für philosophische und wissenssoziologische Bereiche interessant werden. Unabhängig voneinander erschienen zahlreiche Werke, die sich alle aus verschiedenen Ansätzen heraus mit der Bedeutung von Oralität und Literalität für die menschliche Kultur befassten. Eric A. Havelock (1963/1990) beschäftigte sich als einer der ersten Wissenschaftler mit Fragen der oralen Noetik. Ihn interessierte, wie sich die mentalen Strukturen des oralen Denkens beschreiben lassen, „wie das Schreiben das Denken verändert bzw. was sich über ein Denken sagen lässt, welches das Schreiben nicht kennt“ (Kloock/Spahr 1997: 242). Die Wandlungen der konnektiven Strukturen einer Gesellschaft werden durch die Auswirkungen medientechnologischer Veränderungen wie Schriftgebrauch und Buchdruck erklärt. Demzufolge würde das Denken in oralen Kulturen anderen Abläufen folgen und durch andere Eigenschaften charakterisiert werden können als das Denken in literalen Kulturen. Havelock untersuchte das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der griechischen Kultur, um die mentalen Strukturen des „oralen Denkens“ zu ergründen. In „Preface to Plato“ (1936) überträgt er Parrys Erkenntnisse über Oralität in der epischen Erzählung auf die Gesamtheit der antiken griechischen Kultur und weist nach, dass die griechische Gesellschaft zu Zeiten Homers ausschließlich oral organisiert war. Da die Dichtungen in schriftlosen Kulturen die einzigen Organisationsformen des kollektiven Wissens sind, werden die Dichter zu geistigen Führern. Das Wissen existiert allein im Dichter und wird in Festen, Riten und Feiern vor Publikum inszeniert und in Kommunikation mit den Zuhörern rezipiert. Durch dieses gemeinschaftliche Ereignis wird zum einen das kollektive Gedächtnis stabilisiert, zum anderen werden aber auch Distanzlosigkeit, Unmittelbarkeit und Emotionalität der oralen Gesellschaft begründet. Denn die moralischen Prinzipien, die der Dichter vorträgt, werden zwar vom Publikum aufgenommen und wiederholt, aber nicht kritisch hinterfragt, da der Vortrag keine Distanz bezweckt. Havelock folgert daraus, dass einer oralen Kultur jede Fähigkeit zu kausalem Denken oder zur Abstraktion fehlt: Im präliteralen „State of mind“ dominieren Bildhaftigkeit und Emotionalität. Unwetter, Stürme oder andere Natur-ereignisse werden als persönliche Handlungen und Entscheidungen der Götter interpretiert. „Anstelle von Kausalrelationen werden konkrete Handlungen gesetzt, dargestellt als Entscheidungen von Personen und von diesen Personen als Handelnden vollzogen. [...] Der Geist ist der übermenschlichen Mühe enthoben, Ereignisse und Gegenstände in Kausalreihen anzuordnen, die er sich dann merken müsste“ (Havelock 1990: 114). Menschen in schriftlosen Kulturen denken folglich nicht über komplexe Ursache-Wirkungsprinzipien nach. „Da einer oralen Kultur also jede Fähigkeit zu einem kausalen Denken oder zur Abstraktion fehlt, wird sie niemals große technische Leistungen hervorbringen“ (Kloock/Spahr 1997: 243).[7]Orale Kulturen besitzen dementsprechend keine analytischen Kategorien, wie sie eine Schriftkultur kennt. Ihr gesamtes Wissen strukturiert sich aus gelebter Erfahrung.

[...]


[1]vgl. Faulstich 2000

[2]Bis heute weiß man nicht genau, wann und wo die Schrift erfunden worden ist. Vermutlich geschah dies unabhängig voneinander an verschiedenen Orten.

[3]Giesecke betont allerdings, dass die skriptographische Informationstechnologie allein nicht für die Auflösung der oralen Kultur verantwortlich gemacht werden kann. „Die Einführung der Schrift führte weder praktisch noch im Bewusstsein der Zeitgenossen zur Verdrängung der oralen Formen der Abwicklung sozialer Geschäfte. Weiterhin verknüpfte man Wahrheit und Diskurs miteinander, die höchste >erhabenste< Form der Verkündigung göttlicher Weisheiten blieb auch nach Thomas von Aquin die Predigt“ (Giesecke 1991: 33).

[4]Wie bei jedem neuen Medium finden sich auch für die Schrift sowohl Befürworter als auch Gegner, welche die Folgen des Neuen auf unterschiedliche Weise voraussehen. Der wohl bekannteste Kritiker der Schrift ist der Philosoph Platon. Er befürchtete eine Schwächung des Gedächtnisses, eine Verfälschung der Wahrheit, die unkontrollierte Verbreitung von Wissen und die Bedrohung der Interaktion mündlicher Rede durch die Schrift. Befürworter der Schrift lobten die Entlastung des Gedächtnisses, durch die der Leser in die Lage versetzt wird, den fixierten Text immer wieder neu zu deuten, anstatt ihn „nur“ auswendig lernen zu müssen.

[5]Außerdem geht mit der Evolution von Kommunikation eine Beschleunigung der Entwicklung einher. „In immer kürzerer Zeit entstehen immer mehr Medien und umgekehrt: Je mehr Medien entstehen, umso schneller entstehen noch mehr Medien. Diese Tendenz lässt sich bei genügendem zeitlichen Abstand sehr deutlich wahrnehmen“ (Merten 1994: 153).

[6]Zum Thema „Zeit“ und „Zeitbegriffe“ vgl. Zimmerli/Sandbothe (1993).

[7]Diese Beurteilung des eingeschränkten schriftlosen Denkvermögens erscheint aus heutiger Sicht etwas hart formuliert.

Ende der Leseprobe aus 111 Seiten

Details

Titel
Von der Trommel zum Internet - Die Bedeutung des Internet für die orale Kultur Namibias
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
111
Katalognummer
V24035
ISBN (eBook)
9783638270120
ISBN (Buch)
9783638713498
Dateigröße
831 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit versucht die Frage zu beantworten, ob orale Kulturen (also Kulturen ohne Schrift) die neuen Medien, speziell das Internet nutzen können. Dabei spielt die Medienabhängigkeit des Denkens nach Harold Innis und Marshall McLuhan eine Rolle, die Darstellung der Wissensbewahrung und -weitergabe in oralen Kulturen (allgemein und speziell in Namibia) und die Darstellung der kommunikativen Eigenschaften des Internet. Diese werden in Bezug gesetzt zu oralen Kulturen.
Schlagworte
Trommel, Internet, Bedeutung, Internet, Kultur, Namibias
Arbeit zitieren
Kerstin Reichwaldt (Autor:in), 2004, Von der Trommel zum Internet - Die Bedeutung des Internet für die orale Kultur Namibias, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24035

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