Zu viel Text gestern. Rainald Goetz und sein Tagebuch-Buch "Abfall für alle"


Seminararbeit, 2003

19 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung
Biografische Bezüge im Werk von Rainald Goetz

II. Hauptteil
Warum schreibt Goetz Tagebuch?
Vom Netztext zum Buch
Semantische Überlastung als Geste

III. Schluss
29.9.03

IV. Bibliografie
Primärtexte
Sekundärtexte
Internetadressen

I. Einleitung

Biografische Bezüge im Werk von Rainald Goetz

Die Biografie[1] des Autors Rainald Maria Goetz ist für die Rezeption seiner Werke von entscheidender Bedeutung. Goetz wurde 1954 in München geboren. Über seine Kindheit und Jugend ist nichts bekannt, gleichwohl sich etwa in seinem Roman Kontrolliert Hinweise darauf finden lassen, dass diese nicht besonders glücklich verlaufen sein dürfte.[2]

Von 1974 bis 1982 studierte er Medizin und Geschichte und erwarb in beiden Fächern einen Doktortitel. Später schrieb er sich zudem noch für das Studium der Soziologie ein, konnte dieses aber aus Zeitgründen nicht fortführen.[3] Bereits während seiner Studienzeit veröffentlichte er verschiedene essayistische Arbeiten, unter anderem in der Zeitschrift Spex. Mit dem damaligen Chefredakteur, dem Poptheoretiker Dietrich Diederichsen, verbindet Goetz noch heute eine Freundschaft.

1983 bewarb er sich mit seiner Kurzgeschichte Subito[4] um den Ingeborg-Bachmann-Preis. Während der Lesung des Textes verletzte er sich mit einer Rasierklinge die Stirn und las die Geschichte blutend zu Ende. Zwar gewann er den Preis nicht, schaffte er es aber dennoch, sich dem Gedächtnis der Literaturkritiker einzuprägen: Noch heute kommt nicht nur kaum ein Artikel über Goetz ohne die Erwähnung seines damaligen Auftrittes aus, manche Feuilletonisten weisen auch bereits auf die häufige Erwähnung dieses Auftrittes hin.[5]

Im gleichen Jahr erschein sein Debüt-Roman Irre[6], welcher ganze Passagen der Subito -Geschichte aufnimmt und fortführt.[7] Goetz verarbeitet darin die Erfahrungen, die er in seinem Praktischen Jahr als angehender Arzt in der Münchener Nervenklinik gesammelt hat. Bereits hier zeichnet sich ein Wirklichkeitsbezug ab, der Goetz’ Werk durchzieht, wenngleich dieser gelegentlich relativ undurchsichtig bleibt. So ist man bei der Lektüre von Irre versucht, in Dr. Raspe, der Hauptfigur, ein alter ego des Autors zu entdecken. Gleichzeitig jedoch liegt ein Jugendlicher namens Goetz in der Klinik[8], und trifft sich Raspe im dritten Teil des Buches mit einem Kollegen namens Rainald.[9]

Sein nächster Roman Kontrolliert erzählt die „Geschichte des Jahres neunzehnhundert siebenundsiebzig“[10], jenes Jahres also, in dem der RAF-Terror zu seinem Höhepunkt kam.

„Nach den Anschlägen der RAF lautete ein beliebtes Thema von Podiumsdiskussionen, Leitartikeln oder Talkshows: Wie können empfindsame und begabte junge Leute zu Terroristen werden? Goetz stellt den Gedanken kurzerhand auf den Kopf: Wie kann es sein, so fragt er, daß ein empfindsamer und begabter junger Mann angesichts des Weltzustandes nicht zum Terroristen wird – und als Beispiel präsentiert er das Schicksal eines ‚echten Terroristenfreundes’: sein eigenes.“[11]

Insbesondere der erste der drei Teile des Buches, geschrieben in einem einzigen, atemlosen Monolog ohne Absätze, konstruiert den Werdegang des „Helden“, jenes schreibenden Ich-Erzählers, der nachts allein in seinem Arbeitszimmer, seiner „Zelle“ sitzt, sich eine „Kontaktsperre“ auferlegt hat, um über seiner Doktorarbeit zu brüten und sich selbst zu ergründen[12], und lässt daher zahlreiche biografische Bezüge zu. So kann man Kontrolliert als „vielfach gebrochenen Entwicklungsroman eines vielfach gebrochenen Menschen betrachten“.[13]

Auch in Goetz späteren Büchern lassen sich Analogien zu seiner Biografie finden, wobei das Schreiben bei Goetz nicht unbedingt auf dem Leben fußen muss, sondern gelegentlich auch ein Buchvorhaben Einfluss auf sein Alltagserleben nimmt. So begann er während der Arbeit an Rave[14], im Alter von über 40 Jahren auf Raveparties zu gehen und Technoclubs zu besuchen. Wie Goetz seine „im Schnitt um fünfzehn Jahre jüngeren Partybrüder“ Westbam, Sven Väth, DJ Hell und andere, denen „der lebenstrunkene Pop-Greis [...] die Plattenkisten schleppen“[15] durfte, nahezu hymnisch feiert, mag leicht groteske Züge besitzen. Andererseits kommt er durch sein Hineinversetzen in die Zustände, die er beschreibt, seinem immer wieder betonten Streben nach einer „wahrhaftigen“ Wirklichkeitsdarstellung[16] nach, welches sich nicht nur in seiner Sprache niederschlägt, sondern auch in seiner Arbeit mit „Materialien“, Fotos und Zeitungsausschnitten, welche er in seine Texte einbindet[17], oder gleich als eigene Materialbände veröffentlicht.[18]

Aus diesem Grund zeugen wohl alle Veröffentlichungen von Goetz, vor allem jedoch jene seiner fünfbändigen Gegenwartsgeschichte Heute Morgen, „von einer Emphase [der] ‚Aktualität des Momentanen’“.[19] Diese Tendenz erreicht mit dem Text Abfall für alle zweifellos ihren Höhepunkt – auch durch Verweise auf Referenzen wie „Fichte, Brinckmann“[20], zwei Autoren, die ebenfalls eine „Grundlagenforschung der Gegenwart“ betrieben haben.[21]

Abfall für Alle kann daher als eine logische Fortführung seines bisherigen Œuvres angesehen werden. Der „Roman eines Jahres“, s eines Jahres 1998, wurde vom 30.03.1998 – „ABFALLS FIRST DAY OUT“[22] – bis in den Januar des Folgejahres hinein „7 mal 7 mal 7 tage lang“[23] fast zeitgleich mit seinem Entstehen auf der Seite www.rainaldgoetz.de publiziert.

Durch diese „endgültig komplett abstrakte Form von Veröffentlichung“[24] hat er, dem es von Anfang an um das „einfache wahre Abschreiben der Welt“[25] ging, ein so hohes Maß an Unmittelbarkeit erreicht, wie es ihm mit einem konventionell publizierten Tagebuch nicht möglich gewesen wäre: „Zum Beispiel konnte man [..] den Techno-DJ Hell live von der Loveparade in Berlin auf VIVA auflegen sehen, den Sound über die Anlage laufen lassen und gleichzeitig in Abfall für alle lesen, was Goetz über ihn schreibt“.[26]

Auf Grund seiner Disparität und des großen Umfangs des Buches kann Abfall für alle in diesem Rahmen nicht in seiner Gänze und Vielschichtigkeit behandelt werden. Es ist hier lediglich möglich, einzelne Aspekte zu beleuchten.

Anhand der Analyse wesentlicher Merkmale von Abfall für alle wird eine Abgrenzung von anderen Tagebuchprojekten der jüngeren Zeit versucht. Insbesondere auf die Aufzeichnungen von Helmut Krausser und Peter Rühmkorf bezieht er sich immer wieder. Auch die Entstehungsgeschichte seines Textes ist interessant: Wie wirkt sich das Veröffentlichen eines Textes in Fast-Echtzeit auf das Schreiben aus, und welche der an einen Netztext geknüpften Erwartungen werden erfüllt?

Im dritten Teil der Arbeit soll dann versucht werden, Abfall für alle mittels übergeordneter Gesichtspunkte untersucht werden, wie sich der Text in das übrige Werk von Rainald Goetz eingliedern lässt.

II. Hauptteil

Warum schreibt Goetz Tagebuch?

„Der Plan war ja nur gewesen, mal gucken, wie das läuft. Ganz einfach, simpel, nebenhin, Tag für Tag, geatmet wird ja auch, geschrieben, gelesen, gedacht.“[27] Mit diesen Sätzen charakterisiert Rainald Goetz sein Vorhaben eines Tagebuch-Projektes, und legt zugleich dessen wesentliche Konstanten fest: Die Aufzeichnungen sind von der Chronologie seiner Tagesabläufe bestimmt, in welchen das Schreiben, Lesen und Denken wichtige Hauptbestandteile einnehmen, und für Goetz so selbstverständlich sind wie das Atmen. Damit kommt er seinem „Lebensideal“ nach: „alles für den Text, aus der richtigen Verbindung von Leben und Arbeit heraus.“[28] Entsprechend handelt Abfall für alle über weite Strecken von eigenen und anderen Texten, von Theorien und Diskursen. Selbst alltägliche Begebenheiten werden in ein übergeordnetes Sinnsystem eingeordnet oder auf ihre Zeichenhaftigkeit hin durchleuchtet – so führt eine Äußerung des Fußballtrainers Berti Vogts zu Überlegungen zu dem „Status der Redeweise des Boulvard[s]“[29], verzweifelt er an der Neuordnung seines Bücherregals, weil er kein „System“ herstellen kann[30] – um nur zwei beliebig herausgegriffene Beispiele zu nennen.

Auch das eigene Denken stellt Goetz immer wieder im Mittelpunkt und kreist gelegentlich um sich selbst: „Und ich dachte dann, falsch, ich darf an gar nichts denken, dann wird es schon richtig, wenn nur die Reflexe reagieren. Dauerndes Umschalten, ganz automatisch, an alles denken, an nichts.“[31] Dieses „Revidieren [..], Neudefinieren“, der Versuch, „das Ich [...] sprachlich zu bewältigen“, sowie das Äußern von „Einsichten, Meinungen und Urteile[n]“ sind häufig wiederkehrende Tagebuchmotive[32]. Zahlreiche andere fehlen dagegen – sein Privatleben und seine Gefühlswelt, sobald diese nicht mit seiner Arbeit zusammenhängt, thematisiert er äußerst selten. Wo Helmut Krausser extra seinen Italienurlaub in die Zeit seines jährlichen Tagebuchmonats legt[33], sich also einen aufregenderen Alltag konstruiert, um mehr zu schreiben zu haben, lässt Goetz „Privates“ fast vollständig außen vor. Freunde etwa werden höchstens am Rande erwähnt, es sei denn, sie nehmen Einfluss auf sein Dasein als Autor, nicht auf das als Mensch. Gelegentlich nimmt er sich das Recht heraus, Aussparungen zu lassen, dem Leser einen Tag vorzuenthalten, der sich nicht in einen theoretischen Diskurs einfügen lässt: „Sonntag: Ruhetag“.[34]

[...]


[1] Vgl. zur Biografie von Rainald Goetz: Anna Opel: Sprachkörper. Zur Relation von Sprache und Körper in der zeitgenössischen Dramatik. Werner Fritsch, Rainald Goetz, Sarah Kane, Bielefeld: Aisthesis 2002, S. 87.

[2] Vgl. Uwe Wittstock: Vom Terror der Gedanken: Der Haß des Rainald Goetz und sein RAF-Buch „Kontrolliert“, in: Franz Josef Götz u.a. (Hrsg.): Deutsche Literatur 1988. Jahresrückblick, Stuttgart: Reclam 1989, S. 180-185, hier: S. 183.

[3] Vgl. Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 89.

[4] Rainald Goetz: Subito, in: ders: Hirn, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 9-21.

[5] Vgl. Peter Gendolla: „Der übrige Körper ist zur Verzierung bestimmt“. Über die Kunst der Einschreibung und den Sinn der Nachricht. Raymond Russel, Franz Kafka, Rainald Goetz, in: Ders. u. Carsten Zelle (Hrsg): Schönheit und Schrecken. Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien. Heidelberg: Reihe Siegen 1990, S. 145-166, hier: S. 164.

[6] Rainald Goetz: Irre, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986.

[7] Vgl. Goetz: Subito, S. 9; Ders.: Irre S. 107.

[8] Vgl. Goetz: Irre, S. 69-75.

[9] Vgl. Ebd, S. 260-262.

[10] Rainald Goetz: Kontrolliert, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 15.

[11] Wittstock: Terror der Gedanken, S. 182.

[12] Vgl. Goetz: Kontrolliert, S. 38-39.

[13] Wittstock: Terror der Gedanken, S. 183.

[14] Rainald Goetz: Rave, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998.

[15] Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur, Mainz: Ventil 2001, S. 124.

[16] Vgl. z.B. Goetz: Irre, S. 254; ders: Hirn, S. 108-110.

[17] Vgl. z.B. Rainald Goetz: Celebration. Bilder und Texte zur Nacht, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.

[18] Vgl. Rainald Goetz: Festung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993.

[19] Natalie Binczek: „Wo ist also der Ort des Textes?“ Rainald Goetz’ Abfall für alle, in: Peter Gendolla u.a. (Hrsg): Formen interaktiver Medienkunst. Geschichte, Tendenzen, Utopien, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 291-318, hier: 297.

[20] Goetz: Abfall, S. 654.

[21] Vgl. Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 126-127.

[22] Goetz: Abfall, S. 150.

[23] Vgl. die geringfügig andere Internet-Version von Abfall für alle, zu finden unter der URL http://textz.gnutenberg.net/textz/goetz_rainald_abfall_fuer_alle.txt (29.9.03)

[24] Goetz: Abfall, S. 150.

[25] Goetz: Subito, S. 19.

[26] Georg M. Oswald: Wann ist Literatur Pop? Eine empirische Antwort, in: Wieland u. Winfried Freund (Hrsg): Der deutsche Roman der Gegenwart, München: Fink 2001, S. 29-43, hier: S. 33.

[27] Goetz: Abfall, S. 620.

[28] Ebd., S. 465.

[29] Ebd., S. 579.

[30] Vgl. ebd, S. 77.

[31] Ebd., S. 863.

[32] Vgl. Manfred Jurgensen: Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch, Bern, Franke 1979, S. 254.

[33] Vgl. Goetz: Abfall, S. 123, zu Kraussers Tagebuchprojekt vgl. Helmut Krausser: Dezember. Tagebuch des Dezember 1999, München: belleville 1999. S. 148.

[34] Vgl. z.B. Goetz: Abfall S. 38, 750.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Zu viel Text gestern. Rainald Goetz und sein Tagebuch-Buch "Abfall für alle"
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Proseminar
Note
1,0
Jahr
2003
Seiten
19
Katalognummer
V23833
ISBN (eBook)
9783638268677
Dateigröße
515 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Vergleich des Buches von Rainald Goetz mit anderen zeitgenössischen Tagebüchern und Netzliteraturprojekten. Gleichzeitig bietet die Arbeit auch eine werkimmanente Analyse unter besonderer Berücksichtigung des Textbegriffs bei Rainald Goetz.
Schlagworte
Text, Rainald, Goetz, Tagebuch-Buch, Abfall, Proseminar
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Anonym, 2003, Zu viel Text gestern. Rainald Goetz und sein Tagebuch-Buch "Abfall für alle", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23833

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