Die gesellschaftliche Bedingtheit individueller Selbstinszenierung: Goffman und Diderot


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

22 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Diderots Konzept der individuellen Selbstinszenierung

2. Goffmans Konzept der individuellen Selbstinszenierung

3. Stärken und Schwächen der beiden Konzeptionen

4. Literaturverzeichnis

1. Diderots Konzept der individuellen Selbstinszenierung

Der französische Schriftsteller und Philosoph Denis Diderot gehört zu den bedeutendsten und herausragendsten Repräsentanten der französischen Aufklärung[1]. Der große Denker ist ein Zeitgenosse Jean-Jacques Rousseaus, von welchem er sich für sein Rollenkonzept hat inspirieren lassen. Denn auch Rousseau hat sich zu Lebzeiten Gedanken über die damalige Gesellschaft gemacht. In seiner Kultur- und Zivilisationskritik geht Rousseau davon aus, dass der Mensch ursprünglich in seinem Naturzustand ein Einzelgänger war, alle seine körperlichen Bedürfnisse befriedigen konnte und sonst auch keine anderen Bedürfnisse hatte. Mit der Zeit fanden die Menschen zueinander und es entstanden neue ‚künstliche’ Bedürfnisse (Eigentum besitzen, Familie gründen, Anerkennung erlangen...). Die Menschen gerieten in ein Abhängigkeitsverhältnis, weil nicht jeder für sich alles anbauen, entwickeln und tun konnte. Somit fingen die Menschen an, sich selbst zu inszenieren, damit sie andere dazu bewegen konnten, ihre eigenen Bedürfnisse zu stillen. Und da es eine naturgegebene Ungleichheit zwischen den Menschen gibt (der Starke kann mehr, der Geschickte schneller und der Kluge effektiver arbeiten), kam es zu dem Unterschied zwischen Arm und Reich. Folglich ließ der Reiche den Armen für sich arbeiten, um seinem unbefriedigten ‚künstlichen’ Bedürfnis nach Reichtum entgegenzukommen. Auf diese Weise hat Rousseau ein Gesellschaftsmodell geschaffen, welches Diderot als Vorbild dienen wird. Denn auch der Skeptiker und Rationalist Diderot versucht, im Geist der Aufklärung gegen die damalige Gesellschaftsordnung vorzugehen.

Mit seinem Buch ‚Rameaus Neffe’ (Le neveu de Rameau) hat er wohl einen der wichtigsten Texte der französischen Aufklärung geschaffen. Der fiktive Dialog zwischen ‚Er’ und ‚Ich’ liefert ein humorvolles, zugleich aber erbarmungsloses und scharfsinniges Porträt der damaligen Gesellschaft, die voll von sozialen Widersprüchen ist. In dem angeregten Gespräch werden auf unterhaltsame und verwegene Weise tiefgründig Typen, Verhaltensweisen, Werte und Ziele analysiert. Die Grundfragen von Individuum und Gesellschaft, Kunst und Moral stellen den zentralen Punkt des Buches dar. Mit ironischer Schärfe und zynischer Wortgewalt kritisiert Diderot seine Mitmenschen, und es gelingt ihm, die Lebenslügen der ‚verkommenen’ Gesellschaft zu entlarven.

Rameaus Neffe (‚Er’) schlägt sich als Klavierlehrer und intellektueller Hofnarr neureicher Aufsteiger durchs Leben und stellt eine zerrissene, mit sich widersprüchliche Persönlichkeit (=zerrissenes Bewusstsein) dar. Einerseits verachtet er sich selbst und bleibt illusionslos, da er sich seiner parasitären Existenz wohl bewusst ist. Andererseits ist er auch stolz auf sich selbst, weil er als gesellschaftlich unterprivilegierter Mensch seine Bedürfnisse als Schmarotzer in besseren Kreisen befriedigen kann, ohne sich dafür anstrengen zu müssen. Da Rameaus Neffe allerdings sehr geistreich ist, würde er niemals etwas tun, was gegen seine Würde geht. Dies begründet sein Selbstwertgefühl, das er trotz Außenseiterposition hat. Seine Überlegenheit besteht somit in seiner ‚Lebensklugheit’, die wiederum darin besteht, dass er ‚gemerkt’ hat, dass alle sich bloß selbst inszenieren.

Der Erzähler (‚Ich’) ist ein optimistischer, feinsinniger Vertreter der aufklärerischen Philosophie und stellt die harmonische, mit sich identische Persönlichkeit dar. Zunächst ist er sich als Philosoph seiner Überlegenheit gegenüber Rameaus Neffen sicher. In seinen Augen gibt es eine allgemeinverbindliche Moral; handelt ein Mensch nach dieser Moral, ist dies der Weg zum Glück. Außerdem hält er am Konzept der Selbstfindung fest und setzt sich letztere als das erstrebenswerteste Ziel im Leben. Allerdings weist Rameaus Neffe ihn auf die Komplexität des menschlichen Bewusstseins hin und stellt seine Auffassung vom Leben komplett in Frage.

Aus dem Buch ‚Rameaus Neffe’ geht somit Diderots Konzept der individuellen Selbstinszenierung hervor. Dabei unterscheidet er zwischen individueller und gesellschaftlicher Natur, wobei sich allerdings beide zu einem Ganzen zusammenfügen.

- individuelle Natur (=Individualität)

Die individuelle Natur legt einem Menschen nahe, welche Rolle er spielen kann bzw. in welcher Rolle er gut aufgeht. Akzeptiert ein Mensch das Rollenspiel, welches seinem eigenen Naturell entspricht, kostet es ihn ‚normalerweise’ keine Anstrengung, dieses Rollenspiel glaubwürdig zu gestalten (=Unangestrengtheit). Da nach Diderot der eigene Vorteil das einzige Lebensprinzip ist, d.h. dass der Mensch nur das Verlangen hat, unangestrengt zu Wohlleben zu kommen, darf das Spielen einer Rolle nicht zur Zumutung für einen selbst werden; die Rolle muss einem sprichwörtlich in den Schoß fallen. Nach Diderot sollte ein Mensch also grundsätzlich die Rollen verkörpern, die keine Selbstformung verlangen.

Diderot spricht sogar von der ‚Genialität’ der individuellen Selbstinszenierung, weil die von der Natur nahe gelegte Rolle zur Glanzrolle werden kann. Ein brillanter Darsteller bringt es nämlich ohne Anstrengung fertig, sein Publikum voll und ganz von seiner Rolle zu überzeugen. Ob es sich um die Rollen eines Bettlers, Hofnarren, Lehrers oder Arztes handelt, ist bei Diderot egal; Hauptsache, die Rolle wirkt glaubwürdig. Denn auch das Rollenspiel als Bettler (Armer), oder wie bei Rameaus Neffen als Hofnarr, stellt eine Verstellung dar, mit Hilfe welcher man Menschen betrügen kann, beispielsweise um Essen oder Geld. Ein Rollenspiel kann also bis in die Perfektion hin ausgedacht sein, man muss nur aufpassen, dass man nicht einmal aus seiner Rolle fällt. In diesem Moment erscheint das gesamte Rollenspiel nicht mehr glaubwürdig.

Ein Mensch verstellt sich also nicht, wenn er ‚das’ ist, was er von Natur aus sein sollte. Rameaus Neffe z.B. verstellt sich nicht, da ihm seine individuelle Natur die Rolle des Hofnarren nahe legt; außerdem will er keine eigene Anstrengung unternehmen, um seine Entwicklung voranzubringen, d.h. er arbeitet nicht an sich, verweigert jede Bildungsmöglichkeit.

Dadurch, dass er sich nicht selbst verrät und also die Rolle verkörpert, die seiner Individualität entspricht, ist sein Rollenspiel ein authentisches. Nach Diderot gibt es gar keine bestimmte Identität bzw. Naturbestimmtheit, die ein Mensch verraten könnte, weil jeder für sich genommen eigentlich gar nichts ist, sondern sich erst im Rollenspiel entfaltet. Demnach sind Authentizität (Echtheit) und Rollenspiel für Diderot keine Gegensätze (mehr), worin die Modernität seines Konzepts besteht.

Das authentische Rollenspiel ist bei Diderot also eine völlig echte Existenz; der individuelle Naturzustand und die gespielte Rolle sind kein Widerspruch, sondern ergeben den Menschen wie er ist. Hier ist Rousseaus Philosophie, von welcher sich Diderot inspiriert hat, nun aufgehoben.

Des weiteren hat das Rollenspiel bei Diderot, im Unterschied zu Rousseau, Grenzen; nur wo es freiwillig geschieht, d.h. wo es nicht auf externen Befehlen beruht ist es tragbar und würdig. In diesem Sinne spricht Diderot auch vom authentischen Rollenspiel, was üblicherweise ein Widerspruch in sich wäre. Diderot aber sieht in der freiwilligen Unterwerfung noch Würde darin, dass der Mensch diese Rolle selbst frei gewählt hat und sie nur so weit spielt bzw. solange glaubwürdig spielen kann, wie es nicht gegen seine eigene Würde geht. Dies bedeutet, dass die Authentizität des Rollenspiels unter Zwang oder Befehl ihr Grenzen findet, und so nicht mehr glaubwürdig erscheinen kann. Durch freiwilliges Wählen und Verweigern von verschiedenen Rollen setzt der Mensch der eigenen Selbsterniedrigung Grenzen und erfährt selbst eine Art Überlegenheit gegenüber anderen Personen.

Bei der individuellen Selbstinszenierung kann es also sein, dass das Rollenspiel von der betroffenen Person (z.B. Rameaus Neffe) unter zwei Aspekten empfunden wird: Selbsterniedrigung bzw. Unterwerfung, aber auch Zustimmung bzw. Selbstbehauptung und Stolz.

Schlussfolgernd stellt Diderot folgende These auf: Es gibt gar kein echtes festgelegtes Selbst bzw. keine festgelegte Identität, die ich als Mensch verraten könnte, weil ich eben ‚das’ bin, was ich spiele. Ein Mensch lebt also ohne feste Orientierung an einer Identität. Wegen dieser Unbestimmtheit bzw. ‚Unfestgelegtheit’ der Identität einer Person (Ich kann alles sein!) , lernen wir sie immer wieder in neuen Fassungen und Gestalten kennen oder, wie in Rameaus Neffe, sieht das ‚Ich’ den ‚Er’ immer wieder in anderen Variationen. Hinter dem Rollenspiel verbirgt sich demnach ein „beliebig manipulierbares Ich“. (Bartels, 2003) Diderot kommt zu dem Schluss, dass die Suche nach sich selbst, die Selbstfindung an sich eigentlich ‚Unsinn’ ist.

- gesellschaftlicher Naturzustand (Natur der Gesellschaft)

Diderot gliedert die Gesellschaft, wie bereits Jean-Jacques Rousseau, grundsätzlich in Arm und Reich. „So finde ich, daß es keine gute Ordnung sei, nicht immer etwas zu essen zu haben. Welche Teufelseinrichtung! Menschen, die alles übervoll haben, indessen andere, eben auch wie sie mit ungestümen Mägen, wie sie mit einem wiederkehrenden Hunger, nichts für ihren Zahn finden.“ (Diderot, 1984, S.91)

[...]


[1] Die französische Aufklärung beschäftigte sich mit philosophischen, religiösen und gesellschaftlichen Themen, und wurde zu einem dauernden Kampf mit Staat und Kirche um Gedankenfreiheit.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Die gesellschaftliche Bedingtheit individueller Selbstinszenierung: Goffman und Diderot
Hochschule
Pädagogische Hochschule Heidelberg
Veranstaltung
Selbstinszenierung statt Selbstfindung ?- Probleme zeitgenössischer Identitätsbildung
Note
1
Autor
Jahr
2003
Seiten
22
Katalognummer
V23667
ISBN (eBook)
9783638267465
Dateigröße
584 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bedingtheit, Selbstinszenierung, Goffman, Diderot, Selbstinszenierung, Selbstfindung, Probleme, Identitätsbildung
Arbeit zitieren
Géraldine Haller (Autor:in), 2003, Die gesellschaftliche Bedingtheit individueller Selbstinszenierung: Goffman und Diderot, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23667

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