Gedichtinterpretation: "O Geist" von Gottfried Benn


Hausarbeit, 2013

24 Seiten, Note: Sehr gut

Peter Gruber (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Kontext

3. Kotext

4. Inhaltliche Interpretation
4.1. Erste Strophe
4.2. Zweite Strophe
4.3. Dritte Strophe

5. Formale Interpretation

6. Zusammenschau

7. Weitere Interpretationsansätze

8. Fazit

9. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit wird sich mit dem Gedicht O Geist[1] von Gottfried Benn beschäftigen. Das Gedicht wird dabei vor einem ideengeschichtlichen Hintergrund interpretiert werden. In einem ersten Schritt werden daher Stichworte zum Leib-Seele-Problem gegeben werden; es wird eine Darstellung des geistesgeschichtlichen Kontextes des Gedichtes sein. Im nächsten Schritt wird untersucht werden, wie Benn die Problematik des Geistes in seiner Lyrik thematisiert. Darauf basierend wird eine Deutung des Inhaltes des Gedichtes O Geist versucht werden. Die jeweiligen Verse werden paraphrasiert werden, um ihnen eine Bedeutung im Hinblick auf den Kontext zu verleihen. Die Analyse der formalen Struktur des Gedichtes soll zeigen, dass Form und Inhalt miteinander korrelieren. Darauf aufbauend wird eine Gesamtschau erfolgen, die zeigen wird, wie Benn mit den Mitteln der Kunst einen Ausweg aus dem Kontext des Nihlismus schafft. Durch die Darstellung anderer Interpretationsansätze sollen weitere Deutungsmöglichkeiten offengelegt werden. Ein kurzes Fazit wird die wichtigsten Punkte noch einmal hervorheben.

Die Gedichte wurden entnommen aus der Stuttgarter Ausgabe der Gesamtausgabe von Benns Werken. Zum Vergleich wurde eine Gedichtanthologie herausgegeben von Bruno Hillebrand hinzugezogen. Die Darstellung der Philosophie des Geistes erfolgt einerseits aus den Originaltexten von René Descartes, G.W. Hegel und Friedrich Nietzsche andererseits aus Sekundärliteratur zum Thema Philosophie des Geistes sowie zur Philosophiegeschichte. Die drei weiteren Interpretationen stammen von Li Jiang, Anton Reininger und Winfried Eckel.

2. Kontext

Das vorliegende Gedicht von Gottfried Benn trägt den Titel O Geist. Es wurde 1917 in der Lyrik-Sammlung Fleisch publiziert.[2] Ursprünglich hieß es Rückfall.[3] Der Titel des Gedichtes offenbart bereits das Grundthema desselben: es geht um den Geist. Die Interjektion o im Titel verweist dabei auf die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach dem Geist – der Geist wird in hymnischer Manie angerufen. Vorwegnehmend kann damit festgehalten werden, dass eine Personifikation des Geistes vorgenommen wird – ein Geist, der dem lyrischen Ich offensichtlich verlustig gegangen ist und den es voller Sehnsucht zur Rückkehr bewegen will.

Der geänderte Titel lautet Rückfall. Was es damit auf sich hat, klärt ein Blick in die europäische Geistesgeschichte. Die Notwendigkeit eines solchen ergibt sich zudem bereits nach einer ersten, oberflächlichen Lektüre des Gedichtes – es fällt nämlich schnell auf, dass es hier um das Wechselspiel zwischen Geist, Ich und Körper geht, um Begriffe also, deren volle Bedeutung sich erst im ideengeschichtlichen Umfeld offenbart. Das Gedicht lässt sich insgesamt in dem von der Philosophie des Geistes als Leib-Seele-Problem bezeichneten Kontext verorten. Um daher zu verstehen, was Benn meint, wenn er hier vom Geist spricht, muss erstmals geklärt werden, was es mit dem Geist in der abendländischen Tradition auf sich hat.

Die folgende – freilich drastisch verkürzte – Darstellung wird anhand dreier sehr bedeutsamer Positionen einige Aspekte der Entwicklung der Philosophie des Geistes nachvollziehen. Damit wird sich der Kontext bereitstellen lassen, anhand dessen sich das vorliegende Gedicht interpretieren lässt:

a) René Descartes[4] nimmt in der Geistesgeschichte eine herausragende Stellung ein. In seinen Meditationes de prima philosophia von 1641 führt ihn der methodische Zweifel zur einzig zweifellos gewissen Aussage cogito ergo sum. Auf diesen archimedischen Punkt sich stützend errichtet er ein System, das wesentlich auf der metaphysischen Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa beruht. Es handelt sich dabei um zwei völlig voneinander unterschiedene Substanzen – eine körperliche und eine geistige. Descartes begründet damit den Leib-Seele-Dualismus. Zugleich etablierte er die – in der abendländischen Neuzeit grundlegende – Bedeutsamkeit des Selbstbewusstseins sowie die gleichfalls nachhaltige Denkweise von der Wirklichkeit als einem System von Gedanken, das im Bewusstsein fundiert ist.[5]

b) Bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel[6] findet die bereits bei Descartes einsetzende Gewichtung des Selbstbewusstseins seinen Höhepunkt und vorläufigen Abschluss. Hegel lehrt „nachdrücklicher und bewusster, als es seine Vorgänger getan hatten, daß die Stufen, die das individuelle Bewusstsein durchläuft, dieselben seien, die auch das allgemeine Bewusstsein der Menschheit durchzumachen habe.“[7] „Dieser ‚absolute Geist’ , […] zu dem jeder einzelne von uns wie die Welle zum Strom, wie das Sandkorn zum himmelanstrebenden Berge sich verhält […] – dieser Geist erst ist das ‚An und für sich Seiende’ , das Seiende im letzten absoluten, in sich vollendenden Sinn des Wortes.“[8]

c) Mit dem Zusammenbruch des Hegelschen Systems kommt es zu einer Krise der Metaphysik in der Philosophie.[9] Zum Beispiel bei

„Kierkegaard und Nietzsche scheint sich die Subjektivität des Menschen als solche von der Metaphysik zu trennen. Und der tiefste Grund dafür ist, dass Kieregaard und Nietzsche die Vernunft, den Geist nicht als entscheidende Wesensbestimmungen des Menschen mehr ansahen.“[10]

Dies führt zu einer Abwertung des Geistigen; die Substanzialität des Geistes wird aufgegeben, stattdessen kommt es es zu einer Hinwendung zum Materiellen:

„Das 19. Jahrhundert, vor allem seine zweite Hälfte, war ein einziger Siegeszug der positiven Wissenschaften. […] Die Wissenschaften allein galten ihm als die wirklich ausweisenden und bezeugenden Zugänge zum Seienden; die wissenschaftliche Tatsache wurde zur letztentscheidenden Instanz proklamiert.“[11]

Besonders bei Nietzsche – und Benn „hatte alles von Nietzsche gelesen“[12] – wird der Geist radikal abgewertet. Der Geist wird dem Körper nunmehr untergeordnet. So lässt Nietzsche seinen Zarathustra behaupten: „Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens.“[13] Der Geist wird für Nietzsche zur Nebensache, der Begriff des Ichs gar abgelehnt:

Dieinnere Weltist voller Trugbilder und Irrlichter: der Wille ist eins von ihnen. Der Wille bewegt nichts mehr, erklärt folglich auch nichts mehr — er begleitet bloss Vorgänge, er kann auch fehlen. Das sogenannteMotiv‘: ein andrer Irrthum. Bloss ein Oberflächenphänomen des Bewusstseins, ein Nebenher der That, das eher noch die antecedentia einer That verdeckt, als dass es sie darstellt. Und gar das Ich! Das ist zur Fabel geworden, zur Fiktion, zum Wortspiel: das hat ganz und gar aufgehört, zu denken, zu fühlen und zu wollen! ... Was folgt daraus? Es giebt gar keine geistigen Ursachen!“[14]

Bis heute besteht unter Philosophen „nahezu Übereinstimmung darüber, dass das Konzept des Geistes als einer mentalen Substanz zu viele Schwierigkeiten und Rätsel aufwirft, ohne, dass dies durch die Vorteile auf der Erklärungsseite ausgeglichen würde.“[15] „Es scheint […] keine zwingenden Gründe für die Annahme zu geben, dass es in dieser Welt völlig nicht-materielle Dinge überhaupt gibt“[16]

Dieser extrem kurz gehaltene Einblick verdeckt selbstredend die Komplexität des Leib-Seele-Problems – es sollte allerdings eine Idee vom ideengeschichtlichen Wandel vermittelt worden sein: zu Beginn des 20. Jahrhunderts verliert das Geistige seine vormalige metaphysische und ontologische Führungsrolle. Die Wende tritt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Mit dem Bedeutungsverlust des Geistigen gehen fundamentale Fragen an die Menschheit einher, etwa die Frage, ob es das Ich als autonomes transzendentales Subjekt noch geben könne; daraus ergeben sich weitere weiterreichende (In-)Fragestellungen in anthropologischer, ethischer, ästhetischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht. Der Verlust des Geistes wird daher oftmals in Verbindung gebracht mit einem „ungeheuren Kulturzerfall“ oder einem „Nihilismus des modernen Lebens“ und nur allzu oft wird im Zusammenhang die Rede „von der notwendigen Rückkehr zum ‚ Geiste‘ “ vernommen.[17]

[...]


[1] Entnommen aus: Benn, Gottfried: Sämtliche Werke. Band I. Gedichte 1. Stuttgarter Ausgabe. Herausgegeben von Gerhard Schuster. Stuttgart: Keltt-Cotta, 1986 ff. 43

[2] Vgl. Eckel, Winfried: O Geist. In: Gedichte von Gottfried Benn. Herausgegeben von Harald Steinhagen. Stuttgart: Reclam, 1997. S. 48

[3] Vgl. a.a.O. S. 58

[4] Gottfried Benn hat René Descartes gelesen. Gemeinsam mit anderen französischsprachigen Autoren beeinflusste er insbesondere seine Arbeit in der Nachkriegszeit (vgl. dazu: Rübe, Werner: Provoziertes Leben. Gottfried Benn. Stuttgart: Cotta´sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, 1993. S. 391)

[5] Vgl. Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart und Östliches Denken. 7. Auflage. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 2009. S. 167 -168

[6] Gottfried Benn berief sich in seinem Bekenntnis zum Nationalsozialismus unter andrem auf die deutschen Idealisten Hegel und Fichte. (vgl. dazu Rübe (1993): S.317)

[7] Aster, Ernst: Geschichte der Philosophie. 15. Auflage, durchgesehen, ergänzt, mit neuer Zeittafel und Bibliographie von Prof. Dr. Franz Josef Brecht und Gerd Schröder. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1975. S. 320

[8] A.a.O. S. 325

[9] Vgl. Fink, Eugen: Philosophie des Geistes. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1994. S. 124

[10] A.a.O. S.122

[11] A.a.O. S. 16

[12] Rübe (1993): S. 223

[13] Nietzsche, Friedrich: Also Sprach Zarathustra. Band 4. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montirani. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1999. S. 40

[14] Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung. Band 6. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montirani. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1999. S. 91

[15] Kim, Jaegwon: Philosophie des Geistes. Aus dem Amerikanischen von Georg Günther. Wien, New York: Springer, 1998. S. 5

[16] A.a.O. S. 4

[17] Vgl. Fink (1994): S. 15

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Gedichtinterpretation: "O Geist" von Gottfried Benn
Hochschule
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2013
Seiten
24
Katalognummer
V233073
ISBN (eBook)
9783656502944
ISBN (Buch)
9783656504320
Dateigröße
635 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gedichtinterpretation, geist, gottfried, benn, philosophie des geistes, expressionismus, lyrik, gedicht, interpretation
Arbeit zitieren
Peter Gruber (Autor:in), 2013, Gedichtinterpretation: "O Geist" von Gottfried Benn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/233073

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