Mis en Abyme in "Educazione Siberiana" von Lilin


Hausarbeit, 2013

16 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Mis-en-abyme und Oralität
2.1. Folklore und mündliche Überlieferung in Educazione siberiana
2.2. Gesprochene Sprache in Educazione siberiana

3. Mis-en-abyme in der Kunst des Tätowierens
3.1. Anordnungsmuster in Educazione Siberiana

4. Schluss

1. Einleitung

Das Werk Educazione siberiana von Nicolai Lilin ist ein autofiktionaler Roman[1], der 2009 von dem in Transnistrien aufgewachsenen und 2003 nach Italien eingewanderten Nicolai Lilin

auf Italienisch geschrieben wurde. Vor allem in den ersten zwei Kapiteln – diese werden in dieser Arbeit exemplarisch berücksichtigt –, die der einführenden Rahmenhandlung folgen, sind wichtige Momente enthalten, die eine auf Mündlichkeit basierende Erziehung Lilins nebenbei aufzeigen. In einer Buchvorstellung[2] erklärt er immerhin, dass er sich beim Schreiben des Werkes eine Person vorgestellt habe, der er seine Lebensgeschichte erzählen würde. Inwiefern die Mündlichkeit für das Werk von Bedeutung ist, das zeigt schließlich die zentrale darauf aufbauende Mis-en-abyme-Struktur des Romans, die es hier zu untersuchen gilt.

Bei der Untersuchung des Romans soll nicht die histoire, also die Geschichte, die Handlung, im Vordergrund stehen, das Augenmerk soll vielmehr auf den discours gerichtet sein. Zudem wird in dieser Arbeit den Strukturen der Anordnung Beachtung geschenkt, weiter sollen diesbezüglich mögliche Parallelen zur Tätowier-Kunst untersucht werden.

2. Mis-en-abyme und Oralität

Im Folgenden soll aufgezeigt werden, inwiefern eine Mis-en-abyme [3] -Struktur durch die Oralität intradiegetisch und in der Sprache des Erzählers zum Ausdruck kommt. Zunächst einmal ist zu sagen, dass innerhalb des Diskurs II[4] bleibend, der Erzähler ein autodiegetischer Erzähler ist. D.h. der Erzähler ist als Hauptfigur in der Handlung, bzw. in der in dieser dargestellten Erörterung vertreten und nimmt daran selber teil. Nach Genette würde dann folgendes Schema auf Educazione siberiana anwendbar sein: A=auteur (Autor), N=narrateur

(Erzähler), P=personnage (in unserem Fall Protagonist) > A≠N, A=P (/A≠P)), N=P. Diese Konstellation scheint zwar widersprüchlich zu sein, jedoch für die Autofiktion zutreffend, da diese selbst einen Widerspruch in sich birgt, den man in der Aussage „Das bin ich, das bin ich nicht“ ausdrücken könnte (vgl. Genette 1991: 87). Die Übereinstimmung des Namens Nicolai beim Protagonisten und beim Autor ist natürlich reiner Zufall. Das zentrale Moment in ES (= Educazione siberiana), das ziemlich offenkundig eine Mis-en-abyme -Struktur zu erkennen gibt, ist die Stelle in der Nicolai Puškins Ballade vom Ertrunkenen singt (vgl. S. 27-28). Der selbstreferentielle Charakter, drückt sich hierbei – obgleich die Ballade Puškins literarischer Natur ist – nicht durch Intertextualität im üblichen Sinne oder durch Bezugnahme auf Schriftlichkeit aus, wie beispielsweise bei Don Quixote (vgl. Dällenbach 1977: 118, 121), sondern durch die Einbindung von Mündlichkeit.[5] Die in diesem Falle eine Mis-en-abyme hervorrufende Autoreferentialität (=Selbstreferentialität) wird zudem durch die Aussage des Erzählers bekräftigt, er habe sich dabei wie ein Protagonist gefühlt: „Comunque io non mi vergognavo a recitare le poesie davanti agli altri, anzi mi piaceva, mi sentivo importante e protagonista“ (vgl. S. 27). Die Tatsache, dass zuvor davon die Rede war, dass er selbst als 4-5 jähriges Kind mit Freunden einen Toten einmal aus dem Fluss gefischt hat (vg. S. 16), wie die Kinder in Puškins Ballade, trägt zur Konkretisierung der Mis-en-abyme-Struktur bei. Ebenfalls könnte für diesen Sachverhalt die Erwähnung der vielen während des Krieges in Transnistrien im Jahr 1992 im Fluss aufgefundenen Leichen, die auf das Konto der russischen Soldaten gehen und gemarterte Körper aufweisen, von Bedeutung sein (vgl. S. 98). Darüber hinaus birgt Nicolai mit Freunden einen toten Menschen, der einer durch einen Dammbruch verursachten Überschwemmung zum Opfer gefallen war (vgl. S. 115). Um seine Seele zu besänftigen, legen sie ihm ein Kreuz und eine Kerze in die Hände (vgl. S. 116). Später bergen sie auch die Leiche von ihrem Freund Vitalič, dem Sohn von Tante Katja (vgl. S. 121). Demnach benutzt Lilin eine Mis-en-abyme rétro-prospective, die sowohl auf vorhergehende als auch auf folgende Ereignisse Bezug nimmt (vgl. Dällenbach 1977: 83). Die Bedeutung dieser Ereignisse in Nicolais Leben hervorzuheben, sowie möglicherweise einen Zusammenhang mit dem Anfangsszenario, dem Krieg also, wo man über Leichen zu gehen hat, herzustellen, könnte als Funktion der Mis-en-abyme angesehen werden. Darüber hinaus gebe sie, nach Dällenbach (1977: 76), dem Text eine stärkere Struktur, „de la faire dialoguer avec elle-même et de la pourvoir d’un appareil d’auto-interprétation“ (ebd.).

Eine zweite Ähnlichkeitsrelation findet sich in der Eingangsszene, und zwar insofern, als eine Spiegelung selbst intradiegetisch vorkommt, nämlich als der Protagonist sich im Tschetschenien-Krieg im Wasser der Tonne spiegelt. Der Tod steht hier, wie im Lied und wie beim Auffinden einer Leiche durch den Protagonisten Nicolai, im Mittelpunkt. Hier hätten wir eine Rahmenstruktur, die durch ein sogenanntes mis en cadre die Beziehung zwischen Rahmen- und Haupterzählung herstellt.[6]

2.1. Folklore und mündliche Überlieferung in Educazione siberiana

Dass die Oralität eine nicht unbeachtliche Rolle in ES spielt, zeigt auch die Präsenz der Folklore und mündlichen Überlieferung im Roman, wovon hier nur jene angesprochen werden, die mit der Erziehung des Protagonisten etwas zu tun haben, letztlich auch die Erwähnung von Sprichwörtern und Redewendungen.[7]

Was die gesungenen Volkslieder und Lieder anbelangt, so finden diese Erwähnung, als davon bspw. die Rede ist, dass die Frauen in Nicolais Haus beim Geschirrspülen sibirische Lieder singen (vgl. S. 12) und Spottlieder gegen Polizisten gesungen werden, als diese Nicolais Haus verlassen (vgl. S. 15), Nonno Castagna ein sibirisches Lied brüllt (vgl. S. 18), das die zwei in Sibirien liegenden Flüsse Amur und Lena zum Inhalt hat, die, wie der Autor in einer Fußnote anmerkt, in der Tradition der Urki als Gottheiten verehrt werden und in zahlreichen Sprüchen, Liedern, Märchen und Gedichten vorkommen (vgl. S. 19). Dass das Singen von mehr oder weniger volkstümlichen Liedern fester Bestandteil der Lebenswelt der Urki ist, zeigt der Umstand, dass Nicolai als Strafe dafür, dass er amerikanische Musik hörte, eine Woche lang jeden Abend mit dem Akkordeon russische Melodien vorspielen und Volkslieder oder

[...]


[1] Autofiktion kann definiert werden als „fiktionale Gestaltung biograph. Erlebnisse des Autors, der das stoffl. Material nicht unter dem Aspekt der Wahrheit um ihrer selbst willen, sondern nach künstler. Struktur, Sinn- und Symbolkraft, gestaltet […]“ (von Wilpert 2001: S. 61 f.)

[2] Lilin 2009, Buch-Präsentation, 0:05:50 min.

[3] M.e.a. bedeutet übersetzt ins Deutsche In-Abgrund-Setzung. Dieser „Begriff bezeichnet eine Form v.a. literar. Rekursivität bzw. Ähnlichkeit und damit Selbstreferenz, die sich in einem isolierbaren Segment auf einer ontologisch oder textlogisch untergeordneten Ebene eines Textes oder Kunstwerks manifestiert, so daß auf dieser mindestens ein in der Regel signifikantes Element (inhaltlicher oder formaler Natur) einer übergeordneten Ebene ›gespiegelt‹ erscheint“ (Wolf 2004: 461, Sp.1). Die mis en abyme erscheint oft in „autoreferentiellen und antimimetischen Texten wie dem nouveau roman und Erzählungen des Postmodernismus“ (ebd.; vgl. Dällenbach 1977: 151 ff.).

[4] D II: Text der Geschichte, hierzu gehört die Erzählsituation und die Modi (in der Rhetorik: elocutio) (vgl. de Toro 1986: 24 f.).

[5] Eine Selbstreferentialität, die auf Mündlichkeit basiert, wäre in der Odyssee gegeben, als der Rhapsode Demodokos in Versen Odysseus‘ Geschichte zu erzählen beginnt, sodass letztlich ein Epos im Epos entsteht (vgl. Klotz 2006: 262 f., 265).

[6] Unter mis en cadre hat man eine Ähnlichkeitsrelation zu verstehen, „die ein isolierbares Segment oder die Gesamtheit einer übergeordneten Ebene, d.h. einer Rahmung, […] auf der Elemente einer untergeordneten Ebene ›gespiegelt‹ oder antizipiert erscheinen“ (Wolf 2004: 461, Sp.1). Zur Rahmenstruktur siehe Krah 2006: 358.

[7] An den Beginn des Werkes stellt der Autor ein Sprichwort, nämlich in dem vorangestellten Motto. Bereits im Motto kann der Leser erkennen oder auch nur erahnen, dass Oralität im Roman von Bedeutung ist, diesen mitbeeinflussen könnte. Schließlich sind Motti üblicherweise Wiedergaben von Autoren, also literarischer Natur (vgl. Genette 2001: 147ff). Zur Funktion ist zu sagen, dass ein Motto nicht der Begründung für den Text dient, sondern der Begründung für den Titel (vgl. Genette 2001: 152). Ansonsten ist das Werk mit vielen Redewendungen und Sprichwörtern der Urki bespickt: „tagliati con la stessa ascia“ (S. 31), „alla grande“ come si dice da noi e da voi (S. 37), „li abbiamo pettinati“ come si dice da noi (49), Aus Jargon: portare otto triangoli, tenere otto triangoli dritti, mettere otto triangoli sulla nuca, … (S. 38f), Erziehung der nonni „Questo tipo di rapporto in lingua siberiana viene chiamato «intagliare»“ (S. 55), «fatto il nodo» (S. 60), …

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Details

Titel
Mis en Abyme in "Educazione Siberiana" von Lilin
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Romanisches Seminar)
Veranstaltung
Transkulturelle italophone Literatur
Note
1,7
Autor
Jahr
2013
Seiten
16
Katalognummer
V231985
ISBN (eBook)
9783656483076
ISBN (Buch)
9783656483113
Dateigröße
564 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Das Werk Educazione siberiana von Nicolai Lilin ist ein autofiktionaler. Vor allem in den ersten zwei Kapiteln – diese werden in dieser Arbeit exemplarisch berücksichtigt –, die der einführenden Rahmenhandlung folgen, sind wichtige Momente enthalten, die eine auf Mündlichkeit basierende Erziehung Lilins nebenbei aufzeigen.Zudem wird in dieser Arbeit den Strukturen der Anordnung Beachtung geschenkt, weiter sollen diesbezüglich mögliche Parallelen zur Tätowier-Kunst untersucht werden.
Schlagworte
abyme, educazione, siberiana, lilin
Arbeit zitieren
Paolo Parisi (Autor:in), 2013, Mis en Abyme in "Educazione Siberiana" von Lilin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/231985

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