Voltaires "Candide ou l'optimisme" und seine Haltung gegenüber den Expansionsbewegungen Europas


Essay, 2012

11 Seiten


Leseprobe


«N’est-il pas honteux

que les fanatiques aient du zèle
et que les sages n’en aient pas?»
(Voltaire)

Voltaires Candide ou l'optimisme erschien erstmals im Jahre 1759 als anonymes Werk- und dies aber auch aus gutem Grund. Der Autor kritisiert darin nicht nur die positive Sicht auf die Welt und den Menschen des deutschen Philosophen Leibniz, sondern bedient sich an Satire, Spott und Ironie, um viele weitere Missstände seiner Zeit anzuprangern. Ein Aspekt davon, der in dieser Arbeit besonders hervorgehoben werden soll, ist die Haltung Voltaires gegenüber den Expansions­bewegungen Europas, die in Candides Geschichte zum Ausdruck gebracht wird.

Zunächst wird ein kurzer Überblick über das Werk und den Autor gegeben, wobei auch der historische Kontext eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Kritik spielt. Hinsichtlich der Frage der Expansion werden die führenden Länder der Entdeckerfahrten genannt und der Kolonialismus sowie dessen Folgen anhand einiger Textpassagen in Candide untersucht. Die Grausamkeit der Menschen wird dem utopischen Eldorado gegenübergestellt. Schließlich folgt ein Fazit und die verwandten Quellen.

Die Novelle Candide ou l'optimisme gehört ebenso wie L'ingénu zur literarischen Gattung des conte philosophique. Voltaire, der eigentlich mit richtigem Namen François Marie Arouet heißt, war einer der bedeutendsten französischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, dem siècle des Lumières. Mehrere Male geriet er durch seine provokanten, revolutionären Texte in die Bredouille, sodass Haftbefehle gegen ihn erlassen wurden und er gezwungen war zu fliehen, bis die Wogen sich wieder geglättet hatten. Auch den Unwillen des Königs Ludwig XV erregte er mit seinen Satiren und Kurzerzählungen. Er war ebenfalls für einige Zeit in der Bastille inhaftiert, und seine kritischen

Werke voller Sarkasmus und parodistischen Anspielungen erlitten oftmals das Publikationsverbot oder die Zensur. So ist Candide als eine Allusion und Pervertierung des damals populären Abenteuer- und Reiseromans zu sehen.

Der Protagonist des Werkes ist ebenjener Candide, der im Schloss des Baronen Thunder-ten-tronckh in Westfahlen lebt. Sein Lehrer Pangloss, den er über alle Maßen bewundert, lehrt ihn, dass er wie laut der Theorie von Leibniz in der bestmöglichen aller Welten lebt. Alles Übel sei nur auf den ersten Blick ein solches, denn letztendlich lasse sich alles stets zum Guten wenden. Candide Überzeugtheit von diesem Optimismus, den er schon gänzlich verinnerlicht hat, gerät selbst dann nicht ins Wanken, als er in einer eindeutigen, äußerst verfänglichen Lage mit der schönen Cunégonde, der Tochter des Barons, aufgefunden und gezwungen wird, das Schloss zu verlassen. Diese Verbannung kommt einer Vertreibung aus dem Paradies gleich, und auf seiner Reise muss Candide feststellen, dass die optimistische Philosophie nicht auf die Welt, in der er lebt, zutrifft: Er sieht Kriege, Katastrophen und viel Leid und Unglück. Am Schluss findet er zwar Cunégonde wieder, die aber grausam verstümmelt wurde. Dennoch heiraten sie und Candide erkennt „qu'il faut cultiver notre jardin“ (237).

Für Voltaire war es wichtig, in seinen Werken das aktuelle Zeitgeschehen zu verarbeiten. Er kritisiert als Anhänger des Deismus, in der Gott als Weltschöpfer auftritt, aber ohne Einfluss auf den Lauf der Natur, jegliche Form des Aberglaubens, des Fanatismus und Vorurteils, und der religiösen Unduldsamkeit. Er war gegen den Absolutismus und stattdessen für einen gerechten König. Die Güte des Menschen und die sittliche Kraft der Kultur waren Dinge, an die er uneingeschränkt glaubte. Als Aufklärer setzte er sich für mehr Toleranz, Gerechtigkeit und die Vernunft ein. Wichtige Themen in Candide sind daher ja auch die Privilegien des Adels, die Verderbtheit des Klerus, oder die Bosheit der Menschen. In Pardon, mon cher Voltaire. Drei Essays zu Voltaire in Deutschland geht auch Roland Krebs auf Voltaires Sujets ein:

Es ist zwar verfehlt, den Sinn des Candide [...] ausschließlich in der Widerlegung einer philosophischen These oder des gängigen Menschenbildes zu sehen, denn [es] wurden auch sehr konkrete Mißstände [sic] angeprangert: die Inquisition, der Kolonialismus und der Sklavenhandel, der Krieg und die gesellschaftliche Unterdrückung (111).

Somit wird klar, warum Voltaire sich gegen Leibniz' Theorie stellt: Das verheerende Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, bei dem zehntausende von Menschen ihr Leben lassen mussten, warf die Frage der Theodizee auf, nämlich nach der Rechtfertigung der Annahme eines guten Gottes angesichts des Übels auf Erden. Auch in Poème sur le désastre de Lisbonne, welches er ein Jahr nach der Katastrophe veröffentlichte, verarbeitet Voltaire seine Gedanken und Eindrücke zu diesem Thema. Der Siebenjährige Krieg zwischen Frankreich und England machte für ihn klar, wieviel Schlechtes es auf der Welt gibt, und bestärkte seine Überzeugung von der Verkehrtheit der optimistischen Lebenshaltung. Damit im Zusammenhang steht auch der Ablauf der Ereignisse in Candide, denn es ist nicht die Logik, die die Geschehnisse leitet, sondern das Schicksal, Zufälle, sowie Verstrickungen in schwierige und gefährliche Situationen.

Bevor ich zu Voltaires skeptischer Einstellung zu den europäischen Expansionsbewegungen zu sprechen komme, ist es zunächst wichtig, sich die verschiedenen Strömungen, die den Entdeckerfahrten vorausgingen, vor Augen zu führen. Die Frühe Neuzeit, die aufgrund einiger Schlüsselereignisse zwischen 1450 und 1800 einzuordnen ist, war die Zeit des geistlichen, geistigen und politischen Aufbruchs: Die Anfänge der Renaissance, die Aufklärung und der entstehende Humanismus; in der Politik die Neuordnung der Machtverhältnisse in ganz Europa, der Dreißigjährige Krieg und der Absolutismus; im Bereich Wirtschaft der Kolonialismus, Merkantilismus und der daraus folgende Frühkapitalismus; die Ablösung des geozentrischen durch das heliozentrische Weltbild.

Die wichtigsten Entdecker dieser Zeit waren Diaz, der 1487 die Südspitze Afrikas umschiffte, sowie Columbus' (Wieder-) Entdeckung Amerikas 1492. Außerdem sind Vespucci, da Gama, Magellan, Hudson und Cook hier hinzuzufügen. Klar zeichnet sich hier die Dominanz von vier Seefahrernationen ab: Portugal, Spanien, Großbritannien und Italien. Dieses Zeitalter der Entdeckungen führte jedoch zu der wirtschaftlichen Ausbeutung der anderen Kontinente; die territoriale Expansion bereicherte die Kolonisten. Durch die Neustrukturierung des Welthandels begannen Kapitalismus und Industrialisierung. Der Handel war Europas Fundament für die ganze Wirtschaft und somit ist unser Reichtum begründet durch den Sklavenhandel, worauf auch Voltaire in einer Szene anspielt, die ich am Ende analysieren werde.

In seiner Diplomarbeit „Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?“ geht Christian Huber näher auf den Kolonialismus ein:

[Es] handelt sich um die militärische Besitznahme eines Gebietes außerhalb der eignen [sic] Landesgrenzen um sich wirtschaftliche Vorteile und Macht zu sichern. Dabei kommt es oft zu einer zwanghaften Assimilierung der ansässigen Kultur, Die entstandene Kolonie ist der Gesetzgebung des Vaterlandes verpflichtet und steht zudem in engem unterwürfigem Kontakt (24).

Der Autor erwähnt ebenfalls die damit einhergehende Ausplünderung und den Wettstreit um noch freie Gebiete (25). Auch in Candide bleiben Krieg und die Bosheit der Menschen im Allgemeinen nicht unerwähnt. Die Hauptperson trifft, kaum dass man sie aus dem Schloss des Barons verjagt hat, auf grausame bulgarische Soldaten. Auch wenn Voltaire die Schlacht vordergründig als etwas Wundervolles beschreibt („Rien n'était si beau, si leste, si brillant, sie bien ordonné que les deux armées“, 153) und Candide als Angsthasen darstellt, wird sehr schnell der schreckliche Ausmaß dieser Auseinandersetzung deutlich:

Les canons renversèrent d'abord à peu près six mille hommes de chaque côté; ensuite la mousqueterie ôta du meilleur des mondes environ neuf à dix mille coquins qui en infectaient la surface. [...] Le tout pouvait bien se monter à une trentaine de mille âmes (153-54).

Jedes Dorf, an dem Candide während seiner Flucht vorbeikommt, wurde schon von den Bulgaren oder den Abaren, gegen die die Bulgaren kämpfen, verwüstet und niedergebrannt. Daraufhin flieht er nach Holland, wo er seinen ehemaligen Lehrer Pangloss wiedertrifft. Nicht nur, dass dieser Candide wissen lässt, dass seine geliebte Cunégonde tot sei, bringt den Protagonisten dazu, an der besten aller Welten zu zweifeln:

[...]

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Details

Titel
Voltaires "Candide ou l'optimisme" und seine Haltung gegenüber den Expansionsbewegungen Europas
Autor
Jahr
2012
Seiten
11
Katalognummer
V231868
ISBN (eBook)
9783668600973
ISBN (Buch)
9783668600980
Dateigröße
523 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
voltaires, candide, haltung, expansionsbewegungen, europas
Arbeit zitieren
Manü Mohr (Autor:in), 2012, Voltaires "Candide ou l'optimisme" und seine Haltung gegenüber den Expansionsbewegungen Europas, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/231868

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