Die preußischen Entwürfe zu einer Zivilprozessordnung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Prozessgrundsätze und Maximen


Studienarbeit, 2010

52 Seiten, Note: 16 Punkte


Leseprobe


Inhalt

Quellen- und Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis einschließlich der abgekürzt zitierten Literatur

A. Einleitung

B. Politische und rechtliche Ausgangslage vor den preußischen Reformen des Zivilprozesses
I. Streben nach Rechtseinheit in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts
II. Die Stein-Hardenbergschen Reformen
III. Drei Systeme des Verfahrensrechts in Preußen nach dem Wiener Kongress
1) Das gemeinrechtliche Zivilverfahren
a) Ursprung und Rezeption
b) Prägende Merkmale
c) Kritik am gemeinrechtlichen Zivilverfahren
2) Die Fridericianische Prozessordnungen
a) Das Corpus Juris Fridericianum von 1781
b) Die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793/95
c) Kritik an der Allgemeinen Gerichtsordnung
3) Französisches Zivilprozessrecht in Deutschland und Preußen
a) Räumliche und zeitliche Geltung
b) Einfluss auf die rechtspolitische Diskussion
IV. Zusammenfassung

C. Die preußischen Reformen des Zivilprozessrechts von 1817 bis 1848
I. Reformbedürfnis und Zuständigkeit
II. Territorial begrenzte Reformversuche
1) Die Posener Verordnung von 1817
2) Das Streben nach Rechtsvereinheitlichung in den rheinischen Provinzen
a) Die Immediat-Justiz-Kommission für die Rheinlande
b) Gutachten über das öffentliche und mündliche Verfahren in Civilsachen
c) Separat-Votum von Simon
d) Weiteres Vorgehen in den Rheinlanden
III. Die Reformvorschläge der vereinigten Deputation (1827 – 1832)
1) Organisation der Gesetzesrevision
2) Der Bericht der vereinigten Deputation von 1827
a) Bestandsaufnahme und Revisionsvorschläge
b) Verfahren vor Einzelrichtern
c) Verfahren vor Kollegialgerichten
d) Einordnung der Revisionsvorschläge
3) Reinhardts Entwurf der Prozessordnung von 1830/32
a) Abweichen von den Vorschlägen des ersten und zweiten Berichts
b) Wesentliche Verfahrenselemente
c) Schicksal des Entwurfs
IV. Die Verordnungen von 1833 und 1846
1) Bedürfnis nach Beschleunigung des Zivilprozesses in einfachen Sachen
2) Entwurf zur Verordnung wegen Einführung eines schnelleren Prozeßganges
a) Das Verfahren vor den formierten und kleinen Gerichten
b) Einordnung des Entwurfs
3) Inhalt der Verordnung von 1833
4) Revidierter Entwurf von 1842
a) Vorgeschichte
b) Verfahrensgrundsätze
5) Der Entwurf von 1843
a) Gesetzesrevision unter Savigny
b) Voswinkels Entwurf einer Verordnung über den Zivilprozess
c) Der Entwurf von 1843 und die Denkschrift Savignys
d) Anschließende Beratung des Entwurfs und die dreizehn Prinzipienfragen Savignys
aa) Mündliches Verfahren
bb) Öffentlichkeit des Verfahrens
cc) Schriftwechsel und Advokatenzwang
dd) Eventualmaxime
ee) Das Verhältnis von Richter und Parteien
e) Mühlers Stellungnahme zu Savignys Prinzipienfragen
6) Der Entwurf von 1845
a) Beschränkung des Advokatenzwangs auf höhere Instanzen
b) Neuer Entwurf einer Verordnung über den Civil-Prozeß von 1845
7) Die Verordnung von 1846
a) Der Konflikt zwischen Savigny und Uhden
b) Inhalt und Einordnung der Verordnung von 1846
V. Der Entwurf von 1848
1) Die Situation nach 1846
2) Inhalt des Entwurfs von 1848
VI. Zusammenfassung

D. Fazit

Quellen- und Literaturverzeichnis

I.Quellen

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Entwurf und Motive einer Prozeß-Ordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für den Preußischen Staat – Mit einer Einführung in die Geschichte des preußischen Zivilprozesses im 18./19. Jahrhundert, neu hrsg. von Werner Schubert, Goldbach 1994, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1864

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Abkürzungsverzeichnis einschließlich der abgekürzt zitierten Literatur

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Einleitung

Die preußischen Reformen des Zivilverfahrensrechts in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts fielen in eine Epoche des gesellschaftlichen wie ideellen Wandels. Die wesentlichen Interessengegensätze der damaligen Zeit schilderte Mittermaier in seinem Standartwerk zum Prozessrecht von 1820 sehr eindringlich und pointiert:

„Wenn auch der Zivilprozess nicht eine so unmittelbare Beziehung auf bürgerliche und individuelle Freiheit hat wie der Strafprozess, so kann doch nicht verkannt werden, dass der ungeschmälerte Genuss bürgerlicher Rechte zu den vorzüglichsten Wohltaten einer sicheren Staatsgesellschaft gehört.

Wer kann es verkennen, dass der Prozess auch mit der Grundansicht des Staates zusammenhängt? Nur verderblich kann jene durch blendende Deduktion von Schriftstellern, durch Berufung auf einen hohen Staatszweck begründete und von der Politik genährte Ansicht wirken, nach welcher der Staat eine Obermundschaft über alle Bürger ausübt. Nach welcher er sich einbildet, dass er alle Ideen der Menschheit, und alles was nur auf dem Boden der höchsten Freiheit als zarte Pflanze der Individualität gedeiht, durch Zwang realisieren könne, nach welchem durch die ewige Berufung auf das Staatswohl jede Privatfreiheit verschwindet. Eine auf diese Ansicht gebaute Gesetzgebung will auch den militärischen Zwang auf jeden Privatrechtsstreit übertragen, sie fürchtet den Gebrauch der Privatfreiheit, und die Vorstellung von der Gewalt bewegt den Staat, auch den zur Entscheidung des Streits beauftragen Richter mit solcher Gewalt zu versehen.“1

Deutlich wird hier Mittermaiers Opposition zu den überkommenen Vorstellungen eines absolutistisch-bevormundenden Staates. Aus einer eindeutig liberalen Gesinnung heraus hält er die individuelle bürgerliche Freiheit für eines der höchsten Güter überhaupt. In diesem Spannungsfeld – auf der einen Seite die ihre Forderungen immer selbstbewusster formulierenden liberalen Kräfte, auf der anderen Seite eine restaurative Gegenbewegung – mussten sich die Reformen des preußischen Zivilverfahrensrechts bewähren. Mittermaier demonstriert also vor allem, dass hinter der Ausgestaltung des Zivilverfahrens zugleich eine politische Grundentscheidung steht. Eine jede Prozessordnung ist dabei durch sie prägende Verfahrensgrundsätze ausgestaltet, welche diese Grundentscheidungen des Gesetzgebers besonders veranschaulichen. Begrifflich können Verfahrens – bzw. Prozessgrundsätze zwar in einem engeren2 und einem weiteren3 Sinne verstanden werden. Doch soll es vorliegend ausreichen, die Begriffe „Prozessgrundsätze“ und „-maximen“ synonym zu verwenden, nämlich als diejenigen Rechtsgrundsätze, die den äußeren Ablauf eines Zivilprozesses und das Verhalten von Gericht und Parteien bestimmen4.

Ziel der Untersuchung ist es, die Prozessgrundsätze der preußischen Entwürfe und Reformen auf dem Gebiet des Zivilverfahrens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts darzustellen sowie deren Entwicklung nachzuzeichnen. Vermittelt werden soll dabei die grobe Struktur des Verfahrens, nicht dessen Ausgestaltung im Detail. Im Wesentlichen wird es um die Kompetenzverteilung zwischen Richtern und Parteien gehen. Soll es beispielsweise den Parteien obliegen, den Tatsachenstoff in den Prozess einzuführen und die Beweisbedürftigkeit von Behauptungen herbeizuführen (Verhandlungsmaxime5 )? Oder soll die Verantwortlichkeit dafür beim Gericht liegen (Untersuchungsmaxime6 )? Auch der äußere Ablauf des Verfahrens birgt Streitpunkte: Soll der Prozess überhaupt und wenn ja, welche Teile davon mündlich oder schriftlich bzw. öffentlich oder nichtöffentlich ablaufen? Damals wie heute weitgehend unumstritten war und ist hingegen die Geltung der Dispositionsmaxime7 im Zivilverfahrensrecht; also die Frage danach, ob es Sache der Parteien ist, das Verfahren durch einen Antrag einzuleiten und über den Streitgegenstand zu verfügen. Hierauf ist deshalb nur am Rande einzugehen.

Der entwicklungsgeschichtliche Weg der preußischen Entwürfe zu einer Zivilprozessordnung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt indes mit einer Beschreibung der politischen und rechtlichen Ausgangslage vor den Reformen (B.): was waren die damals dominierenden politischen Vorstellungen; welche zivilverfahrensrechtlichen Regelungen galten nach 1815 in Preußen und standen als Erfahrungsgrundlagen für die Gesetzgebungsvorhaben bereit? Schließlich soll die anschließende, vor allem auf die Gesetzesmaterialien gestützte Darstellung der Reformentwürfe und ihrer Prozessgrundsätze (C.) nicht losgelöst von ihrem gesellschaftshistorischen Kontext erfolgen.

B. Politische und rechtliche Ausgangslage vor den preußischen Reformen des Zivilprozesses

I.Streben nach Rechtseinheit in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts

War die erste Reaktion in Deutschland auf die Französische Revolution von 1789 noch ambivalent8, sympathisierten Teile der öffentlichen Meinung mit deren Ideal einer Erneuerung der Nation in Einheit, Freiheit und Gleichheit spätestens, nachdem Napoléon das linke Rheinufer annektierte (1801), den Rheinbund schuf sowie das

Alte Reich zur Auflösung zwang (1806)9. Als sich nach Napoléons Niederlage in Russland im Winter 1812 die Anzeichen für eine Befreiung von seiner Herrschaft mehrten, setzte in Deutschland eine intensive Beschäftigung mit den Möglichkeiten einer politischen Neugestaltung ein10. Dabei nahm der Liberalismus die aufklärerischen Vorstellungen der Französischen Revolution auf. Die Gesellschaft sollte aus (in ihrer Rechtsstellung) freien und gleichen Bürgern bestehen; das Eigentum staatlich geschützt, frei und einer marktwirtschaftlichen Ordnung unterworfen sein11. Der Konservatismus zielte hingegen darauf, Monarchie und alte Gesellschaftsordnung zu bewahren oder nur vorsichtig zu verändern12. Viele erwarteten, dass mit dem Ende der Fremdherrschaft auch der in weiten Teilen Deutschlands eingeführte Code Napoléon wieder verschwinden würde. Andere13 hielten gerade jetzt die Zeit für gekommen, auch Deutschland ein modernes nationales Gesetzbuch zu geben14 ; denn die Emanzipation der bürgerlichen Gesellschaft von den alten feudalen und obrigkeitlichen Gewalten verband sich damals gerade mit der Idee der Einheit, Gleichheit und Freiheitlichkeit der nationalen Rechtsordnung15. Die Entscheidung des Wiener Kongresses 1815 gegen einen deutschen Nationalstaat16, nahm jedoch den Forderungen nach einer gesamtdeutschen Rechtsreform auf dem Gebiet des Zivil-, Handels-, Straf- und Prozessrechts vorläufig den Wind aus den Segeln17.

II. Die Stein-Hardenbergschen Reformen

Die preußische Agrargesellschaft befand sich schon im ausgehenden 18. Jahrhundert in einer schweren Krise. Preußen (und viele andere deutsche Staaten) leiteten deshalb zu Beginn des 19. Jahrhunderts grundlegende Reformen ein. Diese strebten einerseits eine rationale Umgestaltung des Regierungs- und Justizapparates an18. Andererseits dienten sie dazu, den bereits vollzogenen gesellschaftlichen Wandlungen Rechnung

zu tragen oder dafür weitere Voraussetzungen zu schaffen19. Es galt das zu beseitigen, was die ständische Ordnung an politischer und wirtschaftlicher Ungleichheit verursacht hatte20. Preußen sah sich zu der Einleitung von Reformen nicht zuletzt aus finanzpolitischen Gründen gezwungen. Es musste nämlich hohe Entschädigungszahlungen nach den militärischen Niederlagen im Herbst 1806 (Jena, Auerstedt) an Frankreich zahlen21. Angriffsziel der Reformen war also die überkommene ständische Ordnung, die maßgeblichen Reformer Freiherr vom Stein (1757 – 1831) sowie der preußische Staatskanzler Hardenberg (1750 – 1822)22. Die Reformen waren durchaus von einigen Ideen der Französischen Revolution inspiriert, insbesondere Hardenberg galt als Verfechter einer rücksichtslos egalitären Politik23. Doch sollte der preußische Absolutismus keinesfalls revolutionär erneuert werden. Die Reformer beabsichtigten vielmehr, Überlieferung und Fortschritt durch legislative Eingriffe in Einklang zu bringen24.

III.Drei Systeme des Verfahrensrechts in Preußen nach dem Wiener Kongress

Preußen verlor im Zuge der gebietlichen Neuordnung in Folge des Wiener Kongresses seine Rechtseinheit25. Auf dem Gebiet des Zivilprozessrechts galten fortan mit dem gemeinrechtlichen und dem französischen Zivilverfahren sowie der preußischen Allgemeinen Gerichtsordnung drei gänzlich unterschiedliche Regelungssysteme.

1) Das gemeinrechtliche Zivilverfahren

a)Ursprung und Rezeption

Der gemeinrechtliche Zivilprozess wurzelt im römisch-kanonischen Prozessrecht26 und wurde Ende des 15. Jahrhunderts zur Grundlage der Reichsgesetze27. Das Reichskammergericht war in besonderem Maße Schrittmacher der Rezeption28. Im Verhältnis zu den besonderen Prozessrechten von Reich und Territorialstaaten galt der

gemeine (d.h. allgemeine29 ) Prozess lediglich subsidiär30. So entstand ein gemeinrechtliches Gefüge prozessualer Grundregeln31. Doch trotz aller landesspezifischen Unterschiedlichkeiten32 enthielten die Prozessordnungen der Länder des Deutschen Reiches zu Beginn des 19. Jahrhunderts gemeinsame (idealtypische) Strukturen eines gemeinen Prozessrechts33.

b) Prägende Merkmale

Das gemeinrechtliche Zivilverfahren war in erster Linie darauf ausgerichtet, die Sicherheit und Ordnung der Rechtspflege zu gewährleisten34. Es war durchgängig schriftlich . Dem Urteil durfte demnach nur zugrunde liegen, was zuvor (schriftlich) in die Akten aufgenommen worden war: „ Quod non est in actis, non est in mundo35. Dies sollte eine gründliche Feststellung des Verfahrensstoffs sicherstellen36. Das schriftliche Vorgehen machte Wahrheitssuche und Urteilsfindung mittelbar . Richter und streitende Parteien waren systematisch wie räumlich voneinander getrennt, kommunizierten nur über die Prozessakten37. Das Institut der Aktenversendung verstärkte diese Tendenz noch. Hiernach konnten Richter bei der Entscheidung schwieriger Rechtsfragen Gutachten und Stellungnahmen von Rechtsgelehrten der Universitäten oder höherer Gerichte einholen. Die Konsultierten trafen dann ein streitentscheidenes Urteil, obwohl sie weit vom Prozessort entfernt waren und keinerlei Anschauung des Sachverhalts hatten38. Schließlich war das Verfahren nichtöffentlich bzw. „heimlich“39 ; den Gerichtspersonen also jede Mitteilung aus den Prozessakten an Dritte unbeteiligte Personen untersagt40. Die Richter sollten ihre Entscheidungen nämlich zur Beförderung der Objektivität der Rechtsprechung „in abstrakter Reinheit, frei von allem Einflusse aller Persönlichkeit und sogenannter menschlicher Beweggründe“41 fällen.

Ferner prägte die Eventualmaxime das gemeinrechtliche Zivilverfahren. Sie verpflichtete die Parteien unter Androhung der Präklusion

„verschiedene Angriffs- und Vertheidigungsmittel auf einmal, und da sie vielleicht nicht alle nothwendig seyn können, doch subsidiarisch und eventuell“42 vorzubringen.

Denn keine Prozesspartei weiß mit Sicherheit, wie sich der Gegner auf ihren Vortrag einlassen wird. Um eine Präklusion zu vermeiden, wird sie daher auch Behauptungen und Beweismitteil vorbringen, die sie ohne Präklusionsandrohung wohl solange nicht vorbringen würde, bis sie die Einlassung des Gegners kennt. Die Präklusion zwingt also die Parteien, auch das vorzutragen, was nur eventuell bedeutsam werden kann43. Eventualmaxime und Schriftlichkeit bedingen sich dabei wechselseitig44. Denn nur soweit der Gegner von allem – auch nur eventuellen – Vorbringen vollständig und ausführlich unterrichtet ist, kann es gerechtfertigt sein, ihn zu erschöpfender Erwiderung zu zwingen45. Die Eventualmaxime bezweckte, dem Verfahren eine zwingende innere Ordnung zu geben und es so zu beschleunigen46. Für das Verfahren wurden also feste Schriftsatzfristen bestimmt, in denen die sich wechselseitig voraussetzenden Prozesshandlungen zu erfolgen hatten47. Klage, Beantwortung, Replik und Duplik standen in einer natürlichen Reihenfolge zueinander, die es erlaubte, den Prozess in Abschnitte zu gliedern48. Charakteristisch war insofern die Teilung des Erkenntnisverfahrens in Verhandlungs- und Beweisabschnitt49. Der Verfahrensstoff des einen Teils durfte in der Regel in dem anderen nicht verhandelt werden50.

Schließlich war die Verhandlungsmaxime typisch für das gemeine Prozessrecht51. Als Ausdruck der römisch-rechtlichen „höchsten Privatfreiheit“52 beruhte sie auf der Befugnis der Bürger, mit ihren Rechten nach freier Willkür zu verfahren. Von Gönner , der das Begriffspaar Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime Anfang des

19. Jahrhunderts einführte und prägte53, unterschied folgendermaßen:

„Bey dem auf Verhandlungen berechneten Prozesse gilt der Grundsatz, dass der Richter nichts thut, als veranlaßt durch das Vorbringen einer Parthey, nicht blos im Ausbruch des Rechtsstreits, sondern bey dem ganzen Laufe eines Prozesses; bey dem auf die Untersuchungsmaxime berechneten Prozesse handelt der Richter, sobald er durch die Klage aufgefordert ist, immer von Amtswegen, dort thut er

Nichts – Hier Alles von Amtswegen.“54 (Hervorhebungen von Bearbeiter)

Terminologisch fehlte offenbar noch eine klare Trennung zwischen der auf die tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen bezogenen Verantwortungsverteilung (Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime im heutigen Verständnis) und der Befugnis der Parteien über ihre Rechtsansprüche zu verfügen (Dispositionsmaxime). Die Bezeichnung „Dispositionsmaxime“ kommt auch erst in der zweiten Hälfte des

19. Jahrhunderts auf55. So verbindet die damaligen Verhandlungsmaxime Elemente der heutigen Dispositions- („im Ausbruch des Rechtsstreits“) und Verhandlungsmaxime („bey dem ganzen Laufe eines Prozesses“).

c) Kritik am gemeinrechtlichen Zivilverfahren

Das gemeinrechtliche Zivilverfahren erfuhr seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend Kritik. Denn ein Verfahren, das die Parteien im gerichtlichen Streit anonymen Mächten auslieferte und in dem die richterliche Entscheidungsfindung genauso undurchschaubar wie unkontrollierbar – eben geheim – blieb, entsprach den seit der Aufklärung entwickelten Vorstellungen eines freien und mündigen Staatsbürgers nicht mehr56.

2) Die Fridericianische Prozessordnungen

a) Das Corpus Juris Fridericianum von 1781

Preußen versuchte schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts seinen Zivilprozess zu reformieren, vor allem zu beschleunigen57. Zu nennen sind hier in erster Linie die zwar preußisch akzentuierten jedoch noch auf Grundlage des gemeinrechtlichen Zivilverfahrens stehenden58 Gesetzesvorhaben von Coccejis 59. Trotz aller Anstrengungen blieb das preußische Zivilverfahren lange hinter den Errungenschaften etwa der sächsischen oder bayerischen Prozessrechte zurück60. Dies gab schließlich Anlass zu einer grundlegenden Prozessreform, für die sich Großkanzler von Carmer 61 und sein Mitarbeiter Svarez verantwortlich zeigten. Vom Naturrecht inspiriert lagen deren „Corpus Juris Fridericianum“ vom 26.04.1781 (CJF) erstmals konkrete Prinzipien zugrunde, nach denen der Zivilprozess konstruiert werden sollte62. „Vornehmster Endzweck“ war es, den Richter in Stand zu setzen, die Wahrheit selbst aufzusuchen; dagegen aber auch die Parteien gegen alle willkürlichen Behandlungen zu sichern63. Zu den wesentlichen richterlichen Pflichten zählten der richterliche Prozessbetrieb, die Pflicht zur Belehrung rechtsunkundiger Parteien sowie die Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (zusammenfassend als Instruktionsmaxime bezeichnet)64. Mit der gestärkten Stellung des Gerichts einher ging die Abschaffung der Advokaten als Vertreter der Parteien. Diese hätten das Verfahren nur verzögert und verteuert. Deshalb sollte statt ihrer der Richter verpflichtet sein, die Parteien persönlich zu hören65. Anstelle der Advokaten führte man die sog. Assistenzräte ein. Sie nahmen eine Zwischenstellung zwischen Richtergehilfen und Parteivertretern ein, waren jedoch Gerichtspersonen66. Kennzeichnend für das neue Instruktionsverfahren war ein vom erkennenden Gericht ernannter und von diesem verschiedener Instruent, der den Sach- und Streitstand (status causae et controversiae) festzustellen und die notwendigen Beweise aufzunehmen hatte. Erst danach kam die Sache vor das erkennende Gericht67. Mangels Verantwortlichkeit der Parteien für die rechtzeitige Einbringung des Prozessstoffes wurde die Eventualmaxime sowie das Beweisurteil mit der dadurch bewirkten Verfahrensgliederung aufgegeben68. Mit seiner naturrechtlichen Ausrichtung an Maximen und vor allem der Einführung des Instruktionsverfahrens löste das CJF den preußischen Zivilprozess aus dem gemeinrechtlichen Kontext69, ohne diesen dabei gänzlich zu verlassen70.

b) Die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793/95

Im folgenden Jahrzehnt arbeiteten von Carmer und Svarez an einer Umgestaltung des CJF71. Im Wesentlichen auf dessen Leitgedanken beruhte dann die am 06.07.1793 verkündete und im Druck erst 1795 vollendete „Allgemeine Gerichtsordnung für die preußischen Staaten“ (AGO)72. Die Revisoren nahmen lediglich eine größere Veränderung vor: Sie schafften die Assistenzräte wieder ab. An deren Stelle führten

sie Advokaten in Gestalt beamteter Justizkommissare als echte Parteivertreter ein73. Weiterhin kam der Instruktionsverhandlung mit ihrer gerichtlichen Wahrheitsermittlung von Amts wegen (heute: Untersuchungsgrundsatz) weiterhin eine wesentliche Bedeutung zu74. Die Parteien hatten die Pflicht, dem Richter die Wahrheit zu sagen75. Dabei war der Richter jedoch

„bei seinen Bemühungen zur Erforschung der Wahrheit nicht an die Angaben der Parteien gebunden“, sondern hatte „das Recht und die Pflicht, auch andere Mittel, die sich ihm aus dem Vortrage der Parteien und aus ihren Verhandlungen darbieten, anzuwenden“76.

Die Eventualmaxime fehlte nach wie vor. Außerdem war das Verfahren mittelbar und in einem „noch höheren Grade“ schriftlich , „als dies vom gemeinen Prozess gesagt werden kann“77.

c) Kritik an der Allgemeinen Gerichtsordnung

Der vernunftrechtliche Ansatz der AGO war auf vorindustrielle Verhältnisse bezogen und konnte mit den neuen ökonomischen und sozialen Realitäten78 einer frühindustriellen Gesellschaft nicht mithalten79. Die Kritik an der AGO richtete sich vor allem gegen das als kompliziert empfundene Instruktionsverfahren, die amtliche Untersuchungspflicht überforderte die Gerichte80. Außerdem entsprach sie in ihrer absolutistisch-bevormundenden Art nicht mehr den Vorstellungen einer immer selbstbewusster werdenden bürgerlichen Gesellschaft81.

3) Französisches Zivilprozessrecht in Deutschland und Preußen

a) Räumliche und zeitliche Geltung

Nachdem Preußen das linke Rheinufer faktisch bereits 1795 an Frankreich abtreten musste, besiegelte der Frieden von Lunéville (1801) diesen Vorgang endgültig82. In den nun französischen linksrheinischen Gebieten führte Frankreich seine gesamte Rechtsordnung ein83. Somit wurde auch der französische Code de procédure civile (C.p.c.) von 1806 beispielsweise in der bayerischen Pfalz, den preußischen Rheinprovinzen und (ab 1811) in den hanseatischen Departements unmittelbar

geltendes Recht84. Nach den Befreiungskriegen und dem Ende der französischen Vorherrschaft wurden die vormals französischen Gebiete der Rheinlande 1815 unter den siegreichen deutschen Staaten (einschließlich Preußens) aufgeteilt85. Preußen versuchte von nun an, die rechtlichen Hinterlassenschaften der ehemaligen Besetzungsmacht zu beseitigen. Doch im Gegensatz zu vielen anderen einst besetzten Gebieten86 blieb das französische Prozessrecht in den preußischen, hessischen und bayerischen Rheinlanden bestehen87.

b) Einfluss auf die rechtspolitische Diskussion

Der französische Prozess nach dem C.p.c. beruhte auf den Grundsätzen des Parteibetriebes (Verhandlungsmaxime) mit Anwaltszwang sowie der Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Verhandlung bei freier Beweiswürdigung durch unabhängige Richter88. Ein Austausch von Schriftsätzen zur Vorbereitung und Förderung der mündlichen Verhandlung war nicht ausgeschlossen89. Durch seine als fortschrittlich- liberal empfundenen90 Grundsätze der Mündlichkeit und Schriftlichkeit stellte der

C.p.c. eine Gegenposition zu den kritisierten gemeinrechtlichen und preußischen Zivilverfahren dar. Doch anders als der mit Begeisterung aufgenommenem Code civil, dessen sich auch sein Schöpfer Napoléon rühmte91, vermochte das französische Verfahrensrecht nicht durchgängig zu überzeugen92. Kritisiert wurden handwerkliche Mängel wie das Fehlen eines allgemeinen Teils oder ein Zuviel an zwingenden Formvorschriften93. Wenn überhaupt sprach man sich für eine Übernahme des C.p.c. aus, weil eine isolierte Rezeption des Code civil nicht für möglich gehalten wurde94. So kam es besonders in den Rheinlanden zu einer intensiven politischen Auseinandersetzung um die liberal-fortschrittlichen Schlagworte Öffentlichkeit und Mündlichkeit 95.

IV. Zusammenfassung

Im Verlauf der napoléonischen Besatzung erhielten in Deutschland die Forderungen nach einer liberalen und fortschrittlichen Kodifikation in allen Rechtsgebieten, auch einer Rezeption des französischen Rechts, immer mehr Gewicht. Ob dabei immer dessen liberaler Charakter und die Verwirklichung aufklärerischer Ideale im Vordergrund stand oder handfeste wirtschaftliche Motive96, kann hier dahinstehen. Mit der Entscheidung gegen einen deutschen Nationalstaat kam diese Bewegung vorerst zum Erliegen. In Preußen waren es derweil eher äußere Notwendigkeiten (militärische Niederlage, sozialer Wandel, rechtliche Integration der neuen Territorien durch Beseitigung der von Frankreich hinterlassenen Rechtsmasse) als ideelle Motive, die ein Bedürfnis zu allgemeinen Reformen sowie zur Revision der Rechtsordnung auslösten. Auf dem Gebiet des Zivilverfahrensrechts waren nach dem Wiener Kongress in Preußen drei Prozessrechtssysteme beheimatet. Diese Regelungen dienten den anschließenden Gesetzesvorhaben als Ausgangspunkt wie Erfahrungsgrundlage; hieran entzündete sich die Kritik der Reformer. In den altpreußischen Landen galt weiterhin die AGO, in den linksrheinischen und einigen rechtsrheinischen Territorien97 der C.p.c. und in den von Sachsen abgetretenen Gebiete das gemeine Prozessrecht98. Der gemeinrechtliche Zivilprozess zeichnete sich schlagwortartig formuliert durch Schriftlichkeit, Mittelbarkeit und Nichtöffentlichkeit aus; es galten Verhandlungs- und Eventualmaxime. Die preußische AGO grenzte sich davon vor allem durch ihre starke Stellung des Richters bei Geltung der Instruktionsmaxime ab und löste sich so aus dem gemeinrechtlichen Kontext. Das französische Zivilverfahren schließlich prägten als modern und liberal geltende Elemente der Mündlichkeit und Öffentlichkeit.

C. Die preußischen Reformen des Zivilprozessrechts von 1817 bis 1848

I. Reformbedürfnis und Zuständigkeit

Zwei Aufgaben werden die Prozessrechtsreformen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Preußen bestimmen: Zum einen die Wiederherstellung der Rechtseinheit in allen – altpreußischen wie hinzugewonnen – Landesteilen99, zum anderen die Revision der AGO selbst. Die Zuständigkeit für die Reform des

Zivilprozesses oblag dem preußischen Justizministerium. Eingerichtet im Rahmen der Verwaltungsreformen im Dezember 1808 war das Justizministerium Teil des Staatsministeriums100, einem nur dem König von Preußen unterstellten Exekutivorgan. Das königliche Entscheidungsrecht blieb zwar unangetastet, doch hatten die Minister kraft ihres überlegenen Sachverstandes eine starke Position gegenüber dem Monarchen inne. In ihrer Machtfülle überflügelt wurden sie nur noch durch Hardenberg . Als oberster Minister und Staatskanzler (ab 1810) kontrollierte dieser mit umfassenden Befugnissen die sonstigen Minister und deren Zugang zum König101.

[...]


1 Mittermaier 1820, S. 5 – 8.

2 Alle Rechts grundsätze , an denen der Gesetzgeber die Regelung des äußeren Verfahrensablaufs und das Verhältnis von Gericht und Parteien ausgerichtet hat (Rauscher in: MüKo-ZPO Einleitung Rn 271).

3 Die das Wesen des Zivilprozesses prägenden Prozess maximen , also Grundsätze, die die Verteilung der Aufgaben zwischen Gericht und Parteien regeln, die Dauer des Verfahrens beeinflussen sowie die Durchführung des Beweises und die Beweiswürdigung betreffen (Rauscher in: MüKo-ZPO Einleitung Rn 272).

4 Musielak in: Musielak-ZPO Einleitung Rn 26.

5 Auch als Beibringungsgrundsatz oder Parteimaxime bezeichnet, Jauernig 2007, S. 70.

6 Auch als Inquisitionsgrundsatz oder Amtsmaxime bezeichnet, Jauernig 2007, S. 70.

7 Prütting in: GMP-AGG Einleitung Rn 211.

8 Spätestens nach der Hinrichtung Ludwig XVI. schlug sie in Entsetzen um (Wieacker 1974, S. 83).

9 Wieacker 1974, S. 83.

10 Schöler 2004, S. 87.

11 Coing 1989, S. 70.

12 Coing 1989, S. 71.

13 Stellvertretend Thibaut mit seiner Schrift „über die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts in Deutschland“ von 1814, der damit Savignys „vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ herausforderte, dazu ausführlich: Schöler 2004, S. 106 – 113.

14 Kroeschell 2008, S. 128.

15 Wieacker 1974, S. 80.

16 Der Deutsche Bund, dessen Verfassung auf der Deutschen Bundesakte von 1815 beruhte, entsprach dem klassischen Modell eines Staatenbundes, Eisenhardt 2008, S. 312.

17 Wieacker 1974, S. 84.

18 Willoweit 2009, S. 210.

19 Eisenhardt 2008, S. 289, 290.

20 Maßnahmen waren vor allem die „Bauernbefreiung“ und Einführung der Gewerbefreiheit, Eisenhardt 2008, S. 295 – 298.

21 Willoweit 2009, S. 210.

22 Ausführlich zum Werdegang von Stein und Hardenberg : Hubatsch 1977, S. 1 – 11.

23 Willoweit 2009, S. 210.

24 Eisenhardt 2008, S. 290.

25 Dahlmanns in: Handbuch, S. 2649.

26 Wesener in: HRG Bd. 4, Sp. 58.

27 Wieacker 1967, S. 177.

28 Im sog. „Kameralprozess“, eingeführt durch die Kammergerichtsordnungen von 1495, 1521 und 1555, Nehlsen-von Stryk in: HRG Bd. 2, Sp. 185.

29 Wieacker 1974, S. 82.

30 Wach 1885, S.130, dort auch eine Übersicht der Territorien mit Geltung des gemeinen Rechts. 31 Bomsdorf 1971, S. 27.

32 Hervorzuheben ist insbesondere der vom Kameralprozess abweichende sächsische Prozess (Conrad 1966, S. 458).

33 Koch 1994, 157 (158).

34 Wach 1885, S. 132.

35 Osterloh 1856, Bd. 1, S. 55.

36 Ahrens 2007, S. 16.

37 Heute würde man wohl eher den Begriff geheim benutzten. 38 Zur Aktenversendung Koch 1994, 157 (158, 159).

39 Ahrens 2007, S. 17.

40 Osterloh 1856, Bd. 1, S. 58.

41 So ein (anonymer) „sächsischer Staatsdiener“ aus dem Jahr 1826. Zitiert nach Dahlmanns 1971, S. 19 Fn 26.

42 Mittermaier 1820, S. 93.

43 Damrau 1975, S. 28.

44 Renaud 1873, S. 202.

45 Dahlmanns 1971, S. 22.

46 Schulte 1980, S. 10.

47 Ahrens 2007, S. 24.

48 Schubert, ZRG GA 85 (1968), 127 (128, 129).

49 Dahlmanns 1971, S. 22.

50 Leonhardt 1865, S. 11.

51 Böhm, Ius Commune VII (1978), 136 (141).

52 Mittermaier 1820, S. 11.

53 Bomsdorf 1971, S. 121.

54 Gönner 1801, S. 269.

55 Ahrens 2007, S. 139.

56 Koch 1994, 157 (159).

57 Mittermaier 1820, S. 21.

58 Dahlmanns in: Handbuch, S. 2646.

59 1739 das „Edikt über das Verfahren in Bagatellsachen“ und 1748 das „Projekt des Codicis Fridericiani Marchici“, dazu Grahl 1994, S. 35 – 40.

60 Schubert, Einführung in die Geschichte des preußischen Zivilprozesses, in: Entwurf 1864, S. VIII.

61 Dessen Amtsvorgänger und Widersacher von Fürst nach einem Streit mit Friedrich II. in Folge der Müller-Arnold-Prozesse entlassen wurde, Ebel 1982, S. 11.

62 Nörr 1976, S. 25.

63 Schubert, Einführung in die Geschichte des preußischen Zivilprozesses, in: Entwurf 1864, S. XIII. 64 Ahrens 2007, S 104.

65 Münks 1992, S. 124.

66 Bomsdorf 1971, S. 76.

67 Schubert, ZRG GA 85 (1968), 127 (145).

68 Henckel 1980, 111 (123).

69 Ahrens 2007, S. 84.

70 Nörr 1975, S. 1.

71 Dahlmanns in: Handbuch, S. 2647.

72 Schubert, Einführung in die Geschichte des preußischen Zivilprozesses, in: Entwurf 1864, S. XV.

73 Dahlmanns in: Handbuch, S. 2648.

74 Adler 2006, S. 91.

75 § 13 der Einleitung der AGO von 1793.

76 § 17 der Einleitung der AGO von 1793.

77 Gesetzrevision Abt. II, Bd. 9/1. Hbd., S. 80.

78 So stieg die Anzahl der Zivilprozesse und Mahnverfahren in Preußen von ca. 165 000 Verfahren 1815 auf 2,7 Millionen im Jahr 1913, Wollschläger, ZNR 1981, 16 (18).

79 Ahrens 2007, S. 146.

80 Ahrens 2007, S. 147.

81 Wellmann 1870, S. 3.

82 Willoweit 2009, S. 202 – 204.

83 Schubert 1977, S. 23.

84 Schubert 1977, S. 577.

85 Ahrens 2007, S. 47.

86 Insbesondere in nur kurzzeitig besetzten Staaten wie dem Königreich Hannover oder den freien Städten Hamburg, Bremen und Lübeck wurde das französische Recht schnell wieder aufgehoben, vgl. Ahrens 2007, S. 46, 47.

87 Conrad 1969, 78 (85).

88 Wesel, DIE ZEIT vom 18.02.2009, 1 (3).

89 Conrad 1966, S. 470.

90 Schubert 1977, S. 576.

91 In Verbannung auf St. Helena soll er über seine Taten resümierend gesagt haben: „Mein wahrer Ruhm besteht nicht darin, dass ich vierzig Schlachten gewonnen habe. Was immer bleiben wird, ist mein Code civil.“, zitiert nach Wesel, DIE ZEIT vom 18.02.2010, 1 (2).

92 Dölemeyer, Ius Commune VII (1978), 179 (184).

93 Koch 1994, 157 (162 – 166).

94 Schöler 2004, S. 64 m.w.N.

95 Dahlmanns 1971, S. 32.

96 So Schubert 1994, 123 (146).

97 Conrad 1969, 78 mit einer Karte der Gebiete des französischen Rechts auf linken (S. 102, 103) und rechten (S. 110) Rheinseite.

98 Ahrens 2007, S. 145, 146.

99 Nörr 1975, S. 1.

100 Neben den Ministerien für Inneres, Äußeres, Finanzen und Krieg.

101 Dazu: Willoweit 2009, S. 213.

Ende der Leseprobe aus 52 Seiten

Details

Titel
Die preußischen Entwürfe zu einer Zivilprozessordnung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Prozessgrundsätze und Maximen
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Studienabschlussarbeit im Schwerpunktbereich Grundlagen des Rechts
Note
16 Punkte
Autor
Jahr
2010
Seiten
52
Katalognummer
V231431
ISBN (eBook)
9783656477112
Dateigröße
668 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
entwürfe, zivilprozessordnung, hälfte, jahrhunderts, prozessgrundsätze, maximen
Arbeit zitieren
Eike Ehlert (Autor:in), 2010, Die preußischen Entwürfe zu einer Zivilprozessordnung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Prozessgrundsätze und Maximen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/231431

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