Rekonstruktion und kritische Analyse der Volkssouveränitätslehre Michael Walzers


Essay, 2013

19 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Einleitung

Die Theorie des gerechten Krieges ist älter als das erstmalig 1977 veröffentlichte Buch „Just and Unjust Wars- A Moral Argument with Historical Illustrations” des Moralphilosophen Michael Walzer (geboren 1935). Sie lässt sich auf die katholische Moraltheologie und auf den Kirchenlehrer Augustin (354-430) zurückführen, der in der Umbruchsphase zwischen untergehender antik-römischer Welt und heraufziehendem christlich-germanischem Mittelalter sein Denken verschriftlichte. Dabei entwickelte er auch Umrisse einer Theorie des gerechten Krieges, wenngleich in unsystematischer und fragmentarischer Form[1]. In keiner einzigen Schrift beschäftigte er sich explizit mit dieser Fragestellung, vielmehr finden sich in seinen Schriften vereinzelte Stellungnahmen zur Frage des gerechten bzw. ungerechten Krieges. Thomas von Aquin (um 1224/1225-1274), der mittelalterliche Scholastiker par excellence, knüpfte an die fragmentarische Lehre des Kirchenvaters Augustin bei seiner eigenen Beschäftigung mit der Frage des gerechten bzw. ungerechten Krieges an bzw. über-nahm weitgehend dessen Überlegungen. Aber auch er widmete sich nicht systematisch dieser Fragestellung und auch er verfasste nicht eigens zu dieser Thematik eine eigene Schrift, sondern behandelte sie in seinem Hauptwerk „Summa theologiae“[2] als eine unter vielen Fragen. Und bei beiden resultierte die Beschäftigung mit dieser Fragestellung aus der Notwendigkeit heraus, eine theologisch-philosophische Antwort auf die praktische Frage zu formulieren, ob und wann und aus welchen Gründen es einem christlichen Gemeinwesen erlaubt war, in den Krieg zu ziehen, wie man diesen zu führen und wie man einen gerechten Frieden zu schließen hatte.

Walzers im 20. Jahrhundert entwickelte Lehre vom gerechten und ungerechten Krieg enthält eine von transzendenten Bezüge losgelöste, eine säkulare Moralphilosophie. Man könnte auch sagen eine postaufklärerische Moralphilosophie, in der der Mensch Gott definitiv als höchsten irdischen Souverän verdrängte, in der Ära der Volkssouveränität von Einzelstaaten. Daher gilt es innerhalb dieses angeführten ideengeschichtlichen Kontextes der Frage nachzugehen, welche normativen Gründe Michael Walzer zur Verteidigung der Volkssouveränitätslehre anführt. Denn es ist eben diese Lehre, die die Basis der walzerschen Verteidigung einzelstaatlicher Grenzen bildet. Aber es soll in diesem Essay nicht nur um eine Rekonstruktion der Argumentationsführung von Michael Walzer gehen, um ein Verständnis seines Denkens; sondern in einem zweiten kritischen und eigentlich erst philosophischen Schritt kann und muss es darum gehen, die Frage zu beantworten, welche Überzeugungskraft Walzers Ausführungen besitzen.

Einführende Bemerkungen

Die Grundlage der Beantwortung der hier formulierten Fragestellungen bilden drei von Michael Walzer im Zeitraum 1977- 2002 redigierte Texte.

1. Die erstmalig 1977 erschienene Monographie Walzers: „Just and Unjust Wars-A Moral Argument with Historical Illustrations” (4. Auflage, New York, 2006).
2. Der 1980 veröffentlichte Aufsatz: “The Moral Standing of States: A Response to Four Critics”[3].
3. Der im Winter 2002 publizierte Essay: “The Argument about Humanitarian Intervention”[4].

Die Heranziehung dieser drei unterschiedlichen Texte beruht nicht auf der Annahme einer voll-ständigen Übereinstimmung zwischen ihnen, sondern auf der Überlegung, dass die gleichberechtige Berücksichtigung aller drei Texte die Erklärungskraft von Walzers Theorie der kollektiven Selbst-bestimmung erhöht. Gleichwohl lässt sich meines Erachtens in allen drei Texten eine Kontinuität seines theoretischen Denkens in Bezug auf kollektive Selbstbestimmung und damit zusammen-hängend: eine Kontinuität der Gründe und der Umstände konstatieren, die eine Fremdeinmischung in das Selbstbestimmungsrecht der Völker legitimieren bzw. delegitimieren.

I: Die Rekonstruktion der walzerschen Auffassung kollektiver und volkssouveräner Selbstbestimmung

Meines Erachtens gelingt die Rekonstruktion von Walzers Verständnis kollektiver Selbstbestimmung nur dann, wenn man

- sein spezifisches Rechtsverständnis untersucht. Denn auf diesem Rechtsverständnis beruht seine Auffassung kollektiver Selbstbestimmung. Und es ist dieses spezifische Rechts-verständnis, welche den überaus engen Zusammenhang zwischen der kollektiven Selbst-bestimmung und dem Recht eines Staates auf politische Souveränität und territoriale Integrität erklärt.
- Und wenn man den Begriff der kollektiven Selbstbestimmung inhaltlich von dem Begriff der politischen Freiheit abgrenzt. Denn Walzer erläutert sein Verständnis von kollektiver Selbstbestimmung auch mit Hilfe einer negativen Definition, d. h. in dem er angibt, was kollektive Selbstbestimmung gerade nicht ist.

Am Ende will ich erläutern, welcher Zusammenhang zwischen der kollektiven und volkssouveränen Selbstbestimmung und verschiedenen Typen militärischer Interventionen besteht.

I a: Walzers spezifisches Rechtsverständnis

Walzer erläutert in seinem Aufsatz „The Moral Standing of States” (S. 224), was er unter Rechten versteht. Er definiert Rechte als “Verteilungsprinzipien”[5], die einem Individuum bzw. einem staat-lichen Kollektiv entscheidungsfällende Autorität zuteilen.

Im Falle des Individuums besteht sein Recht darin, sein Leben betreffende Entscheidungen selbst zu fällen oder etwas pathetischer ausgedrückt: sein eigenes Schicksal selbst zu bestimmen. Dieses Recht des Individuums auf Selbstbestimmung beinhaltet zugleich eine Negation: Nämlich die Ablehnung eines Mitsprache rechts anderer Individuen bei der Ausgestaltung des eigenen Lebens, bei der Bestimmung des eigenen Schicksals, denn das individuelle Recht der Selbstbestimmung schließt eine Fremdbestimmung durch andere und insbesondere durch staatliche Amtsträger aus.

Im Falle eines staatlichen Kollektivs besteht das Recht des Kollektivs, d. h. der Gesamtheit der den Staat konstituierenden individuellen Mitglieder, der Gesamtheit der Bürger eines solchen Gemeinwesens darin, die Lebensbedingungen, unter denen sie in einem solchem Gemeinwesen zusammenleben, selbst zu bestimmen, sich für staatliche Institutionen zu entscheiden, für die sie sich explizit aussprechen oder die sie zumindest stillschweigend unterstützen u.s.w. Kurzum: Ihr kollektives Schicksal selbst zu bestimmen, d. h. als Kollektiv nicht über ihr individuelles Leben Entscheidungen zu treffen, sondern die Gestalt ihres „gemeinschaftlichen Leben[s]“[6] zu stipulieren. Auch diese einem Kollektiv verliehene Autorität zur Bestimmung des eigenen Schicksals, auch dieses Recht der kollektiven Selbstbestimmung enthält die entschiedene Zurückweisung der Fremdbestimmung durch ein anderes staatliches Kollektiv. Nur die Angehörigen des eigenen Volkes haben das Recht über das eigene Schicksal zu befinden, fremde Völker besitzen dieses Recht oder diese Entscheidungsbefugnis nicht. Umgekehrt steht es uns nicht zu, das Selbstbestimmungsrecht fremder Völker durch eine militärische Einmischung in deren innere Angelegenheiten zu usurpieren[7].

Wie bereits ausgeführt, sind die Inhaber von Rechten die Besitzer einer Entscheidungs- bzw. Gestaltungsbefugnis entweder über ihr eigenes Leben als Individuum oder über ihr „gemeinschaftliches Leben“ als ein den Staat konstituierendes Kollektiv. Das theoretische Recht der individuellen bzw. kollektiven Selbstbestimmung bleibt praktisch allerdings solange folgen und wirkungslos, so-lange man nicht die notwendige materielle Voraussetzung für die Ausübung desselben schafft. Und das bedeutet: Die Schaffung eines physischen Raums, der vor allem eine entscheidende Garantie beinhaltet: Nämlich die Garantie der Freiheit vor Fremdeinmischung. Erst dieser Raum und die von diesem ausgehende Sicherheit ermöglichen die Ausübung des individuellen bzw. kollektiven Selbst-bestimmungsrechts. In einem individuellen Zusammenhang besteht dieser materielle Raum in der (relativen) Sicherheit der eigenen Wohnung oder des eigenen Hauses, in einem kollektiv-staatlichen Zusammenhang in der (relativen) Sicherheit der eigenen nationalen Grenzen. Die Relevanz von räumlichen Grenzen in Walzers theoretischem Konstrukt wird allerdings auch ersichtlich, wenn man das von ihm in seiner Monographie „Just and Unjust Wars” verteidigte Recht auf ein „gemein-schaftliches Leben“ betrachtet.

Walzer argumentiert, dass die Rechte von Staaten auf den Rechten von Individuen beruhen[8]. Die Rechte von Individuen umfassen das Recht auf Leben und Freiheit[9]. Im Laufe der Zeit mündet die kooperative Interaktion der Individuen aber in den Aufbau gemeinsamer Institutionen, in die Er-richtung eines von den Bürgern desselben wertgeschätzten staatlichen Gemeinwesens ein, Ausdruck des von den Individuen begründeten „gemeinschaftlichen Lebens“. Das „gemeinschaftliche Leben“ weist allerdings einen räumlichen Bezug auf, denn es entstand auf einem bestimmten Territorium. Wenn aber Leben und Freiheit zu den Rechten des Individuums gehören und sich die Rechte des Staates auf die Rechte von Individuen zurückführen lassen[10], dann bedeutet dies, dass die den Staat konstituierende politische Gemeinschaft, die aus dem Zusammenschluss der Einzelindividuen entsteht, nach der Begründung eines „gemeinschaftlichen Lebens“ auch ein Recht auf „gemeinschaftliche“ Freiheit hat. Diese „gemeinschaftliche“ Freiheit fasst Walzer primär negativ auf: Nämlich als die Freiheit von Fremdbestimmung durch andere Staaten bzw. durch andere diesen Staaten zugrundeliegende politische Gemeinschaften. Um diese negativ bestimmte Freiheit einer politischen Gemeinschaft zu sichern, müssen die territorialen Ausmaße des „gemeinschaftlichen Lebens“ sichtbar markiert werden: Durch die eigene Staatsgrenze bzw. grenzen, die gegenüber anderen politischen Gemeinschaften unmissverständlich angibt bzw. angeben, wo territorial betrachtet das „gemeinschaftliche Leben“ der Einzelindividuen beginnt und wo es aufhört. Oder anders ausgedrückt: Grenzen trennen unterschiedliche staatenbildende politische Gemeinschaften voneinander und diese durch Grenzmarkierungen bewirkte Trennung ist nicht nur notwendig, um sicherzustellen, dass die Bürger eines Staates nicht das Ziel gewalttätiger Übergriffe durch die Bürger eines anderen Staates werden, sprich: dass ihr individuelles Recht auf Leben (physische Existenz) nicht durch Fremde bedroht wird. Die Separation unterschiedlicher politischer Gemeinschaften ist vor allem notwendig, um sicherzustellen, dass quasi nur die „befugten“ Einzelindividuen am „gemeinschaftlichen Leben“ partizipieren, eine Partizipationsbefugnis, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker Fremden dezidiert bestreitet. Denn „gemeinschaftliches Leben“ setzt Gemeinsamkeit voraus. Oder wie Walzer es auf S. 228 seines Essays „The Moral Standing of States” selbst ausdrückt: „Politicsdepends upon shared history, communal sentiment, accepted conventions.. [etc. S. Z.].”.

[...]


[1] Eine konzise Einführung in die augustinische „Kriegsethik“ findet sich bei: Bronisch, Alexander Pierre: Reconquista und Heiliger Krieg, Münster, 1998, S. 20-24. Die meisten Aussagen zum Kriege finden sich ihm zufolge in dem augustinischen Werk „Contra Faustum Manicheum“ (S. 21), in dem sich Augustin gegen die manichäische „Häresie“ wandte.

[2] Jean-Pierre Torell zufolge redigierte Thomas von Aquin sein unvollendet gebliebenes Hauptwerk im Zeitraum 1265 bis Dezember 1273. Siehe hierzu: Magister Thomas-Leben und Werk des Thomas von Aquin, Freiburg im Breisgau, Basel-Wien, 1995, S. 341-343

[3] Erschienen in: Philosophy and Public Affairs, Band 9, Nr. 3, Frühling 1980, S. 209-229

[4] Erschienen in: Dissent, Winter 2002, S. 29-37. Von mir abgerufen unter:www.polylog.org/5/awm-en.htm

[5] The Moral Standing of States, S. 224: “Rights are in an important sense distributive principles”.

[6] Just and Unjust Wars, S. 54

[7] The Moral Standing of States, S. 210: “The state is presumptively,,the arena within which self-determination is worked out and from which, therefore, foreign armies have to be excluded”.

[8] Just and Unjust Wars, S. 53

[9] In dem Essay „The Moral Standing of States” (S. 224) definiert Walzer individuelle Rechte folgendermaßen: „When we describe individual rights, we are assigning individuals a certain authority to shape their own lives, and we are denying that officials, even well-meaning officials, are authorized to interfere”. Ich würde diese Definition dahingehend interpretieren, dass individuelle Rechte Individuen eine weitgehende Entscheidungs- und Gestaltungs-befugnis über ihr eigenes Leben verleihen. In seiner Monographie „Just and Unjust Wars” scheint Walzer allerdings noch eine minimalistische Version individueller Rechte bzw. des individuellen Selbstbestimmungsrechts zu vertreten: Denn die Reduzierung des individuellen Selbstbestimmungsrechtes auf eine Verfügungsgewalt über das eigene Leben (Andere Individuen dürfen mich nicht töten!) bzw. auf den Anspruch „minimaler Freiheit“ („Just and Unjust Wars, S. 101), verstanden als negativer Freiheit vor Versklavung, beinhaltet die in dem Essay „The Moral Standing of States” Individuen zugestandene weitgehende Entscheidungs- und Gestaltungsbefugnis über ihre jeweiligen Leben nicht.

[10] Just and Unjust Wars, S. 53: “The duties and rights of states are nothing more than the duties and rights of the men who compose them. This is the view of a conventional British lawyer,And it is the correct view”.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Rekonstruktion und kritische Analyse der Volkssouveränitätslehre Michael Walzers
Hochschule
Universität zu Köln  (Philosophisches Seminar/Institut)
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
19
Katalognummer
V231268
ISBN (eBook)
9783656480082
ISBN (Buch)
9783656480143
Dateigröße
506 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar der Dozentin bzgl. der Hausarbeit: "Ich finde Sie sehr gut gelungen".
Schlagworte
rekonstruktion, analyse, volkssouveränitätslehre, michael, walzers
Arbeit zitieren
Magister Artium Suad Zumberi (Autor:in), 2013, Rekonstruktion und kritische Analyse der Volkssouveränitätslehre Michael Walzers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/231268

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