Einflussfaktoren der Wahrnehmung relativer Lohngerechtigkeit

Eine Vignettenanalyse


Diplomarbeit, 2012

83 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I Theoretischer Teil
1 Gerechtigkeitskriterien der Lohndifferenzierung und Arten der Lohngerechtigkeit
1.1 Leistungsprinzip und Leistungsgerechtigkeit
1.2 Anforderungsgerechtigkeit und Verhaltensgerechtigkeit
1.3 Leistungsprinzip und Marktgerechtigkeit
1.4 Bedarfsprinzip und Bedarfsgerechtigkeit
2 Theorien der Verteilungsgerechtigkeit
2.1 Gleichheitsprinzip und Theorie des sozialen Vergleichs
2.2 Gleichheitsprinzip und Einkommensgleichheit
2.3 Theorie des sozialen Vergleichs und Status-Value Theorie
2.4 Equity-Theorie und Leistungsgerechtigkeit
2.5 Humankapitaltheorie und Qualifikationsgerechtigkeit
3 Stand der Forschung
3.1. Faktoren, die die Wahl eines Verteilungsprinzips beeinflussen
3.2 Empirische Studien zur Lohngerechtigkeit
4 Hypothesen
4.1 Vignettenebene
4.1.1 Arbeitsbeitrag
4.1.2 Länge der Betriebszugehörigkeit und Bildungsgrad
4.1.3 Familienstand
4.2 Befragtenebene
4.2.1 Persönlichkeitsmerkmale
4.2.2 Arbeitstätigkeit
4.2.3 Unternehmenseigenschaften
4.2.4 Finanzielle Situation der Befragten
4.3 Interaktionseffekte
4.3.1 Effektstärke und Familienstand
4.3.2 Effektstärke und Bildungsgrad
4.3.3 Effektstärke und Alter
4.3.4 Effektstärke und Länge der Betriebszugehörigkeit
4.3.5 Effektstärke und Vorgesetztenfunktion

II Empirischer Teil
1 Daten- und Methodenvorstellung
1.1 Sekundäranalyse
1.2 Methode Faktorielle Survey
1.3 Datensatz
1.4 Operationalisierung
2 Ergebnisse
2.1 Deskriptive Ergebnisse
2.1.1 Korrelationskoeffizienten
2.1.2 Datenstruktur
2.2 Multivariate Ergebnisse
2.2.1 Vignettenebene
2.2.2 Befragtenebene
2.3 Interaktionseffekte
2.3.1 Effektstärke und Familienstand
2.3.2 Effektstärke und Bildungsgrad
2.3.3 Effektstärke und Alter
2.3.4 Effektstärke und Länge der Betriebszugehörigkeit
2.3.5 Effektstärke und Vorgesetztenfunktion
3. Zusammenfassung und Diskussion
3.1 Rangfolge der Gerechtigkeitskriterien auf unterschiedlichen Analyseebenen
3.1.1 Vignettenebene
3.1.2 Befragtenebene
3.1.3 Interaktionseffekte
3.2 Zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse
3.3 Grenzen und Entwicklungspotenzial dieser Studie
4 Literaturverzeichnis
5. Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Elementare Formel des Equity-Prinzips

Abbildung 2: Zusammenfassung der Hypothesen

Abbildung 3: Bewertung der Einkommenssituationen. Die Vignettendimensionen und ihre Ausprägungen

Abbildung 4: Korrelationskoeffizienten ausgewählter Einflussvariablen

Abbildung 5: Regressionsmodell Vignettenebene

Abbildung 6: Regressionsmodell Befragtenebene

Abbildung 7: Regressionsmodell Interaktionseffekte

Einleitung

Die wirtschaftliche Weltkrise der vergangenen Jahre hat weltweit zur Stagnation der Reallöhne geführt, was an eine Zunahme von Einkommensungleichheit geknüpft wurde (Busch 2009). Während sich die Wirtschaft mittlerweile schrittweise von der Depression erholt, bleibt die Frage der Einkommensverteilung und der relativen Einkommensgerechtigkeit in Deutschland so aktuell wie nie. Laut Ergebnissen der Studie von Hinz und Liebig (2010) bewerten 51,6 Prozent der Befragten die heutigen sozialen Ungleichheiten in Deutschland als „zu groß“ und 39,1 Prozent als „viel zu groß“ (Hinz und Liebig 2010, S. 5). Dabei bewerten mindestens 64 Prozent der Auskunftspersonen ihr eigenes Erwerbseinkommen als „ungerechterweise zu niedrig“ (Hinz und Liebig 2010, S. 9). Die Studienergebnisse von Liebig und Schupp aus den Jahren 2005 und 2007 zeigen, dass das subjektive Ungerechtigkeitsempfinden bezüglich des eigenen Netto-Erwerbseinkommens im Beobachtungszeitraum zugenommen hat. Während im Jahr 2005 insgesamt rund 26 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland ihr Erwerbseinkommen als ungerecht bewerteten, betrug 2007 der Anteil derjenigen, die ihr Einkommen als ungerecht einstuften bereits 35 Prozent (Liebig und Schupp 2008, S. 435).

Vor allem im mittleren und oberen Einkommensbereich wachsen die Ungerechtigkeitsgefühle bezüglich des eigenen Einkommens: 2005 waren 21 Prozent der Erwerbstätigen mit einem Bruttoeinkommen von 3000 Euro mit ihrem Lohn unzufrieden, 2007 ist die Zahl der unzufriedenen Beschäftigten dieser Einkommensklasse auf 36 Prozent gestiegen. Die niedrigsten Schichten der Gehaltsskala zeigen hingegen kein wachsendes Gefühl, ungerecht entlohnt zu werden. Der Verfasser der DIW-Studie, Jürgen Schupp, äußert die Meinung, dass dies an den sich unter der Bevölkerung verbreitenden Eindruck gebunden werden kann, dass hoher Arbeitseinsatz nicht unbedingt gutes Einkommen sichert, was das Leistungsprinzip der gerechten Einkommensverteilung verletzt. (Liebig und Schupp 2008). Informationen über die wachsende Kluft zwischen den Einkommen, die mit der Einkommensunzufriedenheit der abhängig Beschäftigten korrespondiert, liefert auch der Armutsbericht der Bundesregierung:

„Unter Berücksichtigung der Preisentwicklung, die zwischen 1,1 % und 2,0 % variierte, gingen die Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer real zwischen 2002 und 2005 von durchschnittlich 24.873 Euro auf 23.684 Euro um 4,8 % zurück. Dabei nahm auch die Ungleichheit in der Verteilung zu, da der Anteil der unteren Dezile an den Bruttoeinkommen aus unselbständiger Arbeit leicht abnahm, während die Anteile im oberen Bereich zunahmen“[1]

Unter Berücksichtigung der natürlichen Ungleichheit der Individuen kann jedoch kein objektiver Maßstab der Lohnverteilung festgelegt werden und folglich kann objektiv gerechte Entlohnung kaum erreicht werden. Bis jetzt konnte die Frage nach der objektiv gerechten Einkommensverteilung trotz zahlreicher empirischer Untersuchungen zur Arbeitsbewertung, die sich mit den Messungen der physischen sowie psychischen Eigenschaften der Erwerbstätigen sowie mit den Arbeitsanforderungen unterschiedlicher Berufsfelder beschäftigen, nicht beantwortet werden. In diesem Zusammenhang spielt die subjektive Wahrnehmung eine wichtige Rolle für das individuelle Empfinden der absoluten Gerechtigkeit. So haben Folger und Konovsky (1989) nachgewiesen, dass die subjektive Gerechtigkeitsbeurteilung einen signifikanten positiven Einfluss auf die Einkommenszufriedenheit ausübt (Folger und Konovsky 1989, S. 122). Ähnliche Effekte wurden auch in den anderen empirischen Untersuchungen festgestellt, die zu dem Ergebnis kommen, dass die allgemeine Arbeitszufriedenheit von der Gerechtigkeitswahrnehmung der Lohnverteilung abhängig ist (Lengfeld 2002, S. 107).

Im Mittelpunkt des Diskurses zur Verteilungsgerechtigkeit steht die Frage nach der gerechten Grundstruktur der Gesellschaft und ihrer Institutionen. Die grundlegende Verbindung zwischen der Verteilungsgerechtigkeit und der Lohngerechtigkeit liegt in der Funktion des Geldes als zentrales Verteilungsinstrument: Die Struktur der Güterverteilung entspricht in einer kapitalistischen Gesellschaft der Struktur der Einkommensverteilung. Da die einzige Einkommensquelle für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die unselbstständige Erwerbstätigkeit darstellt, spielt die Entlohnungsstruktur eine zentrale Rolle für die soziale Verteilungsgerechtigkeit (Kößler 2001, S. 244).

Da aus den oben aufgeführten Gründen keine absolute Lohngerechtigkeit existiert, begrenzt sich die Frage der sozialen Gerechtigkeit im Einkommensbereich auf die Entwicklung der Auffassungen zur relativen Lohngerechtigkeit in der Gesellschaft. Gerechtigkeitsurteile sind gekennzeichnet durch den Bezug zu gesellschaftlichen Normen, die als Maßstäbe des Handelns dienen. Wenn eine Verteilungsregel von den Beschäftigten als sozial verbindlich angesehen wird, erheben sie Anspruch auf die Geltung der jeweiligen distributiven Norm auch bei der individuellen Entlohnung in einer Arbeitgeber-Arbeitnehmer Beziehung. Die Referenzstrukturen dienen somit als generalisierte Standards, auf deren Basis die Erwerbstätigen ihre Lohnerwartungen basieren (Berger 1972/Liebig 1997). Die subjektiven Wahrnehmungen und Bewertungen der Individuen stehen somit in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Kontexten und sozialen Strukturen. Man kann vermuten, dass die Gerechtigkeitsvorstellungen der Individuen ihrerseits die institutionellen Gerechtigkeitsgesichtspunkte beeinflussen können und als eine Legitimationsgrundlage für die gesellschaftlichen Normen dienen können (Lippl 2000, S. 5). Die Vorstellungen über Verteilungsgerechtigkeit der Bevölkerung können somit als sozialer Indikator des gesellschaftlichen Wohltands interpretiert werden:

„Ziel nicht eine sozialpolitische Bestimmung dessen, was gerecht bzw. ungerecht gelten soll; vielmehr geht es um die Frage, ob die Gesellschaft hinsichtlich ihres Zustandes und ihrer Veränderung aufgrund eines Verteilungskriteriums bewertet wird oder nicht, ob Verteilung und Bewertung gewissen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, die zu Unterschieden in der Bewertung von Verteilungen führen, und ob Unterschiede in der Bewertung ihrerseits auf die Art der Verteilung und die verteilten Güter zurückwirken.“ ( Heintz 1982, S. 13)

Soziologisch kommt die Frage der Gerechtigkeit dann in Betracht, wenn der menschliche Faktor als zentrale Dimension der Analyse herangezogen wird und die subjektiven Vorstellungen der Individuen von der Gerechtigkeit untersucht werden (Norden 1985, S. 17). Bodo Lippl definiert die zentrale Funktion der soziologischen Gerechtigkeitsforschung, die die unterschiedlichen Arten der Legitimation sozialer Ungleichheit durch die Befragten aufzeigt. Im Rahmen der empirischen Studien wird nicht nur der Grad der Akzeptanz gesellschaftlicher Ungleichheitslagen veranschaulicht, sondern auch die Kriterien aufgedeckt, aufgrund derer bestimmte Verteilungen in der Gesellschaft als gerecht bzw. ungerecht erachtet werden (Lippl 1997, S. 8).

Da das Thema der Zusammenhänge zwischen den Gerechtigkeitsvorstellungen der Bevölkerung und gesellschaftlicher und institutioneller Verteilungsnormen äußerst tiefgründig ist und die Grundlagen der wirtschaftssoziologischen und politischen Forschung umfasst, begrenzt sich die vorliegende Diplomarbeit auf die eine Dimension der Gerechtigkeitsforschung, die die Gerechtigkeitswahrnehmung und die sie determinierenden Faktoren untersucht. In Zentrum der Untersuchung stehen die Kriterien oder auch Prinzipien, welche die Erwerbstätigen zur Bildung ihrer Urteile über Lohngerechtigkeit heranziehen sowie der Einfluss der Persönlichkeitsmerkmale für die Wahl dieser Kriterien. Die Erforschung der Vorstellungen über Verteilungsgerechtigkeit als Vergleichsdimension zu den tatsächlichen Arbeitsbedingungen unterschiedlicher Einkommens- und Berufsgruppen kann Klarheit in die Frage bringen, ob tatsächlich von einer sozialen Schieflage infolge einer ungerechten Lohndifferenzierung gesprochen werden kann. Dabei sollen nicht nur die faktischen Einkommensunterschiede untersucht, sondern auch eine Reihe sozialer und politischer Einflussgrößen sowie die unterschiedlichen individuellen Faktoren analysiert werden, die Tendenzen in der subjektiven Bewertung der eigenen Einkommenssituation der Erwerbstätigen bestimmen.

Die Gerechtigkeitsempfindungen bezüglich eigener Entlohnung sowie die Kriterien, die die Gerechtigkeitsurteile eines Individuums bezüglich des Eigeneinkommens bestimmen, sind die zentralen wirtschaftspolitischen Faktoren der Gerechtigkeitsforschung. Als mögliche Zeichen für die ungünstige sozialpolitische Situation kann in diesem Zusammenhang die wachsende Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen und dem als gerecht empfundenen Einkommen bei den Arbeitnehmern angesehen werden (Schwarze 2007, S. 82).

Die relevanten Studien kommen zu dem Schluss, dass das individuelle Gefühl, ungerecht entlohnt zu werden, als Massenerscheinung weitgehende sozialpolitische Konsequenzen haben kann: Nach den Ergebnissen der wissenschaftlichen Untersuchungen ist die Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung bei den Individuen, die ihren Lohn dauerhaft als ungerecht empfinden, niedriger als bei den Menschen, die in ihren Gerechtigkeitsgefühlen bezüglich der eigenen Entlohnung nicht verletzt wurden (Liebig und Schupp 2008, S. 435). Die empirischen Befunde zeigen auch, dass das Erleben von Ungerechtigkeit die Steigerung von krankheitsbedingten Fehlzeiten im Betrieb zur Folge haben kann, wodurch der Produktionsprozess benachteiligt wird. So berichten Liebig und Schupp (2008), dass die Bewertung des eigenen Einkommens bedeutsame Folgen für das individuelle Wohlbefinden sowie für die Leistungsbereitschaft und -Fähigkeit haben kann. Die Effekte einer als ungerecht wahrgenommenen Entlohnung spiegeln sich im beeinträchtigten Gesundheitszustand der Mitarbeiter wider, was erhöhte krankheitsbedingte Fehlzeiten zur Folge hat: Die Arbeitnehmer, die ihr Einkommen als ungerecht bewerten, zeigen im aktuellen Untersuchungsjahr eine statistisch signifikant höhere Zahl von Fehltagen auf als im Vorjahr (Liebig und Schupp 2008, S. 439). Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen bei der dauerhaften Krankheit sowie der krankheitsbedingte Ausfall der Arbeitskräfte verursachen volkswirtschaftliche Kosten für das Unternehmen und belasten das Wirtsaftssystem als Ganzes.

Empfundene Lohnungerechtigkeit hat auch Folgen für die Leistungsbereitschaft: Die weiteren möglichen Reaktionen auf die empfundene Lohnungerechtigkeit beinhalten Leistungsreduktion und Lustlosigkeit, die in einer „inneren Kündigung“ resultieren können (Sadowski 2002, S. 187). Der Prozess der „inneren Kündigung“ geht mit Erscheinungen wie individuellem Motivationsmangel und Qualifikationsverlust einher, wobei für die Unternehmen hohe Kosten durch Absentismus, verringerte Leistung und ungenutzte Potenziale der Mitarbeiter entstehen. Volkswirtschaftlich negativ kann sich auch die mit den wachsenden krankheitsbedingten Fehlzeiten verbundene Inanspruchnahme von Leistungen der sozialen Sicherheitssysteme auswirken.

Im Rahmen der Studie von Finn und Lee (1972) hat man die Befragung in einer Abteilung des Federal Public Health Service der USA durchgeführt, mit dem Ziel, die Gesichtspunkte aufzuspüren, nach denen Individuen die Angemessenheit eigenes Gehalts beurteilen. Die 170 wissenschaftlichen Angestellten wurden in zwei Gruppen aufgeteilt, bei denen die ersten das eigene Gehalt als gerecht empfanden und die anderen sich unterbezahlt fühlten. Es hat sich gezeigt, dass abweichende Bewertungen folgender Gesichtspunkten zu unausgeglichenen Leistungs-Lohnrelationen führen: Einschätzungen des beruflichen Ansehens; Einschätzungen der Zeit, in der man glaubt, ersetzt werden zu können; Einschätzungen der eigenen Leistung. Es wurde also deutlich, dass die Arbeitnehmer, die sich unterbezahlt fühlten, bei diesen Variaten signifikant niedrigere Einstufungswerte angaben, als die Untersuchungspersonen, die ihr Gehalt als leistungsgerecht einstuften (Müller und Crott 1980, S. 226). Im Hinblick auf die subjektiven Arbeitseinstellungen haben die Personen, die sich unterbezahlt fühlen, niedrige Bewertungen bei folgenden Variablen abgegeben: Persönliches Vorwärtskommen; Möglichkeit zur Nutzung beruflicher Fähigkeiten; Möglichkeit, berufliche Anforderungen zu erfüllen; Sinn und Zweck von Weiterbildung; Moral der Arbeitsgruppe und Arbeitszufriedenheit; Fortschritt bei der Beschäftigung in der Abteilung; Fairness des Verhältnisses von Leistung und Vergütung (Müller und Crott 1980, S. 227).

Im Gegenteil, wenn die Lohnverteilung von den Erwerbstätigen als gerecht empfunden wird, stärkt sich die Bindung an die Organisation und die Bereitschaft der Mitarbeiter, sich über das geforderte Ausmaß hinweg in die Firma einzubringen. Diese Loyalität drückt sich in der betriebstreuen „organisational citizenship behavior“ aus, die als individuelles Verhalten definiert wird, das sich nicht auf die im Arbeitsvertrag festgehaltenen Pflichten und Arbeitsverhältnisse begrenzt und gleichzeitig den erfolgreichen Arbeitsprozess fördert. Die Zufriedenheit mit dem Lohn im Allgemeinen steigt mit der wahrgenommenen gerechten Entlohnung an und begünstigt das Verhalten, das als menschlicher Faktor über das formale Belohnungssystem hinausgeht und produktives Funktionieren der Organisation stützt (Kichler 2005, S. 402).

Der hier aufgezeigte Zusammenhang der relativen Lohngerechtigkeit mit den Gerechtigkeitsvorstellungen und -wahrnehmungen der Individuen zeigt, dass für die Erforschung der sozialen Gerechtigkeit die detaillierte Untersuchung der Gerechtigkeitskriterien, welche die individuelle Einschätzung der Einkommensverteilung bestimmen, notwendig ist. Die zentrale Frage ist dabei, welches Verteilungsprinzip bei der Entlohnung als gerecht empfunden wird. Manche Theorien gehen davon aus, dass ein einziges Gerechtigkeitsprinzip bei der Wahrnehmung der Lohndifferenzierung die zentrale Rolle spielt; andere gehen davon aus, dass bei den persönlichen Gerechtigkeitsempfindungen mehrere Prinzipien situationsabhängig zur Anwendung kommen:

„The summarizing review of empirical research suggests that the contribution principle does indeed occupy a most important place in the process of pay fairness evaluation, but that other distribution principles may apply too. Which rule(s) is (are) actually applied would depend on the nature of the situation, the personal characteristics of the participants, and perhaps also on the specific sociocultural context.” (Dornstein 1991, S. 61 und S. 164)

Als mögliche Situationsmerkmale, die die Gerechtigkeitsurteile eines Individuums vorbestimmen, werden in den unterschiedlichen Studien individueller Bedarf, Leistung, Berufserfahrung sowie die weiteren persönlichen Faktoren wie beispielsweise Bildungsabschluss oder politische Ausrichtung aufgeführt. Die von den zahlreichen empirischen Untersuchungen bestätigte Annahme, dass die Präferenz für bestimmte Lohngerechtigkeitsprinzipien von der Perspektive des Urteilenden abhängt, stellt sich in den Untersuchungsaspekten der vorliegenden Diplomarbeit dar (Dornstein 1991/Walzer 1992). Die Gerechtigkeitsprinzipien, die von den Erwerbstätigen zur Beurteilung der gerechten Lohnverteilung herangezogen werden, werden hier als die von der jeweiligen subjektiven Einsicht abhängigen Dimensionen betrachtet. Im Zentrum der Analyse stehen die Gerechtigkeitskriterien, die von den Individuen einer Berufsgruppe zur Beurteilung der relativen Lohngerechtigkeit gewählt werden. Von besonderem Interesse sind dabei die Zusammenhänge zwischen den Urteilen über Lohngerechtigkeit und den vielfältigen Einflussfaktoren wie beispielsweise Personenmerkmale, wobei die abgegebenen Gerechtigkeitsurteile als abhängige Variable untersucht werden.

In dieser Diplomarbeit werden die Kriterien analysiert, die von den Arbeitnehmern einer Berufsgruppe, nämlich Ingenieure, zur Beurteilung der gerechten Lohneinteilung herangezogen werden. Mithilfe eines logistischen Regressionsmodells werden folgende Forschungsfragen untersucht:

- Welche Urteilskriterien bestimmen die Vorstellungen der Individuen im Hinblick auf die gerechte Entlohnung?
- Welche relative Bedeutung haben die einzelnen Gerechtigkeitskriterien für die Einschätzung der Lohngerechtigkeit?
- Wird die Wahl der Urteilskriterien von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen beeinflusst?

Im theoretischen Teil wird auf die in der Gesellschaft praktizierten Verteilungsprinzipien eingegangen. Begleitend werden die Theorien aufgeführt, die die entsprechenden Gerechtigkeitsprinzipien begründen und diese zu der sozial akzeptierten Verteilungsgrundlage aufbauen. Im Anschluss daran werden die Einflussfaktoren diskutiert, die laut der empirischen Untersuchungen für die Wahl bestimmter Gerechtigkeitskriterien bei der Gerechtigkeitsbeurteilung verantwortlich sind. Als nächstes wird der Stand der Forschung von empirischen Studien unterschiedlicher Autoren präsentiert, die sich mit der Frage der Verteilungsgerechtigkeit beschäftigt haben.

Im nachfolgenden empirischen Teil dieser Arbeit wird der Datensatz und die Methode der Untersuchung vorgestellt. Weiterhin werden die Forschungshypothesen diskutiert, die in Anlehnung an die Zusammenschlüsse der vorherigen Untersuchungen die drei oben aufgeführten Forschungsfragen auffassen. Im nächsten Schritt werden die Ergebnisse der Regressionsanalyse präsentiert und abschließend zusammenfassend die zentralen Ideen der Arbeit und die Ergebnisse diskutiert.

I Theoretischer Teil

1 Gerechtigkeitskriterien der Lohndifferenzierung und Arten der Lohngerechtigkeit

Die Positionen zur Frage der Einkommens-/Lohngerechtigkeit, die sich in den sozialgesellschaftlichen Strukturen und Lohnsystemen widerspiegeln, können nach ökonomischen oder nach politischen Unterscheidungskriterien klassifiziert werden: Die Verteilung nach ökonomischem Wert der Leistung oder nach der Produktivität entspricht der Leistungsgerechtigkeit. Der Aspekt des Verantwortungs- oder Qualifikationsgrades, der an einem bestimmten Arbeitsplatz gefordert wird, entspricht dem ökonomischen Prinzip der Qualifikationsgerechtigkeit oder auch Anforderungsgerechtigkeit (Gaugler 2004, S. 1114). Das Prinzip der Anforderungsgerechtigkeit kann auch anhand der kompensationsbedürftigen Tätigkeitsmerkmale ausgeübt werden. Dabei werden bei der Lohnverteilung solche Arbeitsplatzeigenschaften wie Arbeitsleid oder Gesundheitsschädigung berücksichtigt, die an die jeweilige Arbeitstätigkeit geknüpft sind. In Bezug auf die Politik, vor allem bei den wohlfahrtsstaatlichen Regimen fördert das gesellschaftlich anerkannte Recht auf ein soziales Minimum die Verteilung, das ein Lebensexistenzminimum für alle Bürger sichert oder auch die erhöhten Ansprüche der meist bedürftigen Individuen berücksichtigt. Im ersten Fall wird das sich auf die Solidaritätsnormen stützende Gleichheitsprinzip als Verteilungsmaßstab herangezogen; die andere Verteilungsart entspricht dem Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit (Norden 1985, S. 68).

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht befasst sich die relative Lohngerechtigkeit mit der Frage nach einer gerechten Lohnstruktur, die das Verhältnis der Löhne zueinander beinhaltet sowie den Kriterien, nach denen die relativ gerechte Lohndifferenzierung erfolgt. In der Gerechtigkeitsdiskussion werden oft die vier typischen Ansätze genannt, die jeweils unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe für die Lohnrelationen anbieten.

Die wichtigsten Verteilungsprinzipien, die zur Beurteilung der Lohngerechtigkeit herangezogen werden sind das Leistungs-, das Bedarfs- sowie das Gleichheitsprinzip:

„The contribution principle, specifying that rewards should be allocated according to contributions made, the equality principle, specifying that rewards should be allocated equally, and the need principle, specifying that rewards should be allocated according to needs, are considered the most fundamental and important distribution rules” (Dornstein 1991, S. 38)

Im Folgenden werden die oben genannten Verteilungsprinzipien in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Arten der Gerechtigkeit betrachtet, die Grundlage für funktionierende Entlohnungssysteme in einer Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung sind und die sich auf das jeweilige Verteilungsprinzip stützen. Es werden auch sozialwissenschaftliche Theorien mit Beispielen empirischer Untersuchungen dargestellt, die als Erklärungsansätze für diese grundlegenden Verteilungsprinzipien dienen und theoretische Hintergründe für deren praktische Umsetzung liefern.

1.1 Leistungsprinzip und Leistungsgerechtigkeit

Die im Rahmen der Gerechtigkeitsforschung durchgeführten Untersuchungen zur Frage der individuellen Bewertung von Kriterien der Einkommensdifferenzierung haben gezeigt, dass zur Bemessung der gerechten Einkommen tendenziell Leistungs- und Bedarfskriterien herangezogen werden. Bei der leistungsorientierten Einschätzung der Lohngerechtigkeit werden folgende Aspekte berücksichtigt:

- Leistung: Personen, die mehr Ertrag einbringen, sollen ein höheres Einkommen beziehen.
- Qualifikation: Personen mit höherer Qualifikation sollen ein höheres Einkommen beziehen.
- Risiko: Personen, die ein Risiko tragen oder risikoreiche Tätigkeiten ausüben, sollen ein höheres Einkommen beziehen.
- Verantwortung: Personen, die Verantwortung tragen, sollen ein höheres Einkommen beziehen.
- Schädigung: Personen, die eine schädigende oder gesundheitsfährdende Tätigkeit ausüben, sollen ein höheres Einkommen beziehen (Norden 1985, S. 53). Man kann sehen, dass das Leistungsprinzip die Eigenschaften der Leistungsgerechtigkeit, der Qualifikationsgerechtigkeit sowie der Anforderungsgerechtigkeit umfasst. Marktgerechtigkeit stellt eine weitere Art der Verteilungsgerechtigkeit dar, die in Zusammenhang mit dem Leistungsprinzip betrachtet wird.

Bei der Leistungsgerechtigkeit tritt die persönliche Leistung des einzelnen Arbeitnehmers als zentrales Urteilskriterium auf. Die anforderungsorientierte Normalleistung spielt in diesem Fall keine entscheidende Rolle und die von einem Mitarbeiter tatsächlich erbrachte Leistung kann die positiven oder negativen Abweichungen von der geforderten Norm aufzeigen. Dabei werden sowohl die Leistungsschwankungen eines Mitarbeiters im Zeitablauf als auch die Unterschiede in der Leistung zwischen den Erwerbstätigen berücksichtigt. Die Leistung eines Mitarbeiters wird hier nicht mit der standardisierten Normalleistung verglichen, sondern die Leistungsunterschiede verschiedener Arbeitnehmer werden durch Leistungszulagen berücksichtigt. Die Lohndifferenzierung erfolgt hier nach dem Leistungsgrad jedes einzelnen Erwerbstätigen und wird nach dem leistungsbezogenen Gerechtigkeitskriterium in Bezug auf die Arbeitsbeiträge beurteilt. Die Bewertung der Lohngerechtigkeit anhand des Leistungskriteriums kann sich auch auf den anstrengungsorientierten Leistungsbegriff stützen, wobei der Aufwand eines Mitarbeiters für die Gerechtigkeitsbeurteilung entscheidend ist oder auch den Grad des Arbeitsleids berücksichtigt wird, indem für monotone, langweilige oder unangenehme Arbeit besser bezahlt wird (Thomas in Horne 1965, S. 44).

1.2 Anforderungsgerechtigkeit und Verhaltensgerechtigkeit

Mit dem zunehmenden Einfluss neuer Technologien und der allgemein zunehmenden Dynamik der Entwicklungen in Umwelt und Unternehmen tritt die Qualifikationsgerechtigkeit in eine Reihe mit den klassischen Konzepten der Lohngerechtigkeit ein. Hier werden alle von der Unternehmensleitung für relevant erklärten Qualifikationen, die der Stelleninhaber besitzt, als Grundlage des Grundgehalts herangezogen – auch wenn diese für den konkreten Arbeitsplatz nicht gebraucht werden. Das Arbeitsvermögen eines Mitarbeiters spielt hier für die Bestimmung der Lohnhöhe eine entscheidende Rolle. Die Organisation berücksichtigt das Potenzial, welches ein Arbeitnehmer im Produktionsprozess potenziell zur Verfügung stellt. Die Prinzipien der Anforderungs- und der Qualifikationsgerechtigkeit stellen somit die zwei gegenständigen Konzepte der Lohnverteilung dar: Das Erste geht von den Eigenschaften des Arbeitsplatzes aus, wobei bei letzterem die Qualifikationen des Arbeitnehmers in den Vordergrund treten (Kößler 2001, S. 149).

In diesem Zusammenhang muss auch die Anforderungsgerechtigkeit erwähnt werden. Im Gegensatz zur Leistungsgerechtigkeit legt die Anforderungsgerechtigkeit die Schwierigkeiten der einzelnen Arbeitstätigkeiten oder die Anforderungen eines Arbeitsplatzes der Gerechtigkeitsbewertung zugrunde (Gaugler 2004, S. 1115). Die Anforderungen des Arbeitsplatzes stehen dabei nicht in Verbindung zu der Leistungsbereitschaft oder Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers und richten sich nach den Eigenschaften eines durchschnittlichen Erwerbstätigen aus, die zur Erfüllung der gegebenen Ziele und Aufgaben auf dem Arbeitsplatz erforderlich sind. Die persönliche Leistung des einzelnen Mitarbeiters bleibt hier unberücksichtigt:

„Danach entscheidet dann zunächst die Arbeitsschwierigkeit eines Arbeitsplatzes über die Entlohnung in eine Lohn- oder Gehaltsstufe und stellt damit die Basis der Entlohnung dar. Die Erfüllung von Leistungszielen (beispielsweise Menge, Qualität, Umsatz) begründet einen variablen Gehaltsbestandteil, der von der individuellen Einhaltung dieser Leistungsziele abhängig gemacht wird.“ (Nieder und Michalk 2009, S. 247)

Die Verhaltensgerechtigkeit kann als eine Schnittstelle der Leistungsgerechtigkeit und der Anforderungsgerechtigkeit betrachtet werden, da hier bestimmte Verhaltensweisen und der Aufwand eines Arbeitnehmers im Rahmen seines Verhaltens im Mittelpunkt stehen. Die Lohnhöhe wird in Abhängigkeit der vom einzelnen Beschäftigten erbrachten Anstrengung bei der Arbeit bestimmt. Somit wird die gemessene Anstrengung bei der Erfüllung von den Anforderungen am Arbeitsplatz bzw. die Arbeitsmühe eines Mitarbeiters als Differenzierungskriterium gewählt. Der zentrale Kritikpunkt an Verhaltensgerechtigkeit stützt sich aber auf die Tatsache, dass die Berücksichtigung der subjektiven Arbeitsmühen dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit des Gerechtigkeitsmaßstabes widerspricht (Gaugler und Weber 2004, S. 1117).

1.3 Leistungsprinzip und Marktgerechtigkeit

Auch wenn das Leistungsprinzip einen der zentralen Ansätze der Lohngerechtigkeit verkörpert, sind auch die weiteren Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit, die sich nicht auf die von einem Individuum erbrachte Leistung begrenzen, von Bedeutung. Nach dem Prinzip der Marktgerechtigkeit hinsichtlich der betrieblichen Lohngestaltung werden die Berufe und/oder Stellen entsprechend ihrem allgemeinen Marktwert entlohnt. Die ökonomisch-rationalen Regelungen sind hier von zentraler Bedeutung und die Höhe des Lohnes wird aus Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsbeschaffungsmarkt bestimmt. Für die Bemessung der Löhne ist entscheidend, zu welchem Preis der Arbeitnehmer bereit ist, ein Arbeitsverhältnis einzugehen (Gaugler und Weber 2004, S. 1118). Da der Lohn sich mit der Marktnachfrage nach bestimmten Arbeitsleistungen ändert, werden die höheren Löhne für die Arbeitnehmer als gerecht erachtet, die im Moment die meist nachgefragte Arbeitsleistung erbringen. Im Rahmen der Marktgerechtigkeit unterscheidet man folgende drei Aspekte: betriebliche Lohngestaltung, gesamtwirtschaftliche Effizienz und individuelle Vertragsfreiheit (Kößler 2001, S. 143). Der erste Aspekt befasst sich mit der Orientierung der Entlohnung am Marktwert der einzelnen Stellen. Der zweite Aspekt der Marktgerechtigkeit nähert sich dem Begriff der Tauschgerechtigkeit an: Die Leistung wird dann als gerecht entlohnt betrachtet, wenn der Lohn dem Preis dieser Leistung auf dem freien Markt entspricht. Die Person des Arbeitnehmers bleibt hier unberücksichtigt und alleine der Wert der erbrachten Leistung wird in die Gerechtigkeitseinschätzung miteinbezogen. Der dritte Aspekt der Marktgerechtigkeit weist dem Markt die Rolle einer Institution zu, welche die individuelle Freiheit zu uneingeschränkten freiwilligen Tauschbeziehungen fördert. Die Gerechtigkeitsdimension resultiert hier aus den freilaufenden Marktprozessen und wird im Sinne der Chancengleichheit auf dem freien Markt interpretiert, wobei die Gerechtigkeit selbst als Sicherstellung der Möglichkeit verstanden wird, ohne Restriktionen am freiwilligen beidseitigen Tausch teilzunehmen (Kößler 2001, S. 145).

Als Kritikpunkt am Marktgerechtigkeitskonzept wird oft eingewendet, dass die erbrachte Arbeitsleistung eher selten den gerechten Lohn erhält, der ihrem wirtschaftlichen Wert entspricht. Die Unvollkommenheiten der gewinnorientierten Marktmechanismen führen dazu, dass die Ungleichheit in der Einkommensverteilung ohne wohlfahrtsstaatliche Schutzmechanismen immer größer wird und die wirtschaftlich schwächeren Individuen unter soziale Benachteiligung leiden.

1.4 Bedarfsprinzip und Bedarfsgerechtigkeit

Unter den allgemein als gerecht empfundenen Prinzipien stellt die Bedarfsgerechtigkeit, die mit Sozialgerechtigkeit in enger Verbindung steht, eines der meist kontroversen Verteilungsprinzipien dar. Theoretisch ist die Lohndifferenzierung, die nach dem Bedarfsprinzip erfolgt, für die Deckung der durch den unvollkommenen Marktmechanismus entstandenen Lücken geeignet, die bei der Deckung der Grundbedürfnisse und Sicherung des minimalen Lebensunterhalts entstehen. Generell tritt bei der Sozialgerechtigkeit der persönliche Bedarf der Mitarbeiter, der zum Lebensunterhalt notwendig ist, in den Vordergrund der Betrachtung. Nach dem Idealmodell leistet jeder den seinen Fähigkeiten entsprechenden Beitrag zum Produktionsprozess und erhält einen Lohn, der gerade so seinen Bedürfnissen entspricht. Der abhängig Beschäftigte soll hier für seine Arbeit den Lohn erhalten, der den eigenen Lebensunterhalt und den seiner Familie sichert (Gaugler 2004, S. 1116). Dabei erfolgt die Differenzierung der Löhne nach dem Kriterium des Bedarfes eines Individuums zum Lebensunterhalt und die Arbeit selbst tritt als zur Sicherung des Existenzminimums notwendiger Faktor auf. Durch die Berücksichtigung des Prinzips der Bedarfsgerechtigkeit wird bei der Entlohnung ein gewisser Lebensstandard gesichert, der für die Bewältigung der jeweiligen sozialen Situation notwendig erscheint. Die Bedarfsgerechtigkeit wird somit als gleicher Nominallohn bei vergleichbaren sozialen Bedingungen interpretiert (Kößler 2001, S. 146). Die Einteilung von absolut höheren Löhnen an die Mitarbeiter mit einer ausgeprägten Bedarfskomponente, beispielsweise mit vielen Kindern, unabhängig von Arbeitsleistung und Arbeitsplatzeigenschaften, verletzt aber die Prinzipien von Anforderungs- und Leistungsgerechtigkeit. Als Versuch, das Leistungsprinzip mit dem Bedarfsprinzip in einem System zu vereinen, hat sich das Konzept des sozialen Existenzminimums ergeben, das in wohlfahrtstaatlichen Regimen als Teil des sozialpolitischen Systems funktioniert:

„Efforts to avoid conflict when simultaneously applying both principles result in the establishment of ‘social minimum’ earnings: some amount of earnings under which no household or person should fall. Implicit in the concept of social minimum earnings is the idea that no matter how ‘badly’ one fares in life, especially in regard to those criteria deemed relevant for allocation of social goods, society should make provisions to assure a minimal subsistence.“ (Alves 1978, S. 556)

Die existierenden empirischen Befunde zur Verteilungsgerechtigkeit bieten zwei grundsätzliche Erklärungen dafür, aus welchen Gründen die bestimmten Lohnverteilungen als gerecht erachtet werden. Die erste Erklärung basiert auf der Festlegung, dass die Akteure tendenziell in einem eigenen Interesse handeln. Somit hängt die Gerechtigkeitsvorstellung eines Individuums von der eigenen Situation und dem Vorteil ab, den ein entsprechendes Gerechtigkeitskriterium in dieser Situation erbringt. Das andere Konzept unterstützt die Überlegung, dass Gerechtigkeitsvorstellungen eines Individuums durch allgemeine, in einer Gesellschaft übliche Normen bestimmt werden. Diese Gerechtigkeitsnormen werden durch bestimmte institutionelle Sanktionen unterstützt und werden von den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern im Laufe eines Sozialisationsprozesses verinnerlicht (Dornstein 1991, S. 164). In der alltäglichen Arbeitssituation werden oft die beiden Konzepte von den Erwerbstätigen unbewusst zu den Gerechtigkeitsbewertungen zusammengefügt. Die Einstellung eines Beschäftigten zur Arbeitssituation in solchen Aspekten wie Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen und Entlohnung, die einen bestimmten Grad an Arbeitszufriedenheit widerspiegeln, kann als durch die individuellen Bedürfnissen beeinflusste Bewertung interpretiert werden. Andererseits stützen sich die Gerechtigkeitsurteile bezüglich der Lohnverteilung auf die normativen Maßstäbe: eine Verteilungssituation wird dann als gerecht betrachtet, wenn dem Individuum ein normativer Referenzrahmen zur Verfügung steht. Außerdem kann der Lohn von einem Arbeitnehmer als ungerecht niedrig erachtet werden, wenn dieser zur Deckung des lebensnotwendigen Bedarfs kaum hinreicht (Lengfeld 2002, S. 107). Somit kann man das Gerechtigkeitsempfinden in Bezug auf die Eigenentlohnung als Bestandteil der Arbeitszufriedenheit deuten. Diese resultiert aus einem Vergleich zwischen den individuellen Bedürfnissen und deren Deckung durch Erwerbstätigkeit unter Berücksichtigung der sozial verbindlichen und institutionell gewährleisteten Entlohnungsnormen (Lengfeld 2002, S. 109).

Im Artikel von Alves “Who should get what” (1978) werden die Ergebnisse der empirischen Studie dargestellt, die veranschaulichen, wie die Gerechtigkeitsurteile der amerikanischen Bürger bezüglich der Einkommensverteilung ausfallen. Die Studie demonstriert, dass die Gerechtigkeitsurteile einer normativen Basis unterliegen, die als Referenzrahmen für die Verteilungsgerechtigkeit in der Wahrnehmung der Befragten gilt und als Grundlage für die Akzeptanz des Bedarfsprinzips in der Gesellschaft dient. Mittels Vignettenanalyse wird erforscht, welche in den Vignetten beschriebenen Personen- und Haushaltseigenschaften die Gerechtigkeitsbewertungen am häufigsten beeinflussen. Anhand der Angaben der Untersuchungsteilnehmer werden auch die empirischen Werte für das soziale Minimum und Maximum ermittelt. Obwohl nach den Studienergebnissen das Bedarfs- und das Leistungsprinzip in die Gerechtigkeitsbewertungen in gleichem Maße einfließen, wird das minimale Einkommen für die Angehörigen der niedrigsten Einkommensschichten und für Individuen mit einem niedrigen Ausbildungsgrad von den Befragten höher angesetzt als das gesetzliche soziale Minimum. Außerdem weist die von der Mehrheit der Befragten als gerecht eingeschätzte Einkommensverteilung einen höheren Mittelwert und eine geringere Varianz auf als die tatsächliche Einkommensverteilung.

Die Studie liefert auch Informationen darüber, wie die sozialen Solidaritätsnormen, die die Bedarfsgerechtigkeit stützen, von den Individuen unterschiedlicher Einkommensklassen internalisiert werden: Die Angehörigen eines höheren Einkommensniveaus schätzen den Ausbildungsgrad und die beruflichen Qualifikationen als die wichtigsten Kriterien der Lohngerechtigkeit ein, während die Befragten mit schlechter bezahlten Berufspositionen die Anzahl der Kinder als entscheidend für die gerechte Entlohnung angeben (Alves und Rossi 1978, S. 558).

2 Theorien der Verteilungsgerechtigkeit

2.1 Gleichheitsprinzip und Theorie des sozialen Vergleichs

Die Entstehung der Equity-Theorie ist an die soziologischen Arbeiten zur Theorie des sozialen Vergleichs gebunden. Nach der Theorie sind die Determinanten und Konsequenzen der Bewertungs- und Selbsteinschätzungsprozesse dadurch beeinflusst, dass ein Individuum die Werte und Standards anderer Individuen und Gruppen als Bezugsrahmen verwendet. Im Prozess des Vergleichs mit der Bezugsgruppe entstehen positive, neutrale oder negative Selbstbewertungen. Das Gleichheitsprinzip (oder Egalitätsprinzip) stützt sich auf die Basisüberlegung, dass Gleiches gleich behandelt werden soll, Ungleiches aber ungleich behandelt werden darf. Im Bezug auf das Arbeitsleben beinhaltet das Gleichheitsprinzip die Gleichverteilung in Abhängigkeit bestimmter Zuteilungsvoraussetzungen oder Kategorien. Als mögliche Dimensionen für Gleichentlohnung können Berufsgruppe, soziale Lage, Arbeitsposition oder Ausbildungsgrad der Erwerbstätigen auftreten sowie das Arbeitsleid oder der Verantwortungsgrad, die bei der Ausführung einer bestimmten Arbeitstätigkeit gefordert werden (Haisch und Frey 1978, S. 79).

Wie auch in den anderen Lebensbereichen werden bei der Lohngerechtigkeitseinschätzung die Vergleiche mit den anderen Erwerbspersonen getätigt. Die relative Lohngerechtigkeit wird von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vermutet, wenn sie davon überzeugt sind, nach gleichen Grundsätzen behandelt zu werden. Die empirischen Untersuchungen zeigen, dass Lohngerechtigkeit vor allem da empfunden wird, wo die Erwerbstätigen im Vergleich mit Mitarbeitern gleicher oder ähnlicher Qualifikation die Relation der Anforderungen und Leistungen als angemessen empfinden (Haisch und Frey 1978, S. 82). Die Gerechtigkeitsurteile kommen durch den sozialen Vergleich mit der Entlohnung der anderen Arbeitnehmer zustande und die Gerechtigkeitswahrnehmung ändert sich mit der Abhängigkeit von den Vergleichsergebnissen der eigenen Entlohnung mit der Vergütung der anderen Individuen, wobei man drei Gruppen von Referenzpersonen unterscheiden kann:

- Personen aus derselben Firma, die einer vergleichbaren Beschäftigung nachgehen,
- Personen aus derselben Firma, die aber einen anderen Beruf ausüben und somit anderen Tätigkeiten nachgehen und
- Personen, die in einer anderen Firma arbeiten (Lesch und Bennett 2010, S. 54). Im Rahmen der Lohngerechtigkeitsforschung hat sich mittlerweile gezeigt, dass die eigene Entlohnung meistens nicht mit der Entlohnung anderer Einkommensschichten verglichen wird, sondern mit der Entlohnung anderer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in der eigenen Wahrnehmung vergleichbare Leistung erbringen (Müller und Crott 1978, S. 220). Außerdem wird der eigene Lohn überwiegend mit dem Lohn der Arbeitskollegen verglichen, die im selben Unternehmen mit ähnlichem Tätigkeitsfeld beschäftigt sind. Dies geschieht nicht zuletzt aus dem Grund, dass die für die Festlegung des Vergleichslohnes zur Beurteilung der Lohngerechtigkeit benötigten Informationen in einer anderen Berufsbranche, einer anderen Einkommensklasse oder in einer Fremdorganisation oftmals nicht zugänglich sind:

„Die Arbeiter sind im Allgemeinen nicht in der Lage, ihren Lohn den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend mit dem Einkommen anderer zu vergleichen. Zwischen ihnen und den anderen liegt eine Informationsbarriere.“ (Konrad 1965, S. 41)

Die Bedeutung des Kollegenvergleichs für die individuelle Einstellung zur Arbeit betont auch Dressler (1999) in seinem Artikel „Der Einfluss variabler Vergütung auf die Arbeitsmotivation“. Dabei können sowohl Input und Output von Kollegen aus dem eigenen Betrieb miteinander verglichen werden als auch die Kollegen aus Konkurrenzunternehmen zum Externvergleich herangezogen werden. Die Arbeitsmotivation steht in der vielfältigen Abhängigkeit von der persönlichen Wahrnehmung des Leistungsvergütungssystems. Ein Leistungsvergütungssystem, so Dressler, wirkt sich umso stärker auf die Motivation eines Mitarbeiters aus, je größere Bedeutung er oder sie dem Leistungsprinzip zuschreibt. Mit anderen Worten: Wenn eine Person davon ausgeht, dass es prinzipiell richtig ist, dass die größeren Leistungen mit höheren Verdiensten belohnt werden müssen, spielt die Relation von Leistung und Vergütung eine wichtige Rolle für die individuelle Einstellung zur Arbeit (Dressler 1991, S. 295). Negatives Leistungs-/Beitrags-Denken äußert sich darin, dass eine Person das Gleichheitsprinzip für einzig gerecht hält. Die persönliche Leistung im Produktionsprozess spielt dabei keine Rolle und ein Leistungsvergütungssystem hat eine geringe Wirkung auf die Motivation des Erwerbstätigen (Röhl 1987, S. 164).

2.2 Gleichheitsprinzip und Einkommensgleichheit

In seltenen Fällen wird das Gleichheitsprinzip im frühsozialistischen Sinne als eine Art der Bedarfsgerechtigkeit interpretiert, die das gleiche Pro-Kopf-Einkommen für alle Individuen fordert, sodass die Grundbedürfnisse aller Bürger unabhängig von der Lebens- und Arbeitssituation gedeckt werden. Wenn Gerechtigkeit als Gleichheit verstanden wird, wird so eine Verteilung als gerecht angesehen, bei der jeder Erwerbstätige den gleichen Anteil des Volkseinkommens bekommt (Dornstein 1991/Lippl 1997).

In seiner Studie zur Einkommensgerechtigkeit ist G. Norden der Frage nach der Einstellung der Befragten zur absoluten Einkommensgleichheit nachgegangen. Fast alle Befragten haben eine Gleichheit der Einkommen mit dem Argument abgelehnt, dass die Einkommensgleichheit im sozialistischen Sinne einen utopischen Charakter trägt und – falls realisiert – jeden Anreiz zur Leistung bei den Erwerbstätigen vernichten würde. Als mögliche Vorteile von Einkommensgleichheit wird die Humanisierung der Gesellschaft und des Arbeitslebens erwähnt, die sich in einer Abhebung des Leistungszwanges und somit in einer Verbesserung des sozialen Klimas sowie in einer besseren Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen widerspiegeln könnte (Norden 1985, S. 164).

2.3 Theorie des sozialen Vergleichs und Status-Value-Theorie

Die Entstehung der Theorie des sozialen Vergleichs ist an die soziologischen Arbeiten zur Status-Value-Theorie gebunden. Danach sind die Determinanten und Konsequenzen der Bewertungs- und Selbsteinschätzungsprozesse dadurch beeinflusst, dass ein Individuum die Werte und Standards anderer Individuen und Gruppen als Bezugsrahmen verwendet. Im Prozess des Vergleichs mit der Bezugsgruppe entstehen positive, neutrale oder negative Selbstbewertungen. Hyman hat 1942 festgestellt, dass der subjektive Status nicht nur von objektiven Eigenschaften wie Einkommen, Qualifikation oder Bildungsgrad abhängt, sondern auch von der Gruppe, mit der man sich vergleicht (Haisch und Frey 1978, S. 77).

Die Status-Value-Theorie für die individuelle Wahrnehmung basiert auf dem Prinzip des interpersonalen Vergleichs, das den Vergleich der individuellen Lage eines Erwerbstätigen mit einzelnen oder mehreren Personen oder mit einer gesamten sozialen Gruppe beinhaltet:

„Every status situation is conceptualized from the point of view of some given actor, p; other actors and indeed p himself are treated as objects of p’s orientation.” (Berger 1972, S. 128).

Dabei stellt die eigene Statusposition eines Individuums den Referenzrahmen dar, auf dem Gerechtigkeitsurteile über die eigene Entlohnung in Abgleichung mit dem Berufsstatus der Bezugsperson(en) abgegeben werden. Der eigene Status ist hier der Ausgangspunkt für den Vergleich mit den anderen Erwerbstätigen mit ähnlichem Status. Die Lohndifferenzierung wird als gerecht bewertet, wenn andere Personen, die den ähnlichen Status besitzen, ungefähr in gleichem Maße entlohnt werden; die der Statusposition unter- bzw. überproportionale Bezahlung wird dagegen als ungerecht eingeschätzt.

[...]


[1] Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. 16. Wahlperiode 30. 06. 2008

URL: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/099/1609915.pdf [Downloaded am 10.03.2011]

Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Einflussfaktoren der Wahrnehmung relativer Lohngerechtigkeit
Untertitel
Eine Vignettenanalyse
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Soziologie und Empirische Sozialforschung – Schwerpunkt Arbeitsmarktsoziologie)
Veranstaltung
Empirische Soziologie
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
83
Katalognummer
V231215
ISBN (eBook)
9783656467496
ISBN (Buch)
9783656468172
Dateigröße
828 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Freie wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des akademischen Grades ´Diplom-Sozialwirtin (Univ.)`
Schlagworte
einflussfaktoren, wahrnehmung, lohngerechtigkeit, eine, vignettenanalyse
Arbeit zitieren
Diplom-Sozialwissenschaftlerin Kira Kogan (Autor:in), 2012, Einflussfaktoren der Wahrnehmung relativer Lohngerechtigkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/231215

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