Vom Nachbarn zum Feind? Grenzen im ehemaligen Jugoslawien


Hausarbeit, 2013

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Typologie der Grenze
2.1 Zum Begriff der Grenze und seinem akademischen Gebrauch
2.2 borders oder frontiers ?

3 Integration des Westbalkans im Sozialistischen Jugoslawien
3.1 Dritte Welt des alten Europa
3.2 Tito – vom Partisanenführer zum Mythos

4 Grenzen in Ex-Jugoslawien und Bosnien und Herzegowina
4.1 Außen-, Binnen- und unsichtbare Grenzen
4.2 Von der frontier zur Front
4.3 Neue Grenze: Inter-Entity Boundary Line

5 Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In den 1990er-Jahren hat der nach regionaler Integration strebende Kontinent Europa eine gewaltsame, mit Bürgerkriegen verbundene Desintegration auf dem Westbalkan erlebt. Der sukzessive Zerfall des sozialistischen Jugoslawiens und die damit einhergegangenen blutigen Konflikte werden häufig auf das ethnische Mosaik in dieser Region zurückgeführt. Auf der anderen Seite existierte die jugoslawische Föderation mit ihren Teilrepubliken Kroatien, Slowenien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Mazedonien und den autonomen Provinzen Kosovo und Wojwodina unter Präsident Josip Broz Tito über Jahrzehnte hinweg. Die Föderation präsentierte sich gern als Staat mit „sechs Republiken, fünf Nationen, vier Sprachen, drei Religionen, zwei Alphabeten und einer Partei“ (zit. nach Mappes-Niediek 2005: 25). Das Land zeigte sich an seinen Außengrenzen für sozialistische Verhältnisse vergleichsweise durchlässig und im Inneren existierten keine manifesten Grenzen im Sinne von Staatsgrenzen zwischen den Teilrepubliken.

Es stellt sich die Frage, durch welche Faktoren das sozialistische Jugoslawien ethnische, religiöse, soziale und wirtschaftliche Grenzen überwinden und der Vielvölkerstaat zusammenhalten konnte. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Analyse des Wendepunktes interessant: Welche Art von Grenzen wurden Anfang der 1990er-Jahre zu Frontlinien? Wie konnten sich diese Grenzen konstituieren und warum führten sie zu den kriegerischen Auseinandersetzungen? Wer steckte hinter der Massengewalt? Wurden Nachbarn zu Tätern? Ziel dieser Arbeit ist, Erklärungen für die Transformation latent wahrzunehmender Grenzen in scharfe Grenzen und Fronten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens zu finden.

Ausgehend von einigen grundsätzlichen Gedanken zum Thema Grenze und Grenzziehungen im ersten Abschnitt sollen die wesentlichen Charakteristika des sozialistischen Jugoslawien in Hinblick auf den Zerfall dieses Staates identifiziert werden. Im dritten Teil folgt dann eine genauere Betrachtung vorhandener Grenzen in Jugoslawien und dessen damaliger Teilrepublik Bosnien-Herzegowina. Wie zu zeigen sein wird, war die Bevölkerung dieser Region ethnisch sehr heterogen und litt stark unter den kroatisch-serbischen Auseinandersetzungen. Auch die Folgen der ethnischen Säuberungen für die Bevölkerung und das politische System im heutigen Bosnien und Herzegowina werden angesprochen.

2 Typologie von Grenzen

2.1 Zum Begriff der Grenze und seinem akademischen Gebrauch

Haslinger (2007: 5) konstatiert eine „Hochkonjunktur“ in der geschichtswissenschaftlichen Forschung in Europa zum Thema Grenze seit den 1990er-Jahren. Gründe dafür seien vor allem eine „neue geopolitische Situation“ nach dem Zerfall der Sowjetunion. Dabei seien insbesondere die Diskurse zu Grenzveränderungen im ehemaligen Jugoslawien als Triebkräfte der differenzierten akademischen Betrachtung von Grenzen gewesen. Daher ist es sinnvoll, dem Begriff Grenze einführend einige Passagen zu widmen.

Seinen etymologischen Ursprung hat das deutsche Wort Grenze in der russischen und polnischen Sprache. Grenze ist ein Lehnwort von granica (vgl. Schlögel 2006: 121). Die Frage, was man unter einer Grenze versteht, kann in viele Richtungen beantwortet werden, abhängig von der zugrunde liegenden Fragestellung. Schlögel sieht Grenzen als „nicht einfach abstrakte Demarkationslinie, sondern ein[en] riesenhafte[n] kulturelle[n] Komplex“ (2006: 122), als „ein Feld, eine Institution, ein Symbol, ein Ritual der Demonstration von Hoheit und Souveränität, von Zugehörigkeit und Ausgeschlossensein“ sowie als „ziemlich genaue Indikatoren der Macht“ (2006: 130). Es zeigt sich also, dass Grenzen nicht nur die politische Bedeutung haben, ein Territorium von einem anderen zu unterscheiden, sondern auch Auswirkungen auf die individuelle und kollektive Selbstwahrnehmung haben. Medick (1995: 211) argumentiert daher, dass kulturelle und ethnische Ausgrenzungen auch in Zeiten einer Befreiung von manifesten Grenzen im politisch-militärischen Sinne weiterhin eine große Rolle spielen. Dies zeige das „überkommene Verständnis von Raum als grenzbildendem Faktor“ (ebd.: 211). Haslinger (2007: 19f.) plädiert für eine duale Betrachtung von Grenzen: Erstens als „eine Fiktion, d. h. eine in einem Raumkontinuum oder zwischen Einzelpersonen willkürlich gezogene oder gedachte Scheidelinie und damit [als] ein Wahrnehmungsproblem“ und zweitens als „ein Strukturprinzip, das individuelles Verhalten beeinflusst, politisches Denken und Handeln generiert und […] zu empirisch messbaren Abweichungen von Binnengebieten führt“.

Der Paradigmenwechsel zu einer ausdifferenzierten Betrachtung des Grenzkomplexes sei entscheidend durch jüngste Entwicklungen bedingt gewesen, die die klassische Funktionszuschreibung zu Grenzen infrage stellten. Insbesondere seien hier grenzüberschreitende politische und wirtschaftliche Räume wie die Europäische Union mit Schengen-Regime und Binnenmarkt zu nennen (vgl. Haslinger 2007: 6). Haslinger (2007: 8-19) identifiziert sechs grundlegende Richtungen, in die sich die deutschsprachige Forschung zu Grenzen entwickelt hat. Für die vorliegende Arbeit und die Betrachtung von Grenzen im titoistischen Jugoslawien sind vor allem drei dieser Ansätze relevant. Erstens können Grenzen als „lebensweltlicher und mikrohistorischer Untersuchungsgegenstand“ betrachtet werden, um die Auswirkungen von Grenzen und Grenzziehungen auf die Mikroebene zu untersuchen. Zweitens soll der Ansatz einbezogen werden, der Grenzen als eine Kultur oder eine Zivilisation integrierendes Konstrukt charakterisiert. Drittens müssen auch unsichtbare Grenzen zwischen sozialen Gruppen und deren Identitätsstiftungspotential in den Blick genommen werden, um die Dynamiken zwischen einzelnen Gruppen und sogenannten Staatsvölkern im ehemaligen Jugoslawien zu erklären.

2.2 borders oder frontiers?

Um eine bessere Beschreibung der verschiedenen Formen von Grenzlinien zu ermöglichen, schlägt Vrcan (2006: 216) vor, die Konzepte Nation, Kultur und Religion und ihre Zusammenhänge genauer zu betrachten. Dies sei insbesondere für das frühere Jugoslawien notwendig, dessen Grenzverläufe in den vergangen Jahrzenten umstritten gewesen seien. Dazu greift er die Unterscheidung von borders und frontiers auf: borders seien territoriale und konstante Grenzlinien, während frontiers Unterscheidungslinien darstellen, die strategischer Natur und veränderlich sind. Im Gegensatz zu borders unterscheiden frontiers nicht Nationen oder Nationalstaaten, sondern ganze wahrgenommene Zivilisationen. Damit einher gehe auch die Vorstellung, hinter der frontier lebten ungeordnete, chaotische und minderwertigere Gruppen von Menschen. frontiers der Gegenwart seien ideologiegeladen, instabil und oft von räumlichen Gliederungen losgelöst (vgl. ebd.: 217f.). Damit werden Gegner, Feinde oder hostis konstruiert: „This stranger or enemy can be everywhere and nowhere, internal as well as external, highly visible and barely discernible, to be defeated here and now as well as in the distant future—but invariably suitable for extermination” (ebd.: 218).

Es wird zu zeigen sein, dass die Krise in Jugoslawien entlang von Grenzen des Typs frontier verlaufen ist. Insbesondere stellt sich die Frage, welche Merkmale zur Bildung von frontiers herangezogen wurden und wie dieser Prozess verlaufen ist. Im folgenden Abschnitt soll versucht werden, das Laboratorium Jugoslawien besser zu verstehen und Grenzen verschiedener Art nachzuzeichnen.

3 Integration des Westbalkans im Sozialistischen Jugoslawien

3.1 Dritte Welt des alten Europa

Der gesamte Balkanraum stand über Jahrhunderte hinweg unter dem konkurrierenden Einfluss der drei Großmächte Russland, Österreich-Ungarn und dem osmanischen Reich. Ihlau und Mayr (2009: 14) bezeichnen die Region daher als „Dritte Welt des alten Europa“, da sie als permanentes Spannungsgebiet zwischen den Einflüssen der Großmächte gestanden habe. Charakteristisch für die Situation vor 1914 waren die Bestrebungen der europäischen Mächte, die Türken zurückzudrängen, nachdem die Osmanen mit der Eroberung Konstantinopels1453 auf den Balkan vorgedrungen waren. Der Westbalkan war eine Militärgrenze. Zu deren Verteidigung wurden aus dem Süden ins Habsburgerreich geflohene Serben zur Umsiedlung in diese Region bewogen, mit Grundbesitz, souveränen Rechten zur Verteidigung der Militärgrenze zu Bosnien ausgestattet. Sie sollten den osmanischen Ansturm im 16. Jahrhundert aufhalten. Die Ansiedlung dieser Wehrbauern steigerte die ethnische Heterogenität der Region weiter und führte zu Ungleichgewichten, da die dort lebenden Kroaten weniger Autonomierechte vom König- und Kaiserreich zugestanden bekamen als die unter Selbstverwaltung stehenden Serben (vgl. Homme 2001: 125f.).

Neben den Großmächten hatten auch Deutschland, Frankreich und Großbritannien regionale Interessen auf dem Balkan. Hatte der Berliner Vertrag 1878, initiiert von Bismarck, noch die Spannungen in Südosteuropa beruhigt, waren die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Wien, die Kriege um Mazedonien 1912/1913 und Zollkriege die Vorboten des Ersten Weltkrieges, der mit der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers durch einen serbischen Nationalisten begann. Diese forderten die Befreiung ihrer Landsleute in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, die beide zu Österreich-Ungarn gehörten. Die Großmächte erklärten sich den Krieg und der Balkan wurde zum Schlachtfeld.

Die Neuordnung Südosteuropas durch die Pariser Verträge führte zu einem ersten vereinigten Jugoslawien, in dem Kroaten und Slowenen sich mit den Königreichen Serbien und Montenegro zusammenschlossen. Allerdings gab es in diesem Vielvölkergebilde Probleme mit dem Zusammenwachsen, was insbesondere mit der Dominanz Serbiens und dem Zugehörigkeitsgefühl der Kroaten und Slowenen zu Mitteleuropa begründet wird. Schon zu diesem Zeitpunkt kann man also den Verlauf einer frontier, einer Vorstellungs- und Zivilisationsgrenze, zwischen den südslawischen Völkern erkennen. Die serbische Königsdiktatur führte zu radikalen kroatischen und mazedonischen Separatismustendenzen, denen König Alexander I. 1934 bei einem Attentat zum Opfer fiel. Ihm folgte sein Vetter Paul auf den Thron.

Während des zweiten Weltkrieges eroberten im Jahr 1941 deutsche Truppen das Königreich Jugoslawien, nachdem Belgrad zwei Tage lang massiv von deutschen Kampfflugzeugen bombardiert wurde. Ihlau und Mayr (2009: 19) bezeichnen diesen Angriff, der 15 000 Menschen das Leben kostete, als „das Guernica des Balkans“. In Belgrad wurde durch die deutsche Militärverwaltung ein Kollaborationsregime installiert. Italien, Ungarn und Bulgarien wurden Gebiete übertragen. In Kroatien riefen die Ustascha einen unabhängigen Staat Kroatien aus und führten ein Terror- und Schreckensregime, das hunderttausenden Serben, Roma, Juden und Muslimen das Leben kostete. Durch ethnische Säuberungen großen Stils versuchte Ustascha-Führer Ante Pavelić, ein serbenfreies Großkroatien zu etablieren. Vertreibung nach Serbien und Internierung sowie Ermordung in kroatischen Konzentrationslagern wie Jasenovac hinterließen ihre Spuren im kollektiven Gedächtnis der Balkanvölker.

[...]

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Vom Nachbarn zum Feind? Grenzen im ehemaligen Jugoslawien
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)  (Professur für Geschichte Osteuropas)
Veranstaltung
Grenzland Europa. Das östliche Europa als Laboratorium für Grenzverschiebungen
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
21
Katalognummer
V230874
ISBN (eBook)
9783656473053
ISBN (Buch)
9783656473596
Dateigröße
1555 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar des Prof.: "Diese vorbildliche Arbeit führt auf eine überzeugende Weise vor, dass die Vorstellung vom Nachbarn, der über Nacht zum Feind wird und zu Gräueln fähig ist, überwiegend ein propagandistisches Märchen ist, und dass es in der Regel andere Kräfte - von außen - waren, die die Initialzündung gelegt haben. Auch formal eine vorbildliche Arbeit."
Schlagworte
Jugoslawien, Titoismus, Grenzen, frontiers, Bosnien, Massengewalt
Arbeit zitieren
Enrico Günther (Autor:in), 2013, Vom Nachbarn zum Feind? Grenzen im ehemaligen Jugoslawien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/230874

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