Prävention von Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter


Bachelorarbeit, 2012

60 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Anorexia nervosa (Magersucht) bei Kindern und Jugendlichen
2.1 Definition
2.2 Symptomatik und Krankheitsverlauf
2.3 Mögliche Ursachen und begünstigende Faktoren

3. Präventionsmöglichkeiten von Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter
3.1 Zum Begriff der Prävention
3.2 Unterscheidung der Präventionsarten
3.3 Das Konzept der Salutogenese
3.4 Reduzierungsmöglichkeiten der Risikofaktoren von Anorexia nervosa auf primärpräventiver Basis
3.5 Beispiele wie Primärprävention von Anorexia nervosa erfolgen kann
3.5.1 Primärpräventionsangebot nach Dick & Dünn Nordwest e.V
3.5.2 „PriMa“
3.5.3 Präventionsangebot für Jungen über den „Mädchenhaus Heidelberg e.V.“
3.6 Eigene Überlegungen wie primäre Prävention von Anorexia nervosa erfolgen kann

4. Fazit und Ausblick

Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Wachstumskurven für den BMI

Abbildung 2: Primärsymptome im Kindes- und Jugendalter

Abbildung 3: Verlaufsdaten der Anorexia nervosa

Abbildung 4: Grundschema der Entwicklung einer Magersucht

Abbildung 5: Ätiologisches Modell der Essstörungen

Abbildung 6: Gegenüberstellung der Risikofaktoren und protektiven Faktoren

Abbildung 7: Gesundheitsfördernde Maßnahmen im Rahmen der Primärprävention

Abbildung 8: Workshop „Zu dick – zu dünn“

Abbildung 9: Teufelskreis aus dem Workshop „Schlank – aber krank“

Abbildung 10: Die 5 Esstypen zum Workshop „Wenn Gefühle durch den Magen gehen“

Abbildung 11: Gliederung der PriMa- Lektionen

1. Einleitung

„Wer ist, der ißt. Und wer nicht ißt, der ist bald nicht mehr“.

(Waltraud Puzicha, (*1925), deutsche Aphoristikerin)

Anorexia nervosa – oder auch besser bekannt unter dem Namen Magersucht – ist die dritthäufigste chronische Erkrankung in der weiblichen Adoleszenz (vgl. Herpertz-Dahlmann, 2008, S. 19). Mit dem Zitat von Waltraud Puzicha wird die mögliche schlimmste Folge dieses Störungsbildes auf den Punkt gebracht. Die Mortalitätsrate[1] von etwa 5 %, die die Anorexia nervosa zu verzeichnen hat, ist unter den psychischen Erkrankungen die höchste Ziffer. Die Inzidenzrate[2] liegt jährlich bei etwa acht von 100.000 Personen (vgl. Salbach-Andrae, Jacobi, & Jaite, 2010, S. 20 f.). Schätzungsweise sind etwa 0,5 bis 1,5 % der 12- bis 25-Jährigen von diesem Störungsbild betroffen. Bei etwa 14 und 19 Jahren liegen die beiden Erkrankungsgipfel. Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) ist die Tendenz leicht steigend. Hauptsächlich findet sich die Anorexia nervosa bei jungen Mädchen und Frauen wieder und ist etwa zehnmal häufiger als bei den Jungen und jungen Männern festzustellen (vgl. ebd., S. 20; BZgA, 2010(a), S. 17 f.).

All diese Einstiegsfakten machen darauf aufmerksam wie wichtig eine frühzeitige Erkennung und Behandlung, aber vor allem ein Entgegenwirken ist. Die vorliegende Bachelorarbeit fokussiert sich vor allem auf den Aspekt des Entgegenwirkens, folglich der Prävention von Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter. Da sich dieses Störungsbild vorwiegend in der Adoleszenz entwickelt und manifestiert, wird sich der Fokus in der vorliegenden Arbeit ausschließlich auf diese Altersspanne des Kindes- und Jugendalters konzentrieren.

Um Anorexia nervosa präventiv entgegenwirken zu können, ist im Vorfeld eine Auseinandersetzung mit dem Störungsbild erforderlich. Dazu werden im nachfolgenden Kapitel die Bereiche Definition, Symptomatik und Krankheitsverlauf sowie die möglichen Ursachen und begünstigenden Faktoren, thematisch behandelt. Vor allem das Kennen und Verstehen der Einflussfaktoren auf die Entstehung der Anorexia nervosa sind Grundlage für präventives Handeln (vgl. Gerlinghoff & Backmund, 2000, S. 103).

Im dritten Kapitel 3 werden zum einen der Begriff sowie die Unterscheidung der verschiedenen Bereiche der Prävention, in den Blick genommen. Im Anschluss folgt eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Salutogenese von Aaron Antonovsky, um dann mit den Reduzierungsmöglichkeiten der Risikofaktoren fortfahren zu können. Abgerundet wird dieses Kapitel durch die Vorstellung und Reflexion von drei verschiedenen Beispielen, welche zeigen, wie Prävention in der Praxis erfolgen kann.

Im Rahmen der Recherche und Bearbeitung dieser Bachelorarbeit wurde ein Gespräch mit Anke Lambrecht, der Geschäftsführerin des Vereins Dick & Dünn Nordwest e.V. geführt, in dem es speziell um deren Präventionsangebot für die Anorexia nervosa geht. In Abschnitt 3.5.1 werde ich dieses darstellen und auch Gesprächsinhalte mit einfließen lassen.

In dieser Ausarbeitung wird sich speziell auf den Bereich der Primärprävention konzentriert. Begründet dadurch, dass zum einen mit dem primären Bereich in Verbindung mit Aspekten der Gesundheitsförderung – speziell dem Konzept der Salutogenese – die Ebene der Krankheitsverhinderung bzw. der Senkung der Risikofaktoren ausreichend abgedeckt ist und hinzufügend eine weitere Fokussierung auf die Bereiche der sekundären und tertiären Prävention den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde und auch aus diesem Grunde eine Eingrenzung der Thematik stattfinden musste.

Bevor abschließend noch ein Fazit und Ausblick gegeben wird, – womit letztendlich der Abschluss dieser Bachelorarbeit erfolgt – wird es noch einen Abschnitt geben, in dem eigene Ideen für die Primärprävention von Anorexia nervosa einfließen werden.

2. Anorexia nervosa (Magersucht) bei Kindern und Jugendlichen

2.1 Definition

Bei der «Anorexia nervosa» handelt es sich wörtlich übersetzt, um einen «nervösen Appetitverlust» oder anders ausgedrückt, um eine Appetitlosigkeit (Anorexie), die nervlich bzw. psychisch bedingt ist. Da die Betroffenen nicht unter einen Appetitmangel leiden, sondern vielmehr versuchen, ihren Appetit und ihre Hungergefühle – die nicht selten recht gut ausgeprägt sind – zu unterdrücken, ist der Begriff «Anorexia nervosa» jedoch irreführend (vgl. Vandereycken & Meermann, 2000, S. 17). Das Ziel schlank zu sein steht hier im Zentrum der Erkrankung. Der Begriff «Magersucht», der als Synonym für «Anorexia nervosa» verwendet wird, greift genau diesen Aspekt auf. Denn er bezieht sich weniger auf das Essen und den Appetit, sondern legt den Fokus auf den Körper und dem bereits genannten Ziel dünn zu sein. Doch auch bei diesem Begriff ist Vorsicht geboten. Denn nach Franke wird dieser Begriff «Magersucht» zum Teil noch den Suchterkrankungen zugeordnet. Was vor allem auf den sprachlichen Hintergrund zurückzuführen ist und dem Erscheinungsbild nicht gerecht wird. Das Wort «Magersucht» leitet sich nicht aus dem heutigen Suchtbegriff ab, sondern hat seinen Ursprung im mittelhochdeutschen Wort «siech», wovon auch andere Begriffe wie Gelbsucht oder Bleichsucht ihre Herkunft haben. Sprachgeschichtlich betrachtet hat «Sucht» nichts mit «suchen» zu tun (vgl. Franke, 2003, S. 12 u. 20). Womit dann auch der Behauptung, Magersüchtige „seien süchtig auf der Suche nach wahrer Befriedigung und verlagerten diesen Hunger nach Liebe und Anerkennung auf ihren Körper“ (ebd. S.12), entgegengewirkt werden kann. Die Magersucht ist keine Ersatzbefriedigung, sondern ein fehlgeschlagener Lösungsversuch für Probleme, die für die Betroffenen unbewusst sind oder einfach eine Überforderung darstellen (vgl. ebd.).

Sowohl die Magersucht als auch die Suchterkrankungen haben „etwas mit Kontrolle und Kontrollverlust, Selbstwertproblematik und auffälliger Familiendynamik zu tun“ (ebd.). Aber dennoch können ebenso gut völlig kontroverse Merkmale wie Zwangssymptome oder depressive Symptome erkannt werden. Somit reicht es nicht aus, sie der Gruppe der Suchterkrankungen zuordnen zu können (vgl. ebd.), was auch durch den Blick in den ICD-10[3] verdeutlicht wird. Hier handelt es sich bei der Anorexia nervosa nicht um eine Abhängigkeitserkrankung, sondern um eine «Verhaltensauffälligkeit mit körperlichen Störungen und Faktoren» (vgl. http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/htmlgm2012/block-f50-f59.htm).

Durch die Auseinandersetzung mit dem Begriff «Magersucht» wird deutlich, dass er zum einen in der wörtlichen Bedeutung nichts mit dem Begriff «Anorexia nervosa» gemeinsam hat. Nur die Tatsache, dass beide Begriffe für dieses Störungsbild fest etabliert sind, verbindet sie miteinander. Zum anderen wird einem klar, dass dieser Begriff zwar dem Störungsbild näher kommt – im Gegensatz zu der Wortwahl «Anorexia nervosa» – aber dennoch ist er in Bezug auf den Wortteil «-sucht» ungünstig gewählt.

Neben dem Begriff «Magersucht», wäre nach Vandereycken & Meermann der Begriff «Selbstaushungerung» möglicherweise passender für dieses Störungsbild (vgl. Vandereycken & Meermann, 2000, S. 17). Diese Auffassung ist an sich gar nicht so abwegig, schließlich bildet der selbstherbeigeführte Gewichtsverlust das zentrale Merkmal dieser Erkrankung. Der stark ausgeprägte Wunsch, Gewicht zu verlieren befähigt den Einzelnen, der unter Anorexia nervosa leidet, seine Hungergefühle ignorieren oder unterdrücken zu können. Da die Befriedigung von Hungergefühlen eines der grundlegenden menschlichen Instinkten ist, kostet dies oftmals eine enorme Anstrengung (vgl. Bryant-Waugh & Lask, 2008, S. 25). Bei einem Teil der Betroffenen kommt es – besonders bei längerer Krankheitsdauer – deshalb zu Heißhungeranfällen. In diesen Fällen spricht man auch von einer Magersucht mit bulimischen Zügen (vgl. DHS, 2004, S. 14). Magersüchtige erreichen den Gewichtsverlust auf unterschiedliche Weise:

- Durch Hungern und/oder übermäßige Bewegung. (= Restriktiver Magersuchts-Typus)
- Neben dem Nahrungsentzug greifen die Betroffenen außerdem nach weiteren Hilfsmitteln wie Abführmittel, entwässernde Medikamente sowie andere Arzneien. Zudem führen sie ein Erbrechen selbst herbei. (=Purging-Typus)
- Beim schon erwähnten bulimischen Magersucht-Typus stehen die Hungerphasen ebenfalls im Vordergrund. Allerdings werden diese durch unregelmäßige Essattacken unterbrochen. Die Gewichtszunahme wird dann durch selbst induziertes Erbrechen oder Medikamentenmissbrauch verhindert. Bei diesem Typus lässt sich gut erkennen, wie fließend die Grenzen zwischen der Magersucht und der Bulimie sind, denn Essattacken mit anschließendem selbst induzierten Erbrechen sind das charakteristische Merkmal der Bulimie. Der Unterschied zu der Bulimie ist allerdings das Gewicht und das Essverhalten zwischen den Essattacken. Bulimische Personen haben ein Normalgewicht und zwischen den Essattacken wird auf kalorienarme oder auch normaler Ernährung zurückgegriffen. Der bulimische Magersucht-Typus ist untergewichtig und die Essattacken stehen im Wechsel zu den Hungerphasen (vgl. BZgA, 2010 (a), S.17).

Vor allem das gestörte Verhältnis zu Nahrungsmitteln sowie zu den eigenen Körpermaßen ist signifikant für diese psychische Erkrankung (vgl. Vandereycken & Meermann, 2000, S.17).

2.2 Symptomatik und Krankheitsverlauf

Für die Diagnostik von Anorexia nervosa in Kindes- und Jugendalter müssen bestimmte Diagnosekriterien vorliegen, die durch den schon erwähnten ICD-10 bestimmt sind. Eine Unterscheidung der Diagnosekriterien zwischen der erwachsenen Form und der für Kinder und Jugendliche gibt es nicht. Demnach definieren diese aktuell „Anorexia nervosa in erster Linie über die Weigerung der Patientin, ein minimales normales Körpergewicht zu halten bzw. zu erreichen, ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme trotz bestehenden Untergewichts, eine Wahrnehmungsstörung bezogen auf Figur und Gewicht bzw. die übermäßige Bedeutsamkeit von diesen für das Selbstkonzept sowie eine Amenorrhoe[4]“ (Jacobi & de Zwaan, 2006, S. 884) bei Frauen. Bei Männern manifestiert sich diese endokrine Störung als Interesseverlust an Sexualität und Potenzverlust (vgl. WHO, 2006, S.137).

Selbst induziertes Erbrechen oder Abführen, Anwendung von Appetitzüglern und/oder harntreibenden Mitteln sowie übertriebene körperliche Aktivitäten, sind nach dem ICD-10 alles Symptome, die für die Diagnosestellung zwar nicht erforderlich sind, diese aber bestätigen (vgl. ebd.).

Um die gedrosselte Kalorienzufuhr und die abgebauten Fettreserven kompensieren zu können verlangsamt sich der Stoffwechsel des Körpers, wodurch die Körpertemperatur sinkt. Die Folge ist äußerste Kälteempfindlichkeit, die sich manchmal auch in einer Blaufärbung von Lippen und Fingern zeigen kann. Zudem kann eine flaumartige Körperbehaarung an Rumpf und Rücken entstehen, die man sonst normalerweise nur bei Neugeborenen sieht. Hinzu kommt eine Beeinträchtigung des Verdauungstraktes, was sich häufig in Verstopfung sowie eine verzögerte Magenentleerung zeigt. Ein anhaltendes Völlegefühl nach der Mahlzeit kann hier eine Folge sein und die Betroffenen nur noch mehr in ihrem Gefühl bzw. ihrer Überzeugung bestärken, dass sie «zu viel essen» und ihre Nahrungszufuhr noch mehr drosseln müssen. Vitamin- und Ernährungsmängel sind hier als Konsequenz zu betrachten, wodurch noch weitere körperliche Symptome, einschließlich einer leichten bis mäßigen Anämie (Blutarmut), hinzukommen können (vgl. Walsh & Wittchen, 1998, S. 168).

Das Körpergewicht liegt bei den Betroffenen mindestens 15% unter dem normalen Gewicht, was mit Hilfe des Body Mass Index (BMI) beurteilt werden kann. Die Bestimmung erfolgt über die Formel

(vgl. WHO, 2006, S. 137). Ein BMI von weniger als 18,5 weist bei einem Erwachsenen auf Untergewicht hin. Für Kinder und Jugendliche lässt sich das allein mit diesem Index nicht sagen, was zum einen durch ihr Wachstum bedingt ist. Zum anderen verändert isch auch pubertätsbedingt der Muskel- und Fettanteil zwischen Jungen und Mädchen anders. Mit Hilfe von sogenannten Wachstumskurven (siehe Abb. 1) kann der BMI schließlich beurteilt werden, indem dieser bei dem entsprechenden Alter in der Kurve eingezeichnet wird. Die Wachstumskurve beinhaltet sogenannte BMI-Perzentile. Hierbei handelt es sich um statistische Prozentwerte, die besagen wie viel Prozent der gleichaltrigen Kinder und Jugendlichen gleichen Geschlechts einen niedrigeren BMI-Wert aufweisen. Ist der BMI zwischen der 3. und der 10. Perzentile, liegt Untergewicht vor. Starkes Untergewicht wird gekennzeichnet sobald das Kind bzw. der Jugendliche einen BMI unterhalb der 3. Perzentile aufweist (vgl. http://www.bzga-essstoerungen.de/index.php?id=106#c89).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Wachstumskurven für den BMI

(Quelle: Kromeyer, K. et al.: Monatszeitschrift Kinderheilkunde 149 (2001); entnommen aus: BZgA, 2010 (b), S. 10)

Bei der Anorexia nervosa liegt ein beabsichtigter Gewichtsverlust vor. In Kindes- und Jugendalter muss dieser auf der Waage nicht unbedingt angezeigt werden. Denn manche verlieren kein Gewicht, sondern das Gewicht bleibt – trotz älter werden und Wachstum– stehen, wodurch die Betroffenen im Verhältnis zu ihrer Körpergröße immer dünner und leichter werden (vgl. BZgA, 2010 (a), S. 40). „Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der Pubertätsentwicklung verzögert oder gehemmt (Wachstumsstop [sic], fehlende Brustentwicklung und primäre Amenorrhoe bei Mädchen; bei Jungen bleiben die Genitalien kindlich)“ (WHO, 2006, S. 137 f.). Nachdem die Krankheitssymptome vorübergehend oder dauerhaft nachgelassen haben, kann die Pubertätsentwicklung häufig normal abgeschlossen werden (vgl. ebd., S. 138). „Alle bisher beschriebenen physischen Symptome bessern sich oder verschwinden, sobald das Normalgewicht wieder erreicht wird“ (Walsh & Wittchen, 1998, S. 168).

Schon vor dem starken Gewichtsverlust können erhebliche Veränderungen der Stimmung, der Einstellungen und des Verhaltens Grund zur Sorge geben. Dabei ist zwischen den Veränderungen, die das Resultat von verdeckten psychischen Problemen darstellen und denen, die wiederum als unmittelbare Folgen des Hungerns zu verzeichnen sind, zu unterscheiden (vgl. ebd.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Primärsymptome im Kindes- und Jugendalter

(Quelle: vgl. Herpertz-Dahlmann, 2008, S. 20)

Primärsymptome im Kindes- und Jugendalter:

- Zunehmendes Interesse für die Zusammensetzung von Lebensmitteln und dessen Kaloriengehalt
- Vermeidung bzw. Verweigerung von Mahlzeiten
- Beschränkung auf so genannte »gesunde« Lebensmittel
- Ständiges Wiegen
- Unzufriedenheit mit eigenem Aussehen und Figur
- Zunehmende Leistungsorientierung und Isolation
- Primäre bzw. sekundäre Amenorrhoe

Bereits zu Beginn der Erkrankung fällt die zwanghafte Beschäftigung mit dem Thema Ernährung auf (siehe auch Abb. 2). Hierbei ist zum einen ein sammeln und intensives beschäftigen mit Rezepten und Kochbüchern häufig zu kennzeichnen. Aber auch die Zubereitung von oftmals aufwendigen und ausgefallenen Mahlzeiten machen einige Betroffene zu ihrer Aufgabe und stellt für sie häufig eine große Bedeutung dar (vgl. ebd.). Die könnte auf den Hintergrund zurückgeführt werden, dass sie so die Kontrolle über die Auswahl der Lebensmittel und auch den Blick für die Kalorien- und Fettmenge behalten. Obwohl sie meistens selbst nichts davon zu sich nehmen, achten sie darauf, dass dennoch von den anderen Tischmitgliedern alles aufgegessen wird. Dabei empfinden manche – in Bezug auf ihre Selbstbeherrschung – ein berauschendes Gefühl von Stolz. Daneben gibt es aber auch den Teil der Magersüchtigen die gemeinsame Mahlzeiten vermeiden, da ihnen der Anblick, wie andere essen, unerträglich scheint (vgl. ebd., S. 168 f.; Biedert, 2008, S.11). Dies hängt vermutlich auch damit zusammen, dass die Betroffenen selbst ständig gegen ihre Hungergefühle und ihren Appetit ankämpfen und damit zu tun haben diesen zu unterdrücken. Diese ständige Beschäftigung mit dem Thema Essen spiegelt sich nicht nur in ihrem Handeln wieder, auch gedanklich können sich die Betroffenen davon nicht trennen. «Wie viele Kalorien habe ich gerade zu mir genommen?», «Was kann ich ändern damit es morgen weniger Kalorien sind?» sind typische Beispiele für Fragen, die sich die Betroffenen ständig stellen. Nicht selten träumen sie außerdem von Mahlzeiten und den verschiedensten Kochrezepten. Je länger die Erkrankung anhält, umso stärker wird ihre Kontrolle über das Essen und sie entwickeln mit der Zeit Essrituale, die für Außenstehende schwer nachvollziehbar sind und merkwürdig erscheinen (vgl. Walsh & Wittchen, 1998, S.169; Biedert, 2008, S. 11). „So nehmen sie vielleicht eine Woche lang nichts anderes als grünen Salat und Tomaten zu sich oder richten Speisen in winzigen Portionen und präziser Ordnung auf einem Teller an, die sie dann in einer bestimmten Reihenfolge essen“ (Walsh & Wittchen, 1998, S. 169). Auch die Umstellung auf rein vegetarische Ernährung ist typisch für die Betroffenen. Ebenso ist beim Thema Essen die Konstruktion eines Lügengerüsts keine Seltenheit. Äußerungen wie, dass sie schon in der Schule gegessen hätten bzw. sie würden zu Hause ihre Mahlzeit einnehmen, werden zur Gewohnheit (vgl. ebd.). Nach Walsh & Wittchen tragen die „physischen, biochemischen und psychischen Auswirkungen der Mangelernährung und des ständigen Hungerns […] viel zu diesem […] Verhalten bei“ (ebd.).

Aber nicht nur beim Thema Ernährung zeigen sich Verhaltensänderungen. Für manch einen Betroffenen können auch Rituale im Verhalten eine große Rolle spielen und den Alltag bestimmen. Diese Rituale können sich in vielerlei Hinsicht wiederspiegeln und auch zwanghaft werden. So müssen beispielsweise bestimmte Dinge wie die Badezimmerwaage immer an der gleichen Stelle stehen oder die persönliche Körperpflege muss immer zu einer bestimmten Zeit oder nach bestimmten Aktivitäten erfolgen. Die Rituale oder auch feste strukturierte Tagesabläufe geben den Betroffenen Sicherheit, wodurch sie auch ein Stück weit versuchen wieder Kontrolle über ihr Leben zu erlangen (vgl. ebd.). „Denn das Gefühl, das Leben sei außer Kontrolle, ist möglicherweise eine der vielen tieferen Ursachen […] der Anorexia nervosa“ (ebd.). Vertieft wird dieser Satz weiter in Abschnitt 2.3. Während des berufspraktischen Semesters in einer Wohngruppe für psychisch erkrankte Jugendliche und junge Heranwachsende, wurde offensichtlich, wie wichtig ein fester Tagesablauf für die Betroffenen sein kann. Sobald diese Struktur oder auch nur ein Teil davon wegefallen ist, konnte es durchaus passieren, dass es zu Überforderung und zu Stimmungswechsel kam. Eine innere Unruhe wurde beschrieben und auch nach außen hin präsentiert.

Genauso wie die Rituale kann auch die schon erwähnte übertriebene körperliche Aktivität, wie ein Zwang erlebt werden. Das selbst angeordnete Sportprogramm, was in den meisten Fällen überwiegend aus Laufen und anderen wettbewerbsorientierten Sportarten besteht, ist dann eine absolute Notwendigkeit und darf unter keinen Umständen ausfallen oder abgebrochen werden (vgl. BZgA, 2010 (a), S. 40; Walsh & Wittchen, 1998, S. 169). Der Betroffene versucht so lange es geht, die Fassade aufrecht zu halten, dass er sich noch leistungsstark und gesundheitlich fit fühlt. Es wird in sämtlichen Lebensbereichen solange wie möglich versucht überdurchschnittliche Leistungen zu erbringen (vgl. Biedert, 2008, S. 11). Allerdings kann es durch die physischen Folgen der unzureichenden Kalorienzufuhr zur Konzentrationsschwäche kommen, wodurch dann auch die schulischen Leistungen abfallen können (vgl. Walsh & Wittchen, 1998, S. 169). Dies wiederum hält ihre hohen Leistungsanforderungen an sich selbst dennoch nicht auf. Durch ihre perfektionistischen Ansprüche versuchen die Magersüchtigen ihre niedrigen Selbstwertgefühle zu kompensieren und zu stärken. Vor allem von ihrer Figur und ihrem Körpergewicht ist das Selbstwertgefühl der Kinder und Jugendlichen abhängig. Die Kontrolle darüber bedeutet für die Betroffenen auch Kontrolle und Autonomie des eigenen Lebens ein Stück weit wieder zu erlangen. Da sie aber auffällig selbstkritisch mit sich umgehen, werden sie von ständiger Unzufriedenheit in der Bewertung der eigenen Person verfolgt. Die ausgeprägte Selbstwertproblematik äußert sich in Selbstunsicherheit zum einen in Bezug auf die eigene Rolle in der Familie, der Gesellschaft, aber auch in Bezug auf die eigene Person, womit auch Gefühle von Wert- und Nutzlosigkeit verbunden werden (vgl. Salbach-Andrae, Jacobi & Jaite, 2010, S.15f.).

Neben zwanghaften Zügen sind depressive Verstimmungen und Angstzustände als Folge der Abmagerung nicht selten zu beobachten. Ein Rückgang ist nach Normalisierung von Gewicht und Essverhalten oftmals gegeben (vgl. ebd., S. 16 u. 22).

Zudem ziehen sich Magersüchtige immer weiter zurück und isolieren sich somit immer mehr von ihrer Umgebung. Ihre sozialen Kontakte werden immer weniger, Freundschaften werden vernachlässigt. Die Betroffenen werden zu Einzelgängern und verkriechen sich in ihrer Isolation (vgl. ebd.; Biedert, 2008, S. 11). Aber nicht nur in ihren Peer Groups, sondern auch in ihren Familien kommt es im Verlauf der Erkrankung häufig zu Konflikten und entsprechendes Rückzugsverhalten. Auslöser ist überwiegend die Besorgnis der Familie über das sichtbare viel zu geringe Körpergewicht, was durch das Kindes bzw. des Jugendlichen verleugnet wird (vgl. Salbach-Andrae, Jacobi & Jaite, 2010, S.15). Die Verleugnung dieser Tatsache lässt sich darauf zurückführen, dass die Abmagerung von den Betroffenen nicht mehr realistisch wahrgenommen wird. In ihrer Wahrnehmung empfinden sie sich vielmehr als normalgewichtig oder auch für zu dick. Im Verlauf der Erkrankung kommt es mit zunehmender Abmagerung neben dieser Körperbildstörung außerdem zu Störungen die die eigene Wahrnehmung von Hunger- und Sattheitsgefühlen betrifft (vgl. Steinhausen, 2000, S. 78).

Anorexia nervosa zeichnet sich im Krankheitsverlauf unterschiedlich aus. Es gibt somit keinen einheitlichen Verlaufstyp wie auch im Nachfolgenden festzustellen ist. Zum einen kann eine totale Remission[5] erreicht werden, aber auch chronisch-andauernde und chronisch-wiederauftretende Varianten sind möglich. Im schlimmsten Fall endet dieses Störungsbild – wie eingangs schon erwähnt – jedoch tödlich (vgl. Steinhausen, 2006, S. 228). Durch eine systematische Analyse von Verlaufsstudien bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen konnten nach Steinhausen in den Bereichen Gewichtsnormalisierung, Essverhalten, Menstruation, Heilung, partielle Besserung des Störungsbildes, chronifizierter Krankheitsverlauf sowie im Bereich der Mortalitätsrate folgende allgemeine Ergebnisse für den Verlauf von Anorexia nervosa festgehalten werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Verlaufsdaten der Anorexia nervosa

(Quelle: Eigene Darstellung nach Steinhausen, vgl. Steinhausen, 2005, S. 15 f.; Steinhausen , 2006, S.228)

Bei diesen Zahlen handelt es sich um die jeweiligen Mittelwerte der Studien. Insgesamt lässt sich aber feststellen, dass der Krankheitsverlauf bei den Betroffenen im Kindes- und Jugendalter etwas günstiger verläuft (vgl. Steinhausen, 2005, S. 16). „In psychopathologischer und psychosozialer Hinsicht stehen bei den chronifizierten oder nur partiell gebesserten Fällen depressive Störungen und Störungen der psychosexuellen und sozialen Entwicklung im Vordergrund“ (Steinhausen, 2006, S.228). Die Mortalitätsrate ist in den vergangenen Jahren auf insgesamt weniger als 5% gesunken. Trotzdem zählt die Anorexia nervosa weiterhin als die psychische Erkrankung, die die höchste Mortalitätsrate aufweist. Haupttodesursachen sind medizinische Komplikationen aufgrund des andauernden Hunger- und Entkräftungszustandes sowie aktiver Suizid bzw. Suizid durch die Nahrungsverweigerung (vgl. Salbach-Andrae, Jacobi & Jaite, 2010, S.21).

Im Rahmen dieser Verlaufsstudien wurden auch die Prognosefaktoren betrachtet. Hier können für einen positiven Krankheitsverlauf folgende Faktoren zur Kenntnis genommen werden: Früher Erkrankungsbeginn im Jugendalter (im Kindesalter hingegen als eher ungünstig zu betrachten), hysterische Persönlichkeitszüge, eine konfliktfreie Eltern-Kind-Beziehung, kurze Zeitspanne zwischen Erkrankungs- und Behandlungsbeginn, wenige stationäre Behandlungen sowie ein höherer Sozial- und Bildungsstatus.

Für einen negativen Krankheitsverlauf zeichnen sich hingegen folgende Faktoren ab: Erbrechen, bulimische Züge, hoher Gewichtsverlust, ein chronischer Verlauf der Störung, ausgeprägte zwanghafte Züge, ein männliches Geschlecht sowie Entwicklungsabweichungen und Verhaltensprobleme bereits vor Beginn der Störung (vgl. Steinhausen, 2005, S. 16; Steinhausen, 2006, S. 228).

[...]


[1] Mortalitätsrate = Anzahl der Todesfälle (vgl. Pschyrembel®, 2004, S.1181)

[2] Inzidenzrate = Anzahl der Neuerkrankungen (vgl. Pschyrembel®, 2004, S. 882)

[3] ICD-10 = Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (engl.: I nternational Statistical C lassification of D iseases and Related Health Problems). Sie wird jährlich aktualisiert von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben und ist für die Medizin das wichtigste, weltweit anerkannte System zur Verschlüsselung und Klassifikation der Diagnosen. Die Ziffer 10 steht für die 10. Revision (vgl.http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/index.htm).

[4] Amenorrhoe ist „das Ausbleiben von mindestens drei aufeinander folgenden Menstruationszyklen (Amenorrhoe wird auch dann angenommen, wenn bei einer Frau die Periode nur nach Verabreichung von Hormonen, z.B. Östrogen, eintritt)“ (Jacobi & de Zwaan, 2006, S. 885).

[5] totale Remission = vollständiges Zurückgehen der Krankheitssymptome; man spricht auch von einer vermeintlichen Heilung nach Therapie, da sich der Patient vollkommen gesund fühlt (vgl. Pschyrembel®, 2004, S. 1564f.).

Ende der Leseprobe aus 60 Seiten

Details

Titel
Prävention von Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter
Hochschule
Ernst-Abbe-Hochschule Jena, ehem. Fachhochschule Jena
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
60
Katalognummer
V230549
ISBN (eBook)
9783656465799
ISBN (Buch)
9783656468325
Dateigröße
2948 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Magersucht, Präventionsarbeit, Soziale Arbeit, Kinder- und Jugendarbeit, Anorexie, Essstörungen, Gesundheitsbezogene Sozialarbeit
Arbeit zitieren
Bachelor of Arts (BA) Swenja Rolfes (Autor:in), 2012, Prävention von Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/230549

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