Krisenprävention und -intervention

Begleitung von erwachsenen Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und originellen Verhaltensweisen im Spannungsfeld zwischen therapeutischer Herausforderung und sozialpädagogischem Alltag


Diplomarbeit, 2013

58 Seiten, Note: 84 (90)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Motivation und Begründung
1.2 Eingrenzung des Themas
1.3 Fragestellungen und Begründungen der Fragestellungen
1.4 Ziele und Begründung der Ziele
1.5 Aufbau der Arbeit
1.6 Deklaration der Schweigepflicht
1.7 Geschlechtergerechte Sprache

2. Institutioneller Kontext
2.1 Institution
2.2 Leitbild & ideelle Grundlage

3. Klärung der Begriffe
3.1 Klärung des Begriffes „Kognitive Entwicklungsbeeinträchtigung“
3.2 Klärung des Begriffes „Verhaltensstörung“
3.3 Klärung des Begriffes „Gewalt“
3.4 Klärung des Begriffes „Krise“
3.5 Klärung des Begriffes „Krisenintervention“
3.6 Klärung des Begriffes „ Therapie“ in Abgrenzung zum sozialpädagogischen Auftrag

4. Meine sozialpädagogische Haltung
4.1 Mein Menschenbild
4.2 Mein Verständnis von kognitiver Entwicklungsbeeinträchtigung und originellen Verhaltensweisen
4.3 Mein Verständnis von Krise und Krisenintervention
4.4 Mein Verständnis von Begleitung
4.5 Normen und Werte einer Wohngruppe für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und originellen Verhaltensweisen
4.6 Mein sozialpädagogischer Auftrag und mein Rollenverständnis

5. Projekt „Inhouse-Gruppe“
5.1 Beschrieb der Projektidee
5.2 Teilnehmer
5.3 Mein sozialpädagogischer Auftrag und meine Funktion innerhalb der Gruppe

6. Systemischer Ansatz als Handlungsleitendes Konzept
6.1 Grundlagen der systemorientierten Sozialpädagogik
6.1.1 Das soziale System – Begriffserläuterung
6.1.2 Relevante Annahmen und Grundhaltungen in der systemorientierten Sozialpädagogik
6.2 Unterschiedliche Rollen in der systemorientierten Sozialpädagogik
6.2.1 Definition von „Rolle“
6.2.2 Meine Rolle als „Systemvernetzerin“ in Bezug auf die Gruppentherapie und die Alltagbegleitung, reflektiert in Anlehnung an die Systemtheorie
6.3 Die Gruppentherapie vor dem Hintergrund der Systemtheorie
6.4 Eigene sozialpädagogische Stellungnahme

7. Empowerment als Handlungsleitendes Konzept
7.1 Entstehung und Grundlagen des Empowerments
7.1.1 Ausgangspunkt
7.2 Leitprinzipien des Empowerment
7.2.1 Dialogische Assistenz
7.2.2 Advokatorische Assistenz
7.2.3 Konsultative Assistenz
7.2.4 Sozialintegrierende Assistenz
7.2.5 Intervenierende Assistenz
7.3 Besondere Aspekte in der Begleitung von Klienten mit kognitiver Beeinträchtigung und originellen Verhaltensweisen
7.4 Bedeutung und Auswirkung dieses Konzepts für Klienten mit kognitiver Beeinträchtigung und originellen Verhaltensweisen
7.5 Eigene sozialpädagogische Stellungnahme

8. Faktoren, welche die Verhaltensweisen der Klienten mit kognitiver Beeinträchtigung und originellen Verhaltensweisen beeinflussen können
8.1 Emotion
8.1.1 Emotion und Verhalten
8.1.2 Emotion und Bedürfnis
8.1.3 Frustrations- & Aggressionstheorie
8.1.4 Verknüpfung zur Gruppentherapie
8.1.5 Eigene sozialpädagogische Stellungnahme
8.2 Wahrnehmung
8.2.1 Die Bedeutung der Erfahrung
8.2.2 Die Subjektivität der Wahrnehmung
8.2.3 Die soziale Wahrnehmung
8.2.4 Fehler und Störungen in der Wahrnehmung
8.2.5 Verknüpfung zur Gruppentherapie
8.2.6 Eigene sozialpädagogische Stellungnahme
8.3 Persönlichkeitsentwicklung
8.3.1 Psychosoziale Entwicklung nach Erikson
8.3.1.1 Stufe 1: Urvertrauen gegen Urmisstrauen (1. Lebensjahr)
8.3.1.2 Stufe 2: Autonomie gegen Scham und Zweifel (2. und 3. Lebensjahr)
8.3.1.3 Stufe 3: Initiative gegen Schuldgefühl (4. und 5. Lebensjahr)
8.3.1.4 Stufe 4: Leistung gegen Minderwertigkeitsgefühl (6. Lebensjahr bis Pubertät)
8.3.1.5 Stufe 5: Identität gegen Rollenkonfusion (Jugendalter)
8.3.1.6 Stufe 6: Intimität gegen Isolierung (frühes Erwachsenenalter)
8.3.1.7 Stufe 7: Zeugende Fähigkeit gegen Stagnation (Erwachsenenalter)
8.3.1.8 Stufe 8: Ich-Integrität gegen Verzweiflung (ab dem 50. Lebensjahr)
8.3.2 Verknüpfung zur Gruppentherapie
8.3.3 Eigene sozialpädagogische Stellungnahme

9. Schlussteil
9.1 Erkenntnisse und Lerngewinn der gewonnenen Perspektiven für die sozialpädagogische Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und originellen Verhaltensweisen
9.2 Beantwortung der formulierten Fragestellungen
9.3 Überprüfung der formulierten Zielsetzungen
9.4 Aussichten und Konsequenzen / Persönliche Stellungnahme

10. Literaturverzeichnis

11. Internet-Quellenverzeichnis

12. Anhang und weitere Verzeichnisse

1. Einleitung

„Wer einsieht, dass er seine Wirklichkeit selbst konstruiert,

der ist wirklich frei. Er weiss,

dass er die Wirklichkeit jederzeit ändern kann.“

Paul Watzlawick

Mit diesen Worten, welchen ich mich anschliesse, möchte ich diese Arbeit einleiten. Der Mensch ist meines Erachtens der eigene Gestalter seines Lebens, seiner Wirklichkeit – allerdings immer auch im Wechselspiel mit seiner Umwelt dieser bis zu einem gewissen Masse ausgeliefert. Gerade Menschen mit einer Beeinträchtigung sind auf Hilfssysteme angewiesen, welche ihre Lebenswelt stark beeinflussen können.

Ein institutioneller Kontext kann sich für die zu betreuenden Menschen als Gewalt fördernd darstellen. An diesem Punkt müssen Massnahmen ergriffen und umgesetzt werden. Ich werde in dieser Arbeit meinen Schwerpunkt auf gezielte präventive Massnahmen - die auch intervenierende Assistenzformen beinhalten können - in Bezug auf gewalttätiges und / oder zu Übergriffen neigendes Verhalten legen und die Begleitung dieser Personen im sozialpädagogischen Alltag in Bezug auf die Umsetzung erlernter Lösungsstrategien ins Zentrum rücken.

1.1 Motivation und Begründung

Innerhalb der letzten zwei Jahre traten vermehrt Klientinnen und Klienten mit einschlägigen Vorgeschichten in die Institution, in der ich arbeite, ein. Viele von ihnen hatten zum Zeitpunkt des Eintritts ihre Problematiken in Bezug auf gewalttätiges und/oder zu Übergriffen neigendes Verhalten noch nicht bearbeitet, wodurch für die Institution ein Bedarf an Erarbeitung und Umsetzung von adäquaten Methoden und Mitteln zur Auf- und Bearbeitung dieser Thematiken zutage getreten ist. Die Institution hat auf diesen Bedarf reagiert und Anfang dieses Jahres eine Gruppentherapie installiert – das Projekt „Inhouse-Gruppe“ (siehe auch Kapitel 5). Zusammen mit einem externen Therapeuten des Forensischen Instituts Ostschweiz moderiere ich diese Therapie-Gruppe, welche aus fünf männlichen Teilnehmern besteht. Durch diese Tatsache bin ich ständig eng und praxisnah mit dem Projekt in Kontakt. Neben meiner Rolle als Co-Leitung bin ich zuständig für den Informationsfluss zu jenen Personen innerhalb (teilweise auch ausserhalb) der Institution, welche in Zusammenarbeit mit den Teilnehmern der Gruppe stehen. Dieser intensive Austausch bildet eine wichtige Grundlage für den Erfolg des Projekts. Er schafft einen berechenbaren Rahmen für die Teilnehmer. Wir können schwierige Situationen und Themen direkt innerhalb der Gruppe ansprechen, aufgreifen und mit den Klienten zusammen Lösungsstrategien erarbeiten können.

Für mich ist die Bearbeitung dieses Projekts innerhalb meiner Diplomarbeit naheliegend. Mir bietet sich dadurch die Gelegenheit, mich durch das mehrperspektivische Beobachten vertieft reflektorisch mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.

Spannend ist für mich zu sehen, wie die Teilnehmer das Besprochene und Gelernte innerhalb ihres Alltags in schwierigen Situationen umsetzen können und wo sie diesbezüglich an ihre Grenzen stossen. Meine eigenen Beobachtungen innerhalb der Therapiestunden und die Darlegung verschiedener Situationen durch die Teilnehmer lässt auf deren individuelle Reflexionsfähigkeit schliessen – diese Erkenntnisse machen mich handlungsfähiger und ermöglichen mir, die Klienten gezielter in ihrer Entwicklung zu unterstützen.

Ich gehe davon aus, dass die benannten Problematiken in Bezug auf gewalttätiges Klientel innerhalb des Sozialbereiches zunehmen werden und erachte es daher als sehr wichtig, mich als angehende Sozialpädagogin intensiv mit diesem Thema auseinanderzusetzen, um meine Handlungskompetenz zu steigern.

1.2 Eingrenzung des Themas

Ich begrenze mich in dieser Arbeit auf die Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und/oder originellen Verhaltensweisen und beziehe mich auf meine Arbeit im Wohnbereich und der Therapie-Gruppe, da ich hier den direkten Praxisbezug herstellen kann. Das Hauptaugenmerk richte ich auf die Begleitung der Teilnehmer der Gruppentherapie im sozialpädagogischen Alltag. Die Themen Gewalt, Prävention und Intervention sind zu umfangreich, um diese innerhalb meiner Arbeit genauer auszuführen und darzulegen – ich werde mich daher speziell auf die Punkte fokussieren, die in direktem Zusammenhang zu meiner Arbeit stehen.

Ich beschränke mich in dieser Arbeit ebenfalls in Bezug auf zwei handlungsleitende Konzepte, welche ich in den Kapiteln 6 und 7 erläutere. Mir ist bewusst, dass es noch viele mehr spannende und auch wichtige von ihnen gibt (beispielsweise der personzentrierte Ansatz nach Pörtner), konzentriere mich jedoch auf jene, die mir in der Anwendung und Umsetzung bezüglich der gewählten Thematik besonders wichtig erscheinen.

Trotz dieser Einschränkungen ist es mir wichtig, ein übergreifendes und breites Verständnis der Thematik und den ihr zugrunde liegenden Faktoren und Sichtweisen zu erhalten und zu erläutern. Aus diesem Grund schneide ich viele Themenbereiche und Theorien an, ohne bei diesen allzu in die Tiefe vorzustossen. Ich versuche somit, den Schwerpunkt auf ein „Gesamtverständnis“ für mich, wie aber auch für die Leser, zu setzen.

1.3 Fragestellungen und Begründungen der Fragestellungen

1) Welche Chancen bietet das Subsystem „Gruppentherapie“ den Klienten mit kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen, ihre Sozialkompetenzen innerhalb des Systems „Institution“ zu erweitern und zu steigern?

Begründung: Für das Erarbeiten und Umsetzen der sozialen Kompetenzveränderungen, beziehungsweise -steigerungen, welche innerhalb der Gruppentherapie erlernt werden, sind klare Rahmenbedingungen unbedingt notwendig. Durch das Vernetzen aller Bereiche innerhalb der Institution wird ein umfassenderes Lernfeld für die Teilnehmer geschaffen. Dieses Netz (= Rahmenstruktur) motiviert und unterstützt diese, ihre neu erworbenen Kompetenzen auch ausserhalb der Gruppe zu „trainieren“ und durch entsprechende Rückmeldungen anzupassen oder zu verbessern. Somit stellt die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen der Therapiegruppen-Leitung (Therapeut und ich) und den verschiedenen Bereichen wie Wohn- und Arbeitsbereich und Therapien innerhalb der Institution einen Grundstein dar, ohne welchen das Projekt in seiner Art nicht bestehen könnte.

2) Wie kann die Begleitung der Teilnehmer sowohl innerhalb der Gruppe als auch im Alltag unter Einbezug des Empowerments gestaltet werden, damit die betreffenden Klienten optimal vom sozialen Kompetenztraining profitieren?

Begründung: Die Teilnehmer brauchen auch im Alltag sehr viel und enge Begleitung beim Umsetzen des von ihnen in der Gruppe Erlernten. Wie bereits beschrieben, ist ständiger Austausch zwischen den Mitarbeitenden in der Arbeit und auf den Wohngruppen und den Leitern der Therapiegruppe sehr wichtig und wertvoll, damit die betreffenden Klienten gefordert und gefördert werden können und auch heikle Themen auf den Tisch gebracht werden. Im Weiteren hilft mir die genannte Fragestellung zu reflektieren, ob mein Vorgehen als Kontakt-Verantwortliche hier noch optimiert werden könnte und wie ein solches „Konzept“ genau aussehen könnte.

1.4 Ziele und Begründung der Ziele

1) Ich erarbeite Faktoren, welche die interdisziplinäre Zusammenarbeit im sozialpädagogischen Alltag beeinflussen. Ich liste dieselben auf und hinterfrage sie fachlich.

Begründung: Indem ich mich vertieft mit diesen Faktoren auseinandersetze, erarbeite ich mir grösseres Wissen in Bezug auf interdisziplinäre Zusammenarbeit. Dies wird mich in meiner weiteren Tätigkeit als Sozialpädagogin unterstützen. Weiterhin kann ich die Zusammenarbeit mit anderen Bereichen durch das erworbene Wissen überdenken und gegebenenfalls anpassen. Von meinem neu erworbenen Wissen werden in erster Linie auch die zu betreuenden Menschen profitieren.

2) Ich erarbeite Faktoren und Grundlagen, auf welche in der Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und originellen Verhaltensweisen in der sozialpädagogischen Alltagsbegleitung unter dem Aspekt des Empowerment geachtet werden sollte.

Begründung: Durch diese Zielsetzung erarbeite ich mir neue Formen oder Werthaltungen in Bezug auf die Alltagsbegleitung von Menschen mit Beeinträchtigungen und originellen Verhaltensweisen. Diese werden mich ebenfalls in der weiteren Begleitung innerhalb des Wohngruppenalltags unterstützen. Durch die Auseinandersetzung mit den Faktoren und Grundlagen kann ich das Empowerment in den Fokus stellen und dieses, wie auch andere handlungsleitende Konzepte im Alltag bewusster umsetzen.

1.5 Aufbau der Arbeit

Innerhalb dieser Arbeit werde ich Theorie und Praxis laufend miteinander verknüpfen, da diese Vorgehensweise die Theorieelemente für die Leserin/den Leser veranschaulichen wie auch der Arbeit eine lebendige Dynamik gibt.

à Die Praxisbeispiele sind immer grau und kursiv dargestellt, damit diese einfach zu erkennen sind. Sie beziehen sich ausschliesslich auf die fünf Teilnehmer der Gruppentherapie, was dem Leser/der Leserin gleichzeitig ein noch genaueres Bild der Teilnehmer verschaffen wird.

In Kapitel 2 stelle ich die Institution, in der ich arbeite, sowie das Leitbild dieser und das ihm zugrunde liegende Handlungsleitende Konzept vor. Im Weiteren erhalten Sie Einblick in den Lebensraum der Klienten der Institution.

In Kapitel 3 kläre ich die Begriffe, auf die ich mich im Laufe der Arbeit beziehe.

In Kapitel 4 lege ich meine sozialpädagogische Haltung dar und stelle jeweils mein eigenes Verständnis der verschiedenen, in Kapitel 3 behandelten Begriffe, vor.

In Kapitel 5 stelle ich fünf Klienten der Institution X vor und gebe einen Einblick in das Projekt „Gruppentherapie“. Ebenfalls reflektiere ich meinen sozialpädagogischen Auftrag und meine Rolle innerhalb der Gruppentherapie.

In Kapitel 6 erläutere ich den Ansatz der Systemtheorie und verknüpfe diese mit der im System „Institution“ eingebetteten Inhouse-Gruppentherapie.

Ich schliesse dieses Kapitel mit einer sozialpädagogischen Stellungnahme ab.

In Kapitel 7 setze ich mich mit den Grundlagen des Empowerment auseinander.

Die dazugehörigen Leitprinzipien, die ich ab Kapitel 7.2 beschreiben werde, runde ich mit Beispielen aus der Praxis ab, welche sogleich auch Verknüpfung von Praxis und Theorie darstellen. Hier habe ich ebenfalls die für mich wichtigsten Modelle herauskristallisiert.

Auch dieses Kapitel endet mit einer sozialpädagogischen Stellungnahme.

In Kapitel 8 bearbeite ich die Faktoren, die aus meiner Sicht die Verhaltensweisen von Klienten beeinflussen können. In Unterkapiteln nehme ich Bezug auf die Bereiche Wahrnehmung, Emotionalität, Kognition und Kommunikation. Ich verknüpfe fortlaufend die erarbeiteten Theoriegrundlagen mit Beispielen aus der Praxis und stelle am Ende des jeweiligen Kapitels den Bezug zur Inhouse-Gruppentherapie her. Ebenfalls nehme ich auch hier am Ende der einzelnen Kapitel sozialpädagogisch Stellung.

Kapitel 9, der Schlussteil, beinhaltet die Auswertung der Diplomarbeit und die Beantwortung der eingangs gestellten Fragen. Es folgen die Konsequenzen/Perspektiven und mein persönliches Schlusswort in Bezug auf die Lernerfahrung mit der Diplomarbeit.

Im Anhang finden sich einerseits ein Anwendungskonzept für die Umsetzung des Empowerments in der Institution X für Menschen mit kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen und/oder originellen Verhaltensweisen, andererseits lege ich zwei, innerhalb der vorliegenden Diplomarbeit erarbeitete, Raster zur Gruppenbeobachtung und –analyse vor. Ebenfalls erhalten sie im Anhang 3 einen Eindruck des Protokoll-Rasters, welchen ich innerhalb der Gruppentherapie verwende.

Im Anhang 4 findet sich das Abbildungsverzeichnis zu den verwendeten Bildern.

1.6 Deklaration der Schweigepflicht

Die Institution wird vollständig anonymisiert, indem ich jeweils den neutralen Begriff „Institution“ verwende. Die Wohngruppennamen werde ich nur in abgeänderter Form verwenden und werde sie „Wohngruppe G, K und P“ nennen. Die Anonymisierung der beschriebenen Personen gewährleiste ich durch den Gebrauch von einzelnen Buchstaben als Name, zum Beispiel Herr A. oder Herr F. Persönliche Daten oder Fotos, welche die Anonymität der dargestellten Personen in Gefahr bringen würde, werde ich innerhalb dieser Arbeit nicht verwenden. Ebenfalls verwende ich zum Schutz der dargestellten Personen abgeänderte Daten und Ortsangaben in deren Personenbeschrieb.

1.7 Geschlechtergerechte Sprache

Ich verwende in dieser Arbeit eine geschlechtergerechte Sprache, wie beispielsweise „die Sozialpädagogin/der Sozialpädagoge“ oder „Sozialpädagoginnen und –pädagogen“. In den Kapiteln und Textstellen, welche sich spezifisch mit der Gruppentherapie befassen (was hauptsächlich in Kapitel 5 der Fall ist), wähle ich beabsichtigt nur die männliche Schreibweise, da die Gruppe ausschliesslich aus männlichen Teilnehmern besteht.

2. Institutioneller Kontext

„Heilsam ist nur, wenn

Im Spiegel der Menschenseele

Sich bildet die ganze Gemeinschaft

Und In der Gemeinschaft

Lebet der Einzelseele Kraft.“

Rudolf Steiner

2.1 Institution

Die Institution, in der ich arbeite, besteht aus drei Wohngruppen und ist verknüpft mit mehreren Arbeitsbetrieben, welche in den Bereichen Landwirtschaft, Hauswirtschaft, Küche, Rebbau, Gartenunterhalt und Kräutergarten tätig sind. Sie wurde vor vierzehn Jahren gegründet und bietet heute Wohn- und Arbeitsplätze für insgesamt ca. dreissig Menschen mit kognitiver und/oder psychischer Beeinträchtigung und/oder originellen Verhaltensweisen.

Jede Klientin/jeder Klient hat eine Bezugsperson, welche je nach individuellem Bedarf regelmässige Bezugspersonengespräche anbietet. In solchen Gesprächen werden unter grösstmöglicher Mitbestimmung des jeweiligen Klienten beispielsweise Förderziele erarbeitet und/oder präventive Massnahmen zugunsten der jeweiligen Klientin/des jeweiligen Klienten leistet.

Zum Konzept der Institution gehört ebenfalls der an die Landwirtschaft angepasste Drei-Wochenend-Rhythmus für die Klientinnen und Klienten wie auch für alle anderen Mitarbeitenden. Das heisst, die Klientinnen und Klienten verbringen ihre Wochenenden in der Sozialtherapie abwechselnd in einem Dreier-Rhythmus von 1) extern 2) intern und frei 3) intern und arbeiten.

Wohngruppen:

Die WG G bietet elf Wohnplätze für Menschen, die rund um die Uhr Betreuung und Begleitung benötigen. Die Menschen, die hier ihr Zuhause gefunden haben, sind Frauen und Männer im Alter zwischen zwanzig und fünfzig. Die Klientinnen und Klienten werden in ihren alltäglichen Belangen wie beispielsweise Hygiene, Zeitmanagement, Zimmerordnung, Kleider richten und Förderzielerreichung etc. individuell begleitet und unterstützt.

Die WG P liegt direkt auf dem Landwirtschaftsgelände und beherbergt acht Zimmer. Der Grundgedanke, welcher dieser Wohngruppe zugrunde liegt, ist die direkte Verbundenheit zur Landwirtschaft und dem Erleben des Hoflebens. Hier wohnen ebenfalls Menschen beiderlei Geschlechts, die auf dem Hof arbeiten und ebenfalls Anspruch auf eine Vollzeitbetreuung haben.

Die WG K als dritte und kleinste Wohngruppe der Institution grenzt sich als „Selbständigen-Wohngruppe“ konzeptuell von den anderen Gruppen ab. Sie bietet Platz für vier Klientinnen und Klienten und sticht durch den minimierten Betreuungsbedarf heraus.

Begleitet werden die Klientinnen und Klienten an zwei bis drei Abenden pro Woche. Die restliche Zeit gestalten die Klientinnen und Klienten der teilbetreuten WG ihre Zeit selbstbestimmt und eigenständig. Zum Konzept der Wohngruppe gehören die selbständige Haushaltführung wie bspw. Raumpflege, einkaufen, kochen, sowie das Gestalten des Zusammenlebens und der Freizeit. Ziel dieser Art der Teilbetreuung ist das Erlernen und möglichst selbständiges Abhandeln alltäglicher Aufgaben und Anforderungen. Dazu gehört auch das Gestalten des eigenen Lebens in einem offeneren Rahmen. Die vier Klientinnen und Klienten haben ausserhalb der Betreuungszeiten ihrer eigenen Wohngruppe die Möglichkeit, sich bei Problemen an die Mitarbeitenden der WG G zu wenden.

2.2 Leitbild & ideelle Grundlage

Um die ideelle Grundlage meiner Institution zu erklären, möchte ich untenstehend einige Auszüge aus unserem Leitbild hervorheben:

- „Anthroposophische Erkenntnisse über Mensch und Welt gehören zu den Grundlagen aller Tätigkeiten der Institution. Diese Erkenntnisse lehren, die geistig-seelisch-körperliche Ganzheit und Einmaligkeit jedes Menschen aus seinem ewigen, gesunden Wesenskern heraus zu verstehen, zu achten und angemessen zu begleiten. Jeder Mensch gestaltet seinen Schicksalsweg aktiv und von innen heraus – in Auseinandersetzung mit seinen Behinderungen und der Umwelt.“
- „Zur Unterstützung der individuellen Entwicklung des Menschen mit Behinderung
werden künstlerische und kunsthandwerkliche Tätigkeiten und Therapien angeboten.“
- „Für die Gestaltung seines Lebens ist jeder Mensch selbst der Experte, auch wenn er dafür Unterstützung braucht. Diese anzubieten, ist Aufgabe unseres Betriebes.“
- „Die vom Jahreslauf geprägten Arbeiten im biologisch-dynamischen Landbau ermöglichen es, sich mit den ordnenden, heilenden Wirkungen der Naturkräfte zu verbinden.

Diese Arbeiten, ebenso wie die Tätigkeiten in Küche, Hauswirtschaft, Produktveredelung oder Administration, geschehen in nachvollziehbaren, realwirtschaftlichen Zusammenhängen. Mit Dienstleistungen stehen wir auf zeitgemässe Art in Kontakt mit Dritten.“

3. Klärung der Begriffe

„Nach einem Sturm liegt ein Baumstamm quer über der Strasse.

Zwei Juden kommen in ihrem Fuhrwerk heran,

sehen den Stamm und diskutieren, was man tun könnte.

Da kommt ein zweites Fuhrwerk, ein kräftiger Bauer steigt ab,

packt den Baumstamm und schiebt ihn beiseite.

Jankel zu Schloime, verächtlich: „Kunststück, mit Gewalt!““

Salcia Landmann

3.1 Klärung des Begriffes „Kognitive Entwicklungsbeeinträchtigung“

Eine allgemeingültige Definition für die kognitive Entwicklungsbeeinträchtigung lässt sich weder in der Fachwelt noch der Literatur finden.

Grundsätzlich ist der Begriff „Beeinträchtigung“ definiert über das Gesellschaftssystem und wird daran gemessen, was gesellschaftlich als „normal“ gilt. „Normalität“ verdanken wir dem heutigen Intellekt, der die Entwicklung unseres gegenwärtigen Ich-Bewusstsein ermöglicht.

Folgende Definition von Insieme finde ich persönlich ansprechend, da Sie meiner Meinung nach ein differenziertes Bild zum Begriff der kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigung (nachfolgend im Text als „geistige Behinderung“ genannt) bietet:

„Geistige Behinderung bedeutet eine Beeinträchtigung im kognitiven Bereich. Zu den kognitiven Fähigkeiten eines Menschen zählen zum Beispiel die Fähigkeiten zu lernen, zu planen, zu argumentieren. Einschränkungen in diesem Bereich können auch bedeuten, dass eine Person Schwierigkeiten hat, eine Situation zu analysieren, etwas zu verallgemeinern oder vorauszuschauen. Sie beeinflusst die Gesamtentwicklung oder die Lernfähigkeit in unterschiedlicher Art und Weise. Bei Menschen mit einer geistigen Behinderung verläuft die Entwicklung langsamer als bei anderen Menschen. Die Entwicklungsschritte sind weniger voraussagbar.
Es gibt genetisch bedingte, angeborene geistige Behinderungen wie zum Beispiel das Down-Syndrom. Stoffwechselstörungen, Komplikationen während der Geburt, Sauerstoffmangel oder Unfälle können ebenfalls geistige Behinderungen verursachen.
Die Diagnose allein sagt aber noch nichts über die mögliche Entwicklung eines betroffenen Kindes aus.“ (Insieme. Definitionen. Internet 2012)

3.2 Klärung des Begriffes „Verhaltensstörung“

Sonder- und Heilpädagoge Norbert Myschker legt eine umfassende Definition vor:

„Verhaltensstörung ist ein von den zeit- und kulturspezifischen Erwartungen abweichendes maladaptives[1] Verhalten, das organogen[2] und/oder milieureaktiv[3] bedingt ist, wegen der Mehrdimensionalität, der Häufigkeit und des Schweregrades die Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie das Interaktionsgeschehen in der Umwelt beeinträchtigt und ohne besondere pädagogisch-therapeutische Hilfe nicht oder nur unzureichend überwunden werden kann.“ (Myschker, zitiert in Hillenbrand, 2005, S.31)

3.3 Klärung des Begriffes „Gewalt“

Eine allgemeingültige Definition des Begriffes „Gewalt“ lässt sich nicht finden, da dieser sehr komplex ist und die Definition deshalb zu einem grossen Teil dem Urteil des Einzelnen überlassen werden muss.

Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) definiert „Gewalt“ folgendermassen:

„Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“

(WHO. Weltbericht Gewalt und Gesundheit. Internet 2002)

Diese Definition, welche mir persönlich zusagt, benennt die verschiedenen Formen wie physische, psychische oder auch strukturelle Gewalt. Klar ist, dass jeder Mensch aufgrund seiner Konstitution und Charakters, aber auch seiner bisherigen Lebenserfahrungen, Gewalt anders erlebt.

3.4 Klärung des Begriffes „Krise“

Der Begriff „Krise“ wird vom amerikanischen Sozialpsychiater Gerald Caplan als einen „Verlust des seelischen Gleichgewichts infolge akuter Überforderung eines gewohnten Verhaltens-/ Bewältigungssystems durch belastende äussere oder innere Ereignisse“ definiert. (Kunz, zitiert in Sozial Aktuell, 2008, S.13)

Demnach wird von einer Krise gesprochen, „wenn ein Zustand psychischer Belastung eingetreten ist, der sich deutlich von der Normalbefindlichkeit abhebt, als kaum mehr erträglich empfunden wird und zu einer emotionalen Destabilisierung führt… Da nicht jeder Mensch eine Krise gleich erlebt, wird entscheidend, wie die Qualität und Intensität der subjektiv erfahrenen Belastung im Verhältnis zu den individuellen Belastungstechniken eingestuft wird… Krisen sind zeitlich begrenzte Zustände, die einen Anfang und einen eher offenen Ausgang haben. Ein Ende der Krise ist festzustellen, wenn die Krise bewältigt ist, was sich in der Regel in einem wiederhergestellten Gleichgewichtszustand zeigt.“

(Glossar zur sozialen Arbeit, 2005, S.110)

3.5 Klärung des Begriffes „Krisenintervention“

Intervention à „intervenire“ (lat.) à „dazwischen-treten“

Wörtlich wird von Krisenintervention gesprochen, wenn fachliche Massnahmen von aussen im Prozess der Krise einen Unterbruch dieser oder eine Abwendung davon zu erlangen versuchen. (vgl. Sozial Aktuell, 2008, S.14).

Laut dem Glossar zur sozialen Arbeit beinhaltet professionelle Krisenintervention in der Regel folgende Schritte: 1) Einschätzung des Betroffenen und seines Problems; 2) Planung der Intervention; 3) Intervention (z.B. Bearbeitung der gescheiterten Bewältigungsversuche, Wiederherstellung des sozialen Netzwerkes); 4) Auflösung der Krise und Zukunftsplanung. (Glossar zur sozialen Arbeit, 2005, S.111)

3.6 Klärung des Begriffes „ Therapie“ in Abgrenzung zum sozialpädagogischen Auftrag

Die anthroposophische Grundlage basiert auf einer heilpädagogisch-sozialtherapeutischen Arbeit. Damit ist nicht „Therapie“ im eigentlichen Sinne gemeint, sondern vielmehr die Heilung; Therapie durch das den Beeinträchtigten umgebenden Sozialgefüge.

Die Sozialtherapie besteht in erster Linie nicht für, sondern mit den Menschen – sprich, die Menschheit als sozialer Organismus mit seinen vielfältigen Gliederungen und Verantwortungsbereichen ist entscheidend und heilend. In der Sozialtherapie geht es um Gemeinschaft, um das Üben von Sozialem, unabhängig von Behinderungen oder politischem und wirtschaftlichem Denken.

Die Anthroposophie zielt auf das „geistig Ganzheitliche“ ab; das alles durchziehende Menschliche soll ein Verhältnis der Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit zwischen „normalen“ Menschen und Menschen mit Beeinträchtigungen bilden.

Therapie findet innerhalb einer anthroposophischen Institution also bewusst täglich, ja sogar stündlich statt. Sie bedeutet für den Menschen aufgrund von Erfahrungen zu wachsen, beispielsweise durch das Übernehmen von Verantwortung. So kann das Übernehmen von Verantwortung für ein Ganzes mit verschiedenen Teilaufgaben oder –schritten therapeutisch grosse Wirkung haben, da es durch einen weiteren Schritt des Verlassens der eigenen Kindheit und ein Ernster-Nehmen des eigenen Schicksals die Weiterentwicklung des Menschen fördert.

Hier möchte ich gerne eine Verknüpfung zu Rogers machen. Lernen durch Erfahrung wird auch im personzentrierten Ansatz als sehr wichtig erachtet. „Veränderung kann nur aus dem eigenen Erleben entwickelt werden, nicht von aussen. Sich in seinem Erleben verstanden zu fühlen, kann eine entscheidende Hilfe sein, um sich anders verhalten zu können“, schreibt Pörtner unter dem Übertitel „Erleben als zentraler Faktor“. (Pörtner, 2010, S.40)

Durch das bewusste Gestalten der Lebenswelt, der Gemeinschaft, des Menschlichen entsteht das für Erwachsene eigentlich Therapeutische. Die Bedeutung der Tätigkeiten innerhalb der Arbeitsbereiche, welche weniger als produktiv, sondern viel eher als Möglichkeit zu einem Mitglied der Menschheit zu werden, liegt in der Gemeinsamkeit und Selbstlosigkeit (arbeiten um der anderen willen). (vgl. Denger, 1995, S. 9ff)

Denger schreibt diesbezüglich: „Arbeit an der Erde macht die Erde zur Heimat der Menschheit.“ (Denger, 1995, S.18)

4. Meine sozialpädagogische Haltung

Als der Kölner Dom in einer zweiten Bauetappe gegen Ende des 18. Jahrhunderts fertiggestellt wurde, soll der Landesfürst auf dem Bauplatz zu Besuch gewesen sein und dabei den Steinmetzen zugeschaut haben. Er fragte einen Ersten von ihnen, was er tue. Seine Antwort: „Ich meissle.“ – Ebenso sprach er einen Zweiten an, der bemerkte: „Ich bearbeite einen Stein.“ – Als er schliesslich einen Dritten fragte, machte dieser die tiefsinnige Aussage: „Ich baue am Dom von Köln.“

Quelle: Text von Dr. Hansruedi Steiner, Unternehmensberater und –Entwickler und Psychologe

4.1 Mein Menschenbild

Meine Grundhaltung sowie meine Werte und Normen basieren auf dem humanistischen Menschenbild, an welches sich der personzentrierte Ansatz nach Carl Rogers anlehnt. Die humanistische Sichtweise respektiert die Verschiedenartigkeit und die damit einhergehenden unterschiedlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten eines jeden Menschen. Davon ausgehend lässt sich sagen, dass grundsätzlich jeder Mensch bestrebt ist zu wachsen und sich selbst zu aktualisieren und die Fähigkeiten zur Veränderung und Problemlösung in sich trägt.

Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch Spezialist für sein eigenes Leben ist – manchmal braucht er nur ein klein wenig Unterstützung von aussen, um den Zugang zu diesem inneren Wissen wiederzufinden. An dieser Aussage orientiere ich mich auch immer wieder innerhalb meiner Tätigkeit als Sozialpädagogin. Es ist mir ein Anliegen, die Menschen zu begleiten und in der Findung ihres Zugangs zu ihrem Wissen, zu schlummernden Ressourcen zu unterstützen. Dies heisst für mich gleichzeitig auch, dass ich mich mit meinen eigenen Lösungsvorschlägen immer wieder zurücknehmen muss und darauf vertrauen, dass auch ein anders gewählter Weg für die jeweiligen Personen richtig sein kann. Dies setzt meinerseits viel Vertrauen voraus – Vertrauen in das innere Wissen, wie auch Vertrauen zu meinem Gegenüber.

Das humanistische Menschenbild vertritt im Weiteren ressourcenorientiertes Arbeiten und Verstehen, in welchem nicht das Problem, sondern die Fähigkeit in den Vordergrund gestellt wird. Diese grundlegende Haltung vermittelt den Klientinnen und Klienten die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, wodurch sich diese zu sozialen, selbstbestimmten und unabhängigen Wesen entwickeln können. Wichtig ist mir, an diesem Punkt zu erwähnen, dass die Unabhängigkeit eines jeden Menschen in einer bestimmten Art und Weise eingeschränkt ist. Wir alle sind – mehr oder weniger - abhängig von sozialen Systemen, Beziehungen, kulturellen Werten und Normen oder von Finanzen und so weiter. So ist es mir in meiner Rolle als Sozialpädagogin ein wichtiges Anliegen, nicht die absolute Unabhängigkeit der Klientel anzustreben, sondern mit den Menschen zusammen einen Weg zu finden, innerhalb der gesetzten Strukturen und Abhängigkeiten eine gesellschaftlich vertretbare und akzeptierte Lösung zu suchen.

Ebenfalls halte ich mich bei der Arbeit, wie aber auch privat, an das anthroposophische Menschenbild. Dieses lehrt, den Menschen in seiner Dreigliedrigkeit von Geist – Seele – Körper wahrzunehmen. Die Anthroposophie geht davon aus, dass jeder Mensch in seinem Innersten Wesenskern einmalig und gesund ist. Durch den Einbezug der Seele und des geistigen Wesens des Menschen wird mir eine gesamtheitliche Sicht zuteil, welche sich in verschiedenster Form auf meinen Umgang mit den Menschen, aber auch auf die Herangehensweise an verschiedenste Situationen oder Probleme auswirken. So zum Beispiel setzt die naturbezogene anthroposophische Sichtweise grossen Wert auf Ernährung, Naturmedizin, Farbenlehre, etc., durch welche der Mensch in seinem Ganzen betrachtet und „therapiert“ wird. Kurz gesagt: Nicht das Problem wird bekämpft, sondern die Ursache für das Problem wird untersucht und langfristig (präventiv) behandelt.

4.2 Mein Verständnis von kognitiver Entwicklungsbeeinträchtigung und originellen Verhaltensweisen

Ich habe mich für die Verwendung des Begriffes „originelle Verhaltensweisen“ entschieden, da dieser für mich weniger defizitär klingt als die gängigen Begriffe „Verhaltensstörung oder –Auffälligkeit“. Dasselbe gilt für die „kognitive Entwicklungsbeeinträchtigung“ im Gegensatz zur „geistigen Behinderung“.

Überzeugt davon, dass hauptsächlich die Werte und Normen der Gesellschaft inklusive deren einzelnen Mitgliedern die Menschen zu „Beeinträchtigten“ machen, stellt sich eine kognitive Entwicklungsbeeinträchtigung für mich in der erschwerten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dar. Ich persönlich bemühe mich, betroffene Personen nicht als „beeinträchtigt“, sondern als individuelle Persönlichkeiten, welche „anders“ sind als ich, zu sehen – denn „anders“ heisst nicht gleich schlecht! Was ist schon „normal“?

Es ist mir wichtig zu erwähnen, dass bislang wohl noch keine allgemeingültige Definition für den Begriff des „Normalen“ zu finden ist. Ist „normal“ auch „gesund“?

Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und originellen Verhaltensweisen fallen ihren „normalen“ Mitmenschen auf durch gewisse Merkmale und Andersartigkeiten im Aussehen oder in ihrem Verhalten. Durch diese Auffälligkeiten werden sie, so denke ich, oft kritischer beäugt von ihrer Umwelt, wodurch das von der Norm abweichendes Verhalten schneller auffällt. Ich möchte an dieser Stelle einen eigenen Gedanken und ein Beispiel speziell auch in Bezug auf Menschen mit einer kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigung einbringen, welcher sich schon oftmals bei mir aufgedrängt hat:

An einem Konzert mit irischer Volksmusik, welche eigentlich zum Tanzen animiert, stehen lange Stuhlreihen. Eine halbe Stunde nach Konzertbeginn kann ich in einer der hinteren Reihen kaum mehr still sitzen und würde mich am liebsten bewegen, was ich allerdings nicht tue – es gehört sich schliesslich nicht. Was würden die Anderen von mir denken? Die unruhige Stimmung im Saal lässt mich erahnen, dass ich nicht die einzige mit Bewegungsdrang bin. Einige Minuten später springt in der vordersten Reihe eine junge Frau mit Down-Syndrom auf, jauchzt laut und fängt voller Freude auf dem kleinen Platz vor ihrem Stuhl an zu tanzen. Ich bewundere diese Frau – sie tut, wonach ihr der Sinn gerade ist, ohne sich darum zu kümmern, was die gesellschaftlichen Normen und Werte der anderen Konzertbesucher sagen. Doch obwohl jetzt jemand den Anfang dazu gemacht hat, stehen weder ich noch andere Konzertbesucher auf und tun es der jungen Frau gleich. Ich frage mich einerseits, ob dies damit zu tun hat, dass man dieser Frau die Beeinträchtigung ansieht und ihr Verhalten deshalb als noch „auffälliger“ bewertet, und andererseits überlege ich, ob wir „Normalen“ durch unsere oftmals viel zu verbissenen Wertvorstellungen und Regeln vielleicht tatsächlich sogar weniger gesund leben als Menschen mit einer kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigung - weil wir uns durch diese enormen Strukturen, Erwartungshaltungen und Regeln viel zu sehr einschränken und uns dadurch davon abhalten lassen, unser Leben zu leben…

4.3 Mein Verständnis von Krise und Krisenintervention

Im sozialpädagogischen Kontext verstehe ich eine Krise als eine schwierige Situation, in welcher die betroffene Person vorübergehend kein Gleichgewicht zwischen ihrer inneren, seelischen Welt und der äusseren Welt (Umwelt) aufrechterhalten oder herstellen kann. Das Fehlen oder Versagen geeigneter Bewältigungsstrategien in Verknüpfung mit der individuellen Persönlichkeit und Problemlage der oder des Betroffenen löst eine Art „innerer Notstand“, eine momentane Hilflosigkeit aus. Es kann zu verschiedenen situations- abhängigen Krisenformen führen (beispielsweise depressives oder aggressives Verhalten, Rückzug, soziale Konflikte mit eventueller anschliessender Eskalation, körperliche Schwäche, etc.).

Für meine sozialpädagogische Arbeit erachte ich es als sehr wichtig, bei einer Krise einer Klientin/eines Klienten stets zu versuchen, deren/dessen Sichtweise einzunehmen. Wie nimmt sie/er die aktuelle Situation wahr? Welche sozialen Ressourcen stehen zur Verfügung? Wurden diese genutzt? In welchem Zusammenhang steht die kognitive Entwicklung der Klientin/des Klienten in Bezug auf (eventuell begrenzte) Möglichkeiten zur Stressbewältigung?

Wie Theunissen in seinem Buch schreibt, sollten wir uns immer vergegenwärtigen, dass eine Krise stets in einem „sozialen Feld“ eingebettet ist. (vgl. Theunissen, 2006, S.208)

Dies ist gerade für meine Arbeit mit einer verhaltensoriginellen und kognitiv beeinträchtigten Klientel von grosser Bedeutung, da nebst den individuellen Faktoren ebenfalls die Institutionalisierung mit ihren einhergehenden Strukturen und Normen teils erheblich als Krisenfaktoren verantwortlich gemacht werden kann.

Diese Haltung lässt sich mit der Systemtheorie verknüpfen, welche auf eine Störung im grösseren sozialen System (bspw. Wohngruppe) oder Kontext hinweisen würde.

Ebenfalls ist mir persönlich wichtig, den Begriff der „Krisenintervention“ in Abgrenzung zu einem blossen Eingriff in eine Situation als eine vermittelnde oder dazwischentretende Aktivi tät zu verstehen. Dies erfordert weitaus mehr Kenntnisse über den Sachverhalt, Hintergrundwissen, eine reflektierte und analytische Vorgehensweise, Voraussicht und Fähigkeit zur vernetzten (systemischen) Denkweise als bei einem blossen Eingriff. Es zeigt für mich persönlich den für meine Arbeit priorisierten therapeutischen Hintergrund einer Krisenintervention auf.

Weiter möchte ich mich abermals auf Theunissen stützen, welcher in seinem Buch Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung bemerkt, dass Intervention als gezielter und direkter Eingriff in Lernprozesse (also z.B. der Versuch der Verhaltensänderung bei Verhaltensauffälligkeiten, Leistungsversagen und anderem) eine deutliche Asymmetrie in der Beziehung (Machtgefälle!) demonstriert und „durch die Konzentration von „Eingriffen“ auf das Individuum eine ausschliesslich betroffenenzentrierte, täter- und symptomorientierte Sicht hat.“ (vgl. Theunissen, 2006, S.208)

Diese Haltung habe ich mir verinnerlicht, da es mir während einer Krisenintervention (Ausnahme: Intervention aufgrund tätlicher Auseinandersetzung/Notfallintervention) nicht darum geht, meine Macht auszuspielen, sondern ich vielmehr eine stützende Rolle, beispielsweise als Vermittlerin durch das Bauen von Brücken einnehme. Es ist mir in meiner sozialpädagogischen Arbeit ein Anliegen, Interventionen stets auch als präventive Massnahmen zu definieren und zu kommunizieren, da diese Sichtweise das systemische Denken fordert und fördert. Ich behebe somit nicht nur „das Problem“, sondern mit der betroffenen Person nach den Hintergründen für ihr Handeln oder ihre Krise suchen und diese dann ggf. anpassen oder gezielte Bewältigungsstrategien mit der Person erarbeiten kann.

An dieser Stelle möchte ich auf das Projekt „Inhouse-Gruppe“ (Gruppentherapie) als methodisches Instrument hinweisen, welches gleichzeitig präventive und intervenierende Arbeit leistet. In Kapitel 5 wird das Projekt genauer vorgestellt.

4.4 Mein Verständnis von Begleitung

Auszug aus dem Meyers Enzyklopädie-Lexikon (zitiert in Hähner, 2006, S.9):

„Begleitung (Akkompagnement, frz: accompagnement): In der Musik das unterstützende und harmonisch ergänzende Mitgehen eines Tasteninstrumentes oder einer Instrumentalgruppe mit einer solistischen Vokal- und Instrumentalstimme.“

Wunderschön beschrieben, lässt sich diese Definition meiner Meinung nach auch auf die Begleitung in der sozialpädagogischen Arbeit übertragen: Die Klientin und der Klient als solistische Vokalstimme und das Mitgehen des Sozialpädagogen/der Sozialpädagogin oder eben des Begleiters/der Begleiterin als harmonisch ergänzendes Tasteninstrument. Die begleitende Instrumentalgruppe könnte durch das Mitarbeiter-Team dargestellt werden.

Ausgehend von der Haltung, dass ich in meiner Rolle als Sozialpädagogin die Klientel begleite und mich von deren Stimme oder Tätigkeit leiten lasse während ich eigene Denkmuster, Bedürfnisse, Vorlieben, Ideale oder Werte in den Hintergrund stelle, lässt sich ein direkter Unterschied zu der Begrifflichkeit des „Betreuers“ herstellen, welcher stark durch Einfluss, Dominanz und Macht geprägt ist. Wissend, dass dies keinesfalls Sinn und Zweck meiner Berufswahl und schliesslich meiner Praxisarbeit ist, möchte ich mich von dem Begriff des „Betreuens“ entfernen und mich „Begleiterin“ nennen.

[...]


[1] schlecht angepasstes Verhalten

[2] biologischen und organischen Ursprungs

[3] durch das Umfeld beeinflusst

Ende der Leseprobe aus 58 Seiten

Details

Titel
Krisenprävention und -intervention
Untertitel
Begleitung von erwachsenen Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und originellen Verhaltensweisen im Spannungsfeld zwischen therapeutischer Herausforderung und sozialpädagogischem Alltag
Hochschule
Agogis - Berufliche Bildung im Sozialbereich
Note
84 (90)
Autor
Jahr
2013
Seiten
58
Katalognummer
V230509
ISBN (eBook)
9783656465867
ISBN (Buch)
9783656467977
Dateigröße
962 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
krisenprävention, begleitung, menschen, beeinträchtigung, verhaltenswqeisen, spannungsfeld, herausforderung, alltag
Arbeit zitieren
Danica Lamm (Autor:in), 2013, Krisenprävention und -intervention, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/230509

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Titel: Krisenprävention und -intervention



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