Grenzen der Staatsverschuldung am Beispiel Deutschlands


Bachelorarbeit, 2013

88 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Darstellungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Ziel und Methode der Arbeit

2 Grundlagen der Staatsverschuldung
2.1 Definition und Abgrenzung
2.2 Struktur und Formen der öffentlichen Verschuldung
2.3 Arten der Staatsverschuldung
2.4 Wesentliche Indikatoren zur Messung der Staatsverschuldung
2.5 Konsequenzen übermäßiger Verschuldung

3 Politökonomische Ansätze und rechtliche Grenzen der Staatsverschuldung
3.1 Politökonomische Ansätze der Staatsverschuldung
3.1.1 Steuerglättungstheorie
3.1.2 Opportunistisch handelnde Politiker
3.1.3 Strategischer Einsatz von Staatsschulden
3.2 Verfassungsrechtliche und gesetzliche Grenzen der Staatsverschuldung
3.2.1 Grenzen innerhalb der Europäischen Union
3.2.2 Schuldenbremse in der Schweiz
3.2.3 Schuldenbremse in der Bundesrepublik Deutschland

4 Das Domar-Modell zur Untersuchung der langfristigen Tragfähigkeit
4.1 Das Domar-Modell
4.1.1 Modellrechnung ohne Inflation
4.1.2 Modellrechnung mit Inflation
4.2 Excel-Applikation

5 Fazit

Literaturverzeichnis

Darstellungsverzeichnis

Darstellung 1: Mögliche Gläubiger des Staates

Darstellung 2: Verschuldung der Gebietskörperschaften nach Gläubigern

Darstellung 3: Mögliche Laufzeiten eines öffentlichen Kredits

Darstellung 4: Gliederung der öffentlichen Verschuldung nach Restlaufzeiten

Darstellung 5: Verschuldung der Gebietskörperschaften nach Formen

Darstellung 6: Explizite und implizite Verschuldung in Deutschland

Darstellung 7: Schuldenstand des öffentlichen Gesamthaushalts Deutschlands

Darstellung 8: Schuldenstands- und Defizitquote für Deutschland

Darstellung 9: Entwicklung der Schuldenstands- und Defizitquote und des Wirtschaftswachstums in Argentinien

Darstellung 10: Entwicklung der Schuldenstands- und Defizitquote und des Wirtschaftswachstums in Griechenland

Darstellung 11: Schulden der öffentlichen Haushalte der Schweiz

Darstellung 12: Wirtschaftswachstum und Umlaufrendite öffentlicher Anleihen (RLZ 9-10 Jahre) für Deutschland

Darstellung 13: Makro aktivieren

Darstellung 14: Eingabefenster

Darstellung 15: gesamte Benutzeroberfläche

Darstellung 16: Ausgabefenster

Darstellung 17: Berechnung des Schuldenstands

Darstellung 18: Berechnung des BIP

Darstellung 19: Berechnung der Schuldenstandsquote

Darstellung 20: Berechnung der Zinsquote

Darstellung 21: Entwicklung von Schuldenstand und BIP

Darstellung 22: Entwicklung der Schuldenstandsquote

Darstellung 23: Entwicklung der Zinsquote

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

1.1 Problemstellung

Staatsverschuldung ist, wie Ottnad (1996, S. 15) feststellt, ein geografisch und historisch universelles Phänomen. „Die Geschichte der Existenz von Staatswesen ist gleichzeitig eine Geschichte der Staatsverschuldung“ (Wagschal, 1996, S. 13). Und die Geschichte der Staatsverschuldung ist wiederum eine Geschichte von Staatsbankrotten, wobei der erste aktenkundige Bankrott auf Dionysius von Syrakus (430-367 v.Chr.) im fünften Jahrhundert vor Christus zurückgeht (Konrad & Zschäpitz, 2010, S. 102-103).

Die derzeitige Aktualität begründet sich vor allem mit der Entwicklung der Staatsfinanzen innerhalb der Europäischen Union (EU). So ist die Verschuldung der EU in den letzten zehn Jahren von 61,9 Prozent (2000) auf 82,5 Prozent (2011) gestiegen. Vor allem in Griechenland, Italien, Irland, Island und Portugal liegen die Schuldenstands-quoten mit über 100 Prozent weit über dem von der EU zulässigen Grenzwert (Eurostat, 2013d). Doch nicht nur die hohen und steigenden Schuldenstände werden kritisch gesehen. Die zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten einiger EU-Mitgliedstaaten führten zu Rettungspaketen, Hilfszahlungen und Garantien anderer Mitgliedstaaten in dreistelliger Milliardenhöhe, um den Staatsbankrott zu verhindern. Damit drohen für die Geberländer wie Deutschland zukünftig zusätzliche Belastungen für den Staatshaushalt.

Der Umfang und die bisher ungebremste Zunahme der Staatsverschuldung innerhalb der EU wirft in der öffentlichen, wissenschaftlichen und politischen Diskussion die Frage nach den Grenzen der Verschuldung auf.

1.2 Ziel und Methode der Arbeit

Schon seit nun mehr über zwei Jahrhunderten wird in verschiedenen wirtschaftswissenschaftlichen und ideologischen Schulen über den Sinn und Zweck der öffentlichen Verschuldung kontrovers diskutiert. Dabei lassen sich zwei grundsätzliche Standpunkte erkennen: Einerseits die ablehnende Position, wie sie schon durch Adam Smith (1723-1790), David Ricardo (1772-1823) oder auch Milton Friedman (1912-2006) vertreten wurde. Nach Smith und Ricardo sollten sowohl die Rolle des Staates im Wirtschaftsprozess als auch die Staatsausgaben auf ein Minimum reduziert und alle staatlichen Ausgaben durch nichtkreditäre Einnahmen gedeckt werden. Aus diesem Grund wurde die Staatsverschuldung von Ricardo als „one of the most terrible scourges which was ever invented to afflict a nation“ (Ricardo, 2005, p. 122) bezeichnet. Und auch Friedman lehnte die Staatsverschuldung ab, da eine steigende Verschuldung zu einem starken „crowding-out“, also einer Verdrängung der privaten Nachfrage führe und somit wirkungslos sei (Brümmerhoff, 2011, S. 635; Wagschal, 1992, S. 74-75, 80-81).

Andererseits die befürwortende Position, wie sie vor allem von Adolph Wagner (1835-1917) und John M. Keynes (1883-1946) vertreten wurde. Nach Wagner (1911, S. 737) ist die Staatsverschuldung deshalb zu befürworten, da der Staat investieren soll und ein steigendes Entwicklungsniveau des Staates automatisch zu höheren Ausgaben führt, die finanziert werden müssen. Und auch aus keynesianischer Sicht wird die Aufnahme öffentlicher Schulden befürwortet. Der Staat soll sich dann verschulden, wenn es in rezessiven Phasen zu einem Rückgang der Nachfrage kommt. Dieser Nachfragemangel soll dann mit Hilfe einer kreditfinanzierten expansiven Fiskalpolitik ausgeglichen werden, um eine höhere Auslastung der volkwirtschaftlichen Ressourcen zu erzeugen (Brümmerhoff, 2011, S. 636; Wagschal, 1992, S. 132-133).

Die wissenschaftliche Diskussion schließt die Frage mit ein, wo die Grenzen der Staatsverschuldung liegen. Dazu findet sich in der wissenschaftlichen Literatur eine Vielzahl von Konzepten und Theorien. Diese erklären die vielschichtigen Folgen der Staatsverschuldung, die je nach wirtschaftswissenschaftlicher Auffassung der Autoren in Ausmaß und Intensität stark differieren (Brümmerhoff, 2011, S. 635; Mankiw, 2011, S. 619). Zwei Aspekte seien hervorgehoben.

Neuere empirische Untersuchungen zeigen, dass eine Verschuldung ab einer Schuldenstandsquote von 90 bis 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) anscheinend negative Auswirkungen auf das Wachstum und die Inflation haben (Checherita & Rother, 2010; Kumar & Woo, 2010; Reinhart & Rogoff, 2010b). Jedoch ist es aufgrund der Komplexität der volkswirtschaftlichen Zusammenhänge bisher nicht gelungen, eine ökonomisch begründbare Grenze zu bestimmen, ab der dem Staat negative Folgen bis hin zum Staatsbankrott drohen.

Aus rechtlicher Sicht scheint es dagegen feste Referenzwerte zur Begrenzung der Staatsverschuldung zu geben; diese sind nach Meinung einiger Ökonomen jedoch nicht ökonomisch begründbar, sondern willkürlich festgelegt (Brümmerhoff, 2011, S. 657; Caesar, 2010, S. 34; Scherf, 2009, S. 447-449; Truger & Will, 2012b, S. 5).

Im Zusammenhang mit ihren Grenzen erscheint das Problem der langfristigen Tragfähigkeit der Staatsverschuldung, das als einer der ersten Evsey D. Domar in den 40er Jahren untersucht hat, als ein wichtiger Aspekt, der weiter zu verfolgen ist.

Die Untersuchung möchte zu diesem umfassenden Gegenstand einen Beitrag leisten. Sie konzentriert sich auf drei Komplexe:

1) Aus politökonomischer Sicht wird untersucht, warum sich ein Staat verschuldet und welche rechtlichen Regelungen die Aufnahme von Schulden innerhalb der Europäischen Union, der Schweiz und Deutschlands begrenzen.
2) Mithilfe des Domar-Modells wird untersucht, wie sich die Staatsverschuldung bei einer permanenten Neuverschuldung langfristig entwickelt und wann die Staatsverschuldung als dauerhaft tragfähig angesehen wird.
3) Die Ergebnisse der Arbeit sollen in eine Excel-Applikation einfließen. Gefragt wird: Ist es möglich, auf Grundlage des Domar-Modells, das eine vereinfachte Untersuchung der langfristigen Tragfähigkeit der Staatsverschuldung ermöglicht, ein Excel-Programm zu entwickeln, das die komplexen mathematischen Zusammenhänge mittels graphischer Darstellungen leicht verständlich machen und dem Benutzer eine Vorstellung von der langfristigen Entwicklung bzw. von den langfristigen Folgen der Staatsverschuldung geben kann.

Bevor die Grenzen der Verschuldung untersucht werden, werden im Kapitel zwei die Grundlagen zur staatlichen Verschuldung am Beispiel von Deutschland dargestellt. Dazu wird der Begriff Staatsverschuldung zunächst definiert und anhand der für Deutschland und Europa geltenden Rechnungslegungsvorschriften abgegrenzt.

Weiterhin werden die Struktur sowie die verschiedenen Formen der Staatsverschuldung erläutert. Für die spätere Betrachtung der rechtlichen Begrenzung der Staatsverschuldung ist zudem ein Blick auf die unterschiedlichen Arten der Staatsverschuldung notwendig. Im Mittelpunkt stehen hierbei die Unterscheidung zwischen struktureller und konjunktureller Verschuldung sowie die implizite Staatsverschuldung. Um Staatsverschuldung messbar und damit vergleichbar zu machen, werden im Anschluss daran die für diese Arbeit relevanten Indikatoren zur Messung der öffentlichen Verschuldung dargestellt.

Zum Abschluss des zweiten Kapitels wird am Beispiel von Argentinien und Griechenland auf die Konsequenzen einer übermäßigen Staatsverschuldung eingegangen.

Im dritten Kapitel werden politökonomische Erklärungsansätze der Staatsverschuldung vorgestellt und die rechtlichen Rahmenbedingungen innerhalb der Europäischen Union, der Schweiz und Deutschlands untersucht. Die Schweiz wird in dieser Arbeit deshalb genauer betrachtet, da das Modell der Schweizer Schuldenbremse als „Vorbild“ für die heute geltende Deutsche Schuldenbremse gilt.

Im Mittelpunkt des vierten Kapitels steht das Modell von Evsey D. Domar aus dem Jahr 1944. Das Modell wird zunächst vorgestellt. Dann werden seine wesentlichen Erkenntnisse mathematisch hergeleitet und erläutert. Hierzu wird das Domar-Modell, wie ursprünglich von Domar veröffentlicht, zunächst ohne Geldentwertung dargestellt. Im Anschluss wird die Geldentwertung mit einbezogen und die daraus resultierenden Folgen diskutiert.

Das Domar-Modell dient in dieser Arbeit als Grundlage für die Entwicklung einer Excel-Applikation, welche der Visualisierung der komplexen mathematischen Zusammenhänge dient und für den Einsatz in universitären als auch außeruniversitären Lehrveranstaltungen konzipiert ist.

2 Grundlagen der Staatsverschuldung

2.1 Definition und Abgrenzung

Wie wird der Begriff der Staatsverschuldung definiert und wie wird er nach den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) bzw. dem Europäischen System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG) und der Finanzstatistik abgegrenzt?

Definition

Unter Staatsverschuldung, auch als öffentliche Verschuldung bezeichnet, wird in dieser Arbeit die öffentliche Mittelbeschaffung durch Kredite verstanden, die mit einer Verzinsungs- und Rückzahlungsverpflichtung verbunden ist (Andel, 1998, S. 392).

Die Staatsverschuldung ist neben Steuern, Gebühren und Beiträgen ein weiteres einnahmepolitisches Instrument für den Staat. Im Gegensatz zu regelmäßig fließenden Steuereinnahmen (ordentliche Einnahmen) ist die Staatsverschuldung jedoch eine außerordentliche oder auch vorläufige Einnahme. Vorläufig deshalb, da die Notwendigkeit der Refinanzierung besteht und die Kreditaufnahme zu einem späteren Zeitpunkt zu Zinszahlungen und Tilgungszahlungen führt. Diese müssen dann durch neue Kredite, Steuereinnahmen oder durch Ausgabensenkungen in anderen Bereichen des Staates finanziert werden (Brümmerhoff, 2011, S. 627). Weiterhin handelt es sich bei der Aufnahme von öffentlichen Schulden – im Gegensatz zu laufenden Einnahmen − in der Regel um Einnahmen aus der Beteiligung am marktwirtschaftlichen Prozess. Wenn der Staat also sein fiskalisches Ziel erreichen möchte, muss er sich den aktuellen Marktbedingungen anpassen und kann keinen staatlichen Zwang ausüben (Petersen, 1988, S. 87; Scherf, 2009, S. 397-398).

Abgrenzung

Um den Begriff der Staatsverschuldung abzugrenzen, ist ein Blick in die Rechnungslegung notwendig. Für die öffentlichen Haushalte werden dabei zwei verschiedene Rechenwerke verwendet: die Finanzstatistik und die VGR bzw. das ESVG, wobei das ESVG weitgehend den VGR entsprechen (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2007, S. 9-12).

Die Differenzen zwischen der VGR und der Finanzstatistik beruhen zum einen auf institutionellen und zum anderen auf methodischen Unterschieden (Dietz, 2006).

Grundlage für die Zusammenstellung der Daten in den VGR ist das ESVG. Demnach ist der Begriff „Staat“ der Oberbegriff für den Gesamtsektor. Nach institutioneller Abgrenzung gehören zum Sektor „Staat“ einerseits die Gebietskörperschaften, d.h. Bund, Länder, Gemeinden. Darin eingeschlossen sind die Gemeindeverbände, die kommunalen Zweckverbände sowie Sonderfonds der Gebietskörperschaften wie den Lastenausgleichsfonds oder das ERP-Sondervermögen. Andererseits zählen ebenso die Sozialversicherungsträger zum Sektor Staat, wozu insbesondere die Renten-, Kranken-, Unfall-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung und die Bundesagentur für Arbeit gehören (Baßeler, Heinrich, & Utecht, 2010, S. 396; Dietz, 2006, S. 340).

In der Finanzstatistik umfasst der Staat dagegen nur die Zentralhaushalte Bund, Länder, Sozialversicherungen und das Sondervermögen des Bundes und der Länder. Der Begriff Staat im Sinne der VGR entspricht finanzstatistisch dem öffentlichen Gesamthaushalt. Daher besteht zwar eine begriffliche Abgrenzung zwischen beiden Rechenwerken, jedoch ist eine vergleichende Darstellung beider Systeme möglich, wenn der öffentliche Gesamthaushalt (alle öffentlichen Haushalte) der Finanzstatistik dem Staat nach den VGR gegenüber gestellt wird (Dietz, 2006, S. 340).

Die methodischen Unterschiede zwischen den VGR und der Finanzstatistik beziehen sich auf die Periodisierung und die Abgrenzung von Einnahmen und Ausgaben (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2007, S. 10).

Bezüglich der Periodisierung wird die Finanzstatistik auch als Kassenstatistik bezeichnet, da sie die Einnahmen und Ausgaben nach Kassenwirksamkeit (cash basis) erfasst. Das heißt, Ein- und Ausgaben werden zu dem Zeitpunkt erfasst, an dem Ausgaben getätigt bzw. Einnahmen geflossen sind. Die VGR kann man hingegen als Verpflichtungsstatistik bzw. Vermögensänderungsstatistik bezeichnen, da sie das Entstehen von Forderungen und Verbindlichkeiten (accrual basis) abbildet. Insofern ist zwischen einem Finanzierungssaldo – als Differenz von Einnahmen und Ausgaben – nach Finanzstatistik und einem Finanzierungssaldo nach VGR zu unterscheiden (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2007, S. 9-12).

Bei der Ermittlung der Einnahmen und Ausgaben des Staatskontos nach den VGR sind zwar die Finanzstatistiken die Grundlage, jedoch werden diese nach den Regeln des ESVG umgerechnet (Dietz, 2006, S. 340-342). Nach den VGR wird dabei strikt zwischen nichtfinanziellen und finanziellen Transaktionen unterschieden. Von Bedeutung sind lediglich die nichtfinanziellen Transaktionen. Finanzielle Transaktionen, die das Nettogeldvermögen (Saldo aus Forderungen und Verbindlichkeiten plus liquide Mittel) des Staates nicht verändern, werden im Gegensatz zur Finanzstatistik nicht zu den staatlichen Einnahmen bzw. Ausgaben gezählt, sondern als saldenneutral betrachtet. Zu diesen rein finanziellen Transaktionen gehören im Wesentlichen: Darlehensgewährungen an den privaten Sektor, Erwerb von Beteiligungen, Tilgungen von Darlehen an den öffentlichen Bereich, Darlehensrückflüsse vom privaten Sektor, Schuldenaufnahmen beim öffentlichen Bereich und Veräußerungen von Beteiligungen. Weitere Differenzen bestehen bei der Bewertung von Schuldenübernahmen und Schuldenerlassen. Während diese Transaktionen in den VGR saldenwirksam als vermögenswirksam bewertet werden, werden sie in der Finanzstatistik nicht berücksichtigt, da keine Kassenwirksamkeit vorliegt (Dietz, 2006, S. 340-342; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2007, S. 10).

In der Praxis finden beide Rechenwerke Anwendung. Das ESVG ist die methodische Grundlage für die Ermittlung der öffentlichen Schulden und der Haushaltsdefizite nach dem Vertrag von Maastricht und dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP). Vor allem für internationale Vergleiche der Höhe der Staatsverschuldung und der Haushaltsdefizite werden die VGR verwendet, da diese, bis auf geringfügige Unterschiede, über eine einheitliche Systematik verfügen und somit vergleichbar sind. Dagegen ist die Abgrenzung der Finanzstatistik für die Schuldenbegrenzung nach Art. 115 GG für den Bund als auch für die entsprechenden Landesverfassungen relevant (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2007, S. 9-10).

Da die Unterschiede zwischen den VGR und der Finanzstatistik erheblich sein können, wird an den entsprechenden Stellen dieser Arbeit auf das betreffende Rechenwerk verwiesen.

2.2 Struktur und Formen der öffentlichen Verschuldung

Die Frage nach den möglichen Gläubigern der Staatsverschuldung sowie nach den verschiedenen Möglichkeiten der öffentlichen Verschuldung lenkt auf die Struktur und die Formen der öffentlichen Verschuldung.

Struktur der öffentlichen Verschuldung

[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]Der Staat hat als Schuldner grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Kreditbeschaffung bzw. – aufnahme. Das kann zum einen über das Inland (interne Verschuldung) und zum anderen über das Ausland (externe Verschuldung) geschehen (Wellisch, 2000, S. 27). Die Gläubigerstruktur gibt hierbei genau an, bei wem und in welcher Höhe der Staat sich verschuldet hat. Folgende Übersicht (siehe Darstellung 1) zeigt die möglichen Gläubiger: Zum einen kann ein möglicher Gläubiger – im In- als auch im Ausland – das Bankensystem, d.h. die Zentralbank oder die Kreditinstitute sein, oder zum anderen aber Nichtbanken, d.h. öffentliche Körperschaften (z.B. Sozialversicherungen) oder sonstige Geldgeber (z.B. private Haushalte, nicht-finanzielle Unternehmen) (Brümmerhoff, 2011, S. 628; Zimmermann, Henke, & Broer, 2009, S. 160).

Darstellung 1: Mögliche Gläubiger des Staates

Quelle: in Anl. an Zimmermann et al., 2009, S. 160

Dabei handelt es sich bei der Zentralbank nur um einen theoretischen Gläubiger. Da die Zentralbank mit zum öffentlichen Sektor zählt, handelt es sich weniger um einen öffentlichen Kredit, sondern vielmehr um eine Geldschöpfungsfinanzierung. Aus diesem Grund ist die Kreditaufnahme bei der Zentralbank innerhalb der EU auch verboten (Bohley, 2003, S. 495-496).

[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]Für Deutschland gibt es dazu lediglich eine von der Bundesbank erstellte Statistik. In dieser werden die Gläubigergruppen grob in fünf Kategorien eingeteilt. Die folgende Darstellung (siehe Darstellung 2) gibt Auskunft über die Verschuldung der Gebietskörperschaften nach Gläubigern im Jahr 2012. Generell lässt sich festhalten, dass mit zusammen ca. 83 Prozent insbesondere das Ausland und die inländischen Kreditinstitute die wesentlichen Gläubiger der Staatsschuld sind. Sonstige inländische Nichtbanken sind mit einem Anteil von fast 17 Prozent Gläubiger und mit einem sehr geringen Anteil von unter einem Prozent ist der Staat bei Bundesbank und Sozialversicherungen verschuldet (Deutsche Bundesbank, 2013a, S. 59*).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Darstellung 2: Verschuldung der Gebietskörperschaften nach Gläubigern

Quelle: eigene Darstellung, Daten entnommen aus Deutsche Bundesbank, 2013a, S. 59*

Formen öffentlicher Verschuldung

Um die unterschiedlichen Anlagepräferenzen bzw. Bedürfnisse der Gläubiger zu bedienen, hat sich ein breites Spektrum an Schuldtiteln entwickelt. Dabei existieren Schuldtitel wie beispielsweise Anleihen, Schatzanweisungen, Obligationen bis hin zu Direktausleihungen von Kreditinstituten. Diese können sich neben dem wohl wichtigsten Unterscheidungsmerkmal, der Laufzeit, auch anhand der Zinszahlungsmodalitäten, der Stückelung des Kredits, den Tilgungsbedingungen, der Börsen- bzw. Marktfähigkeit, dem Emissionsverfahren oder der rechtlichen Ausgestaltung als Buch- oder Briefschuld unterscheiden (Bohley, 2003, S. 497).

Bezüglich der Abgrenzung nach der Laufzeit von Schuldtiteln herrscht in der Literatur jedoch Uneinigkeit (Bohley, 2003, S. 496; Nowotny & Zagler, 2009, S. 488; Scherf, 2009, S. 401). Die Einteilung der Laufzeiten in dieser Arbeit (siehe Darstellung 3) orientiert sich an der grundlegenden Einteilung in drei Fristigkeiten nach Scherf (2009, S. 401), da sie in dieser Form auch vom Bundesministerium für Finanzen verwendet wird. Diese Einordnung bezieht sich dabei auf den Zeitpunkt der Kreditaufnahme, da jeder anfänglich langfristige Schuldtitel im Zeitablauf mittel- bzw. kurzfristigen Charakter hat.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Darstellung 3: Mögliche Laufzeiten eines öffentlichen Kredits

Quelle: eigene Darstellung, Daten entnommen aus Scherf, 2009, S. 401

Eine Übersicht der Schuldtitel nach Gliederung der Laufzeiten wird nur vom Bundesministerium für Finanzen bezüglich des Bundes erstellt (siehe Darstellung 4). Ersichtlich wird hierbei, dass sich innerhalb der letzten Dekade verhältnismäßig wenig geändert hat. Denn obwohl die Bundesschuld um ca. 65 Prozent angestiegen ist, sind nach wie vor die langfristigen Titel mit über vier Jahren Laufzeit am bedeutendsten. Mit einem Anteil von ca. 48 Prozent hat sich der Anteil lediglich um zwei Prozent vergrößert. Nahezu unverändert ist der Anteil der mittelfristigen Titel, sodass der Anteil der kurzfristigen Titel um eben etwa zwei Prozent gesunken ist.

Darstellung 4 : Gliederung der öffentlichen Verschuldung nach Restlaufzeiten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: eigene Darstellung, Daten entnommen aus Bundesministerium der Finanzen, 2002, S. 134; Bundesministerium der Finanzen, 2012c, S. 73

Die Wahl der entsprechenden Schuldtitel richtet sich dabei vor allem nach den jeweils herrschenden Kreditmarktbedingungen und nach den Auffassungen des „Debt Managements“. Unter „Debt Management“ werden im weitesten Sinne alle Maßnahmen und Institutionen verstanden, die an der Platzierung, Tilgung, Refinanzierung sowie zur Kurspflege bzw. Kursstützung der Staatsschuld beteiligt sind (Scherf, 2009, S. 437-438). Das übergeordnete Ziel ist hierbei die Minimierung der Zinsbelastung, wobei durch die Auswahl der mit ihren individuellen Ausgestaltungseigenschaften verbundenen Verschuldungsformen eine möglichst zinskostengünstige Form der Verschuldung gesucht wird (Bohley, 2003, S. 496).

Welche wesentlichen Merkmale der verschiedenen Formen der öffentlichen Verschul-dung sind in unserem Zusammenhang zu beachten?

Die wichtigste Art der öffentlichen Verschuldung sind Schuldscheindarlehen. Diese sind vor allem auf kommunaler Ebene von großer Bedeutung und werden in der Regel als mittel- oder langfristige Direktausleihungen von Kreditinstituten oder Versicherungen vergeben (Nowotny & Zagler, 2009, S. 488).

Im Gegensatz zu diesen nicht an der Börse gehandelten Schuldtiteln werden Anleihen über den Kreditapparat (Emissions-Syndikate) der Öffentlichkeit angeboten bzw. direkt über die beteiligten Kreditinstitute veräußert. Sie haben eine längere Laufzeit und dienen der mittel- und langfristigen Haushaltsfinanzierung. Die genannten Emissions-Syndikate stellen hierbei Zusammenschlüsse von Kreditinstituten dar, welche die Emission von Wertpapieren – in diesem Fall Anleihen – für die Öffentlichkeit durchführen. Hierdurch soll eine größere Kundengruppe angesprochen werden, um das Risiko für die einzelnen Kreditinstitute zu minimieren. Eine Spezialform von Anleihen sind Bundesschatzbriefe. Sie werden vom Bund kontinuierlich in kleiner Stückelung angeboten und stellen mittelfristige Schuldtitel für private Haushalte dar (Nowotny & Zagler, 2009, S. 488; Zimmermann et al., 2009, S. 161).

Ebenfalls von Bedeutung sind Kassenobligationen bzw. Bundes- oder Länderobligationen. Sie werden durch Großanleger (z.B. Kreditinstitute) vergeben und haben eine überwiegend mittelfristige Laufzeit von drei bis fünf Jahren. Häufig wird hierbei ein spezielles Emissionsverfahren verwendet, das Tenderverfahren. Das Besondere dabei ist, dass der Kreditnehmer bei der Emission nur einen Mindestkurs festlegt und zu einem Zeichnungsangebot aufruft. Das für den öffentlichen Schuldner vorteilhafteste Angebot wird dann angenommen. In der Regel ist auch bei Kassenobligationen die Belehnbarkeit durch die Notenbank gegeben (Bohley, 2003, S. 499; Nowotny & Zagler, 2009, S. 488; Zimmermann et al., 2009, S. 161).

Eine weitere Art der öffentlichen Verschuldung ist die Geldmarktverschuldung. Darunter fallen Schatzwechsel, Schatzanweisungen und Finanzierungsschätze. Schatzwechsel sind – abgesehen von Buchkrediten, die die Funktion eines Kontokorrentkredites erfüllen – die kurzfristigste Form der öffentlichen Verschuldung. Alle drei Formen der Geldmarktverschuldung sind als Diskontpapiere ausgestaltet; jedoch sind Schatzanweisungen und Finanzierungsschätze mit einer Laufzeit zwischen sechs und 24 Monaten etwas langfristiger. Das Besondere bei Diskontpapieren ist, dass keine laufenden Zinsen gezahlt werden, sondern der Erwerber beim Kauf des Papiers lediglich den Nennwert, vermindert um die Zinsen entrichtet. Die Differenz zwischen Kaufpreis und dem bei Tilgung ausgezahlten Nennwert ist folglich die Zinszahlung. Finanzierungsschätze richten sich dabei ähnlich wie Bundesschatzbriefe in kleiner Stückelung direkt an Privathaushalte (Nowotny & Zagler, 2009, S. 489).

Beide Formen werden jedoch aus Kostengründen seit Januar 2013 nicht mehr aufgelegt (Bundesrepublik Deutschland - Finanzagentur GmbH, 2013a, 2013b).

Die letzte wichtige Art der öffentlichen Verschuldung ist der Aktivkredit. Der Staat tritt heutzutage nicht mehr nur als Kreditnehmer auf, sondern auch als Kreditgeber. Erfolgen kann die Kreditvergabe entweder direkt über die öffentlichen Haushalte oder indirekt über öffentlich-rechtliche Kreditinstitute, wie z.B. die Deutsche Bundesbank oder Landesbanken. Aus ökonomischer Sicht stellen auch Steuerzahlkredite eine bedeutende Form der öffentlichen Kreditvergabe dar. Sie entstehen durch die verspätete Rückzahlung oder Stundung fälliger Abgaben und haben den Charakter einer zinsfreien Darlehensgewährung. Wenn der Staat öffentliche Aktivkredite durch Aufnahme von öffentlichen Schulden finanziert, wird auch von der „Bankiersfunktion“ des Staates gesprochen. Dabei werden im öffentlichen Sektor Gelder aufgenommen und an den Haushalts- und Unternehmenssektor weitergegeben. Solche Aktivkredite des Staates gewinnen heutzutage im Zuge der Wirtschaftsförderung, Sozialpolitik oder der Entwicklungshilfe zunehmend an Bedeutung (Nowotny & Zagler, 2009, S. 489).

Die folgende Tabelle (siehe Darstellung 5) zeigt den Stand der Verschuldung nach Formen für die Jahre 2001 und 2011, sowie die prozentuale Veränderung der einzelnen Verschuldungsformen zwischen 2001 und 2011. Es wird deutlich, dass für die öffentliche Verschuldung vier Formen von besonderer Bedeutung sind. Das sind Anleihen, Direktausleihungen der Kreditinstitute, Obligationen/Schatzanweisungen und Bundesobligationen.

Im Wesentlichen hat sich die Verschuldungsstruktur nach Formen in der untersuchten Dekade nicht verändert. Eine signifikante Veränderung ist lediglich bei den Direktausleihungen der Kreditinstitute, Obligationen/Schatzanweisungen sowie sonstigen Darlehen erkennbar. Hierbei ist der Anteil von Direktausleihungen der Kreditinstitute um fast achtzehn Prozent zurückgegangen und der Anteil von Obligationen / Schatzanweisungen um etwas mehr als elf Prozent gestiegen. Bei dem Anteil der sonstigen Darlehen ist ein Anstieg von etwa fünf Prozent zu verzeichnen.

Darstellung 5 : Verschuldung der Gebietskörperschaften nach Formen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: eigene Darstellung, Daten entnommen aus Deutsche Bundesbank, 2002, p. 55*; Deutsche Bundesbank 2012c, p. 60*

2.3 Arten der Staatsverschuldung

Neben der Systematisierung der Staatsverschuldung nach den Schuldenformen kann ebenfalls zwischen verschiedenen Arten der Staatsverschuldung unterschieden werden. Im Fokus dieses Teils steht dabei die Differenzierung zwischen struktureller und konjunktureller Verschuldung sowie der impliziten Verschuldung. Dabei sind diese drei Arten nicht nur bezüglich der in Kapitel 3.2 betrachteten rechtlichen Rahmenbedingungen relevant, sondern gewinnen im Zuge der langfristigen Tragfähigkeit der Staatsverschuldung zunehmend an Bedeutung.

Strukturelle und konjunkturelle Verschuldung

Um die Nachhaltigkeit der Finanzpolitik eines Landes beurteilen zu können, ist ein Blick auf dessen aktuelle wirtschaftliche Lage nötig. So kann eine jährliche Verschuldung in Höhe von einem Prozent des BIP in einer Rezession Ausdruck einer sehr stabilitätsorientierten Finanzpolitik, in „Boomphasen“ jedoch Ausdruck einer verschwenderischen Finanzpolitik bzw. mangelnden Sparwillens sein. Damit eine Beurteilung möglich ist, wird zwischen strukturellen und konjunkturellen Ursachen der Staatsverschuldung unterschieden (Koch, 2012, S. 15).

Das konjunkturelle Defizit entsteht aufgrund einer temporären Stützung der Wirtschaft im Konjunkturzyklus. Mit seiner Theorie des „deficit spending“ gilt John M. Keynes als Begründer der staatlichen Konjunktursteuerung. Notwendig wird ein staatliches Eingreifen deshalb, weil nach Keynes sonst ein Teufelskreis drohe.

Bei sinkender Konsum- und Investitionsnachfrage können die Produzenten die Produktion zurückfahren, was zu steigender Arbeitslosigkeit und sinkenden Löhnen führt. Die sinkenden Löhne haben dann einen weiteren Konsumrückgang zur Folge, welcher im schlimmsten Fall zu einer weiter sinkenden Produktion führt. Um diesem Teufelskreis zu entgehen, soll sich der Staat in Zeiten der Rezession zusätzlich verschulden, um die Produktion und Beschäftigung zu stabilisieren und den Rückgang der privaten Nachfrage zu kompensieren (Beck & Prinz, 2013, S. 32-33). Dabei umfasst das konjunkturelle Defizit alle aus einer Unterauslastung des Produktionspotenzials entstehenden Mindereinnahmen und damit verbundenen Mehrausgaben des Staates. Es wird weiterhin davon ausgegangen, dass sich das konjunkturelle Defizit im Laufe des Konjunkturzyklus mit Annäherung des Produktionspotentials an die Normalauslastung von selbst bereinigt (Scherf, 2009, S. 398-399). Wenn in Phasen der Rezession zusätzlich zum konjunkturellen Defizit Kredite aufgenommen werden, spricht man von einem antizyklischen Defizit. Hierbei nimmt der Staat weitere Ausgabenerhöhungen oder Steuersenkungen vor, um den wirtschaftlichen Aufschwung zu beschleunigen (Scherf, 2010, S. 2, 8).

Im Gegensatz dazu ist mit der strukturellen Verschuldung der Teil der Gesamtverschuldung gemeint, der bei unveränderter Steuerstruktur und Ausgabenplanung auch bei Vollbeschäftigung vorliegen würde (Scherf, 2009, S. 399). Das heißt, dieser Teil der Verschuldung ist nicht durch konjunkturelle Einflüsse bedingt und kann somit auch nicht im Laufe eines Konjunkturzyklus abgebaut werden (Kullas & Koch, 2010, S. 3). Die Unterscheidung zwischen strukturellem und konjunkturellen Defizit ist vor allem bei der rechtlichen Begrenzung der Staatsverschuldung von Bedeutung (siehe Kapitel 3.2).

Implizite Verschuldung

Um Staatsverschuldung umfassend beurteilen zu können, ist zusätzlich zur offiziell ausgewiesenen Verschuldung – auch explizite Staatsverschuldung genannt – ein Blick auf die implizite Staatsverschuldung notwendig. Unter der impliziten Verschuldung wird der Barwert von zukünftigen Zahlungen verstanden, für die der Staat aufgrund des jetzt geltenden Rechts und aufgrund von umlagefinanzierten Transfersystemen aufkommen muss. Darunter fallen in Deutschland vor allem die Ansprüche an die umlagefinanzierten Transfersysteme. Konkret werden darunter die sozialen Sicherungssysteme, wie die Renten-, Pensions- und Pflegesysteme verstanden, denen keine entsprechenden Einnahmen gegenüberstehen (Blankart, 2011, S. 365; Brümmerhoff, 2011, S. 632; Koch, 2012, S. 17; Zimmermann et al., 2009, S. 168).

Problematisch ist die implizite Verschuldung deshalb, weil die Versprechungen bezüglich der sozialen Sicherungssysteme an zukünftige Generationen nur zum Teil durch zukünftig erzielte Steuern und Beiträge abgedeckt sind. Vor allem vor dem Hintergrund des demographischen Wandels, d.h. der alternden und schrumpfenden Bevölkerung, gewinnt die implizite Verschuldung in Deutschland, aber auch in anderen Industrienationen, zunehmend an Bedeutung (Blankart, 2011, S. 365; Zimmermann et al., 2009, S. 168). Die Folge des demographischen Wandels ist, dass immer weniger Beitragszahler für immer mehr Rentner aufkommen müssen, ohne dass ein entsprechender Ausgleich durch bspw. eine höhere Arbeitsproduktivität oder einen steigenden Kapitalbestand stattfindet (Brümmerhoff, 2011, S. 632).

Als die beiden einflussreichsten Methoden zur Berechnung der impliziten Staatsschuld gelten der OECD-Ansatz nach Blanchard und die Generationsbilanzen (Generational Accounting) (Brümmerhoff, 2011, S. 672-677; Koch, 2012, S. 20–21). Vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wurde eine Methode entwickelt, die beide Systeme kombiniert und darauf aufbauend die sogenannte „Tragfähigkeitslücke“ berechnet (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2003, S. 425-435). Da diese Berechnungsmethoden aber nicht Schwerpunkt dieser Arbeit sind, sollen diese nur der Vollständigkeit halber genannt sein.

Nichtsdestotrotz soll eine auf der Basis der Generationenbilanzierung erstellte Abbildung (siehe Darstellung 6) zeigen, dass die explizite Verschuldung nur die Spitze des Eisbergs ist.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Darstellung 6: Explizite und implizite Verschuldung in Deutschland

Quelle: eigene Darstellung, Daten entnommen aus Moog & Raffelhüschen, 2012, S. 8

Die berechneten Zahlen müssen jedoch zurückhaltend beurteilt werden. Denn einerseits werden sehr lange Zeiträume betrachtet, wodurch die Prognosen über die zukünftige Bevölkerungsentwicklung, die Zinsentwicklung sowie dem zukünftigen Wirtschaftswachstum mit gewissen Unsicherheiten behaftet sind (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2003, S. 283; Zimmermann et al., 2009, S. 168). Andererseits bestehen zwischen der expliziten und impliziten Staatsverschuldung entscheidende Unterschiede. Die explizite Verschuldung gründet auf privatrechtlichen Ansprüchen, ist nach Art und Höhe festgelegt; Forderungen und Zinsausgaben sind verbrieft. Unter der Voraussetzung, dass ein Staatsbankrott und bewusste Inflationierung ausgeschlossen sind, lässt sich die explizite Verschuldung im Nachhinein nicht mehr ändern (Koch, 2012, S. 18).

Im Gegensatz dazu kann die implizite Verschuldung „einfach“ per Gesetz geändert werden. Da die Forderungen nicht verbrieft sind und der Staat somit nur einen grundsätzlichen Zahlungsanspruch zu erfüllen hat, kann die Höhe und Struktur der zukünftigen Zahlungen (bei Renten und Pensionen) beeinflusst werden, ohne dass tatsächlich Geldströme fließen müssen. So konnte die implizite Staatsverschuldung durch die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 beträchtlich verringert werden (Koch, 2012, S 19; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2007, S. 24–25; Zimmermann et al., 2009, S. 168).

Nichtsdestotrotz ist die implizite Staatsverschuldung von hoher Bedeutung; denn auch wenn die genaue Höhe nicht exakt ermittelt werden kann, so kann sie eine ungefähre Vorstellung über die auf die öffentlichen Haushalte zukommenden Belastungen vermitteln und kann so finanz- als auch sozialpolitischen Handlungsbedarf aufzeigen (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2003, S. 283).

2.4 Wesentliche Indikatoren zur Messung der Staatsverschuldung

In der Fachliteratur wird eine Vielzahl von Indikatoren zur Messung und Bewertung der Staatsverschuldung verwendet. Dabei sind für die Beurteilung der ökonomischen und wirtschaftspolitischen Auswirkungen als auch für einen internationalen und intertemporalen Vergleich nicht nur die absolute Höhe der Verschuldung oder die Neuverschuldung von Bedeutung, sondern vor allem die Relationen in Bezug zu anderen ökonomischen Größen mit zu beachten. Im Folgenden sollen die wesentlichen Indikatoren vorgestellt und erläutert werden.

Schuldenstand, Neuverschuldung und Finanzierungssaldo

Der Schuldenstand (D) ist eine Bestandsgröße und gibt die absolute Höhe der Verbindlichkeiten an, die der Staat gegenüber den Gläubigern zu einem bestimmten Zeitpunkt hat (Wagschal, 1996, S. 24). Dabei stellt der Schuldenstand die Summe der erzielten Defizite oder Überschüsse der vergangenen Jahre dar (Mankiw, 2011, S. 589; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2007, S. 12).

Die folgende Abbildung (siehe Darstellung 7) vermittelt einen Eindruck vom Umfang und von der Entwicklung des Schuldenstands in Deutschland. Betrachtet wird hierbei der Schuldenstand des öffentlichen Gesamthaushalts nach dem ESVG, wobei auch Verschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden aufgezeigt ist. Bemerkenswert ist, dass die Verschuldung des öffentlichen Gesamthaushalts in der betrachteten Zeitspanne jedes Jahr gewachsen ist und Ende 2011 auf ein Rekordhoch von 2.025.448 Millionen Euro angestiegen ist (Statistisches Bundesamt, 2012).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Darstellung 7: Schuldenstand des öffentlichen Gesamthaushalts Deutschlands

Quelle: eigene Darstellung, Daten entnommen aus Statistisches Bundesamt, 2012

Die Nettoneuverschuldung (B) ist dagegen eine Stromgröße und bezieht sich auf den Zeitraum von einem Haushaltsjahr (Wagschal, 1996, S. 24). Sie wird in der Literatur auch als Nettoverschuldung oder Nettokreditaufnahme bezeichnet (Baßeler et al., 2010, S. 434). Dabei gibt die Nettoneuverschuldung den Betrag an, um den sich der aktuelle Schuldenstand (D), bezogen auf den Schuldenstand des Vorjahres (D-1), vergrößert hat (Gl. 1). Addiert man zur Nettoneuverschuldung noch die Zahlungen zur Schuldentilgung, erhält man die Bruttoneuverschuldung. Da es sich hierbei jedoch lediglich um eine Fortschreibung bisheriger Kredite handelt, ist die Bruttoneuverschuldung ohne ökonomische Bedeutung (Nowotny & Zagler, 2009, S. 491).

(1)[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]

Im Zusammenhang mit der Nettoneuverschuldung wird auch oftmals der Begriff Finanzierungssaldo (FS) bzw. Finanzierungsdefizit verwendet (Dietz, 2006, S. 341). Dieser berechnet sich aus der Differenz der Staatseinnahmen (E) ohne Kredite, den Staatsausgaben ohne Zinsausgaben (G) und dem Produkt aus Zinssatz der öffentlichen Schuldtitel und dem Schuldenstand des Vorjahres (Gl. 2) (Nowotny & Zagler, 2009, S. 491; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2007, S. 17-18).

(2) [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]

Dass der Finanzierungssaldo nicht immer mit der Neuverschuldung identisch ist, liegt zum einen an der in Kapitel 2.1 beschriebenen unterschiedlichen Abgrenzung von Einnahmen und Ausgaben und zum anderen an den sogenannten besonderen Finanzierungsvorgängen. Besondere Finanzierungsvorgänge sind z.B. Münzeinnahmen, Rücklagenbewegungen, Überschüsse aus dem Vorjahr oder die Schuldentilgung bzw. Schuldenaufnahme am Kreditmarkt (Dietz, 2006, S. 340; Wagschal, 1996, S. 24). Denn hierdurch muss der Staat das Finanzierungsdefizit nicht immer komplett durch die Aufnahme neuer Schulden decken, sondern kann die Finanzierungslücke mit solchen besonderen Einnahmen schließen. Da diese Einnahmen aber meist nur gering sind (Wagschal, 1996, S. 24), werden die Begriffe Finanzierungsdefizit und Nettoneuverschuldung in dieser Arbeit analog verwendet (Gl. 3) (Nowotny & Zagler, 2009, S. 491).

(3) [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]

Schuldenstands- und Defizitquote

Wird der Schuldenstand nun in Relation zum nominalen BIP gesetzt, ergibt sich die Schuldenstandsquote (β) (Gl. 4) (Brümmerhoff, 2011, S. 630).

(4) [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]

Dieser Indikator ist einer der Konvergenzkriterien der EU (Greiner & Fincke, 2009, p. 14), mit dem sich feststellen lässt, in welchem Verhältnis die Schulden zur gesamten volkswirtschaftlichen Wertschöpfung eines Jahres stehen. Da das BIP ein Maß für die Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft ist, kann die Schuldenstandsquote somit auch als Indikator für die Rückzahlungsfähigkeit der Schulden gesehen werden. Denn bei einer steigenden Schuldenstandsquote nehmen ebenfalls die Tilgungsverpflichtungen und folglich auch die Zinszahlungen zu. Somit wird es ceteris paribus immer schwieriger, die Schulden zu tilgen und Zinszahlungen zu erbringen (Brümmerhoff, 2011, S. 630; Koch, 2012, S. 8).

Ein weiterer bedeutsamer Indikator ist die Defizitquote (α), welche ebenfalls ein Konvergenzkriterium der EU ist (Greiner & Fincke, 2009, p. 14). Sie ergibt sich aus der Relation zwischen Finanzierungssaldo und BIP (Gl. 5) (Brümmerhoff, 2011, S. 630).

(5) [Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]

Sie dient vor allem der internationalen Vergleichbarkeit und gilt als Maßstab für finanzpolitische Stabilität. Die Defizitquote als auch die Schuldenstandsquote finden vor allem im Zuge des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) sowie dem Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts – und Währungsunion (SKSV) Anwendung, auf die im Kapitel 3.2.1 noch näher eingegangen wird (Brümmerhoff, 2011, S. 630).

Folgende Grafik (siehe Darstellung 8) gibt einen Überblick über die jährlichen Schuldenstands- und Defizitquoten für Deutschland nach 1991. Bemerkenswert ist hierbei, dass die im Maastricht-Vertrag und Stabilitäts- und Wachstumspakt festgelegten Grenzen für die Schuldenstandsquote von 60 Prozent des BIP und für die Defizitquote von drei Prozent des BIP diverse Male verletzt wurden. Nach Einführung dieser Richtlinien hat Deutschland bereits neun Mal die vorgeschriebene Defizitquote überschritten. Und auch die festgelegte Schuldenstandsquote konnte nach 1997, bis auf das Jahr 2001, nicht eingehalten werden. Weiterhin wird erkennbar, dass die Schuldenstandsquote bis auf die Jahre 2000-2001 und 2006-2007 stetig gestiegen ist und Ende 2011 bei 80,6 Prozent des BIP lag.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Darstellung 8: Schuldenstands- und Defizitquote für Deutschland

Quelle: eigene Darstellung, Daten entnommen aus Deutsche Bundesbank, 2012a, 2012b

Weitere Indikatoren

Ein weiterer Indikator ist die Zinsquote (R/BIP) eines Staates. Um die öffentlichen Schulden zu bedienen, müssen Zinsen (R) gezahlt werden. Das Verhältnis von Zinsaufwand zum nominalen BIP gibt an, wie hoch der Anteil am BIP für Zinszahlungen ausfällt und lässt somit Rückschlüsse auf die Abhängigkeit des Staates von Fremdkapitalgebern zu. Wenn das BIP nun durch das Steueraufkommen bzw. durch die Staatsausgaben ersetzt wird, ergeben sich zwei weitere Kennzahlen (Brümmerhoff, 2011, S. 630).

Das ist zunächst die Zins-Steuer-Quote (R/T). Sie gibt Aufschluss darüber, wie hoch die Belastung der Steuereinnahmen (T) durch die Zinszahlungen ist, d.h. welcher Anteil für die Erfüllung der eigentlichen Staatsaufgaben fehlt. Der andere Indikator ist die Zins-Ausgaben-Quote (R/G). Er gibt an, welcher Anteil der Staatsausgaben (G) für den Schuldendienst (Zins- und Tilgungsverpflichtungen) benötigt wird (Brümmerhoff, 2011, S. 630; Nowotny & Zagler, 2009, S. 492–493).

Der letzte Indikator, der hier betrachtet werden soll, ist die Kreditfinanzierungsquote (FS/G). Dabei wird der Quotient aus dem Finanzierungssaldo (FS) und den Staatsausgaben (G) gebildet. Auskunft gibt dieser Indikator über den Anteil der durch Kredite finanzierten Ausgaben an den Gesamtausgaben und der damit verbundenen Abhängigkeit von Krediten. Herangezogen wird dieser Indikator insbesondere für konjunkturpolitische Analysen (Brümmerhoff, 2011, S. 630; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 2007, S. 15).

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Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Grenzen der Staatsverschuldung am Beispiel Deutschlands
Hochschule
Brandenburgische Technische Universität Cottbus  (Institut für Wirtschaftswissenschaften)
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
88
Katalognummer
V230423
ISBN (eBook)
9783656464723
ISBN (Buch)
9783656468301
Dateigröße
2261 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
grenzen, staatsverschuldung, beispiel, deutschlands
Arbeit zitieren
Benjamin Hammer (Autor:in), 2013, Grenzen der Staatsverschuldung am Beispiel Deutschlands, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/230423

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