Umgang mit Krankheit in fremden Kulturen

Kulturelle Aspekte zur gesundheitlichen Situation und Betreuung von Migranten


Diplomarbeit, 2003

131 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Zielstellung und Arbeitshypothesen

1. Wissenschaftliche Struktur der Ethnomedizin
1.1. Einordnung der Ethnomedizin
1.1.1. Begriffsklärung
1.1.2. Gegenstand
1.2. Medizinische Systeme
1.2.1. Charakteristika eines medizinisches Systems
1.2.2. Verschiedene Krankheitskonzepte und Erklärungsmodelle von Krankheit
1.2.3. Unterscheidung
1.2.3.1. Auf magisch-religiösen Vorstellungen basierende Medizinsysteme
1.2.3.2. Parawissenschaftliche Medizinsysteme
1.2.4. Der Umgang mit Krankheit in fremdkulturellen Medizinsystemen
1.2.5. Kulturspezifische Erkrankungen
1.3. Heilerpersönlichkeiten
1.3.1. Klassifizierung von Heilerpersönlichkeiten
1.3.2. Das Beziehungsgeflecht Arzt – Patient – soziales Umfeld im kulturellen Vergleich

2. Migration und Gesundheit in Deutschland
2.1. Migration
2.1.1. Definition des Migrationsbegriffs
2.1.2. Die rechtliche Position von Migranten im deutschen Gesundheitssystem
2.2. Auswirkungen von Migration
2.2.1. Das Leben vor der Migration in der türkischen, ländlichen Gesellschaft
2.2.2. Veränderungen durch die Migration
2.2.3. Psychosoziale Aspekte der Migration – Leben zwischen zwei Kulturen
2.2.4. Mögliche migrationsbedingte Beschwerden und Erkrankungen
2.3. Migranten im deutschen Gesundheitssystem
2.3.1. Die Inanspruchnahme gesundheitlicher Dienste durch Migranten – Erwartungen und Realität
2.3.2. Die Problembereiche im Einzelnen
2.3.2.1. Sprachbarriere
2.3.2.2. Informationsdefizit
2.3.2.3. Fremdkulturelles Krankheitsverhalten und fremdkulturelle Krankheitskonzepte
2.3.3. Transkulturelle Mißverständnisse und ihre Folgen
2.4. Resümee der Gesamtsituation

3. Maßnahmen zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung von Migranten
3.1. Problembilanz
3.2. Zusammenfassung der Vorschläge zur Berücksichtigung fremdkul- tureller Aspekte in der gesundheitlichen Versorgung von Migranten
3.3. Möglichkeiten zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung von Migranten
3.3.1. Ethnomedizinische Aspekte in der Ausbildung von medizinischem Personal und die Delegation von Aufgaben- bereichen
3.3.2. Dolmetscherdienste
3.3.3. Psychosoziale Beratung und Psychotherapie
3.3.4. Aus- und Weiterbildungsangebote
3.4. Interkulturelle Kompetenz
3.5. Grenzen und Hemmnisse bei der Verwirklichung theoretischer Konzeptionen
3.6. Zwei Beispiele für Modellprojekte
3.6.1. Das Ethnomedizinische Zentrum Hannover e.V
3.6.2. Dolmetscherdienst am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf

Verifizierung der Arbeitshypothesen

Anhang
I. Das biomedizinische System
II. Studienplan Medizin der MLU Halle

Literaturverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Erklärungskonzepte für die Verursachung von Krankheit

Abb. 2: Mißverständnisse

Abb. 3: Ausländische Bevölkerung in der BRD nach Staatsangehörigkeit

Abb. 4: Anforderungen und Einflüsse im Aufnahmeland

Abb. 5: Kenntnisse über weibliche Körperfunktionen

Einleitung

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (...) Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. (...)“

(Art. 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland)

Der enorme wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland Anfang der fünfziger Jahre verursachte in der deutschen Produktion einen akuten Arbeitskräftemangel. So begann die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1955 ausländische Arbeitnehmer anzuwerben, um auf dem heimischen Arbeitsmarkt das Defizit auszugleichen. Zunächst wurde ein Anwerbeabkommen mit Italien, fünf Jahre später mit Spanien und Griechenland und schließlich mit der Türkei geschlossen. Bis zum Anwerbestop 1973 wanderten millionenfach ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland ein. Die medizinische Versorgung wurde für diesen speziellen Prozeß instrumentalisiert und hatte drei zentrale Funktionen. Zum einen sollte durch ausführliche medizinische Untersuchungen sichergestellt werden, daß nur besonders gesunde, leistungsfähige Arbeitskräfte nach Deutschland kommen würden; zweitens sollten die bei diesem Prozeß für Deutschland anfallenden Gesundheits- und Sozialkosten minimiert und drittens die einheimische Bevölkerung vor eventuellen seuchen- und sozialhygienischen Problemen geschützt werden. Aufgrund des ausländerpolitischen Ziels der Rotation wurde die Öffnung des medizinischen Versorgungssystems für den veränderten Bedarf nicht als notwendig erachtet.

Die Entwicklung verlief jedoch in zwei entscheidenden Punkten nicht wie erwartet. Erstens: Das Prinzip der Rotation funktionierte nicht. Zweitens: Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, daß Migranten im Vergleich zu Einheimischen überdurchschnittlich häufig von Krankheit betroffen sind, was sie dazu zwingt, das hiesige Gesundheitsversorgungssystem in Anspruch zu nehmen. Zunehmend wurde deutlich, daß dies mit Problemen verbunden ist. So scheinen ungünstige rechtliche und soziale Bedingungen die Inanspruchnahme von gesundheitlicher Versorgung für Migranten erheblich zu erschweren.

In der Öffentlichkeit wie auch in der Gesundheitspolitik wird dieses Thema bisher kaum zur Kenntnis genommen. Der Prozeß der Umorientierung schreitet nur sehr schwerfällig voran. Die Problematik wird von zuständigen Stellen entweder ignoriert oder als nachrangig eingestuft, obwohl durch eine Vielzahl von Forschungsergebnissen und Praxisberichten, auf welche in dieser Arbeit auch eingegangen wird, die Dringlichkeit der Thematik belegt werden kann.

So sind eben doch nicht alle Menschen gleich. Die folgende Arbeit wird zeigen, daß unter anderem durch gesetzlich geschaffene Zugangsbarrieren vielen Menschen im Vergleich zu anderen der Zugang zum gesundheitlichen Versorgungssystem in dem Maße erschwert wird, daß sie keine gleichen Chancen auf eine gute Gesundheit haben und daß dies eben auch ganz besonders mit ihrer Herkunft zusammenhängt.

Zielstellung und Arbeitshypothesen

Die vorliegende Arbeit will Krankheit und Kultur aus zwei verschiedenen Perspektiven beleuchten. Zum einen wird der Blick nach außen gerichtet auf das Krankheitsverständnis und den Umgang mit Krankheit in anderen Kulturen. Zum anderen soll der Blick nach innen klären, wie sich dieses fremde Krankheitsverständnis von Menschen anderer Kulturen auf die Situation und Betreuung von Einwanderern in unserem Gesundheitssystem auswirkt.

Im ersten Teil dieser Arbeit soll zunächst untersucht werden, ob außerhalb unseres Kulturkreises dasselbe Krankheitsverständnis herrscht oder ob dieses möglicherweise von unserem abweicht. Dabei wird der Umgang mit Krankheit und die angewandten Maßnahmen zur Erhaltung der Gesundheit in anderen Kulturen betrachtet. Des weiteren wird beleuchtet, welche Vorstellungen von Krankheitsursachen existieren und auf welche Weise in anderen Völkern Erkrankungen geheilt werden. Hierbei soll die Auswertung ethnomedizinischer Ergebnisse behilflich sein. Das Forschungsfeld der Ethnomedizin untersucht weltweit Medizinsysteme fremder Kulturen und prüft, in welcher Weise Krankheit mit Kultur verknüpft ist. Ferner sollen im ersten Teil der Arbeit Heilerpersönlichkeiten anderer Völker und ihre Art mit auftretenden Erkrankungen umzugehen betrachtet werden.

Hypothese 1:

Es existieren verschiedene Auffassungen davon, was Gesundheit und Krankheit sind, was eine Erkrankung verursacht hat und wie sie geheilt werden kann. Diese Auffassungen sind abhängig von der Kultur, der Zugänglichkeit zu medizinischer Versorgung, dem sozialen Umfeld, sowie einer Reihe weiterer Faktoren. Zudem gibt es unterschiedlichste Typen von Heilerpersönlichkeiten, die innerhalb der jeweiligen Kulturkreise in der Lage sind, adäquat auf auftretende Erkrankungen zu reagieren.

Durch die Wanderung von einer in eine andere Gesellschaft geschieht nicht selten ein vollständiger Bruch mit dem bisherigen sozialen Umfeld. So soll im zweiten Teil dieser Arbeit zunächst geklärt werden, welche Auswirkungen der Migrationsprozeß auf die körperliche und seelische Verfassung der Wandernden hat. In der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, daß der Prozeß der Wanderung und das Leben im Aufnahmeland ungewohnte Streßsituationen beinhalten, welche unter Umständen gesundheitsbeeinträchtigend sein können. Diese Annahme soll unter Zuhilfenahme vorliegender Studien zum Thema Gesundheit und Migration geprüft werden, des weiteren wird untersucht, in welcher Weise sich dieser Migrationsstreß äußert. Dahingehend lautet Hypothese 2 :

Sowohl der Migrationsprozeß als auch das Leben im Aufnahmeland beinhalten für viele Migranten ungewohnte Streßsituationen, welche unter bestimmten Umständen Gesundheitsbeeinträchtigungen hervorrufen können.

Auf Grundlage der Annahme, daß sowohl Krankheitsverständnis als auch Heilmethoden in anderen Kulturen von dem hiesigen Verständnis und Behandlungssystem abweichen, interessiert als nächstes die Frage, wie Angehörige anderer Kulturen, welche aus verschiedenen Gründen nach Deutschland einwandern, mit dem Medizinsystem unserer Kultur zurechtkommen. In dieser Arbeit wird der Frage nachgegangen, in welchen Bereichen Probleme auftreten können, wie diese sich darstellen und vor allem aber auch, wie im hiesigen Gesundheitswesen Tätige mit Angehörigen fremder Kulturen umgehen. Selbstverständlich wird ebenfalls untersucht, welchen Einfluß das fremdkulturelle Krankheitsverständnis und die Erfahrungen aus anderen Gesundheitssystemen bei Umgang und Behandlung von und mit Erkrankungen im hier vorherrschenden System haben.

Hierauf bezieht sich die Hypothese 3:

Die Inanspruchnahme des deutschen Gesundheitssystems ist für Migranten mit bestimmten Schwierigkeiten verbunden, wobei jedoch das abweichende Krankheitsverständnis nur eine davon darstellt. Diese Schwierigkeiten haben schwerwiegende Benachteiligungen für ausländische Mitbürger bei der Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung zur Folge.

In diesem Teil der Arbeit werden u.a. die vordringlichsten Probleme herausgearbeitet und ihre Handhabung seitens der im Gesundheitswesen Beschäftigten dargestellt.

Im dritten Teil der vorliegenden Arbeit wird untersucht, welche Maßnahmen zur Beseitigung von Schwierigkeiten und Zugangsbarrieren zum Versorgungssystem für Migranten eingeleitet werden könnten bzw. bereits in der Umsetzung begriffen sind. Einige Ansatzmöglichkeiten werden gesondert herausgegriffen und ihre Umsetzungschancen ausführlich erörtert. Es wird ebenfalls diskutiert, welche Faktoren sich bisher behindernd auf die Verwirklichung von möglichen Maßnahmen ausgewirkt haben.

Lesehinweis:

Zum besseren Verständnis der Arbeit wird empfohlen, im Anschluß an das erste Kapitel zunächst den Abschnitt „Das biomedizinische System“ im Anhang zu lesen.

1. Wissenschaftliche Struktur der Ethnomedizin

1.1. Einordnung der Ethnomedizin

Begriffsklärung

Ethnomedizin bedeutet im eigentlichen Sinne Volksmedizin; im Volk seit Alters her überlieferte Heilkunde. Im wissenschaftlichen Sinne ist sie eine Forschungsrichtung, die als Teilgebiet der Ethnologie unter Zuhilfenahme von Methoden und Ergebnissen anderer Wissenschaften, besonders der Medizin, die Vorstellungen und Aktivitäten von Menschen innerhalb ihrer Umwelt untersucht, welche mit ihren Konzeptionen von Gesundheit und Krankheit zusammenhängen[1].

Die Ethnomedizin entstand aus dem Interesse der Ärzte an der Medizin kolonialisierter Völker, welche als primitive Kulturen bezeichnet wurden.

In den USA existiert Ethnomedizin unter der Bezeichnung medical anthropology und in Frankreich unter anthropologie médicale als universitäre Fachrichtung. In Deutschland jedoch gibt es sie nicht als eigenständiges Fach. In Anlehnung an die Konzepte der US-amerikanischen medical anthropology und aus dem Blickwinkel der Medizin wurde bei uns der Begriff der kulturvergleichenden medizinischen Anthropologie geprägt. Von ethnologischer Seite favorisiert man jedoch den Begriff „Medizinethnologie“, um den Bezug zur Ethnologie deutlicher hervorzuheben. Oft findet man auch die Begriffe „Medizinanthropologie“ oder „medizinische Anthropologie“. Diese Begriffsvielfalt deutet bereits an, daß die Ethnomedizin in Deutschland ein interdisziplinäres Arbeitsfeld ist, welches unterschiedlich definiert wird und in dem je nach fachlicher Perspektive jeweils unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden[2].

Gegenstand

Die Ethnomedizin ist ein Arbeitsbereich, der auf die Zusammenhänge zwischen Krankheit und Kultur eingeht. Dabei wird die Beziehung zwischen Kultur und Medizin analysiert. Durch Feldforschung, vorwiegend mit der Technik der teilnehmenden Beobachtung, werden Daten gesammelt und anschließend transkulturell verglichen[3].

Gegenstand der Ethnomedizin sind medizinische Systeme als Teil kultureller und sozialer Systeme. Zunächst standen dabei exotische bzw. sogenannte primitive Kulturen im Vordergrund des Interesses. Bei älteren Definitionen von Ethnomedizin[4] ist ein meist ein ausgeprägter Ethnozentrismus zu beobachten, bei welchem selbstverständlich von der Überlegenheit der in den westlichen Industriegesellschaften praktizierten Schulmedizin ausgegangen wird, weil sie wissenschaftlich, also methodisch gesichert, standardisiert und objektiv (also frei von kulturellen Einflüssen) und somit universell anwendbar ist. Da dies jedoch im weiteren Verlauf der Forschung vielfach widerlegt werden konnte[5], rückt zunehmend auch die westliche Medizin und ihre Veränderung als Teil des Kulturwandels ins Licht der ethnomedizinischen Untersuchungen. Dabei sind beispielsweise die schnelle Ausbreitung des naturwissenschaftlich–medizinischen Paradigmas und die gleichzeitige Überlagerung verschiedener medizinischer Traditionen in der westlichen Kultur interessant.

Jüngere Abhandlungen[6] versuchen im transkulturellen Vergleich, welcher die westliche Kultur mit einschließt, die anfängliche Überheblichkeit abzulegen und alle medizinischen Systeme als mehr oder weniger gleichwertig zu betrachten. Das Augenmerk richtet sich dabei auf die Vielfalt koexistierender Theorien und Institutionen, denn reine Medizinkulturen bilden die Ausnahme. Sie sind oft äußerst komplex und weisen vielfältige historische Einflüsse auf.

Heute ist die Ethnomedizin ein vielfältiges, großes Forschungsfeld mit zahlreichen Publikationen und Fachzeitschriften[7]. Neben der Analyse der medizinischen Institutionen und der Gesundheitsversorgung in reichen und armen Gesellschaften mit ihren unterschiedlichen kulturellen Konstruktionen von Krankheit und ihren Vorstellungen und Ideen zu Leib, Geburt, Heranwachsen, Altwerden und Tod untersucht die Ethnomedizin auch die soziale Produktion von Krankheiten, d. h. in welchen Maße und wie beeinflussen soziale Institutionen und Ungleichheiten die Krankheitshäufigkeit und die Sterblichkeitsrate innerhalb einer Population[8].

Zwei Entwicklungen sind ausschlaggebend für das wachsende Interesse an ethnomedizinischer Forschung und außereuropäischer Heilkunde. Zum ersten ist eine wachsende Unzufriedenheit und eine kritische Auseinandersetzung mit der Medikalisierung im westlichen Gesundheitswesen und den Schädigungen infolge invasiver Diagnostik und Therapie zu verzeichnen. Die rasend voranschreitende Technologisierung läßt die Schulmedizin in unserer Kultur zur Apparatemedizin verkommen und der Mensch in seiner Gesamtheit wird völlig an den Rand gedrängt. Die Folge davon ist das zunehmende Bedürfnis nach alternativen Wertangeboten mit dem Ziel gesunder Lebensführung in Harmonie mit der Gemeinschaft und Umwelt[9]. Dies wird deutlich bei der wachsenden Popularität von alternativen Heilmethoden, wie z.B. der Homöopathie oder dem indischen Ayurveda.

Des weiteren hat die Weltgesundheitsorganisation WHO Ende der siebziger Jahre im Anschluß an eine Konferenz in Alma-Ata eine neue Orientierungsrichtung eingeschlagen – Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000. Dieses Konzept beinhaltet den Ausbau der an der westlichen Medizin orientierten Basisgesundheitsversorgung in Entwicklungsländern. Diese Basisgesundheitsversorgung soll an den jeweiligen Lebensgewohnheiten und Bedürfnissen der Bevölkerung ausgerichtet sein und die in der Gemeinschaft vorhandenen Ressourcen nutzen, um Kosten zu sparen. Zudem soll diese Gesundheitsversorgung nach westlichem Standart in das jeweilige nationale Gesundheitssystem integriert werden[10]. Um dies zu bewerkstelligen, mußte man sich allerdings zunächst mit den entsprechenden Systemen vertraut machen, was vermehrte Forschungsaktivitäten auslöste. Die nachfolgende Entwicklung verlief jedoch gegenläufig. Entsprechende Bemühungen, die neue Gesundheitsversorgung in die vorhandenen Strukturen zu integrieren, scheiterten – sei es nun aus mangelndem Engagement oder aus der Überzeugung heraus, daß die westliche Medizin auf jedes System passe. Die Angebote der westlichen Medizin wurden von den betroffenen Einheimischen nur zögernd angenommen. Aus diesem Grund werden nun Versuche dahingehend unternommen, die jeweilige traditionelle Medizin in die moderne Basisgesundheitsversorgung zu integrieren[11].

Es bleibt also festzuhalten, daß die Ethnomedizin den Zusammenhang zwischen Krankheit und Kultur bei fremden Völkern erforscht und gleichzeitig die eigene Medizin zur kulturellen Reflexion zwingt und damit auch deren Defizite aufdeckt[12].

Praktische Relevanz hat die Ethnomedizin in der Entwicklungshilfe sowie bei der Behandlung von Patienten aus fremden medizinischen Institutionen (Einwanderer), worauf im zweiten Teil verstärkt eingegangen wird.

1.2. Medizinische Systeme

Charakteristika eines medizinischen Systems

Die Medizin einer Gesellschaft besteht aus denjenigen kulturellen Praktiken, Methoden, Techniken und Substanzen – eingebettet in eine Matrix aus Werten, Traditionen und Formen der ökologischen Anpassung -, die es ermöglichen, Gesundheit zu erhalten und Krankheit und Schädigungen zu vermeiden oder zu verbessern. Das medizinische System einer Gesellschaft ist damit die gesamte Organisation ihrer sozialen Strukturen, Technologien und Personen, die ermöglichen, ihre Medizin (wie oben definiert) auszuführen und zu erhalten, sowie zu verändern in Abhängigkeit zu intrakulturellen und extrakulturellen Herausforderungen. (D. Landy; US-Anthropologe 1977, S.131)

Das medizinische System bzw. die Heilkunde einer Gesellschaft ist demnach Teil der jeweiligen Kultur und verändert sich entsprechend deren Bedürfnissen. Man kann auch sagen, daß jede Heilkunde ein kulturgebundenes, gesellschaftsspezifisches Instrumentarium ist, mit dem in einer Gemeinschaft alle Probleme in Bezug auf Gesundheit, Krankheit, Heilung und Prävention adäquat gelöst werden sollen[13].

Das hierzulande gültige medizinische System ist das der Biomedizin, auch als Schulmedizin, Allopathie, moderne, kosmopolitische oder westliche Medizin bezeichnet[14]. Die Biomedizin ist standardisiert und wird in vielen Ländern der Welt im formellen Sektor der medizinischen Versorgung angewendet und ähnlich ausgeführt. Sie erhebt den Anspruch, frei von kultureller Prägung und damit allgemeingültig, d.h. auf jeden beliebigen Menschen in jedem beliebigen Land anwendbar zu sein. Dem widerspricht jedoch die Tatsache, daß es auf dem euro-amerikanischen Weltbild und dessen Körperkonzeption basiert, die in der Welt eben gar nicht so weit verbreitet ist, wie die Biomedizin selbst. Es gibt andere Länder und Völker, in denen andere Weltbilder mit anderen Körperkonzeptionen Gültigkeit haben und die darauf aufbauend natürlich über ein gänzlich anderes medizinisches System verfügen[15]. Das heißt, sie haben andere Vorstellungen davon, wo Krankheiten herkommen, was sie verursacht und wie sie geheilt werden können. Diese Systeme werden als traditionelle Medizinsysteme bezeichnet. Diese sind nicht standardisiert und unterscheiden sich von Region zu Region. Traditionell bedeutet jedoch nicht altmodisch und starr, sondern lediglich, daß sie spezifisch mit der Geschichte und Kultur einer bestimmten Gruppe verbunden sind[16]. Das besagt, daß sie sich durchaus verändern und immer wieder Neuerungen hinzukommen, aber biomedizinische Tatsachen sind ja auch immer nur so lange Tatsachen, wie sie vom größten Teil der Wissenschaftler als wahr angesehen werden. Oftmals werden sie später widerlegt oder weiterentwickelt und so geschieht das in traditionellen Medizinsystemen auch.

Was aber zeichnet nun speziell ein medizinisches System bzw. eine Heilkunde aus? Die Ethnomedizin geht davon aus[17], daß Krankheit, Symptom und Therapie einem Symbolcharakter haben[18]. Nach PRINZ bedient sich jede Heilkunde eines mehr oder weniger genau definierten Reaktionsschemas. Wann sich jemand krank fühlen darf und wie genau die Symptome auszusehen haben, mit der jeweils der Kranke seiner Umwelt sein Leiden anzeigen kann, ist gesellschaftlich bestimmt. PRINZ geht davon aus, daß in erster Linie kein kranker Mensch dem anderen gleicht, also jedes Leiden so individuell ist, wie jeder einzelne Mensch. Der Mensch lernt jedoch, sein einmaliges Leiden in gesellschaftlich anerkannten Symptomen auszudrücken. Unbewußt kategorisiert und klassifiziert er sein Leiden gemäß der von ihm gelernten und ihm anerzogenen Ausdrucksformen. Indem er ein anerkanntes Symptom als Signal setzt, erkennt seine Umwelt und er selbst auch erst jetzt, daß er krank ist. Die Fähigkeit, eine Krankheit auf diese Weise sichtbar zu machen, beherrschen manche Menschen sehr gut, andere weniger gut. Kann jemand seine Krankheit nicht anzeigen, weil bei ihm die diesbezügliche Fähigkeit weniger gut ausgeprägt ist, transportiert er die Beschwerden so lange, bis er ein anerkanntes Symptom als Signal setzen kann. Unter Umständen können Krankheiten auf diese Weise lange unentdeckt bleiben[19].

Aufgabe der jeweiligen Heilkunde soll es nun wiederum sein, die Fähigkeit zum Anzeigen einer Krankheit zu vermitteln und die angezeigten Signale daraufhin wieder zu entschlüsseln. Laut PRINZ beginnt mit der richtigen Reaktion der Heilkunde bereits der Gesundungsprozeß bei dem Kranken, da die Gemeinschaft nun seinen Zustand des Krankseins anerkannt hat und der Druck von ihm genommen wird, seiner gesellschaftlichen Rolle als Gesunder gerecht zu werden[20]. Demzufolge sind die Aufgaben einer Heilkunde nicht nur das Erkennen und Heilen einer Krankheit, sondern auch die adäquate Integration des Kranken in die Gemeinschaft. Des weiteren soll dem gesunden Menschen die Sicherheit vermittelt werden, daß er im Falle einer Erkrankung wirksame Hilfe erwarten kann, selbst wenn das in Wirklichkeit oftmals gar nicht der Fall ist. Das wird deutlich, wenn man bedenkt, daß viele mit großem Aufwand und beeindruckenden Apparaturen diagnostizierbare Krankheiten noch gar nicht geheilt werden können[21].

Verschiedene Krankheitskonzepte und Erklärungsmodelle von Krankheit

Krankheit und Gesundheit haben nicht überall die gleiche Bedeutung. Zwar gibt es in den unzähligen Heilkunden in gewisser Hinsicht Übereinstimmungen, z.B. die Ansicht, daß schwere Leiden unerwünscht sind und bekämpft werden müssen[22]. Im Einzelnen existieren jedoch beträchtliche Unterschiede, etwa welcher Zustand als gesund oder als krank angesehen oder auf welchem Wege und mit welchen Mitteln Gesundheit angestrebt und Krankheit geheilt wird. Das ist abhängig vom Konzept des medizinischen Systems, welches eng mit der jeweiligen Kultur verknüpft ist. Andere medizinische Systeme haben oftmals einen ganzheitlichen (holistischen) Ansatz, d.h. sie betrachten den Menschen in seiner Ganzheit in einem großen ökologischen Spektrum. Das System mit den jeweiligen medizinischen Praktiken kann deshalb nicht losgelöst von seinem soziokulturellen Kontext betrachtet werden[23]. Da jedoch unzählige verschiedene traditionelle Medizinsysteme bestehen, kann unmöglich auf alle hier eingegangen werden. In dieser Arbeit wird daher immer wieder auf das Beispiel der Türkei Bezug genommen[24]. Es wird jedoch zur zusätzlichen Veranschaulichung und zum Vergleich auch auf andere Systeme eingegangen.

Bevor begonnen wird, sich ausführlich mit Krankheit, Krankensystemen und Heilung zu beschäftigen, soll an dieser Stelle erst einmal dargestellt werden, was unter dem Begriff Krankheit bzw. Erkrankung und seinem Gegenstück Gesundheit verstanden werden kann.

Bei dem Blick in ein medizinisches Wörterbuch findet man dort Krankheit zuallererst als „Störung der Lebensvorgänge in Organen oder im gesamten Organismus mit der Folge von subjektiv empfundenen bzw. objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen oder seelischen Veränderungen“ beschrieben. Rechtlich gesehen gilt sie sogar als „Zustand der Regelwidrigkeit in Ablauf der Lebensvorgänge (...) aus dem eine berufsspezifisch erhebliche Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit resultiert“ und zu guter letzt ist sie „die begriffliche Bezeichnung für eine definierbare Einheit typischer ätiologisch, morphologisch, symptomatisch oder nosologisch beschreibbarer Erscheinungen, die als eine bestimmte Krankheit verstanden wird“ (Pschyrembel 2000).

Gesundheit dagegen wird in einer Definition der Weltgesundheitsorganisation als der „Zustand völligen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“ beschrieben. Im oben genannten Sinne als Gegenstück zu Krankheit kann Gesundheit auch als „das subjektive Empfinden des Fehlens körperlicher, geistiger und seelischer Störungen bzw. Veränderungen“ (beides Pschyrembel 2000) gesehen werden.

Die erstgenannte Definition der WHO wird selbst von Seiten der Biomedizin oft als zu illusionär angesehen, da Wohlbefinden erstens nicht als Zustand betrachtet werden kann und zweitens kaum in dieser angestrebten Vollkommenheit erreichbar sein dürfte[25]. Beide Definitionen werden aus Sicht der Ethnomedizin kritisch betrachtet, da sich diese auf das christliche Menschenbild beziehen und aus der Perspektive eines anderen Menschenbildes nicht mehr passen. Kritikbehaftet sind sie des weiteren, da die Begrifflichkeiten Krankheit und Gesundheit an sich schon gesellschaftliche Prägung und Wertung besitzen[26]. Da diese Begriffe jedoch aufgrund der weiten Verbreitung der Biomedizin nahezu weltweit geläufig sind, sollen sie hier weiterhin verwendet werden. Es sei allerdings angemerkt, daß die Ethnomedizin eine besondere Unterscheidung trifft zwischen Krankheit und Kranksein, welches das Erleben einer Erkrankung durch das Individuum deutlich in den Vordergrund stellt. Der Begriff Kranksein steht dabei ausdrücklich in Abgrenzung zu dem Begriff Krankheit, die als Fehlfunktion biologischer oder psychologischer Prozesse aufgefaßt wird. Im Extremfall gibt es Kranksein ohne Krankheit und umgekehrt[27].

Zuletzt sollte noch vorweggeschickt werden, daß in zahlreichen Kulturen Gesundheit und Krankheit eng verknüpft sind mit kosmologischen Vorstellungen und religiösen Praktiken[28]. Der Mensch ist Teil des Kosmos und Krankheit bzw. Kranksein ist Teil der Weltauffassung und der Beziehung zwischen Mensch und Natur und somit etwas natürliches. Dies bezieht sich jedoch nicht nur auf den physischen Zustand des einzelnen Menschen, sondern ist Teil eines komplexen Systems, in dem der Mensch eingebunden ist – ein in seiner Gesamtheit harmonisches Geflecht von Natur, Gesellschaft und höheren Mächten. Kranksein stellt hier eine Störung dieser Harmonie dar. Während die biomedizinische, wissenschaftliche Krankheitslehre auf der Betrachtung und Analyse von Symptomen einer Krankheit fundiert ist, konzentrieren sich die meisten volksmedizinischen Krankheitskonzepte vor allem auf die krankheitsverursachenden Faktoren[29].

Jede Gesellschaft hat bevorzugte Verursachungsmodelle, nach denen sie alles Geschehen in der Welt interpretiert – das sogenannte Weltbild. Diesem entsprechend deutet sie auch Krankheit. Das Lexikon Medizin Ethik Recht unterscheidet zwei Haupttypen von Ätiologien[30]: die personalistische und die naturalistische Ätiologie[31].

„Ein personalistisches System sieht jedes Geschehen als Wirkung eines handelnden Wesens, etwa einer Gottheit, eines Dämons oder eines Ahnen. Krankheit kann – bei traditionellen Stammeskulturen wie auch bei hochzivilisierten Völkern – im Kontext sozialer Spannungen als Entfremdung von der Gemeinschaft, im Kontext schuldhaften Gesetzesbruchs als Strafe oder im Kontext göttlicher Ordnung als Sünde gesehen werden. Das Verhalten des Patienten und der heilkundliche Eingriff haben dann das Ziel, Schicksalsmächte umzustimmen, Schuld zu sühnen, Ordnung wiederherzustellen usw.“ (Effelsberg/ Illhardt, Lexikon Medizin, Ethik Recht, Sp. 661)

Naturalistische Konzepte verstehen alle Ereignisse und Zustände als Ergebnis eines Wechselspiels natürlicher Kräfte.“ (Effelsberg/ Illhardt, Lexikon Medizin, Ethik Recht, Sp. 661)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

So wird Krankheit im naturalistischen Konzept unseres kulturellen Systems beispielsweise als Folge genetischer Schäden oder einer Schwächung des Immunsystems, hervorgerufen durch Bakterien, Viren oder ähnlichem erklärt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Erklärungskonzepte für die Verursachung von Krankheit

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Anja Zimmermann; in Anlehnung an vorangegangene und nachfolgende Ausführungen

Verschiedene Konzepte können jedoch durchaus kombiniert, unabhängig nebeneinander oder in hierarchischem Verhältnis zueinander existieren. So kann z.B. auch in der westlichen Kultur, in der alle Krankheitsursachen von medizinischer Seite naturwissenschaftlich erklärt werden, eine Krankheit als Folge persönlichen Fehlverhaltens angesehen werden. Genauso kann ein Kranker sich bewußt sein, daß das Medikament, welches er einnimmt, die Viren in seinem Körper bekämpft, während er jedoch gleichzeitig der Meinung ist, daß die Krankheit durch einen Schadenszauber seines mißgünstigen Schwagers hervorgerufen wurde.

Sowohl bei den personalistischen als auch bei den naturalistischen Konzepten müssen weitere Unterteilungen vorgenommen werden (s. Abb.1). So unterscheiden Völker, die Erkrankungen im personalistischen Sinne erklären, häufig zwischen natürlichen und unnatürlichen Ursachen. Darauf soll im folgenden Kapitel eingegangen werden.

Neben dem Erklärungskonzept im biomedizinischen Sinne (s.o.), welches als naturalistisches Konzept gilt, existiert ein weiteres Konzept, das in einer Weltanschauung verankert ist, welche oftmals als parawissenschaftliches Weltbild bezeichnet wird[32]. Diese Anschauung folgt einer Ordnung, die nach bestimmten kosmischen Gesetzen, Regeln und Kräften funktioniert. Sie geht von einem allumfassenden Gleichgewicht aus, dessen Störung Erkrankung hervorruft. Man findet dies beispielsweise in indischen oder chinesischen Philosophien und bei einigen alt-indianischen Hochkulturen wie den Mayas im heutigen Süd-Ost-Mexiko und Guatemala.

1.2.3. Unterscheidung

Die Vorstellungen über das, was Krankheit hervorruft bzw. heilt, werden wie oben beschrieben entscheidend vom sozialen Umfeld und dessen Weltbild beeinflußt, aber auch von der Erreichbarkeit der medizinischen Institutionen und vom empfundenen Heilerfolg. So wird je nach dem einmal das biomedizinische, in einem anderen Fall ein eher volkmedizinisch orientiertes Erklärungskonzept zu Rate gezogen.

Da bis auf wenige Ausnahmen (s.u.) der formelle Sektor der medizinischen Versorgung in den meisten Ländern durch die Biomedizin abgedeckt wird, stehen alle anderen medizinischen Konzepte unter der Überschrift Volksmedizin (=informeller Sektor). Auf der Grundlage des Vorangegangenen sind das alle Systeme, welche Krankheiten personalistisch erklären, sowie Systeme, bei denen Krankheit durch eine Gleichgewichtstörung entsprechender Elemente hervorgerufen wird. Es soll daher im Folgenden unterschieden werden zwischen magisch-religiös fundierten und parawissenschaftlichen Medizinsystemen.

1.2.3.1. Auf magisch-religiösen Vorstellungen basierende Medizinsysteme

In Kulturen mit animistischen Weltbild[33], wie z.B. in zahlreichen afrikanischen und lateinamerikanischen Kulturen, wird Krankheit laut BICHMANN als etwas gesehen, das von außen auf das Individuum wirkende Kräfte verursachen. Eine Erkrankung wird als totale Befindlichkeit erlebt, die Trennung von Körper und Seele, wie sie in unserer Kultur existiert, gibt es nicht. Erkrankungsursachen können natürlichen Ursprungs, vermittelt durch Ahnen und Geister oder durch göttlichen Einfluß entstanden sein oder sie sind unnatürlichen Ursprungs, durch übelwollende Menschen verursacht. So ist die Frage wodurch, aber noch nicht die Frage warum eine Krankheit aufgetreten ist, beantwortet. Daher kommt der Diagnostik hier eine ganz besondere Bedeutung zu, denn sie soll genau das herausfinden. In der afrikanischen Medizin beispielsweise hat das soziosomatischen Konzept ein besonderes Gewicht, da die soziale Umwelt neben den lebenden Mitgliedern des Umfelds auch die Toten, die Ahnen umfaßt[34]. Eine Krankheit kann demzufolge verursacht werden durch einen Konflikt mit einem lebenden Verwandten oder durch die Verletzung/Verärgerung eines Ahnen z.B. durch Abweichungen vom Verhaltenskodex, wobei ersteres unter die Kategorie unnatürliche Krankheitsursache fällt und letzteres als natürliche Ursache gilt.

Beispiel[35]:

Eine häufig in Lateinamerika auftretende Erkrankung ist Susto. Übersetzt heißt das „Schreck“ und bezeichnet im eigentlichen Sinne nicht die Erkrankung sondern deren Ursache. Susto kann durch Naturgewalten wie Blitz, Donner, Feuer, durch ein wildes Tier, einen furchteinflößenden Ort, Visionen im Schlaf oder ähnliches ausgelöst werden. Vor allem Kinder sind davon betroffen. Durch den starken Schreck verliert der Betreffenden eine seiner Seelen und erkrankt. Häufig auftretende Symptome sind dabei starke Kopfschmerzen, Fieber, Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Übelkeit, Appetitlosigkeit und andere. Die betroffene Person bleibt so lange krank, bis sich der Körper erneut mit der Seele vereinigt hat. Je nach Schwere der Erkrankung ist nun eine mehr oder weniger umfangreiche Therapie nötig. Normalerweise wird zunächst ein Reinigungsritual mit Heilkräutern und Gebeten durchgeführt. Des weiteren muß durch Befragung des Patienten und einer Art Orakel herausgefunden werden, wodurch der Susto ausgelöst wurde und wo die Seele des Kranken gefangen gehalten wird. Im zweiten Teil der Behandlung wird in einer sogenannten llamada die Seele des Kranken zurückgeholt. Dazu geht der Heiler mit einigen Helfern und eventuell auch der Erkrankte an den Ort, an dem die Seele gefangen gehalten wird. Dabei werden einige Opfergaben mitgenommen, wie Mais, Zucker und meist auch ein Huhn, welche an dem Ort dargebracht werden. Nun wird die Seele des Kranken herausgefordert, die sich wieder mit dem Körper des Kranken vereinigen soll, damit dieser gesund werden kann.

Das Beispiel zeigt die Wichtigkeit der Diagnostik, denn ohne die Klärung, wie und wo der Schreck ausgelöst wurde, kann die Behandlung nicht erfolgen.

Auch in der ländlichen Türkei basieren volksmedizinische Krankheits- und Körperkonzepte vornehmlich auf Glauben und Magie. Häufige Ursachen einer Erkrankung sind nach OSTERMANN der sogenannte böse Blick nazar oder Zauberei büyü. Nazar entsteht aufgrund von Neid und Eifersucht und trifft einen Menschen normalerweise in Verbindung mit Äußerungen, die seine Schönheit, Jugend oder seinen Erfolg und Reichtum betreffen. Ein Symptom für ihn sind plötzlich auftretende Kopfschmerzen und Übelkeit. Neben Erkältungen und leichten Erkrankungen kann nazar auch schwere Erkrankungen hervorrufen, die bis zum Tod führen. Eine besonders starke Kraft soll von Menschen mit blauen Augen und hellen Haaren ausgehen. Es ist möglich, sich durch das Tragen von Amuletten vor dem bösen Blick zu schützen. Ein sehr wirksamer Schutz ist ein muska, ein mit Koransuren beschriebenes Amulett, das in der Kleidung oder um den Hals getragen wird. Goldmünzen oder weiß-blaue Steine schützen ebenfalls. Die Amulette sollen die Kraft des bösen Blicks auf sich und damit von seinem Träger ablenken[36].

Krankheit wird auch gelegentlich auf ein Säfteungleichgewicht (in Anlehnung an die Humoralpathologie; s.u.) zurückgeführt. Generell ist eine Erkrankung in Systemen mit magisch-religiös fundierten Ansichten etwas, daß von außen kommt und nicht im Körper selbst entsteht, was den Kranken von jeglicher Mitverantwortung für seinen Krankheitszustand befreit[37].

1.2.3.2. Parawissenschaftliche Medizinsysteme

Parawissenschaftliche Medizinsysteme basieren auf der Annahme eines allumfassenden Gleichgewichts von gewissen Elementen, aus denen die Welt, das Leben und auch der Mensch besteht. So ist zum Beispiel Ayurveda die Grundlage allen medizinischen Wissens in Indien[38]. Es bedeutet „Lehre vom langen Leben“. Nach einer Beschreibung von PFLEIDERER geht die Lehre des Ayurveda davon aus, daß der menschliche Körper aus drei Grundelementen besteht – Wind (vata oder vayu), Galle (pitta) und Schleim (karpha). Herrscht Harmonie zwischen diesen Elementen ist der Körper gesund. Verschiedene Faktoren nehmen nun auf dieses Gleichgewicht Einfluß, etwa die vier Himmelsrichtungen. So sind aus dem Osten wohltuende Kräfte zu erwarten – ein Grund weshalb sich der Mensch nach Osten öffnen, beispielweise seinen Hauseingang Richtung Osten haben soll. Weitere Faktoren sind die Richtungsachsen des Körpers und der Rhythmus der sechs Jahreszeiten. So besitzt jede Jahreszeit eine charakteristische Kombination von Zeichen, Aromen und Eigenschaften, denen der Einzelne seine Lebensgewohnheiten anpassen, etwa seine Ernährung umstellen muß. Die hinduistische Küche ist demzufolge den Jahreszeiten angepaßt[39].

Eine weitere Harmonielehre ist das Warm-Kalt-System, welches in vielen Teilen der Welt, besonders aber in Lateinamerika anzutreffen ist. Dieses System wurde lange Zeit als eine vereinfachte Version der Humoralpathologie[40] angesehen und auf den kolonialistischen Einfluß Europas in Mittel- und Südamerika zurückgeführt. Laut Beobachtungen diverser Forscher[41] lautete die Theorie: es gibt warme und kalte Krankheiten, die mit jeweils kalten und warmen Medikamenten, vorzugsweise Kräutern behandelt werden müssen. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich das Ganze jedoch als hochkomplexes System von Wechselwirkungen, die weit über die einfache Logik „warme Krankheit – kaltes Kraut“ hinausgehen. So ist beispielsweise der Körper eingeteilt in warme und kalte Zonen. Des weiteren unterscheidet man Erkrankungen nach warm und kalt, entweder nach ihrem Erscheinungsbild oder nach ihrem Übermittler. Dementsprechend sind z.B. Hitzepocken entgegen aller Vermutungen eine kalte Krankheit, da sie durch die Fledermaus – ein als kalt klassifiziertes Tier – übertragen werden. Die Heilpflanzen wiederum besitzen warme oder kalte Eigenschaften je nach Verarbeitungszustand. So können Pflanzen zuerst kalte, nach dem Kochen jedoch warme Eigenschaften besitzen. Auch Nahrung wird eingeteilt in warme und kalte Speisen (was nicht unbedingt mit ihrer Temperatur zusammenhängen muß), zwischen denen möglichst ein Gleichgewicht gehalten werden sollte, um die Gesundheit zu erhalten[42].

1.2.4. Der Umgang mit Krankheit in fremdkulturellen Medizinsystemen

„Der Patient steht in der traditionellen Medizin weniger als leidendes Individuum im Blick, er ist vielmehr Opfer eines schicksalhaften Geschehens, das über ihn hinausweist und daher alle angeht.“ (Effelsberg/Illhardt)[43]

An diesem Zitat wird einerseits die Sicht auf den Menschen als Teil seiner Umwelt, quasi als kleiner Teil des Universums und des Zusammenspiels höherer Mächte deutlich. Es deutet sich jedoch auch an, daß das soziale Umfeld des Kranken bei dieser Sichtweise eine wesentlich größere Rolle spielen muß, als wir das von der westlichen Medizin her kennen. Die Therapie einer Erkrankung ist in anderen Kulturen oft in einen Gruppenprozeß integriert, etwa einem Ritual mit der Beteiligung vieler Angehöriger, das auch ökonomisch sehr aufwendig sein kann[44].

Eine nähere Analyse des Beziehungsgeflechtes Arzt – Kranker – soziales Umfeld erfolgt in Abschnitt 1.3.

Wie mit Krankheit umgegangen wird und welches Krankheitskonzept wann Geltung hat, hängt, wie oben gesagt, zum entscheidenden Teil auch mit der gesundheitlichen Versorgung der jeweiligen Landes zusammen. Tatsache ist, daß die Nutzung der volksmedizinischen Heilinstanzen mit der Armut der Menschen in der entsprechenden Region korreliert[45].

In zahlreichen Ländern, so auch in der Türkei existiert ein starkes Stadt-Land-Gefälle. Es gibt ein Krankenversicherungssystem; jedoch nur Menschen mit einem festen Arbeitsvertrag sind in ihm erfaßt. Aufgrund dessen sind in der Türkei nur etwa 20-25% der Menschen krankenversichert[46].

Die fehlende Krankenversicherung und die Armut bei der ländlichen Bevölkerung, eine unzureichende Zahl von Ärzten und fehlende Krankenhäuser bilden in der Summe schlechte Voraussetzungen für eine gute Gesundheit. Folgen der unzureichenden Krankenversorgung sind z.B. eine hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit sowie eine hohe Anzahl an Fehlgeburten und Abtreibungen. Viele Krankheiten können nicht rechtzeitig erkannt und behandelt werden aufgrund der geringen Möglichkeiten zu Vorsorgeuntersuchungen. Krankenhäuser gibt es lediglich in den Städten und die wenigen Krankenstationen auf dem Land können den Bedarf nicht bewältigen. So sind die Menschen in Krankheitsfällen und bei Geburten meist auf Selbsthilfe angewiesen, wobei volkmedizinisches Wissen eine entscheidende Rolle spielt[47].

Es existiert in der Türkei dementsprechend ein formeller Sektor der medizinischen Versorgung, welcher Dienste der modernen Medizin beinhaltet, sowie ein informeller, volksmedizinischer Sektor. Beide können durchaus nebeneinander bestehen und werden je nach Art der Erkrankung unterschiedlich beansprucht[48].

Der informelle Sektor umfaßt verschiedene Typen von Heilern und Heilinstanzen. Zu nennen wären hier der Hoca[49] – Volksheiler und Religionsvertreter des Islam, Knochenheiler für Brüche, Verrenkungen und Verspannungen, traditionelle Hebammen für Frauenleiden, Schwangerschaft und Geburt sowie einige andere. Des weiteren nimmt auch hier die Pflanzenmedizin eine herausragende Position ein. Wie in den meisten traditionellen Medizinsystemen gibt es hier auf der einen Seite spezielle Pflanzenkundige, die sogenannten Herbalisten, auf der anderen Seite ist sie Teil der Hausmedizin und ihre Nutzung durch erfahrene Frauen ist in den Alltag sehr integriert[50].

Neben dem Arzt und den verschiedenen Typen von Volksheilern spielen Apotheken in der Gesundheitsversorgung eine bedeutende Rolle. Diese sind in recht großer Zahl vorhanden und man kann dort Medikamente wie Antibiotika auch ohne Rezept erwerben.

Bei dem Umgang mit einer Erkrankung spielen außerdem Wallfahrtsstätten eine wichtige Rolle. Wallfahrtsstätten sind heilige Orte, zum Teil Grabstätten von heiligen Personen oder außergewöhnlichen Heilern, oft sind es auch Heilquellen, Bäume oder ähnliches. Kranke Menschen fahren zu diesen Stätten, um gesund zu werden. Sie schlafen an diesen Plätzen, trinken das heilige Wasser oder nehmen etwas Erde mit. Während einige Wallfahrtsstätte gegen alle Krankheiten aufgesucht werden, sind andere bekannt für bestimmte Krankheiten, z.B. Augenkrankheiten, Lähmung, Kinderlosigkeit etc.[51]

Wann und in welchem Maße wird der informelle, volksmedizinische Sektor nun in Anspruch genommen? Laut OSTERMANN spielen bei der Auswahl aus den diversen Heilinstanzen zunächst erst einmal das Erklärungsmodell für die Erkrankung und dann das soziale Umfeld, die Erreichbarkeit der entsprechenden Heilinstanzen sowie der empfundene Heilerfolg eine entscheidende Rolle. Sowohl das Erklärungsmodell als auch die Auswahl der Heilinstanz sind nicht statisch sondern variieren von Fall zu Fall. Oft werden Volksmedizin und biomedizinische Angebote parallel beansprucht[52]. Laut einer Studie von KOEN mit einer Befragung von in Istanbul lebenden, ursprünglich meist ostanatolischen Frauen hatten nahezu alle schon einmal von einer volksmedizinischen Heilinstanz Gebrauch gemacht[53].

Bei schweren, akuten Erkrankungen, die mit starken Schmerzen einhergehen, wird oftmals, bzw. wenn dies möglich ist, ein niedergelassener Arzt konsultiert. Der Volksheiler wird vorrangig aufgesucht bei chronischen Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Rheuma, Hauterkrankungen, Rückenschmerzen, Melancholie, Angstzuständen oder Krankheiten, bei denen die westliche Medizin keine sichtbaren Erfolge gebracht hat. Des weiteren werden Volksheiler aufgesucht bei Erkrankungen oder in Bereichen, welche teilweise oder größtenteils mit magisch-religiösen Vorstellungen verbunden sind. Das sind beispielsweise Lähmungen und sonstige körperliche und geistige Behinderungen, Epilepsie bzw. auch Kinderlosigkeit und Fehlgeburten[54].

1.2.5. Kulturspezifische Erkrankungen

Wie oben bereits angesprochen existieren zwischen verschiedenen Kulturen und ihren medizinischen Systemen teilweise erhebliche Unterschiede in der Auffassung, welche Zustände denn nun als gesund und welche als krank anzusehen sind bzw. daß der Mensch kulturbedingt lernt, durch bestimmte Symptome seine Krankheit sichtbar zu machen. So ist es beispielsweise möglich, daß es in anderen Kulturen Krankheiten gibt, die wir nicht kennen bzw. die bei uns nicht in dieser Form auftreten. Diese Krankheiten nennt man kulturspezifische Syndrome. Es wird angenommen, daß die Vorstellung von den Ursachen dieser bestimmten Erkrankungen in zentralen Bedeutungsfeldern und Verhaltensnormen einer Gesellschaft fußt, die Diagnose einer Erkrankung auf der kulturspezifischen Technologie und Ideologie basiert und die Therapie nur durch Teilnehmer gleicher Kultur erfolgreich durchgeführt werden kann[55].

Anfänglich ordneten die ethnomedizinischen Forscher alles Exotische, was ihnen mit der Biomedizin ätiologisch und symptomatisch unerklärlich war, in diese Kategorie ein. Die kritische Auseinandersetzung mit den fremdkulturellen Systemen führte jedoch letztlich zur Entdeckung der kulturellen Bindung von Krankheit und Kultur. Es wurde entdeckt, daß nicht nur fremde Kulturen, sondern auch unsere eigene solche kulturspezifischen Syndrome aufweisen[56]. So wird man beispielweise in vielen anderen Kulturen vergeblich nach Bulimie oder dem prämenstruellen Syndrom suchen.

Gegenwärtig wird sogar stellenweise davon ausgegangen, daß nicht nur bestimmte, sondern alle Krankheiten grundsätzlich an Kultur gebunden sind[57], was an die Theorie von PRINZ (s.o.) anknüpft.

Beispiele für kulturspezifische Syndrome:

Amok ist ein plötzlicher Ausbruch von kaum zu beherrschender Gewalt auf alles und jeden, dem der Amokläufer begegnet[58]. Dieses Syndrom betrifft normalerweise Männer. Dem explosionsartigen Ausbruch gehen häufig Tage des stillen Brütens vorweg. Während des Ausbruchs zerstört der Amokläufer alles, was ihm im Wege steht und er tötet oft zahlreiche Menschen ohne ein Motiv zu haben. Meist behauptet der Täter im Nachhinein sich an nichts erinnern zu können. Amok wurde zuerst in Malaysia beobachtet. Es ist jedoch nicht im strengen Sinne an eine bestimmte Kultur gebunden, obgleich es in einigen Kulturen viel öfter aufzutreten scheint und in andern wiederum gar nicht[59].

Tigpiru ist eine Erkrankung, die bei den Bariba in Bénin auftritt. Die Schulmedizin kennt hierzu kein Äquivalent. Es handelt sich um die Vorstellung einer Masse im Unterbauch, welche rot und von der Größe eines Hühnereis ist. Sie verursacht Bauch- und Rückenschmerzen und kann aus Anus oder Vagina hervortreten. Sie betrifft sowohl Männer als auch Frauen und erfordert eine Behandlung im traditionellen Medizinsystem der Bariba[60].

Albasti ist eine Krankheit in der Türkei, welche Frauen im Wochenbett bzw. in den ersten 40 Tagen nach der Geburt treffen kann. Sie wird durch einen bösen Geist namens Alkarisi verursacht, der sich in Form einer alten häßlichen Frau zeigt, die eine Leber in der Hand hält und oft auf einem weißen Schimmel reitet. Die befallenen Frauen verlieren das Bewußtsein, halluzinieren, hören Stimmen von Toten. Sie klagen über eine Enge im Inneren, haben Alpträume, hohes Fieber und rote Flecken am Körper. Wöchnerinnen können Albasti vor allem vorbeugen durch das Tragen von Amuletten oder indem sie Plätze und Situationen meiden, wo Alkarisi sie befallen könnte. Tritt die Erkrankung doch einmal auf, kann sie von bestimmten, für Albasti zuständigen Heilern durch Rituale therapiert werden[61].

Das bekannteste, meistdiskutierte kulturspezifische Syndrom ist sicherlich Susto, welches bereits im Abschnitt 1.2.3.1. beschrieben wurde. Am Beispiel von Susto wird immer wieder gestritten, ob kulturspezifische Syndrome tatsächlich existieren und auf was sie zurückzuführen sind. Entgegen der obengenannten Erklärung dessen, was kulturspezifische Syndrome sind, gehen etliche Autoren davon aus, daß diese Erkrankungen gleichzusetzen seien mit bestimmten hierzulande bekannten Erkrankungen, deren Entstehung dort nur anders erklärt wird (z.B. durch übernatürliche Einwirkung). Daraufhin versuchen sie, diese anhand der gesellschaftlichen Strukturen oder ähnlichem zu erklären. So sieht beispielsweise ABLASSMEIER die Verursachung von Susto in der aggressionsgehemmten mexikanischen Kultur und deren Erziehungsstil und setzt diese Erkrankung mit einer ängstlich gefärbten Depression auf der Grundlage einer depressiven Persönlichkeitsstruktur gleich[62]. Dem ähnlich geht KIEV davon aus, daß Aggressionen gegenüber nahen Verwandten, die laut mexikanischen Normen unterdrückt werden müssen, so auf seelenraubende Geister projiziert werden, was sich dann in Form der Erkrankung Susto äußert. Susto sei demnach jedoch nur eine atypische Variation einer allgemeinbekannten psychogenen Erkrankung[63].

Sämtliche Standpunkte hier ausführlicher darzustellen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Einige gegensätzliche Standpunkte findet man bei den genannten Autoren und anderen.

[...]


[1] Vgl. Prinz 1984, S.37.

[2] Vgl. Pschyrembel 2000, Stichwort Ethnomedizin.

[3] Vgl. Effelsberg/Illhardt 1992, S. 659ff.

[4] Drobec, Ackerknecht, Sterly, Schievenhöfel u.a. – ein Überblick über diese älteren Definitionen gibt Prinz 1984, S. 38.

[5] Den Anfang machten in den achtziger Jahren Wright und Treacher (1982), später beispielsweise bei Prinz 1984; Greifeld 1995a u.a.

[6] z.B. Greifeld, Pfleiderer, Bichmann, Prinz, van Quekelberghe u.a.

[7] Im deutschsprachigen Raum ist hier vor allem die Fachzeitschrift curare zu nennen, welche von der Arbeitsgemeinschaft für Ethnomedizin in Heidelberg herausgegeben wird. Wichtige Autoren sind Beatrix Pfleiderer, Katharina Greifeld, Wulf Schievenhöfel, Wolfgang Bichmann, Christiane Gottschalk-Batschkus, Thomas Hausschild, Dorothea Sich u.a. Internationale Fachzeitschriften: Social Science & Medicine; Culture, Medicine & Psychiatry; Medical Anthropology; Autoren: Fabrega, H. Jr.; Foster, G.M.; Janzen, J.M. u.a.

[8] Vgl. Pfleiderer, S. 19f.

[9] Vgl. Effelsberg/Illhardt 1992, Sp. 659ff.

[10] Vgl. Bichmann 1995b, S.151f.

[11] Vgl. Bichmann 1995a, S.53.

[12] Vgl. Effelsberg/Illhardt 1992, Sp. 659ff.

[13] Vgl. Prinz 1992, S.377ff.

[14] Auf die Biomedizin wird im Anhang noch einmal ausführlich eingegangen.

[15] Ein umfangreicher Vergleich anatomischer Vorstellungen und Krankheitsauffassungen verschiedener Kulturen findet sich im Schwerpunktheft „Kognition, Krankheit und Kultur“ der Fachzeitschrift curare (19/1996).

[16] Vgl. Pfleiderer 1995a, S. 13.

[17] Vgl. Effelsberg/Illhardt 1992, Sp. 659ff.

[18] Das stimmt mit den Erfahrungen der Psychoanalyse überein, daß Krankheit für die individuelle Lebensgeschichte einen „Sinn“ haben und Ausdruck unbewußter psychischer Konflikte und sozialer Spannungen sein kann.

[19] Vgl. Prinz, S.39f.

[20] Siehe Krankheit als Ausstieg aus der sozialen Rolle und den an sie gerichteten Erwartungen von Parson. Vgl. dazu Pfleiderer 1995a, S.77.

[21] ebd. S.40

[22] Dies wird deutlich in zahlreichen vergleichenden Publikationen, beispielsweise bei Pfleiderer/Greifeld/Bichmann, welche in ihrem Grundlagenbuch „Ritual und Heilung“ afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Medizinsysteme vergleichen.

[23] Vgl. Greifeld 1995a, S.16.

[24] Dies geschieht aus taktischen Gründen, da sich das zweite Kapitel mit Migranten in Deutschland und ihren Problemen im deutschen Gesundheitssystem befaßt. Bei den türkischen Einwanderern handelt es sich mit über zwei Millionen (=28%) um die größte in Deutschland lebende Migrantengruppe, deshalb wird die nähere Betrachtung gerade dieser Gruppe für sinnvoll erachtet.

[25] Vgl. Greifeld 1995a, S.21.

[26] Vgl. dazu Greifeld 1995a, S.20; Duden 1991; Erdheim 1993.

[27] Vgl. Pschyrembel 2000, Stichwort Kranksein.

[28] Vgl. Schweitzer de Palacios, S.51.

[29] ebd.

[30] Lehren von den Krankheitsursachen, Vorstellungen über die Herkunft und Ursache von Erkrankung

[31] In der Literatur lassen sich noch andere Einteilungen finden z.B. eine Dreiteilung bei Hinderling auf der Grundlage eines wissenschaftlichen, parawissenschaftlichen bzw. magisch-religösen Weltbildes. Hinderling nimmt hierbei eine Einteilung von Kulturgruppen in empirisch-logische, traditionale und primitive Gruppen vor und ordnet diesen die genannten Weltanschauungen zu, nach denen in den entsprechenden Kulturgruppen Krankheit erklärt wird. Seine Einteilung der Kulturgruppen mit den jeweiligen Begrifflichkeiten kann man jedoch anthropologisch gesehen getrost als veraltet betrachten. Ein weiteres Modell wäre die Einteilung von Ostermann in technisch-biologisches und religiös-fundiertes Erklärungsmodell, welches jedoch m.E. wichtige Aspekte völlig außer Acht läßt (vgl. Ostermann 1991, S.72f.). Als drittes und letztes wäre hier noch zu nennen, weil viel zitiert und kritisiert, eine an die Schulmedizin angelehnte Einteilung von Kleinman, welche neben Vorstellungen über die Ätiologie, d.h. den Vorstellungen über die Ursache und Herkunft von Erkrankung, auch pathophysiologische Kenntnisse und Vorstellungen sowie die Wahrnehmung des Krankheitsverlaufs mit einbezieht (vgl. Kleinman 1981, S.105). Dieses Modell wird von Ethnomedizinern oftmals kritisiert (z.B. Greifeld 1995, S.12), weil es sich zu sehr auf die soziokulturelle Konstruktion von Erkrankung des Individuums anstatt gesamter Kulturgruppen bezieht. Außerdem ist es aufgrund seiner großen Differenziertheit für diese Arbeit ungeeignet, die lediglich einen Überblick über Konzepte von Krankheitsverursachungen geben will.

[32] z.B. bei Hinderling 1981, S. 115ff.

[33] Das animistische Weltbild beruht auf dem Glauben an Gottheiten und Ahnen, die das Leben beeinflussen.

[34] Vgl. Bichmann 1995, S.36f.

[35] Die Erkrankung Susto variiert ein wenig von Region zu Region in ihren Symptomen und im Therapieverlauf. Im Großen und Ganzen ähneln sich jedoch die Beschreibungen der Autoren. Das Beispiel wurde zusammengestellt auf Grundlage der Beschreibungen von Greifeld (1995b), Hartmann (1997) und Hollweg (1997).

[36] Vgl. Ostermann, S.87f.

[37] Vgl. Grottian 1991, S.155 und 157.

[38] Das ayurvedische System zählt in Indien zum offiziellen Sektor der medizinischen Versorgung.

[39] Vgl. Pfleiderer, S.83ff.

[40] Säftelehre nach der alle Krankheiten auf die fehlerhafte Zusammensetzung der vier Körpersäfte Blut, Galle, Schleim und schwarze Galle zurückzuführen sind. Die klassische griechisch-römische Säftelehre wurde vor 2500 Jahren entwickelt und fand große Verbreitung in ganz Europa und Nordafrika (Vgl. Ackerknecht 1984). Obgleich die Säftelehre heute längst überholt ist, findet man immer noch Fragmente davon in unserem täglichen Leben, beispielsweise ist manchmal die Rede von den vier Temperamenten Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker und Melankoliker, was darauf zurückzuführen ist.

[41] beispielsweise Ackerknecht 1984

[42] nach einer Beschreibung von Greifeld 1995b, S.120f.

[43] Vgl. Lexikon Medizin Ethik Recht 1992, Stichwort Kultur und Medizin; Sp. 659-666.

[44] ebd.

[45] In vielen Ländern existiert ein starkes Stadt-Land-Gefälle in der Entwicklung. In reicheren städtischen Gegenden ist normalerweise eine höhere Dichte und damit bessere Erreichbarkeit von naturwissenschaftlich-medizinischen Institutionen zu verzeichnen. Dies beobachtete beispielsweise auch Leyer (1991) für die Türkei. Laut einer Umfrage von Koen (1986) nutzen türkische Frauen, welche schon seit ihrer Kindheit in der Großstadt leben signifikant seltener volksmedizinische Heilinstanzen als Frauen, die auf dem Land leben.

[46] Vgl. Koen 1986, S. 130, sowie Ostermann.

[47] Vgl. Ostermann 1990, S.28.

[48] Vgl. ebd., S.29f.

[49] Auf den Hoca wird im Abschnitt Heilerpersönlichkeiten noch einmal ausführlicher eingegangen.

[50] Vgl. Koen 1989, S. 130f., sowie Ostermann 1990, S. 31ff.

[51] Vgl. Koen 1989, S. 131, auch sehr ausführlich in Koen 1988, S. 68-98.

[52] Vgl. Ostermann 1990, S. 33.

[53] Vgl. Koen 1989, S.132.

[54] ebd., S. 133.

[55] Vgl. Pschyrembel 2000; Stichwort Kulturspezifische Syndrome, Rubel 1964, Greifeld 1995b, S. 116ff.

[56] Vgl. Hörbst 1997, S.29.

[57] Vgl. Pschyrembel 2000, Stichwort Kulturspezifische Syndrome.

[58] ebd.

[59] Vgl. Burton-Bradley 1989, S.177ff.

[60] Vgl. Bichmann 1995, S.35.

[61] Vgl. Koen 1988, S. 61.

[62] Vgl. Ablaßmeier 1992, S.159ff.

[63] Vgl. Kiev 1972, S.66.

Ende der Leseprobe aus 131 Seiten

Details

Titel
Umgang mit Krankheit in fremden Kulturen
Untertitel
Kulturelle Aspekte zur gesundheitlichen Situation und Betreuung von Migranten
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Pädagogik)
Note
1
Autor
Jahr
2003
Seiten
131
Katalognummer
V23037
ISBN (eBook)
9783638262415
ISBN (Buch)
9783638701563
Dateigröße
1126 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Umgang, Krankheit, Kulturen, Einfluss, Aspekte, Situation, Betreuung, Migranten
Arbeit zitieren
Anja Zimmermann (Autor:in), 2003, Umgang mit Krankheit in fremden Kulturen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23037

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