Der Fall Sarrazin

Eine diskursanalytische Untersuchung


Diplomarbeit, 2012

99 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Sarrazins Beitrag zur Integrationsdebatte
1.1 Aufschrei in der deutschen Medienlandschaft
1.2 Kontext der Debatte
1.2.1 Deutsche Migrationsgeschichte
1.2.2 Darstellung von Migranten
1.2.3 Auswirkungen Sarrazins Beitrages

2. Auswirkungen Sarrazins Beitrages auf den Inhalt der Debatte
2.1 Wissenssoziologische Diskursanalyse
2.1.1 Wissenssoziologie
2.1.2 Diskursanalyse
2.2 Inhalt der Debatte
2.2.1 Argumentationsmuster und Positionen
2.2.2 Auswirkungen Sarrazins Beitrages

3. Auswirkungen Sarrazins Beitrages auf die Form der Debatte
3.1 Modell des idealen Diskurses
3.2 Form der Debatte
3.2.1 Dramatisierungsbilder
3.2.2 Auswirkungen Sarrazins Beitrages

4. Konflikt statt Konsens

Literatur- und Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Thematische Ebenen und Hauptpositionen der Integrationsdebatte

Abbildung 2: Thematische Ebenen, Hauptpositionen und Argumentationsmuster der Integrationsdebatte

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Anteil der Artikel eines Themas/einer Position an der Gesamtzahl der Artikel

Tabelle 2: Anteil der Artikel eines Argumentationsmusters im Verhältnis zur Gesamtzahl der Artikel - Zuwanderungseinschränkung

Tabelle 3: Anteil der Artikel eines Argumentationsmusters im Verhältnis zur Gesamtzahl der Artikel - Zuwanderungsförderung

Tabelle 4: Anteil der Artikel eines Argumentationsmusters im Verhältnis zur Gesamtzahl der Artikel - "Leitkultur"

Tabelle 5: Anteil der Artikel eines Argumentationsmusters im Verhältnis zur Gesamtzahl der Artikel - "Willkommenskultur"

Tabelle 6: Anteil der Artikel eines Argumentationsmusters im Verhältnis zur Gesamtzahl der Artikel - freier Diskurs

Tabelle 7: Anteil der Artikel eines Argumentationsmusters im Verhältnis zur Gesamtzahl der Artikel - geregelter Diskurs

Tabelle 8: Dramatisierungsbilder der verschiedenen Positionen

Tabelle 9: Anteil der Artikel mit Dramatisierung im Verhältnis zur Gesamtzahl der Artikel

1. Sarrazins Beitrag zur Integrationsdebatte

1.1 Aufschrei in der deutschen Medienlandschaft

Ende 2010 kommt es zu einem entsetzten Aufschrei in der deutschen Medienlandschaft als der Bundesbankvortand Thilo Sarrazin seine Meinung zu Migranten in Deutschland in überdeutliche Worte fasst:

"Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert." (Berberich 2009: 200)

Am 30.08.2010 erscheint sein Buch „Deutschland schafft sich ab“, das muslimische Migranten als die Hauptursache deutscher Integrationsprobleme identifiziert. Schon im Oktober übersteigt das Buch des Bundesbankvorstands eine Auflage von 1,3 Millionen und erreicht innerhalb eines Vierteljahres die höchste Sachbuchauflage seit 1945 (Bade 2012: 119). Die deutschen Eliten verurteilen Sarrazin scharf für seine Worte, durch die sie die deutsche Integrationspolitik bedroht sehen. Der Migrationswissenschaftler Klaus J. Bade befürchtet fremdenfeindliche Demagogie und integrationspanische Strömungen, der Demographie-forscher Reiner Klingholz sieht Sarrazin die Gesellschaft in zwei unversöhnliche Lager aufspalten und Angela Merkel drückt ihre Geringschätzung durch die Bezeichnung des Werkes als „nicht hilfreich“ aus.

Die lautstarke Verurteilung Sarrazins zeigt die Angst vor seinem Einfluss auf die öffentliche Meinung zu Integration und Migration. Man befürchtet, dass Fremden- und Migrationsfeindlichkeit geschürt und ein friedliches Miteinander von Einwanderern und Einheimischen gefährdet wird. Doch welche Veränderungen bringen Sarrazins überspitzte Thesen wirklich mit sich? Kann sich die öffentliche Meinung aufgrund eines einzelnen Provokateurs derart umformen? Verändert sich die mediale Darstellung von Migranten in Deutschland nach der Veröffentlichung von „Deutschland schafft sich ab“ (I)? Ist nach Sarrazins umstrittenem Beitrag eine vernünftige Debatte über Integration und Zuwanderung unmöglich (II)? Diese beiden Hauptfragen will die vorliegende Forschungsarbeit bearbeiten.

Das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an Zuwanderung und Integration ist vor dem Hintergrund des zunehmenden Migranten- und Ausländeranteils zu verstehen. Weltweit ist in den letzten Jahrzehnten die geographische Mobilität angestiegen. Eine zunehmende Zahl an Menschen überwindet immer größere Distanzen, auch über nationale Grenzen hinweg. Hauptursachen für diese Wanderbewegungen sind ethnische und nationale Konflikte, die sich gewalttätig entladen. Sie führen zu Flucht und Vertreibung. Außerdem bringen Armut, Hunger und das Wirtschaftsgefälle zwischen Erster und Dritter Welt viele Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen (Beck-Gernsheim 2007: S. 9f). Auch in Deutschland steigt seit Ende des 2. Weltkrieges der Migranten- und Ausländeranteil an. So müssen sich immer mehr Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache und Religion miteinander arrangieren. Die Entwicklung von einer monoethnischen zu einer multiethnischen Gesellschaft stellt die deutsche Gesellschaft vor eine Herausforderung (Geißler 2005: 15). In der medialen Öffentlichkeit wird in Talk-Shows, Leserbriefen und Zeitungsartikeln über diese Entwicklung hitzig diskutiert. Inwiefern kommt es zu einer Desintegration der deutschen Gesellschaft? Wie viel Zuwanderung verträgt Deutschland? Wie können kulturell und sozial unterschiedlich geprägte Menschen zu einer funktionierenden Gesellschaft integriert werden (Pöttker 2005: 26)?

Wie die deutsche Zukunft in Sachen Integration und Migration aussieht, wird durch den Inhalt (I) der öffentlichen Diskussionsbeiträge wesentlich beeinflusst. Politische Entscheidungen und alltägliche Verhaltensweisen orientieren sich an den Denkweisen, die die öffentliche Meinung bestimmen. Eine starke Präsenz der Idee der „Leitkultur“ kann beispielsweise Gesetze, die sich auf die Ausübung der muslimischen Religion beziehen beeinflussen. Der Bau von Moscheen oder die Einhaltung der Gebetszeiten während des Schulunterrichts haben dann eine geringere Legitimität. Alltägliche Verhaltensweisen werden ebenfalls durch mediale Veröffentlichungen angeleitet. Eine verstärkte Berichterstattung über kriminelle und gefährliche Ausländer verringert wahrscheinlich die Bereitschaft, in einem Viertel mit hohem Migranten- und Ausländeranteil zu wohnen.

Außerdem ist auch die Form (II) der Debatte von zentraler Bedeutung für die migrations- und integrationspolitische Entwicklung in Deutschland. In der öffentlichen Diskussion sollten angemessene und gesellschaftlich anerkannte Lösungen für die Migrations- und Integrationsfrage gesucht werden. Dazu muss sachlich, tatsachenbasiert und vernünftig ein Konsens darüber gefunden werden, wie man mit der Einwanderung und der Integration von Migranten umgehet. Auf diese Weise kann eine möglichst rationale und adäquate Handlungsgrundlage für die Bewältigung der Integrationsproblematik geschaffen werden.

Vor diesem Hintergrund ist der Aufschrei der deutschen Öffentlichkeit angesichts Sarrazins provokanter Thesen zu verstehen. Man hat Angst vor seinem Einfluss auf den Inhalt (I) der öffentlichen Debatte. Es wird beispielsweise befürchtet, dass seine islamkritischen Ansichten zu einer verbreiteten Muslimenfeindlichkeit, zur Verschärfung von Konflikten und zum Scheitern der deutschen Integrationspolitik führen. Außerdem sieht man die vernünftige Debattenkultur (II) und somit eine rationale Problemlösungsfindung durch die umstrittenen Äußerungen Sarrazins bedroht.

Die vorliegende Arbeit will die Frage bearbeiten, ob sich die Debatte nach Sarrazins Beitrag tatsächlich wesentlich verändert hat. Hierzu analysiert sie die Integrationsdebatte vom August und September 2010. Sie gliedert sich in drei thematische Ebenen. Es wird über Zuwanderung (1), Integration (2) und die Form der Debatte selbst (3) diskutiert. Auf jeder dieser Ebenen sind zwei entgegengesetzte Hauptpositionen zu finden. Im Zusammenhang der Zuwanderung (1) fordern sie eine Einschränkung (a) oder eine Förderung (b). Die Integration (2) soll sich an der „Leitkultur“ (a) oder der „Willkommenskultur“ (b) orientieren. Auf der Metaebene (3) setzt man sich einerseits für einen freien Diskurs (a) ein, in dem jeder alles sagen darf, was er will. Andererseits wird verlangt, dass in der öffentlichen Diskussion bestimmte Regeln (b) eingehalten werden.

Auf welche Weise und in welchem Ausmaß diese Diskurspositionen vertreten werden, hängt von den Denkweisen ab, die die Debatte anleiten. Welche Muster die Debatte im August und September 2010 strukturieren, arbeitet diese Untersuchung heraus. Inwiefern Sarrazin diese Denkweisen verändert (I), also die Unterschiede zwischen der Debatte im August und im September, werden im Anschluss untersucht. Ob Sarrazin durch seine Provokation eine vernünftige Debatte unmöglich macht (II), ergibt die Suche nach unsachlichen Dramatisierungen vor und nach der Buchveröffentlichung.

Als Fragestellungen dieser Arbeit ergeben sich demnach:

I. Argumentationsmuster und Positionen

1. Welche Argumentationsmuster und Positionen strukturieren die deutsche Integrationsdebatte um die Zeit der Veröffentlichung Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“?
2. Gibt es Verschiebungen der Argumentationsmuster und Positionen nach der Veröffentlichung Sarrazins Buches? Welche Veränderungen sind festzustellen?

II. Abweichungen vom vernünftigen Diskurs

1. Gibt es Dramatisierungen in der deutschen Integrationsdebatte um die Zeit der Veröffentlichung Sarrazins Sachbuches?
2. Gibt es Veränderungen in Form und Ausmaß der Dramatisierungen nach der Veröffentlichung Sarrazins Werkes?

Zur Behandlung dieser Fragestellungen ergibt sich die folgende Gliederung: Zur geschichtlichen Rahmung der Debatte dient ein kurzer Überblick über die deutsche Migrationsgeschichte seit 1950. In einer Übersicht bisheriger Forschungsergebnisse werden Wahrnehmungs-, Deutungs- und Argumentationsmuster zum Thema Migration und Integration seit den 50ern dargelegt. Auf diese Weise ergibt sich die Einordnung der Argumentationsmuster zur Zeit Sarrazins in den Diskursverlauf. Vor diesem Hintergrund arbeitet der erste Teil die vorkommenden Argumentationsmuster und Hauptpositionen heraus. Hierzu werden die relevanten theoretischen Konzepte und methodischen Vorgehensweisen erklärt. Die Ergebnisdarstellung der Analyse der Argumentationsmuster und normativen Positionen schließt sich an. Auf die Analyse der generell vorkommenden Muster und Positionen folgt ein Vergleich der Muster und Positionen vor und nach der Veröffentlichung Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“. Der zweite Teil behandelt die Frage nach den dramatisierenden und emotionalisierenden Abweichungen vom vernünftigen Diskurs. Auch hier werden erst die theoretischen und methodischen Mittel erläutert. Darauf folgt die Beschreibung der gewonnenen Ergebnisse.

1.2 Kontext der Debatte

1.2.1 Deutsche Migrationsgeschichte

Wie in anderen europäischen Gesellschaften, steigt in Deutschland der Migranten- und Ausländeranteil an. Die deutsche Gesellschaft entwickelt sich so von einer monoethnischen zu einer zunehmend multiethnischen Gesellschaft. Die ansteigende Multiethnizität ist als ein Symptom der gesellschaftlichen Modernisierung zu sehen. Aufgrund niedriger Geburten-raten in modernen Gesellschaften entsteht ein Arbeitskräftebedarf, der über Arbeitsmigration gedeckt werden kann. Außerdem haben humanitäre Werte in diesen Gesellschaften an Wichtigkeit gewonnen und zu einer Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlingen und somit zu einer weiteren Form der Zuwanderung geführt.

Die verschiedenen Formen von Migration nach Deutschland können vier Phasen zugeordnet werden: Die Phase der Arbeitsmigration seit den 50ern, die Konsolidierungsphase mit ersten Integrationsversuchen nach dem Anwerbestopp 1973 (Geißler 2005: 15), die Abwehrphase des Zuwanderungslandes wider Willen ab Beginn der 80er (Geißler 2005: 20) und die Akzeptanzphase zunehmender Integrationsbemühungen seit ca. 2000.

In den 50ern ergab sich wegen des aufkommenden Wirtschaftswachstums in Deutschland ein großer Arbeitskräftemangel (Hoerder 2010: 106). Um den Bedarf zu decken, wurden mit Mittelmeerländern wie Spanien, Italien der Türkei und Jugoslawien und später auch mit Marokko, Portugal und Tunesien Verträge abgeschlossen, die es Arbeitern aus diesen Ländern ermöglichte, zeitlich befristet als Gastarbeiter in Deutschland tätig zu sein (Irrgang: 2011: 3). Gemäß dem Rotationsprinzip sollten die Arbeitnehmer nach einigen Jahren in ihr Heimatland zurückkehren und bei Bedarf durch neue Gastarbeiter ersetzt werden. Das Rotationsprinzip konnte aber in vielen Fällen nicht umgesetzt werden (Geißler 2005: 16). Zwischen 1955 und dem Anwerbestopp 1973 kamen 14 Millionen Gastarbeiter ins Land und 11 Millionen verließen es wieder. Italiener stellten gefolgt von Griechen 1967 die stärkste Gruppe dar. Der Anteil türkischstämmiger Gastarbeiter stieg bis 1970 an, so dass sie seitdem die stärkste Gruppe ausmachen (Geißler 2005: 17). Politisch beschränkte man sich in der Phase der Arbeitsmigration auf arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, da die Entscheidungen der Bundesrepublik hauptsächlich auf ökonomischen Interessen basierte (Irrgang: 2011: 3). Die Integration der Zugewanderten wurde in dieser Situation nicht thematisiert (Hoerder 2010: 107)

1973 kam es aufgrund der Wirtschaftsrezession, der Ölkrise und drohender Arbeitslosigkeit zu einem Anwerbestopp. Ein Großteil der Gastarbeiter kehrte jedoch nicht, wie vorgesehen wieder in das Heimatland zurück (Irrgang 2011: 3). Der Wunsch nach dauerhafter Bleibe führte zu zahlreichen Familienzusammenführungen. Das bewirkte neben hohen Geburtenraten eine Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerung bei gleichzeitigem Absinken der ausländischen Arbeitnehmerzahl. Angesichts dieser Entwicklung wurde die Herausforderung die Bleibewilligen einzugliedern thematisiert. In diesem Zusammenhang richtete man 1978 das Amt des Integrationsbeauftragten ein (Geißler 2005: 19).

Mit Beginn der 80er entstand in Deutschland eine neue und andauernde Form von Migration. Aufgrund von Krieg, Elend und Unterdrückung in europäischen und außereuropäischen Krisengebieten kamen viele Flüchtlinge als Asylbewerber nach Deutschland (Hoerder 2010: 111). Der ansteigende Zustrom an Asylsuchenden und Flüchtlingen mit einer Spitze von 440 000 im Jahr 1992 bewirkte eine abwehrende Haltung in der deutschen Öffentlichkeit. Eine politische Debatte über eine Grundgesetzänderung des Rechts auf Asyl wurde ausgelöst und die fremdenfeindliche Gewalt spitzte sich zwischen 1991 und 1993 zu (Irrgang 2011: 3). Das Rennen um eine Begrenzungspolitik begann. Der Schwerpunkt der politischen Bemühungen wurde nicht auf die Integration der Bleibewilligen, sondern auf die Abwehr unerwünschter Migranten gelegt. Obwohl die Ausländerzahlen im Jahr 1996 bis auf 7,3 Millionen anstiegen, wurde das Dogma, Deutschland sei kein Einwanderungsland, weiter vertreten. Arbeitsmigration trotz Anwerbestopp und Flüchtlingszuwanderung führten im Zuwanderungsland wider Willen zu einer zunehmenden Heterogenität der ausländischen Bevölkerung. Neben Türken, Italienern, Griechen, Portugiesen und Marokkanern aus der Phase der Gastarbeiterzuwanderung kamen nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems Polen, Russen, Ukrainer, Rumänen, Ungarn, Bulgaren und Tschechen ins Land. Menschen aus dem Iran, aus Afghanistan, dem Libanon, Sri Lanka, Vietnam, China, Indien und Pakistan immigrierten als Flüchtlinge nach Deutschland (Geißler 2005: 20f).

Die ablehnende Haltung gegenüber Zuwanderung der Phase der frühen 90er wurde durch die Einsicht in die Notwendigkeit von Arbeitsmigration für das deutsche Wirtschafts- und Sozialsystem abgelöst (Geißler 2005: 22). Die Durchführung der Green-Card Initiative im Jahr 2000 zur Anwerbung von ausländischen IT-Spezialisten soll dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel in Deutschland entgegenwirken. In der deutschen Politik sieht man Immigration aufgrund der gegenwärtigen demographischen Entwicklungen als Notwendigkeit. Vor diesem Hintergrund ist die Politik der Immigration und Integration mit dem ersten Zuwanderungsgesetz von 2005 und dem liberalisierten Staatsangehörigkeitsrecht seit 2000 zu verstehen (Irrgang 2011: 3).

Über die gegenwärtige Integrations- und Immigrationssituation in Deutschland kann mittels aktueller Zahlen ein Überblick gegeben werden. 2009 beträgt der Ausländeranteil (Anteil der Menschen ohne deutschen Pass) in Deutschland mit 7,15 Millionen 9% der Gesellschaftsbevölkerung. Ein Viertel der Ausländer sind türkische Staatsangehörige, gefolgt von Italienern mit 7,7% und Polen mit 6%. Der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund (alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der BRD Zugewanderte, sowie alle in Deutschland Geborenen mit mindestens einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil) beträgt mit 16 Millionen 19% (Statistisches Bundesamt 2009: 6f). 14% der Menschen mit Migrationshintergrund sind türkischstämmig. Der Russischen Föderation entstammen 8,4% und 6,9% sind polnischer Herkunft. Seit den 90ern ist eine Abnahme der Zuwanderungszahlen zu verzeichnen, wobei die Zahl der Fortzüge stabil bleibt und dreiviertel der Abwanderer Ausländer sind. 2010 ist ein negativer Saldo von Zu- und Abwanderung festzustellen (Irrgang 2011: 3).

Die gegenwärtige Sozialstruktur der Integrationsgesellschaft Deutschland ist durch eine Abnahme der ethnischen Unterschichtungstendenzen aus der Gastarbeiterphase zu beschreiben. Da die Gastarbeiter hauptsächlich einfache Arbeitertätigkeiten übernommen haben entstammten sie relativ niedrigen Gesellschaftsschichten. Ein Migrationshintergrund war also überdurchschnittlich häufig mit einer geringeren gesellschaftlichen Stellung verbunden. Diese Verknüpfung von Migrantenstatus und Schichtung hat sich aufgeweicht. Ein ausländischer Mittelstand von Selbstständigen etabliert sich und verstärkt sind Akademiker unter Migranten zu finden. Zuwanderer aus Nicht-Anwerbeländern wie dem Iran, Russland, Polen und Afghanistan weisen ein relativ hohes Bildungsniveau auf (Geißler 2005: 22).

1.2.2 Darstellung von Migranten

Die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen von Migration und Integration seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland gingen einher mit bestimmten Wahrnehmungs-weisen der Ausländer und Migranten in der medialen Öffentlichkeit. Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen haben sich mit diesen Kategorisierungen, Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen der Migranten in der Medienlandschaft beschäftigt. Da die Deutungs- und Wahrnehmungsmuster der Integrationsdebatte um die Veröffentlichung von Thilo Sarrazins Sachbuch sich aus diesen vorangegangenen Mustern entwickelt haben, werden sie im Rahmen der vorliegenden Untersuchung berücksichtigt.

Die Übersicht über die bisherigen Ergebnisse zu Wahrnehmungsmustern im Bereich Migration und Integration lässt sich in vier thematische Kategorien aufteilen. Die mediale Darstellung der Migranten geht auf deren andersartige Kultur, ihre Gefährlichkeit und ihre mehr oder weniger große Nützlichkeit ein. Außerdem werden humanitäre Werte im Umgang mit den Migranten behandelt.

Kulturelle Distanz

Ruhrmann und Songül arbeiten in ihrem 2000 veröffentlichten Artikel „Wie Medien über Migranten berichten“ Tendenzen von Exotisierung aus der Berichterstattung heraus. Vor allem in Boulevardformaten werden Migranten in einem exotischen Rahmen als Mitglieder einer fremden Kultur gezeigt, die bedrohlich und unheimlich wirkt, was die kulturelle Distanz betont (Ruhrmann 2000: 69ff).

In ihrer Analyse „Die Darstellung von Migrantinnen und Migranten und ihren Themen in den audiovisuellen Medien“ entdeckt Ursula Neumann nach den muslimischen Anschlägen auf das World Trade Center 2001 sehr klischeehafte Darstellungen von Muslimen. Ihre kulturelle Andersartigkeit wird so hervorgehoben (Neumann 2002: 284ff).

Auch Elisabeth Beck-Gernsheim findet in ihrer Untersuchung „ Wir und die Anderen. Kopftuch, Zwangsheirat und andere Mißverständnisse“ exotisierende Bilder von Migranten in der Öffentlichkeit. Es herrscht das Bild von Einwanderern als das fremdländische „Andere“ vor. Symbole für eine kulturelle Andersartigkeit wie Zwangsheirat, Unterdrückung der Frau, enger Familienzusammenhalt und starker Religiosität werden herausgehoben. Die stereotypisierende Betrachtungsweise des Migranten als traditionsgebunden, rückständig und sozial schwach erzeugt auf diese Weise eine kulturelle Distanz. (Beck-Gernsheim 2007: 19-74).

Michael Wengeler macht bei seiner Analyse von Argumentationsmustern das Kulturmuster aus, in dem ebenfalls die kulturelle Distanz der Zugewanderten Thema ist. Argumentations-muster sind sozial geteilte Vorstellungen und Handlungsmaximen, die Argumentationen für oder gegen bestimmte politische Entscheidungen legitimieren. Das Kulturmuster beinhaltet die überhöhte Idee eines kulturell homogenen Volkes. Es wird zur Argumentation gegen bestimmte abweichende ethnisch-kulturell geprägte Eigenschaften und Mentalitäten von Migranten angewendet. Auf diese Weise kommt es zur Hervorhebung der Schädlichkeit der kulturell andersartigen Migranten (Wengeler 1997: 143).

Gefährlichkeit

Mitunter aufgrund ihrer kulturellen Andersartigkeit werden die Einwanderer als gefährlich und bedrohlich wahrgenommen. Ruhrmann und Songül entdecken das Kriminalitäts-, das Negativsyndrom, Dramatisierungen und die Gefahrensemantik, die zur Wahrnehmung ihrer Bedrohlichkeit führen. Ausländische Arbeitnehmer werden hauptsächlich im Zusammenhang mit Kriminalität erwähnt. Außerdem stehen konflikthafte, krisenhafte, sowie negativ und problematisch bewertete Ereignisse, in die Ausländer verwickelt sind, im Vordergrund des öffentlichen Interesses. Das führt zu einer Dramatisierung der Zustände. Allgemein werden weltweite Migrationsprozesse und die Entwicklung hin zur Multiethnizität als gefährlich, katastrophal und schicksalhaft dargestellt (Ruhrmann 2000: 69ff).

Daniel Müller kommt in seiner 2005 veröffentlichten Literaturschau „Die Darstellung ethnischer Minderheiten in deutschen Massenmedien“ zu ähnlichen Ergebnissen. Aufgrund der vergleichsweise häufigen Thematisierung von Kriminalität von ausländisch stämmigen Menschen in den Medien fokussiert sich die Wahrnehmung auf deren Gefährlichkeit und Bedrohlichkeit (Müller 2005: 87ff). Außerdem wird den Migranten häufiger als deutschstämmigen Straftätern die volle Eigenverantwortung für ihr kriminelles Verhalten zugeschrieben (Müller 2005: 97).

Ursula Neumann arbeitet verschiedene Formen der Darstellung, die eine Bedrohlichkeit erzeugen heraus. Insbesondere muslimische Einwanderer werden als gefährlich dargestellt. Nach den Anschlägen des 11. Septembers entsteht durch die Berichterstattung der Eindruck, die gesamte Bundesrepublik sei mit einem Netz von Islamisten und islamischen Extremisten überzogen. Die Ereignis- und Problemorientierung der Berichterstattung dramatisiert die Integrationsprobleme. Die Schwerpunktsetzung auf das Thema der Kriminalität erzeugt den Stereotypen des gewalttätigen Ausländers (Neumann 2002: 284ff).

Auch Elisabeth Beck-Gernsheim entdeckt vorwiegend problematisierende Muster der Darstellung. Vor allem muslimische Migranten werden mit Fanatismus, terroristischer Bedrohung, Hass und Gewalt in Verbindung gebracht. Auf diese Weise ergibt sich eine Perspektive der Bedrohlichkeit (Beck-Gernsheim 2007: 19-74).

Bei Wengelers Untersuchung von Argumentationsmustern ergeben sich ebenfalls Perspektiven auf die Schädlichkeit der Migranten. Wengeler arbeitet das Gefahren-Muster heraus. Der Verweis auf die Gefährlichkeit der Zuwanderer dient hier als Argumentationsgrundlage (Wengeler 1997: 147).

Nützlichkeit

In seiner Literaturübersicht identifiziert Müller das Nützlichkeit sdenken als Muster mittels dessen Migranten wahrgenommen werden. Insbesondere türkischstämmige Einwanderer werden als Belastung für materielle Ressourcen Deutschlands und somit für den Steuer-, Beitrags- und Gebührenzahler dargestellt (Müller 2005: 89).

Auch Wengeler arbeitet das Nützlichkeitsdenken aus der medialen Debatte heraus. Das Argumentationsmuster des Nützlichkeits-Topos bestimmt die Überlegungen zur Anwesenheit von Einwanderern. Behauptungen und Meinungen werden hier durch die Einschätzung des wirtschaftlichen Nutzens der Zuwanderer begründet.

Humanismus

Eine Perspektive, die im Forschungsüberblick von geringerer Präsenz ist, ist die moralisch-humanitäre. Das Muster der Menschenwürde, das Gerechtigkeits- und das Verantwortlichkeits-Muster leiten hier die Behandlung der Migrationsthematik an. Das Wohlergehen und die Gleichbehandlung der sozial ungleichen Einwanderer werden in diesem Zusammenhang thematisiert (Wengeler 1997: 147).

Zusammenfassung

Die Darstellung der Migranten in der medialen Öffentlichkeit ist also hauptsächlich durch das Hervorheben ihrer kulturellen Andersartigkeit und ihrer Gefährlichkeit geprägt. Ihre Fremdheit und Kriminalität werden überbetont. Die Thematisierung ihrer Nützlichkeit führt in erster Linie zu einem negativen Ergebnis. Von den Einwanderern ist aus dieser Sicht eher ein Schaden als ein Nutzen zu erwarten. Eine Wahrnehmungsweise aus der humanistischen Perspektive spielt laut dem gegebenen Forschungsüberblick nur eine untergeordnete Rolle.

1.2.3 Auswirkungen Sarrazins Beitrages

Auch bei Sarrazin sind die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Muster zu finden. In seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ thematisiert er im Kapitel „Zuwanderung und Integration“ Migranten unter verschiedenen Perspektiven. Muslimische Einwanderer beziehungsweise Araber und Türken werden von Sarrazin aufgrund ihres zunehmenden Bevölkerungsanteils als Bedrohung wahrgenommen. Durch die Belastung des Sozial- und Wirtschaftssystems haben sie keinen Nutzen für Deutschland, sondern schaden der Gesellschaft. Zum anderen weist Sarrazin auf die Unaufgeklärtheit der Muslime in kultureller Hinsicht hin. In ihrer kulturellen Distanz besteht ein schwerwiegendes Problem für Deutschland. Aus diesem Grund sind den Migranten, vor allem den muslimischen, klare Grenzen aufzuzeigen. Um eine kulturelle Homogenität aufrecht zu erhalten, müssen sie sich den vorgegebenen deutschen Werten, wie beispielsweise dem Leistungsprinzip, anpassen. Auch das Erlernen der deutschen Sprache ist in Orientierung an einer klaren „Erwartungskultur“ streng einzufordern. Darüber hinaus sollte dem schädlichen Einfluss von Migranten vorgebeugt werden, indem in Zukunft nur noch Hochqualifizierte zuwandern dürfen (Sarrazin 2010: 255-327).

Gudrun Hentges arbeitet in ihrem 2011 veröffentlichten Aufsatz „Zwischen ‚Rasse‘ und ‚Klasse‘ “ die Denkströmungen heraus, die den Äußerungen Thilo Sarrazins zugrunde liegen. Sie entdeckt das dem Nützlichkeitsdenken zuordenbare Feindbild des ökonomisch Überflüssigen, der seine Verkörperung im muslimischen Migranten findet. Auf der Basis sozialdarwinistischen und eugenischen Gedankenguts stellt Sarrazin den Fortschritt Deutschlands als vom Intelligenzniveau abhängig dar. Erhöhte Fruchtbarkeit von Bevölkerungsgruppen unterdurchschnittlicher Intelligenz, wie beispielsweise die der Zugewanderten muslimischen Hintergrunds, bedeutet laut Sarrazin also eine Gefährdung des deutschen Fortschritts. Die Gruppe der Muslime charakterisiert Sarrazin mittels angeborener, biologischer, kultureller, religiöser und nationalstaatlicher Merkmale. Er beschreibt sie als unterdurchschnittlich intelligent, unproduktiv und integrationsunwillig. Ein problematisches Sozialverhalten, wie zum Beispiel Kriminalität, die Unterwürfigkeit der Frau und mögliche Erbkrankheiten aufgrund von Inzest werden mit der Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslime verknüpft. Es kommt zu einer Verabsolutierung der kulturellen Distanz der muslimischen Gruppe zur deutschen Gesellschaft, indem die Heterogenität unbeachtet bleibt und Leistungsdefizite ausschließlich auf die Gruppenzugehörigkeit zurückgeführt werden. Die Erklärung unterdurchschnittlicher Schulleitungen beispielsweise berücksichtigt wirtschaftliche und soziale Hintergründe nicht. Da Gruppen ohne Leistungsbeitrag zur Gesellschaft dem Fortschritt Deutschlands schaden, sind nach darwinistischer Logik Repressionen gegen sie legitim (Hentges 2011: 185-206)

Klaus Jürgen Bade geht aufgrund der großen medialen Aufmerksamkeit für „Deutschland schafft sich ab“ von einem großen Einfluss Sarrazins auf die Wahrnehmung von Migranten und somit auf die Debatte über Integration aus. Er analysiert in seinem 2012 veröffentlichten Artikel „Die Sarrazinade“ die Wirkung Sarrazins auf die öffentlichen Diskussionen. Er stellt eine Verknüpfung der Integrationsthematik mit anti-islamischen und ethno-nationalistischen Diskurssträngen fest. Es kommt zu einer Vermehrung von Äußerungen, die von xenophoben Emotionen angetrieben werden und die kulturelle Distanz der Migranten betonen. Bade sieht, dass sich Integration zum Mainstream-Thema entwickelt und sich als publizistischer Bürgerkrieg mit integrationspanischen Strömungen, gruppenfeindlicher Desintegrationspublizistik und demagogischen Internet-Agitationen abspielt (Bade 2012: 6f).

Auch Ulrike Irrgang untersucht in ihrer 2011 veröffentlichten Studie „Beyond Sarrazin? Zur Darstellung von Migration in deutschen Medien am Beispiel der Berichterstattung in SPIEGEL und BILD die Wirkungen des Buches „Deutschland schafft sich ab“ auf die öffentliche Integrationsdebatte in Deutschland. Sie untersucht mittels des Konzepts der Argumentationsmuster Veränderungen der Wahrnehmung von Migranten vom August 2010 zum Oktober 2010.

Im SPIEGEL stehen sich im August die Perspektiven von „Empathie“ und „Gefahr“ gegenüber. Die zentralen Schemata, die für Einwanderung argumentieren, sind die des Mitgefühls und der Lebenswelt und des wirtschaftlichen Nutzens. Auch das Realitäts-, das Humanitäts-, und das Anpassungs-Muster, sowie das Muster der staatlichen Kontrolle, der kulturellen Bereicherung und der individuellen Folgen werden angewendet. Gegen Einwanderung werden das Gefahren- und das Überfremdungs-Muster ins Feld geführt. Auch die Schemata der Belastung, der Anpassung und der staatlichen Kontrolle kommen hier zum Einsatz.

In der BILD Zeitung spielt sich die Argumentation hauptsächlich zwischen den Themen „Bedrohung“ und „Angst vor Überfremdung“ ab. Die seltenen Äußerungen, die sich für Zuwanderung aussprechen, sind dem Muster des Mitgefühls und der Lebenswelt, der kulturellen Vielfalt, der kulturellen Bereicherung, des wirtschaftlichen Nutzens und der Realität zuzuordnen. Wesentlich präsenter sind die Denkweisen mittels derer man gegen Migration argumentiert. Die zentralen Argumentationsmuster sind hier das Gefahren- und das Überfremdungs-Muster und das Muster der kulturellen Differenz. Migranten stellen aufgrund ihrer Kultur und ihrer Kriminalität eine Bedrohung der Sicherheit dar. Insbesondere der Islam wird aufgrund der großen kulturellen Distanz als problematisch eingeschätzt. Auch das Anpassungs-, das Belastungs- und Demokratie-Muster, sowie das Muster der staatlichen Kontrolle und der individuellen Folgen dienen zur Begründung einwanderungsablehnender Positionen. Beide Zeitungen betrachten Integration hauptsächlich als Problem. Die verwendeten Denkweisen stellen Migranten primär als Integrationsverweigerer oder isolierte Gläubige und kriminelle Ausländer dar.

Durch die Veröffentlichung Thilo Sarrazins Buch erhöht sich die Quantität der Berichterstattung zu den Themen Integration und Migration. Der thematische Schwerpunkt verlagert sich von der Reform des Zuwanderungsgesetzes zur Integration mit einem Fokus auf muslimischen Migranten. Aufgrund der entsprechenden Verknüpfungen nimmt die Häufigkeit das Thema des wirtschaftlichen Nutzens zu Gunsten des Überfremdungs-, des Gefahren -, des Belastungs-, des Anpassungs-Musters und des Musters der kulturellen Differenz ab. Die Erhöhung von Wortmeldungen von Migranten selbst führt zu einer Zunahme des Schemas des Mitgefühls und der Lebenswelt, da sie so verstärkt ihre eigene Perspektive in die Debatte einbringen (Irrgang 2011: 1-29).

Zusammenfassung

Sarrazin konstruiert in seinem Buch die Gruppe der Muslime als homogene, ökonomisch überflüssige Gruppe, die Deutschland in erster Linie schadet. Bade und Irrgang sehen seine Wirkung auf die öffentliche Wahrnehmung von Migranten in einer verstärkt ablehnenden Haltung. Den schädlichen muslimischen Migranten werden die zu schützenden Deutschen gegenübergestellt. Die deutsche Kultur, das deutsche Wohlfahrts- und Wirtschaftssystem muss vor den wenig intelligenten, integrationsunwilligen und gefährlichen muslimischen Migranten geschützt werden. Die Argumentationsmuster der Überfremdung , der Gefahr, der Belastung und der kulturellen Differenz spiegeln diese Haltung wider. Insgesamt gewinnen das Thema der Integration an medialer Präsenz und Brisanz. Die Debatte lädt sich laut Bade emotional auf, so dass es zu aufhetzenden und bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen kommt.

2. Auswirkungen Sarrazins Beitrages auf den Inhalt der Debatte

2.1 Wissenssoziologische Diskursanalyse

Die vorliegende Arbeit orientiert sich ebenfalls am Konzept der Argumentationsmuster, um die Veränderung der Integrationsdebatte zu untersuchen. Hier werden die Argumentationsmuster aber nicht nur isoliert betrachtet, sondern in das Zusammenspiel der verschiedenen Positionen auf den jeweiligen thematischen Ebenen eingeordnet. Manche Argumentationsmuster dienen vermehrt zur Stützung der einen Position und andere zur Stärkung der entgegengesetzten Position. Auch die verschiedenen Themen der Zuwanderung, der Integration und der Diskursqualität auf der Metaebene werden typischerweise mittels bestimmter Muster behandelt. Der Effekt Sarrazins Diskursbeitrages auf die Debatte kann durch die aufgegliederte Untersuchung differenzierter betrachtet werden. Schwerpunktverschiebungen in den Argumentationsmustern können so beispielsweise auch auf thematische Änderungen zurückgeführt werden.

Argumentationsmuster der Integrationsdebatte sollen hier als Wissenselemente innerhalb der gesellschaftlich konstruierten deutschen Integrationswirklichkeit verstanden werden. Wirklichkeit ist also nicht etwas essentiell Gegebenes, sondern das Produkt sozialer Konstruktionsprozesse. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit besteht in der ständigen Produktion und Reproduktion einer Wissensordnung. Die Wissenselemente sind Teil dieser Wissensordnung und werden durch interpretative Reproduktionsprozesse wie beispielsweise das Schreiben und Veröffentlichen von Leserbriefen in Zeitungen aktualisiert. Vorhandene Wissensbestände werden durch den Schreiber aufgegriffen, interpretiert und durch die Veröffentlichung mehr oder weniger stark verändert reproduziert (Keller 2008: 182). Die Medien der Wissensproduktion, die die vorliegende Arbeit untersucht, sind kommentarartige Zeitungsartikel, die in den Zeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung (abgekürzt: FAZ), Süddeutsche Zeitung (abgekürzt SZ), dem Spiegel (abgekürzt: SPIEGEL), der Zeit (abgekürzt: ZEIT) und der Welt (abgekürzt: WELT) veröffentlicht wurden.

2.1.1 Wissenssoziologie

Die hier verwendete konstruktivistische Perspektive sieht die soziale Welt und ihre normativen Strukturen als Produkt menschlicher Konstruktionen. Das was als „wirklich“ wahrgenommen wird, kann man hinterfragen, weil es nicht als unmittelbar gegeben gilt. Es werden auch andere Konstruktionsprozesse denkbar, die andere Wirklichkeiten mit anderen Wahrnehmungs- und Wissensformen hervorbringen können. Die unterschiedlichen kulturellen und sozialen Konventionen der Entstehungssituation begünstigen unterschiedliche Wirklichkeiten. Die hier vertretene Perspektive leugnet eine äußere Realität aber nicht. Die konstruierten Wirklichkeiten sind keinesfalls vollkommen losgelöst von gegebenen Tatsachen, ihre Relevanz und Bedeutung erhalten sie aber erst über ihre kulturell angeleiteten Interpretationen. Somit ist der Zugang zur Wirklichkeit abhängig von den konstruierten Wahrnehmungsmustern und Begriffen. Wahrnehmung ist also ein aktiv-konstruierender Herstellungsprozess und kein passiv-rezeptiv abbildender (Flick 2008: 152ff).

Die konstruktivistische Perspektive dieser Arbeit entstammt der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ von Beter L. Berger und Thomas Luckmann (Berger/Luckmann 1971). Wissen wird hier als soziale Konstruktion verstanden, die sich durch stabile Muster auf objektiver Ebene als Institution verfestigt. Die Wissensordnungen werden durch Sprache , wie beispielsweise die der deutschen „Leitkultur“, ständig produziert und reproduziert und enthalten allgemein abrufbare und verbindliche Problemdefinitionen (Keller 2007: 57). Das Problem der übermäßigen Zuwanderung der ökonomisch Überflüssigen ist hierfür ein Beispiel. Insofern die Wissensordnung auch eine permanente Lösung des permanenten Problems bereitstellt, erlangt sie relative Stabilität. Erklärende und begründende symbolische Universen, wie beispielsweise das der Leistungsgesellschaft, legitimieren die institutionelle Ordnung (Berger/Luckmann 1971: 74f).

Die symbolischen Universen bilden den Rahmen von konkreten Deutungsmustern, die aus sinnvoll verknüpften Wissenselementen bestehen und mittels derer die Welt wahrgenommen und strukturiert wird. Das Muster des „Fachkräftemangels“ beispielsweise dient zur Wahrnehmung des Phänomens der Zuwanderung nach Deutschland. Die Verknüpfung des Bevölkerungsrückgangs, der ökonomischen Anforderungen und der Ressource Migrant zu einem sinnvollen Schema ermöglicht die Einordnung und Interpretation konkreter Ereignisse. Solche Deutungsmuster kommen im täglichen Sprachgebrauch zur Anwendung. Man findet sie in Zeitungsartikeln, in Bundestagssitzungen oder am Stammtisch. Auf diese Weise ergibt sich eine intersubjektiv geteilte Welt (Keller 2008: 180). Wenn beispielsweise in der medialen Debatte über Migranten auf das Muster der Migranten als Fachkräfte Bezug genommen wird, entsteht eine Wirklichkeit, in der Migranten eher nützlich als bedrohlich erscheinen. Argumentationen für Zuwanderung erhalten damit eine höhere Legitimität.

Wandelbarkeit

Die Wirklichkeit ist also immer bereits historisch und sozial vorstrukturiert. Deutungsmuster und Sinnverknüpfungen, die in der Vergangenheit entstanden sind, bestimmen die aktuelle Wahrnehmung der Welt. Trotz der Vordeutung müssen die gegebenen Muster immer wieder neu interpretiert und auf die Welt angewendet werden. Auf diese Weise unterliegen die Muster einem ständigen Wandel, in dem durch Neudeutungen und Veränderung ständig Wissen produziert und reproduziert wird. Hierin besteht die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Keller 2008: 181). Thilo Sarrazins Interpretation der deutschen Integrationssituation basiert auf vorgedeutetem Wissen über Integration und Zuwanderung. Sein Werk „Deutschland schafft sich ab“ gibt seine Interpretation wider. Die Veröffentlichung der Deutungen hat einen Effekt auf die bestehenden Wissensordnungen. Dadurch, dass seine Wahrnehmungsmuster rezipiert und beispielsweise beim nächsten Stammtischtreffen angewendet werden, beeinflussen sie die deutsche Integrationswirklichkeit.

Die in dieser Untersuchung analysierten kommentarhaften Zeitungsartikel stammen aus dem Zeitraum vor und nach der Veröffentlichung Thilo Sarrazins Sachbuch „Deutschland schafft sich ab“, also aus August und September des Jahres 2010. Die bereits dargestellten Muster der Wahrnehmung von Migranten sind aus der Zeit vor dem untersuchten Zeitraum. Sie geben also die Vordeutung der Welt wider, in der die Neudeutungen durch die Zeitungsartikel zur Integrationsdebatte vollzogen werden. Auch die Beiträge Thilo Sarrazins zur Konstruktion der Integrationswirklichkeit sind vor dem Hintergrund dieser historisch und sozial gewachsenen Muster zu verstehen. Zum Beispiel stellen Ruhrmann, Kollmer (1987) und Segal (1981) in den deutschen Massenmedien ein nützlichkeitsorientiertes Deutungsmuster fest, das Migranten als Belastung für materielle Ressourcen Deutschlands und somit für sein Sozialsystem darstellt. Auch Sarrazin wendet dieses Muster zum Verständnis der deutschen Integrationssituation an. Er übernimmt die Grundstruktur der Argumentationsweise und hebt die Bedeutung der muslimischen Kultur für die Belastung des deutschen Sozial- und Wirtschaftssystems hervor. Bestehende Muster werden hier also leicht verändert reproduziert.

Stabilität

Die ständigen Neuinterpretationen der gegebenen Denkmuster finden im Rahmen symbolischer Universen statt, die in Form grundlegender und sehr stabiler Wertesysteme die institutionelle Wissensordnung legitimieren. Hier entstehen Grundannahmen, auf denen die Deutung der Welt basiert und die das Feld vertretbarer Sollensansprüche abstecken. Denkweisen und normative Ansprüche, die nicht durch verfestigte symbolische Universen legitimiert werden, können sich im Diskurs nicht durchsetzen (Münch 2007: 219ff). Das Wertesystem der „Leistungsgesellschaft“ legitimiert beispielsweise die Ablehnung der Zuwanderung von ökonomisch leistungsschwachen Migrantengruppen. Diese Position kann sich in der Debatte um Zuwanderung behaupten. Die Forderung, jeden Zuwanderer ungeachtet seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in den deutschen Sozialstaat aufzunehmen, kann dagegen nicht ernsthaft im Diskurs vertreten werden.

Weitere stabile Strukturen des Diskurses werden durch die einfließenden Sonder-wissensbestände vorgegeben. In modernen Gesellschaften bestehen ausdifferenzierte Sonderwissensbestände, die über verschiedene Kanäle, wie beispielsweise die öffentlichen Medien, das Alltagsdenken beeinflussen. Sonderwissensbestände sind Subsinnwelten mit spezifischen Regeln und bestimmten Zugangskriterien und werden von Expertengruppen getragen. Außerdem stabilisieren theoretische Stützkonzeptionen wie wissenschaftliche Legitimationsmittel das Spezialwissen (Keller 2007: 64). Beim Thema der Integration spielen die Sonderwissensbestände der Soziologie, der Ökonomie, der Biologie der Psychologie und der Rechtwissenschaften beispielsweise eine bedeutende Rolle. Statistiken und Analysen zur Erwerbstätigkeit und zu den Bildungserfolgen von bestimmten Migrantengruppen steuern zum Beispiel die Sicht auf die Zugewanderten.

Alle Regeln des Diskurses schlagen sich im objektivierten System von Zeichen und Symbolen der Sprache nieder (Münch 2007: 211). Sie stellt alle möglichen Typisierungen des gesellschaftlichen Wissensvorrats zur Verfügung. Typisierungen, die in der Integrationsdebatte verwendet werden, sind zum Beispiel „Mensch mit Migrationshintergrund“, oder „Muslim“. Die Kategorien, die zur Beschreibung der Welt vorhanden sind, bestimmen die Wirklichkeit. Wissensvorräte bestehen aus verschiedenen Deutungsmustern, Typisierungen und Kategorisierungen, die aufeinander verweisen (Keller 2008: 182). Das sprachliche Muster aus „Islam“, „Kopftuch“, „Unterdrückung der Frau“ und „Gleichberechtigung“ stellt das Bild eines muslimischen Migranten her, dessen Lebensweise mit der aufgeklärten deutschen Gesellschaft unvereinbar ist. Die gesellschaftlich konstruierte Wirklichkeit basiert auf den verfügbaren sprachlichen Begriffen und Konzepten. Sie „wird von der Sprache auf logische Fundamente gestellt. Das Gebäude unserer Legitimationen ruht auf der Sprache, und Sprache ist ihr Hauptargument“ (Berger Luckmann 1980: 69).

Die Perspektive dieser Arbeit beruht also auf der Annahme einer gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit, in der durch Sprachgebrauch Wissensordnungen produziert und reproduziert werden, die bestimmen auf welche Weise gegebene Tatsachen wahrzunehmen und zu deuten sind. Die Wissensordnungen werden in sprachlichen Begriffen und Konzepten gespeichert. An diesem Punkt schließt die diskurstheoretische Perspektive an die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger/Luckmann 1971) an. Sie analysiert die strukturierte Hervorbringung von bestimmten Wissensverhältnissen durch diskursive, also sprachliche Praxis.

2.1.2 Diskursanalyse

Die vorliegende Forschungsarbeit orientiert sich an der wissenssoziologischen Diskursanalyse von Reiner Keller. Dieses Forschungsprogramm verbindet die sozialkonstruktivistische Perspektive von Peter L. Berger und Thomas Luckmann mit der hauptsächlich durch Foucault geprägten Diskurstheorie. An das Konzept der kollektiven Wissensvorräte bei Berger und Luckmann wird der Begriff des Diskurses angeknüpft (Keller 2008: 185). Bei der Analyse von Diskursen gilt es, „die Diskurse nicht als Gesamtheiten von Zeichen [...], sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“ (Foucault 1981: 74).

Stabilität

Bei Diskursen handelt es sich also um strukturierte und zusammenhängende Sprachpraktiken, die Gegenstände und gesellschaftliche Wissensverhältnisse konstituieren. In strukturierten kommunikativen Vorgängen werden Elemente der gesellschaftlichen Wissensordnung produziert und durch Institutionalisierungen verfestigt und stabilisiert. Das produzierte Wissen leitet die Weltdeutungen und Handlungen der Menschen an (Keller 2008: 186). Der in dieser Untersuchung behandelte diskursive Zusammenhang ist dem Thema „Migration und Integration“ zuzuordnen. Er umfasst das veröffentlichte Wissen zu den Themen Zuwanderung und Integration von Migranten in Deutschland und wird unter dem Begriff der „Integrationsdebatte“ zusammengefasst. Diese Debatte stellt Zuwanderung vor dem Hintergrund mehr oder weniger migrantenfreundlicher Wahrnehmungsmuster, als mehr oder weniger wünschenswert dar und fordert eine mehr oder weniger offene Form der Integration. Ein weiteres Thema im Rahmen der Integrationsdebatte sind die Diskursregeln der Debatte. Auf der Metaebene wird in den Zeitungsartikeln die Frage nach einer mehr oder weniger starken Regulierung der Integrationsdebatte aufgeworfen. Was auf den verschiedenen thematischen Ebenen der „Integrationsdebatte“ gesagt werden kann und welche Positionen vertretbar sind, regeln die diskursiven Strukturen.

Wandelbarkeit

Diese diskursiven Strukturen werden durch einzelne diskursive Ereignisse aktualisiert und verändert. Wenn Aussagen gemacht werden, werden sie zwar durch die bestehenden Diskursregeln geformt, die Regeln bestehen aber nicht unabhängig von den Aussagen. Nur dadurch, dass die Strukturen in den Äußerungen aktualisiert werden, bestehen sie fort. Da es in den Aktualisierungen immer zu Variationen der bereits bestehenden Strukturen kommt, verändern sie sich (Keller 2008: 186). Die einzelnen Äußerungen sind in der vorliegenden Analyse die einzelnen Zeitungsartikel aus der FAZ, der ZEIT, der WELT, der SZ und dem SPIEGEL und „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin. Die verschiedenen Diskursteilnehmer, zum Beispiel Kommentatoren, Journalisten und Politiker greifen auf bestimmte wissensproduzierende Strukturen, wie Deutungs- und Argumentationsmuster zurück. In dieser Arbeit werden die diskursiven Muster der Argumentationsmuster herausgegriffen.

Argumentationsmuster sind Vorstellungsmuster und Handlungsmaximen des kollektiven Wissens einer Sprachgemeinschaft. Sie liefern die Begründungssprache mittels derer eine Behauptung innerhalb eines Gegenstandsbereichs Anspruch auf Gültigkeit erhebt. Auf der Basis dieser geteilten Denkweisen können Argumente für oder gegen aktuelle politische Entscheidungen, Überlegungen und Meinungen ausgetauscht werden. Bestimmte Argumente funktionieren nur innerhalb eines bestimmten Problemverständnisses, sind also bereichs- und feldabhängig. Mögliche Bereiche innerhalb derer eine bestimmte Begründungssprache funktioniert, sind zum Beispiel der ethische, der juristische oder der wirtschaftliche Bereich. Eine normative Forderung wird in verschiedenen Bereichen durch unterschiedliche Argumentationsstränge beantwortet. In ethischer Begründungssprache beispielsweise behandelt man das Thema des Asylrechts-Paragraphen mit den Worten „Es ist eine Pflicht Zuflucht Suchenden beizustehen“. Eine demographische Argumentation weist darauf hin, dass das geburtenarme Deutschland Zuwanderung braucht, um den Mangel auszugleichen. Argumentationen aus einem Gegenstandsberiech können Aussagen aus einem anderen Bereich nicht stützen (Wengeler 1997: 122f). Gegen die wirtschaftliche Belastung Deutschlands durch Einwanderer kann nicht durch Verweis auf die kulturelle Bereicherung argumentiert werden.

Ein Argumentationsmuster liegt dann vor, wenn bestimmte Werte typischerweise aus bestimmten anderen Werten abgeleitet werden und überdurchschnittlich häufig in dieser Kombination auftreten. Ein Wert, ein normatives Ziel oder eine normative Forderung sei hier ein Ereignis, das als real existierend gewollt ist (Schulze 2008: 1-6). Das Argumentationsmuster der „Leitkultur“ zum Beispiel ist in verschiedenen untersuchten Zeitungsartikeln immer wieder zu finden. Da die fremde Kultur mancher Migranten den aufgeklärten Werten Deutschlands widerspricht, sollen sie sich an die vorherrschende Kultur anpassen. Das Ereignis der Anpassung ist als real existierend gewollt. Aus dem übergeordneten Wert der aufgeklärten deutschen Werte wird der untergeordnete Wert der Anpassung der Zuwanderer an die gegebene Kultur abgeleitet. Auch Sarrazin aktualisiert das Argumentationsmuster der „Leitkultur“ in der Debatte und variiert es leicht. Ob und inwiefern Sarrazins Diskursbeitrag zu einer Veränderung der diskursiven Regeln innerhalb der Argumentationsmuster der „Integrationsdebatte“ führt, untersucht die vorliegende Arbeit. Werden die bestehenden Strukturen wesentlich durch Sarrazins Neudeutungen verändert oder bleiben sie stabil?

Zusammenfassung

Die Untersuchung der „Integrationsdebatte“ besteht in der Analyse kommentarhafter Zeitungsartikel aus den Printmedien ZEIT, SZ, SPIEGEL, WELT und FAZ. Die einzelnen Artikel nehmen Stellung zum Thema der Zuwanderung, der Integration und den Diskursregeln der „Integrationsdebatte“. Sie setzen sich jeweils für eine bestimmte Forderung beziehungsweise für einen bestimmten Wert ein. Die Begründung der Werte wird durch die Verknüpfung mit anderen Werten vollzogen. Spezifische Verbindungen bestimmter Werte mit bestimmten anderen Werten sind Argumentationsmuster, die als diskursive Strukturen die Sprachpraktiken der „Integrationsdebatte“ regeln. Sie sind legitimiert durch grundlegende Wertesysteme, die man als symbolische Universen bezeichnen kann. Zusammen bilden diese Wissenselemente der Argumentationsmuster der symbolischen Universen die übergreifende Wissensordnung. Diese Wissensordnung bestimmt, auf welche Weise die Themen Migration und Integration wahrgenommen und gedeutet werden. Durch das Zusammenspiel dieser Wissensbestände kommt es zur Konstruktion der deutschen Integrations wirklichkeit. Je nachdem, welche Argumentationsmuster also in der Öffentlichkeit angewendet werden, ergibt sich eine andere Integrationswirklichkeit.

Perspektive

Die Hervorbringung der gesellschaftlichen Wirklichkeit basiert auf den Mustern, mittels derer die Welt wahrgenommen und gedeutet wird. Bei der wiederholten Anwendung des Wissensbestandes, in dem sie produziert und reproduziert wird, ist immer Interpretationsarbeit notwendig. Aus diesem Grund leitet das interpretative Paradigma das methodische Vorgehen dieser Arbeit an. Auch der Forscher muss bei der Herausarbeitung der Argumentationsmuster Interpretationsarbeit leisten. Die sprachlich vorliegenden Äußerungen der Zeitungsartikel müssen vom Forscher wahrgenommen und verstanden und somit unter Rückgriff auf die eigenen Deutungsmuster interpretiert werden (Lamnek 2010: 70f). Die resultierende eigene Perspektivität im Interpretationsprozess bedarf methodischer Reflexion und Kontrolle. Eine kontrollierte Vorgehensweise kann durch den Rückgriff auf die fundierte interpretative Methodologie und den Methodenkanon der qualitativen Sozialforschung erreicht werden (Keller 2008: 191). Die qualitative Methode, die hier zur Anwendung kommen soll, ist die Grounded Theory. Bei der Grounded Theory handelt es sich um eine stark gegenstandsverankerte Methode, die von Glaser und Strauss entwickelt wurde. Das Datenmaterial wird hier im Theoretical Sampling gegenstandsorientiert ausgewählt und zur Codierung, der Herausarbeitung vernetzter Konzepte, verwendet. Die Konzepte werden zu einer Theorie verknüpft, mittels derer soziale Phänomene erklärt und beschrieben werden können.

Theoretical Sampling

Beim Auswahlverfahren des Theoretical Sampling stehen die Auswahlkriterien der Daten nicht vorab fest, sondern das Datensample entwickelt schrittweise. Im ersten Schritt erfolgt die Auswahl weniger Fälle auf der Basis unspezifischer theoretischer Vorüberlegungen (Strübing 2010: 154). Hier werden viele verschiedene Situationen der Texterzeugung einbezogen, was die Berücksichtigung eines breiten empirischen Spektrums ermöglicht (Böhm 2008: 476). Aus dem bisher erhobenen Datenmaterial gewinnt man theoretische Konzepte, die anschließend die weitere Datenauswahl anleiten. Auf diese Weise erlangen die Auswahlkriterien im Verlauf des Projekts zunehmend an Spezifizität (Strübing 2010: 154).

Die vorliegende Forschungsarbeit bezieht hierzu alle im August und September 2010 in den Zeitungen WELT, SZ, FAZ, SPIEGEL und ZEIT erschienenen Artikel zu den Themen Integration und Migration in die Analyse mit ein. Die Auswahl der Printmedien, die Fokussierung auf normativ argumentierende Texte und die zeitlich Festlegung auf August und September 2010 leiten sich aus theoretischen Überlegungen im Rahmen der Forschungsfrage ab. Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ erschien Ende August. Um den direkten Vergleich zu ermöglichen, werden die normativ argumentierenden Zeitungsartikel des Augusts und des Septembers 2010 analysiert. In den seriösen Zeitungen sind, aufgrund einer gewissen Gründlichkeit der Artikel, argumentative Begründungsstrukturen zu erwarten. So können die Argumentationsmuster und die normativen Forderungen der Debatte differenziert herausgearbeitet werden. Eine breite Datenbasis ergibt sich durch die Auswahl der Zeitungen WELT, SZ, FAZ, ZEIT und SPIEGEL, die ein vielfältiges politisches Spektrum widerspiegeln. Auf diese Weise werden die verschiedenen Sichtweisen auf Integration und Migration berücksichtigt.

In der Auseinandersetzung mit dem so ausgewählten Datenmaterial können weitere Kriterien entwickelt werden, die eine differenziertere Analyse der Argumentationsmuster zu Integration und Zuwanderung ermöglichen. Die nähere Betrachtung der zuerst ausgewählten Texte macht ersichtlich, dass ein großer Anteil der Artikel nur sehr implizit und zwischen den Zeilen seine Position vertritt. Da solche Texte es kaum ermöglichen konkrete Argumente zu identifizieren, werden sie aus dem Datenkorpus ausgeschlossen. Die Stellungnahme zu erwünschten gesellschaftlichen Zuständen soll möglichst explizit sein und nicht nur zwischen den Zeilen und durch ironische Nebenbemerkungen durchscheinen.

In manchen Texten ist die normative Forderung zwar eindeutig ersichtlich, es finden sich aber kaum argumentative Begründungen der Position. Die Verknüpfung von Argument und normativer Forderung sollte jedoch im Text erkenntlich sein. Nur so können Verknüpfungen und Verweisungszusammenhänge der Argumentationsmuster weitestgehend beobachtet und das thematische Spektrum und die verschiedenen Blickwinkel der Argumentationen im Bereich von Integration und Zuwanderung erfasst werden. Trotzdem sollten die berücksichtigten Themen vom Kernthema der Integration und Zuwanderung nicht zu stark abweichen. Die untersuchten normativen Forderungen müssen von zentraler Bedeutung für die Integrationsdebatte sein. Im Datenmaterial sind am Ende des ersten Auswahlschrittes viele Texte mit nur randständiger Bedeutung für die Integrationsdebatte enthalten.

Durch den erworbenen Überblick können im nächsten Schritt nur Texte des Kernbereichs der Debatte einbezogen werden. Die Themen Kultur, Sozialstaat und Wirtschaftskonjunktur sind so zum Beispiel als wichtig für die Debatte um Integration und Zuwanderung identifizierbar. Mit diesem Wissen werden im Anschluss vermehrt Texte ausgewählt, die sich ebenfalls mit den genannten Thematiken auseinandersetzen. Die Diskussion über unterdrückte Christen in der Türkei ist dagegen beispielsweise nicht von zentraler Bedeutung. Durch die Beachtung der entwickelten Kriterien werden ausführliche Leserbriefe, Interviews, Kommentare, Glossen, und Features, Reportage und Berichte mit starker wertender Ebene in den Datenfundus aufgenommen.

Codieren

Die ausgewählten Texte werden in Hinblick auf Argumentationsmuster zum Thema der Migration und Integration durchgearbeitet. Textpassagen, die derselben Argumentationsweise zuordenbar sind, werden dem gleichen Überbegriff oder Code zugewiesen. Um einen besseren Zugang zu den, die Texte strukturierenden Mustern zu bekommen, kann Hintergrundwissen über den Entstehungskontext der Texte einfließen. In der vorliegenden Untersuchung dienen die Migrationsgeschichte Deutschlands und die wissenschaftlich festgestellten Wahrnehmungsmuster von Migranten seit 1949 als Rahmen der Kategorienkonstruktion. Die verschiedenen Phasen der Migrationsgeschichte, wie beispielsweise die Gastarbeiterphase, weisen auf Muster hin, die Migranten als Arbeitsmarktressource wahrnehmen. Das in der vorliegenden Arbeit gefundene Muster des ökonomischen Nutzens schließt sich an diese Denkweise an und ist bereits durch frühere Analysen von Zeitungstexten bekannt. So kann es auch in der vorliegenden Untersuchung leichter identifiziert werden (Böhm 2008: 476). Unter Anleitung des Hintergrundwissens werden die Artikel analysiert und codiert. Als Beispiel kann das wirtschaftliche Thema des Fachkräftemangels herausgegriffen werden. Verschiedene Textpassagen weisen auf den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in Deutschland hin. Besonders der demographische Wandel, also der Geburtenrückgang werden hier als Ursache angeführt. Diese Textabschnitte plädieren für Zuwanderung, um den Mangel auszugleichen und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands aufrechtzuerhalten. Alle Textstellen die sich mit dem Bedarf an Arbeitskräften aus dem Ausland beschäftigen, sind dem Code beziehungsweise dem Argumentationsmuster Fachkräftemangel unterzuordnen. Um möglichst gegenstandsverwurzelt zu bleiben, ist es hilfreich bei der Kategorienbildung In-Vivo Codes zu verwenden. Hier erhält die Kategorie die Bezeichnung, die auch in den Theorien der Textproduzenten zur Anwendung kommt (Böhm 2008: 478). Der Begriff des Fachkräftemangels ist ein Beispiel für einen In-Vivo Code. Auch die Journalisten und Politiker verwenden diesen Begriff, wenn sie für qualifizierte Zuwanderung argumentieren. Die Bezeichnung in den Zeitungsartikeln wird für die Codebildung übernommen.

Auf diese Weise werden alle ausgewählten Texte durchgearbeitet. Textstellen, die einer bestimmten Denkweise zum Thema Integration und Migration entsprechen, weist man einem bestimmten Code zu. In dieser Arbeit kommt das Programm MAXQDA für die Verknüpfung von Textstellen und Codes zur Anwendung. Innerhalb des Programms werden Textstellen markiert und einer Kategorie zugeordnet.

Theoriebildung

Die Zeitungsartikel werden mehrmals durchgearbeitet, so dass immer mehr Textstellen und inhaltliche Aspekte einer Kategorie zugeordnet werden können. Mit jedem Durchgang differenzieren sich die bereits entwickelten Konzepte, indem Beziehungsnetze um zentrale Kategorien beziehungsweise Argumentationskerne herum ermittelt werden. Unterkategorien und aufeinander verweisende Konzepte ergeben sich (Böhm 2008: 479). Das Argumentationsmuster des Fachkräftemangels kann zum Beispiel, genauso wie die Überlegungen zur ökonomischen Belastung durch Migranten, dem Code beziehungsweise Muster des ökonomischen Nutzens untergeordnet werden. Auch Verknüpfungen von Kategorien beziehungsweise Argumentationsmustern werden entdeckt. Zum Beispiel steht das Muster des ökonomischen Nutzens eng im Zusammenhang mit dem Muster des Sozialstaates. Beide Muster haben die Nützlichkeit der Migranten für das Funktionieren der deutschen Gesellschaft im Blick, wobei das eine Muster die Nützlichkeit für den Sozialstaat, das andere die Nützlichkeit für das Wirtschaftssystem betrachtet. Das Funktionieren des Sozialstaates und des Wirtschaftssystems sind außerdem dadurch verknüpft, dass sich beide durch die Erwerbsleistungen der Gesellschaftsmitglieder finanzieren.

Mit den so entwickelten theoretischen Konzepten beziehungsweise Kategorien werden im darauffolgenden Durchgang die Artikel erneut analysiert. Es wird überprüft, ob sich alle relevanten Textstellen in das entwickelte Konzept einfügen. Sind manche Texte noch nicht zuordenbar, ergeben sich Widersprüchlichkeiten oder neue Erkenntnisse wird das Kategoriensystem weiterentwickelt. Ist bei wiederholtem Durchgang durch das Datenmaterial keine Veränderung des Konzepts notwendig, ergeben sich also keine neuen Erkenntnisse, ist der Punkt der theoretischen Sättigung erreicht. Der Kategorisierungsvorgang ist abgeschlossen (Strübing 2010: 154).

2.2 Inhalt der Debatte

Dieser mehrstufige Kategorisierungsprozess wird für den August und den September 2010 separat durchgeführt. Die intensive Auseinandersetzung mit den Leserbriefen, Kommentaren, Interviews, Reportagen und Berichten aus FAZ, SZ, ZEIT, SPIEGEL und WELT erlaubt die Identifikation der Denkmuster vor und nach Sarrazins öffentlichem Auftritt. Die diskursiven Regeln im Durcheinander von Für und Wider innerhalb der Themen Zuwanderung und Integration werden so offengelegt. Hat sich durch Sarrazins Beitrag die Denkweise der deutschen Öffentlichkeit verändert? Die Betrachtung der Argumentationsmuster und Positionen, die in der „Integrationsdebatte“ auftauchen, ermöglicht die Bearbeitung dieser Frage.

2.2.1 Argumentationsmuster und Positionen

Durch die Analyse der Integrationsdebatte können drei inhaltliche Ebenen herausgearbeitet werden, die Zuwanderung und Integration der bereits Zugewanderten und außerdem die Debatte auf der Metaebene darüber, wie über Integration und Zuwanderung gesprochen werden soll. Auf allen drei inhaltlichen Ebenen lassen sich zwei einander gegenüberstehende Hauptpositionen des Diskurses identifizieren. Im Teildiskurs zur Einwanderung sind zuwanderungsfreundliche und zuwanderungsfeindliche Positionen zu entdecken. Es wird für eine Förderung oder für eine Einschränkung der Zuwanderung plädiert. Zur Integration sthematik lassen sich idealtypisch die normative Forderung nach einer „Willkommenskultur“ und die entgegengesetzte Forderung nach einer „Leitkultur“ herausarbeiten. Auf der Metaebene wird die Diskursqualität behandelt. Hier stehen sich die Forderung nach einem vollkommen freien Diskurs und die Forderung nach einem geregelten Diskurs gegenüber, in denen für oder gegen die Einhaltung von Diskursregeln eingetreten wird. Auf welche Weise typischerweise für die jeweiligen Hauptpositionen argumentiert wird, bestimmen die verschiedenen Argumentationsmuster.

Abbildung 1: Thematische Ebenen und Hauptpositionen der Integrationsdebatte

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

a) Zuwanderung

Einschränkung

Die Position der Einschränkung von Zuwanderung wird durch die Argumentationsmuster des Sozialstaats, des ökonomischen Nutzens, der kulturellen Distanz, des freiheitsfeindlichen Islam, der Überfremdung und der Integrationswirksamkeit gestützt. Die Forderung der Einschränkung der Einwanderung stellt innerhalb dieser Muster den abgeleiteten Wert dar. Das real gewünschte Ereignis begründet sich durch diesen übergeordneten Wert.

Sozialstaat

Das Argumentationsmuster des Sozialstaats verweist auf den Wert der Sozialstaatlichkeit. Migranten werden aufgrund ihrer unterdurchschnittlichen Erwerbstätigkeit als überdurchschnittliche Belastung für den deutschen Sozialstaat betrachtet. Wegen der geringeren Erwerbstätigkeit zahlen sie weniger Steuern und sind überdurchschnittlich häufig Empfänger von staatlichen Transferleistungen. So sieht zum Beispiel Wolfgang Urban in seinem Leserbrief an die FAZ, dass „[…]bei uns viele Migranten ohne Qualifikation direkt in die Sozialsysteme eingewandert sind“ (Urban 2010). Zuwanderung soll durch Überprüfung der Qualifikationen der potenziellen Immigranten kontrolliert werden. Durch die Beschränkung der Zuwanderung auf Hochqualifizierte kann der Belastung des Sozialstaates entgegengewirkt werden. Die mögliche Senkung des Lohnniveaus auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch billige Arbeitskräfte aus dem Ausland stellt ein weiteres Problem dar. Reinhard Grindel weist in seinem Gastkommentar in der WELT auf folgenden Zusammenhang hin:

„Wer auf die Vorrangprüfung verzichten und den Weg frei machen will für eine ungesteuerte Zuwanderung von Ausländern auf den deutschen Arbeitsmarkt, der will in Wahrheit eine billige und willige Konkurrenz zu heimischen Arbeitskräften schaffen.“ (Grindel 2010)

Eine eingeschränkte und gezielte Zuwanderung muss die Schwächung des deutschen Sozialstaates verhindern. Die Forderung nach eingeschränkter Zuwanderung wird durch den übergeordneten Wert des gesunden deutschen Sozialstaates begründet.

ökonomischer Nutzen

Eng verknüpft mit dem Sozialstaat -Muster ist das des ökonomischen Nutzens. Die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Wirtschaftssystems stellt hier den übergeordneten Wert dar, aus dem die Forderung nach eingeschränkter Zuwanderung abgeleitet wird. Das Leistungspotenzial der ständig zunehmenden Migrantenbevölkerung schätzt man als unterdurchschnittlich ein. Aus diesem Grund werden sie als schädlich für die deutsche Volkswirtschaft Deutschlands gesehen. Necla Kelek greift die türkischen Migranten heraus und weist mit Bezugnahme auf die Berechnungen Sarrazins auf deren ökonomische Schädlichkeit hin:

„Der Ökonom Sarrazin errechnet, dass aus 750000 Arbeitsmigranten aus der Türkei fast drei Millionen geworden sind, deren erwerbsfähiger Teil zu vierzig Prozent von Sozialleistungen lebt, sagt, das sei volkswirtschaftlich eine miese Bilanz, und überlegt, ob Zuwanderung, wie sie stattfindet, nicht falsch ist.“ (Kelek 2010)

Durch eine kontrollierte Zuwanderung ausschließlich wirtschaftlich nützlicher, also qualifizierter Einwanderer, ist die Abwendung dieser Bedrohung möglich. Die Forderung nach eingeschränkter Zuwanderung wird hier aus dem übergeordneten Wert eines funktionierenden Wirtschaftssystems abgeleitet.

kulturelle Distanz

Auf kultureller Ebene lässt sich das zuwanderungsfeindliche Argumentationsmuster der kulturellen Distanz identifizieren. Das Muster der kulturellen Distanz hat als übergeordneten Wert eine kulturell homogene deutsche Gesellschaft. Die kulturelle Andersartigkeit der Migranten wird hervorgehoben. Man nimmt an, dass die deutsche Gesellschaft durch Zuwanderung zunehmend kulturell heterogen wird. Eine Einschränkung der Einwanderung soll das verhindern. Die Argumentation für eine Einschränkung von Zuwanderung greift eine bestimmte Kultur, nämlich die des Islam heraus. Es handelt sich um das Argumentationsmuster des freiheitsfeindlichen Islam. Hier wird eine Einschränkung der Zuwanderung von muslimischen Migranten gefordert. Diese Forderung leitet sich aus dem abendländischen Wert der aufgeklärten Freiheit ab. Zuwanderer muslimischer Herkunft werden als Bedrohung moderner deutscher Werte gesehen, da islamische Lehren zu Verhaltensweisen anleiten, die aufgeklärten Werten widersprechen. Man geht davon aus, „[…] dass, wenn die Muslime weiter ihre archaische Kultur so leben wollen, wie sie es in Teilen jetzt tun, unsere Gesellschaft sich selbst abschafft“ (Kelek 2010). Die homogen aufgeklärte deutsche Gesellschaft darf sich nicht mit unaufgeklärtem Gedankengut durchsetzen. Der Einfluss der freiheitsfeindlichen Kultur muss möglichst gering gehalten werden. Aus diesem Grund ist die Einwanderung von Muslimen einzuschränken. Die Forderung nach eingeschränkter Zuwanderung von Muslimen begründet sich durch den Wert der kulturellen Homogenität einer freiheitlich aufgeklärten Gesellschaft.

Überfremdung

Ein weiteres Argumentationsmuster, das die Forderung nach Eindämmung der Einwanderung nach Deutschland begründet, ist das der Überfremdung. Dieses Muster bezieht sich auf die soziale Ebene. Durch Betonung der Andersartigkeit der Zuwanderer werden sie als fremde und bedrohliche Gruppe den Deutschen gegenübergestellt. Ihre zunehmende Anwesenheit in Deutschland birgt aufgrund ihrer Fremdheit eine Gefahr des Ungewissen. Im Leserbrief von Wolfgang Urban an die FAZ wird die empfundene Bedrohung ersichtlich:

„Kürzlich hat das Statistische Bundesamt bekanntgegeben, dass 2009 mehr als 16 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln in Deutschland lebten […]. Jeder fünfte Bürger hat also bundesweit einen Migrationshintergrund […]. Tatsache ist, dass in einigen deutschen Großstädten fast die Hälfte der Einwohner aus Einwandererfamilien stammen. Experten sagen voraus, dass in zehn bis zwanzig Jahren die Mehrheit der Menschen in Deutschland ausländische Wurzeln haben wird. Das wird unser Alltagsleben tiefgreifend verändern. […] In der Demokratie entscheidet bekanntlich die Mehrheit, warum sollte also die Mehrheit der Einwanderer das nicht nutzen, um ihre eigenen Wertvorstellungen durchzusetzen? Wer diese Prognose für übertrieben hält, der sollte sich zum Beispiel in jenen großstädtischen Hauptschulen umhören, in denen Migrantenkinder, die dort 70 bis 80 Prozent der Schüler stellen, bereits ‚das Kommando übernommen haben‘." (Urban 2010)

Die Bedrohung der Gruppe der Deutschen mit geteilten, bekannten und vorhersehbaren Wertvorstellungen durch die anders denkenden und bewertenden Migranten soll durch die Eingrenzung von Einwanderung vermieden werden. Auch das Bild der unkontrollierbaren und von der deutschen Mehrheitsgesellschaft abgegrenzten Parallelgesellschaften beinhaltet die Angst vor den unbekannten, fremden und bedrohlichen Migranten. Ungesteuerte Zuwanderung ist als Ursache der Parallelgesellschaften zu sehen. Reinhard Grindel verwendet in seinem Gastkommentar in der WELT diese Betrachtungsweise:

„Asylbewerber, ausländische Ehegatten, Bürgerkriegsflüchtlinge und auch Aussiedler - sie kamen alle ungesteuert aufgrund subjektiver Rechte, die ihnen unsere Gesetze eingeräumt haben. Wegen dieser ungesteuerten Zuwanderung haben sich Parallelgesellschaften gebildet, die wir jetzt mit vielfältigen Integrationsmaßnahmen aufbrechen müssen.“ (Grindel 2010)

Der Wert von vertrauter Sicherheit begründet die Forderung nach eingeschränkter und stärker kontrollierter Einwanderung. Die Entstehung eines Fremdheitsgefühls im eigenen Land soll verhindert werden.

Integrationswirksamkeit

Auch das Argumentationsmuster der Integrationswirksamkeit zielt auf eine Kontrollierbarkeit der gesellschaftlichen Situation ab. Vor diesem Hintergrund wird eine integrierte Gesellschaft angestrebt. Unkontrollierte Zuwanderung bringt Integrationsprobleme mit sich. Besonders die Integrationsfähigkeit in den Arbeitsmarkt muss über eine Überprüfung der Qualifizierung der Einwanderer kontrolliert werden. Wolfgang Urban sieht in der panikartigen Forderung nach Fachkräftezuwanderung in seinem Leserbrief an die FAZ eine Gefahr:

„[D]ieser Alarm […] orientiert sich zu einseitig an wirtschaftlichen Interessen, während er die gravierenden Integrationsprobleme völlig ausblendet. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass in Deutschland vor allem Bedarf an hochqualifizierten Fachleuten aus dem Ausland besteht. Deshalb ist der Arbeitgebervorschlag vernünftig, ein Punktesystem zu schaffen, das Einwanderer vor allem danach überprüft, ob ihre Qualifikationen ausreichen, um auf dem deutschen Arbeitsmarkt Chancen zu haben.“ (Urban 2010)

Aus dem Wert der Integration wird die Forderung nach Einschränkung der Zuwanderung abgeleitet. Durch die Einschränkung der Zuwanderung durch Qualifikationskontrollen, kommt man dem Ziel der Integration von Zuwanderern und Einheimischen näher.

Zusammenfassung

Verschiedene Denkweisen werden zur Begründung der Forderung nach Zuwanderungseinschränkung herangezogen. Diese verschiedenen Denkarten schlagen sich im Muster des Sozialstaates, des ökonomischen Nutzens, der kulturellen Distanz, des freiheitsfeindlichen Islam der Überfremdung und der Integrationswirksamkeit nieder. In allen Perspektiven werden die Migranten als Bedrohung wahrgenommen. Der deutsche Wohlstand, das Wohlfahrtssystem, Sicherheit, Vertrautheit und Konfliktfreiheit scheinen durch die Zuwanderung gefährdet. Um diese Bedrohungen abzuwenden muss die Immigration nach Deutschland begrenzt werden.

Förderung

Die Forderung nach Förderung von Zuwanderung ist der Hauptposition der Einschränkung der Zuwanderung entgegengesetzt. Sie wird in den untersuchten Zeitungsartikeln durch das Argumentationsmuster des ökonomischen Nutzens, des Sozialstaates und der Menschenwürde gestützt.

ökonomischer Nutzen

Das Muster des ökonomischen Nutzens leitet den Wert der gesteigerten Zuwanderung folgendermaßen aus dem Wert der globalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ab: Der demographische Wandel in Deutschland führt zu sinkenden Geburtenraten, was die die Anzahl der für die Wirtschaft verfügbaren Arbeitskräfte verringert. So ergibt sich ein Fachkräftemangel, der die Behauptung Deutschlands im globalen Wettbewerb behindert. Der Spiegelartikel „Beschränkt willkommen“ illustriert diesen Argumentationszusammenhang des ökonomischen Nutzens:

„In der Wissensgesellschaft sind gutausgebildete Menschen das wichtigste und zugleich knappste Kapital. Während andere Industrienationen seit Jahren um ausländische Fachkräfte buhlen, schreckt die Bundesrepublik Hochqualifizierte bis heute eher ab. Doch die Globalisierung, der demografische Wandel und die Anforderungen der Wirtschaft verlangen nach einer neuen, modernen Zuwanderungspolitik. […] Schon klagen die ersten Unternehmen über Fachkräftemangel.“ (Dettmer/Elger/Müller/Schröter/Tietz 2010)

Der freie Zugriff der deutschen Wirtschaft auf Arbeitskräfte auch aus anderen Ländern bedingt den Erfolg des deutschen Wirtschaftssystems. Aus diesem Grund erscheint qualifizierte Zuwanderung als notwendig. Zuwanderung soll unter anderem durch eine Lockerung des Anwerbeverbots gefördert werden, da „[…] das Anwerbeverbot die Einstellung von - in vielen Fällen wirklich dringend benötigten Kräften - unnötigerweise erschwert. So kommt dann auch manche Rationalisierung zustande, die wohl unterbleiben würde, wenn die auf Expansionskurs gehenden Unternehmen sich ungehindert an den ausländischen Arbeitsmärkten bedienen könnten.“ (Barbier 2010)

Um im weltweiten Wettbewerb bestehen zu können, muss die deutsche Wirtschaft sich uneingeschränkt entwickeln können. Der hierzu notwendige Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften muss durch eine Förderung von Fachkräftezuwanderung gesättigt werden.

Sozialstaat

Eng verknüpft mit dem Muster des ökonomischen Nutzens ist das Argumentationsmuster des Sozialstaates. Der Wert eines funktionierenden sozialen Wohlfahrtsstaates begründet den Wert der Zuwanderungsförderung. Der demographische Wandel, also die sinkenden Geburtenraten und die steigende Lebenserwartung in Deutschland, bewirken einen Mangel an Arbeitskräften und somit eine Abnahme des erwerbstätigen Bevölkerungsanteils. Aus diesem Grund muss ein größerer Bevölkerungsanteil durch die Steuerabgaben eines kleineren erwerbstätigen Bevölkerungsanteils sozial abgesichert werden, wodurch das Weiterbestehen des Sozialstaates gefährdet ist. Durch den Zuzug von erwerbsfähigen Migranten kann dem Mangel entgegengewirkt werden. Götz Hamann weißt in seinem Artikel in der ZEIT auf die Probleme einer Zuwanderungspolitik hin, die den Fachkräftezuzug behindert:

„Der Mangel kostet uns Wohlstand, nicht in Zukunft, sondern jetzt, im Jahr 2010. Mit den Jobs entgehen dem Staat Steuern, also neue Verteilungsspielräume und die Chance auf einen schnelleren Schuldenabbau.“ (Hamann 2010)

Durch qualifizierte Zuwanderung kann der Mangel an Beitragszahlern im deutschen Sozialstaat ausgeglichen werden, da mit dem Anstieg der Erwerbstätigen der Anteil der Steuerzahler wächst. Die Forderung nach verstärkter Zuwanderung wird durch den Wert des funktionierenden Sozialstaates begründet.

Menschenwürde

Auch auf der moralischen Ebene findet sich ein Argumentationsmuster, das die Forderung nach Zuwanderungsförderung unterstützt. Das Muster der Menschenwürde hat den unbedingten Wert des Menschen als oberstes Prinzip. Alles menschliche Handeln sollte aufgrund des Wertes der Menschenwürde letztlich dem Wohl des Menschen dienen. In diesem Sinne fordert Hans D. Barbier, den Fachkräftebedarf im Rahmen des deutschen Wirtschaftsaufschwunges für den Menschen, egal aus welchem Land, zu nutzen:

„Es mag ja sein, dass es gelingt, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf den Weltmärkten gerade durch die Behinderung der Einstellung neuen Personals und dadurch bedingt auf dem Wege der über den Markt erzwungenen Intensivierung der Ausstattung mit Sachinvestitionen für einen kurzen Zeitraum zu erhalten. Das ist aber nun wirklich keine Strategie, die das Beiwort ‚sozial‘ verdient.“ (Barbier 2010)

Die Forderung nach Fachkräftezuwanderung wird aus dem Wert der Menschenwürde abgeleitet. Wenn durch den wirtschaftlichen Aufschwung Arbeitsplätze frei werden, kann das dem Wohl des Menschen dienen. Sind die freien Arbeitsstellen nicht durch Deutsche besetzbar, sollen ausländische Fachkräfte von dieser Erwerbsmöglichkeit profitieren. Von der Alternative der Investition in Maschinen soll abgesehen werden.

Zusammenfassung

Auch die Forderung nach Zuwanderungsförderung stützt sich wie die Forderung nach einer Einschränkung auf die Denkmuster des ökonomischen Nutzens und des Sozialstaates. Hier wird Immigration aber nicht als Bedrohung für Deutschland, sondern als Chance gesehen. Migranten werden als wertvolle Ressource für das deutsche Wirtschafts- und Sozialsystem betrachtet. Eine andere Perspektive nimmt das Argumentationsmuster der Menschenwürde ein. Hier geht es nicht um den Nutzen oder Schaden für Deutschland, sondern um den Wert des Menschen an sich. Von einer guten wirtschaftlichen Situation sollten Menschen profitieren, egal aus welchem Land sie stammen.

b) Integration

Auch zum Thema der Integration können einander gegenüberstehende Hauptpositionen in den kommentarhaften Zeitungsartikeln aus den untersuchten Printmedien herausgearbeitet werden. Die Hauptstandpunkte lassen sich unter den Begriffen „Leitkultur“ und „Willkommenskultur“ zusammenfassen. Die Forderungen nach einer „Leitkultur“ und nach einer „Willkommenskultur“ beinhalten beide das Ziel einer integrierten Gesellschaft. Sie unterscheiden sich aber in der Ansicht darüber, worin eine integrierte Gesellschaft besteht und auf welche Weise eine solche Gesellschaft erreicht werden kann. Das Bild von Migranten, also das entsprechende Wahrnehmungsmuster ist jeweils ein anderes. Aufbauend auf den Wahrnehmungsmustern werden Argumentationsmuster angewendet, die entweder für eine Integration im Sinne der „Leitkultur“ oder im Sinne der „Willkommenskultur“ sprechen.

„Leitkultur“

Die Forderung nach einer „Leitkultur“, an der sich die Migranten orientieren sollen, zielt auf eine kulturell homogene stabile Gesellschaft ab. Sie basiert auf der Annahme einer gegebenen deutschen Kultur. Die Migranten treffen auf diese Kultur und sollen sich an sie anpassen, so dass es zu keiner Veränderung der bestehenden kulturellen Gegebenheiten kommt. Den Migranten wird also nur ein geringer Handlungsspielraum zugestanden. Sie sollen die kulturell definierten Werte übernehmen und sich ihnen entsprechend verhalten. Als Muster zur argumentativen Begründung der Integration in Orientierung an einer „Leitkultur“ ergab die Analyse der Artikel das Muster der kulturellen Distanz, des freiheitsfeindlichen Islam, des Sozialstaatsmissbrauchs, der Kriminalität, der Integrationsunwilligen, der Überfremdung, der Rassismusvorbeugung und der Integrationswirksamkeit.

Ende der Leseprobe aus 99 Seiten

Details

Titel
Der Fall Sarrazin
Untertitel
Eine diskursanalytische Untersuchung
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
99
Katalognummer
V230282
ISBN (eBook)
9783656482345
Dateigröße
904 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Migration, Diskursanalyse, Sarrazin, Integration, Integrationsdebatte, Wissenssoziologie, Reiner Keller, Jürgen Habermas, Gerhard Schulze, Richard Münch, idealer Diskurs, Diskursethik, Argumentationsmuster
Arbeit zitieren
Simone Wiedemann (Autor:in), 2012, Der Fall Sarrazin, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/230282

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