Theoretische und praktische Aspekte der Legasthenie aus linguistischer Sicht


Examensarbeit, 2003

108 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1 Einleitung – Ziel der Arbeit

2 Legasthenie – Was ist das eigentlich?
2.1 Historischer Überblick über Forschung und Begriffsverständnis
2.1.1 Somatisch-medizinischer Ansatz
2.1.2 Spezifisch-psychologischer Ansatz
2.1.3 Empirisch-pädagogischer Ansatz
2.1.4 Bildungspolitisch-administrativer Ansatz
2.1.5 Interaktional-systemischer Ansatz
2.1.6 Neurobiologisch-integrativer Ansatz
2.1.7 Linguistisch-orientierter Ansatz
2.1.8 Resümee und aktueller Stand
2.2 Ursachen der Legasthenie
2.2.1 Befunde zur Genetik
2.2.2 Befunde zur auditiven Wahrnehmung
2.2.3 Befunde zur visuellen Wahrnehmung
2.2.4 Resümee
2.3 Symptomatik der Legasthenie
2.3.1 Kategorielle Symptome der Legasthenie
2.3.1.1 Lesen
2.3.1.2 Rechtschreibung
2.3.1.3 Gesprochene Sprache
2.3.1.4 Merkfähigkeit
2.3.1.5 Motorik
2.3.1.6 Verhaltensauffälligkeiten
2.3.2 Beispielhafte Erscheinungsbilder von Legasthenikern
2.3.2.1 Fallbeispiel Peter (1. Klasse)
2.3.2.2 Fallbeispiel Tim (1. Klasse)
2.3.2.3 Fallbeispiel Felix (2. Klasse)
2.3.3 Resümee

3 Der Schriftspracherwerb und die damit verbundenen Schwierigkeiten
3.1 Was geschieht beim Lesen und Schreiben?
3.1.1 Zwei-Wege-Modell des Lesens von COLTHEART
3.1.2 Rechtschreibmodell von SIMON & SIMON
3.1.3 Resümee
3.2 Modelle des Lesen- und Schreibenlernens 22
3.2.1 Das 5-phasige Entwicklungsmodell von GÜNTHER
3.2.2 Modell für die Lese- und Schreibentwicklung von VALTIN
3.2.3 Erwerb des orthographischen Monitors nach MAAS
3.2.4 Resümee
3.3 Alphabetisches Prinzip als Hürde zum Erfolg 30
3.3.1 Entwicklung des alphabetischen Schriftsystems
3.3.2 Warum verursacht das alphabetische Prinzip Schwierigkeiten?
3.3.2.1 Phon/Phonem und Graph/Graphem
3.3.2.2 Phonem-Graphem-Korrespondenz
3.3.3 Resümee
3.4 Voraussetzungen für den Schriftspracherwerb
3.4.1 Allgemeine kognitive Fertigkeiten
3.4.2 Spezielle visuelle Fertigkeiten
3.4.3 Gedächtnisfertigkeiten
3.4.4 Sprachliche Fertigkeiten
3.4.4.1 Allgemeine sprachliche Fertigkeiten
3.4.4.2 Phonologische Informationsverarbeitung
3.4.4.2.1 Phonologische Bewusstheit
3.4.4.2.2 Phonologische Rekodierung beim Zugriff auf das semantische Lexikon
3.4.4.2.3 Phonetische Rekodierung im Arbeitsgedächtnis
3.4.5 Abhängigkeitsverhältnisse und Auswirkungen der Voraussetzungen
3.4.5.1 Leseverständnis als Kriterium
3.4.5.2 Rechtschreiben als Kriterium
3.4.6 Resümee

4 Überprüfung der phonologischen Bewusstheit
4.1 Notwendigkeit, Schwierigkeiten und Grenzen einer frühen Identifikation von Risikokindern
4.2 Bielefelder Screening-Verfahren (BISC) zur Identifikation von LRS-Risikokindern
4.2.1 Testbereiche und ihre Aufgaben
4.2.2 Durchführung und Auswertung
4.2.3 Zuverlässigkeit und Gültigkeit
4.3 Spezielle Aufgaben zur Überprüfung der phonologischen Bewusstheit
4.4 Resümee

5 Förderung phonologischer Bewusstheit im Vorschul- und Grundschulalter
5.1 Erkenntnisse der skandinavischen Forschergruppe um LUNDBERG
5.2 Trainingsprogramme von SCHNEIDER et al
5.2.1 Grundprinzip der Fördermaßnahmen
5.2.2 Die Trainingsprogramme und ihr Einsatz
5.2.2.1 Würzburger Trainingsprogramm (WüT)
5.2.2.1.1 Gruppentraining nach dem Arbeitsbuch „Hören, lauschen, lernen“
5.2.2.1.2 Multimediaprogramme
5.2.2.2 Sprachprogramm zur Buchstaben-Laut-Verknüpfung
5.2.2.2.1 Einführungsspiele ohne Computer
5.2.2.2.2 Weiterführende Multimediaspiele
5.2.2.3 Kombiniertes Training der phonologischen Bewusstheit und der Buchstaben-Laut-Verknüpfung
5.2.3 Wissenschaftliche Überprüfung der Wirksamkeit
5.2.3.1 Erste Trainingsstudie zur phonologischen Bewusstheit
5.2.3.2 Zweite Trainingsstudie zur phonologischen Bewusstheit
5.2.3.3 Trainingsstudie zur phonologischen Verknüpfungshypothese
5.3 Fördephon: Förderkonzept in Schleswig-Holstein
5.4 Resümee

6 Abschließendes Resümee

ANHANG

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

QUELLENVERZEICHNIS

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

VERSICHERUNG

1 Einleitung – Ziel der Arbeit

Seit Ende des 19. Jahrhunderts betrachtet man das Thema „Legasthenie“ aus vielen verschiedenen Blickwinkeln. In dieser Arbeit erfolgt die Analyse schwerpunktmäßig aus linguistischer Sicht.

Linguistik ist ein synonymer Begriff für Sprachwissenschaft, eine „wissenschaft-liche Disziplin, deren Ziel es ist, Sprache und Sprechen unter allen theoretisch und praktisch relevanten Aspekten und in allen Beziehungen zu angrenzenden Disziplinen zu beschreiben“[1]. Bei der Untersuchung der menschlichen Sprache wird zwischen verschiedenen Aspekten differenziert: Bewegt man sich auf der Ebene der Zeichen und ihrer Systematik, so ergeben sich die Teildisziplinen der

- Phonologie (Lehre von den Sprachlauten),
- Morphologie (Formenlehre),
- Wortbildung,
- Syntax (Lehre vom Satzbau),
- Semantik (Lehre von den Bedeutungen),
- Pragmatik (Sprachverhalten) und
- Textlinguistik,

die man sowohl synchronisch, d.h. als Sprachzustand als auch diachronisch, d.h. bezüglich ihrer historischen Entwicklung betrachten kann. Die Sprachproduktion und

-wahrnehmung des Menschen, in deren Bezug der Spracherwerb und auch die Sprachstörungen stehen, sind Aufgabenfeld der Psycho- und Neurolinguisten. Da-neben beschäftigen sich die Sozio- und Ethnolinguistik mit den soziologischen Be-dingungen, die mit der Sprache verknüpft sind, wozu auch der Einfluss der Dialekte zählt. Das Themenfeld wird schließlich noch durch Fragen der angewandten Sprach-wissenschaft ergänzt, die sich z.B. mit der Fremdsprachendidaktik auseinandersetzt.[2]

Diese Arbeit setzt sich aus einer Kombination der Themenbereiche „Phonologie“ sowie „Sprachproduktion und -wahrnehmung“ zusammen, wobei insbesondere Stö-rungen der Lautwahrnehmung eine zentrale Rolle spielen werden.

Zuvor werden das Begriffsverständnis, welches sich im Laufe der Zeit gewandelt hat, die Ursachen und die Symptomatik der Legasthenie dargestellt. Der Terminus „Le-gasthenie“ setzt sich aus dem lateinischen „legere“ für lesen und dem griechischen „Astheneia“ für Schwäche zusammen.[3] Womit ursprünglich also nur eine Schwäche im Lesen gemeint war, werden damit in heutiger Zeit auch Schwierigkeiten im Rechtschreiben verstanden. Laut Fremdwörterlexikon von DUDEN handelt es sich bei der Legasthenie um die „mangelnde Fähigkeit, Wörter und zusammenhängende Texte zu lesen oder zu schreiben“[4].

Ist die Bedeutung der Legasthenie geklärt, beginnt die Analyse aus linguistischer Sicht. Dazu wird gezeigt, wie Lesen und Rechtschreiben funktionieren, wie sich die-se Fertigkeiten entwickeln und welche Schwierigkeiten damit verbunden sind. An-hand des Vergleichs von dafür notwendigen Voraussetzungen mit denen von legas-thenen Kindern, sollen dann die entsprechenden Defizite, die zu den Schwierigkeiten führen, diagnostiziert werden. Damit diese Mängel nicht nur dazu dienen, die Kinder zu klassifizieren, sondern damit ihnen dadurch auch geholfen werden kann, stellt sich im Anschluss daran die Frage, ob und wie die Defizite erkannt werden können und wie mit einer etwaigen – frühzeitigen – Diagnose umgegangen werden kann. Dazu werden Fördermöglichkeiten gesucht und beschrieben, die bei einer Legasthenie – im besten Fall noch vor Ausbruch, d.h. in der Vorschule – eingesetzt werden können, um eventuell auftretenden Schwierigkeiten entgegenzuwirken und die legasthenen Kinder nicht ihrem Schicksal zu überlassen.

2 Legasthenie – Was ist das eigentlich?

Obwohl es sich bei der Legasthenie um einen relativ bekannten und oft verwendeten Begriff handelt, gibt es gerade bezüglich der Ursachenzuschreibung sehr unter-schiedliche Auffassungen.

Doch wie kommt es, dass ein und derselbe Begriff mit so vielen verschiedenen An-sichten behaftet ist? Und was verbirgt sich nun wirklich hinter der Legasthenie? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, wird in dieser Arbeit zunächst ein histo-rischer Überblick über die Forschung und das Begriffsverständnis bezüglich der Le-gasthenie gegeben und daraus die aktuelle Auffassung hergeleitet. Danach erfolgt ein Übergang zu den Ursachen, die sich hinter einer Legasthenie verbergen und eine Darstellung der Legastheniesymptomatik, die mit einigen Fallbeispielen untermauert wird.

2.1 Historischer Überblick über Forschung und Begriffsverständnis

Seit Ende des 19. Jahrhunderts befassen sich Fachleute aus den unterschiedlichsten Bereichen mit dem Thema „Legasthenie“ und stellen jeweils ihre eigenen Theorien dazu auf. Schaut man sich die Geschichte der Forschung und des Begriffsverständ-nisses bezüglich der Legasthenie an, so erkennt man den Ursprung der heutigen kontroversen Auffassungen. Zu diesem Zweck wird nun aus einer Vielzahl von his-torischen Darstellungen eine Version vorgestellt, welche sieben Hauptansätze dar-stellt: Hierbei handelt es sich um den somatisch-medizinischen, den spezifisch-psychologischen, den empirisch-pädagogischen, den bildungspolitisch-administra-tiven, den interaktional-systemischen, den neurobiologisch-integrativen und den linguistischen Ansatz.

2.1.1 Somatisch-medizinischer Ansatz

Es waren die Mediziner, die sich Ende des 19. Jahrhunderts als Erste mit den Schwierigkeiten beim Erlernen von Lesen und Schreiben befassten.

1877 sprach der Heidelberger Arzt KUSSMAUL erstmals von dem Begriff „Wort-blindheit“, worunter er die Schwierigkeit verstand, einzelne Buchstaben oder simple Wörter zu erkennen. Knapp zwei Jahrzehnte später schlossen sich der Braunschwei-ger Schularzt BERKHAN (1895), der englische Schularzt KERR (1896) und der englische Augenarzt MORGAN (1896) dieser Auffassung an.[5]

MORGAN versuchte zusätzlich mit dem differenzierteren Begriff „congential word-blindness“ (angeborene Wortblindheit) zu verdeutlichen, dass die Ursache für die Lernschwierigkeiten nicht in einer Aphasie, d.h. in einem organisch bedingten Sprachverlust, sondern in einem vererbten Defekt des Gehirns liegt, der zu einer cerebralen Dysfunktion führt.[6]

1916 führte dann der Kinderarzt RANSCHBURG den Begriff „Legasthenie“ ein. Als Ursache dieser „eigentlichen Lese- und Schreibschwäche“ (Legasthenie), die er von der „eigentlichen infantilen Leseblindheit“ abgrenzte, nannte er eine kognitive Ent-wicklungsverzögerung[7]:

„Legasthenie ist eine nachhaltige Rückständigkeit höheren Grades in der geistigen Entwicklung des Kindes.“[8]

Spätestens mit dieser Definition war das klassische medizinische Konzept geboren, dass die Ursachen für die Schwierigkeiten ausschließlich im Kind selbst sucht.[9]

2.1.2 Spezifisch-psychologischer Ansatz

Galten legasthene Kinder bislang schlicht als dumm, so wandelte sich dieses Denken im Jahr 1951 mit der Erkenntnis der Schweizer Psychologin LINDER, die Legasthe-niker als durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent befand:[10]

„Legasthenie ist eine spezielle und aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und auch indirekt des selbstständigen orthogra-phischen Schreibens) bei sonst intakter oder (im Verhältnis zur Lesefähigkeit) relativ guter Intelligenz.“[11]

In den 50er Jahren beschäftigten sich dann hauptsächlich Psychologen mit der The-matik. Kinder wurden nur dann als Legastheniker bezeichnet, wenn sie eine mindes-tens durchschnittliche Intelligenz aufwiesen und sich ihre Probleme nur auf die Be-reiche Lesen und Schreiben erstreckten. Neben Sprachschwierigkeiten, Linkshändig-keit, Impulsivität und Speicherproblemen wurden vor allem Funktionsstörungen in der visuellen und auditiven Wahrnehmung als Ursachen angesehen.[12]

2.1.3 Empirisch-pädagogischer Ansatz

Im Jahr 1974 griff man die psychologische Theorie auf und versuchte mit dem soge-nannten „Fernstudienlehrgang Legasthenie“ bundesweit sämtliche Lehrer anhand von Studienbriefen zu Therapeuten der Legasthenie auszubilden. Die Pädagogin VALTIN übernahm mit ihren Kollegen ANGERMAIER, MEYER und SCHNEI-DER-RUMOR die Leitung für dieses Projekt und stellte folgende operationale De-finition auf:[13]

„Wir bezeichnen Kinder mit einem Prozentrang von 15 und weniger in einem Lese- und/oder Rechtschreibtest als Legastheniker, wenn ihre Intelligenz mindestens durchschnittlich ist. Als mindestens durchschnittliche Intelligenz gilt ein IQ von 90 und darüber, wobei der Standardmessfehler zu berücksichtigen ist, so dass als untere IQ-Grenze etwa 85 anzusehen ist.“[14]

Auf der Grundlage dieser Definition wurden Tests durchgeführt, deren Ergebnisse darüber entschieden, ob es sich bei den Kindern um intelligente Legastheniker han-delte, die eine entsprechende Förderung erhielten oder ob sie „nur“ lese- und rechtschreibschwach waren und nicht gefördert wurden. Diese Maßnahme erwies sich jedoch aus pädagogischen und wissenschaftlichen Gründen bald als unhaltbar.[15]

2.1.4 Bildungspolitisch-administrativer Ansatz

Aus dem erfolglosen empirisch-pädagogischen Modell zog die Kultusministerkon-ferenz (KMK) im Jahr 1978 die Konsequenz, den Begriff „Legasthenie“ aufzugeben und zukünftig von Kindern mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Le-sens und des Rechtschreibens zu sprechen. Ab sofort hatten nicht mehr nur die in-telligenten Legastheniker ein Recht auf Förderung:[16]

„Besondere Fördermaßnahmen sollen für Schüler vorgesehen werden, welche die Ziele des Lese- und/oder Rechtschreibunterrichts der Jahrgangsstufe 2 noch nicht erreicht haben, sowie für Schüler der Jahrgangsstufen 3 und 4, deren Leistungen im Lesen und/oder Rechtschreiben über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten hinweg schlechter als ausreichend bewertet werden.“[17]

Außerdem zog man nun auch in Betracht, dass Umweltfaktoren wie die Familie, der Unterricht und das Lernklima maßgeblichen Einfluss auf die Schwierigkeiten ha-ben.[18]

2.1.5 Interaktional-systemischer Ansatz

Zuletzt genannte Annahme findet sich im interaktional-sytemischen Konzept wieder, das die Ursachen nicht ausschließlich im Kind selbst, sondern im Zusammenspiel verschiedener Faktoren sieht. NAEGELE und VALTIN bringen dies zum Ausdruck, indem sie den Begriff „Schwäche“ durch „Schwierigkeiten“ ersetzen:[19]

„Die Bezeichnung Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) (…) als Sammelbegriff für eine Vielzahl von Problemen, die Schülerinnen beim Erlernen des Lesens, Schrei-bens und Rechtschreibens und späterhin beim Gebrauch der Schriftsprache auf-weisen.“[20]

KLICPERA/GASTEIGER-KLICPERA entwickelten 1993 auf dieser Ebene ein in-teraktionales Legastheniekonzept, in dem drei Faktoren eine große Rolle spielen: in-dividuelle Lernvoraussetzungen auf kognitiver, sozialer und emotionaler Ebene, fa-miliäre Interaktionen und Unterricht. Sie haben einerseits eine Wechselwirkung auf-einander und beeinflussen andererseits die Lese- und Rechtschreibentwicklung.[21]

2.1.6 Neurobiologisch-integrativer Ansatz

Laut „Internationaler Klassifikation psychischer Störungen“ (ICD-10: „International Classification of Disease“) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) handelt es sich bei der Lese- und Rechtschreibstörung um eine umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten, deren Ursachen in biologischen Reifungsprozessen des Zentralnervensystems liegen:[22]

„Die Legasthenie ist die Störung des Lesens und Rechtschreibens, die entwick-lungsbiologisch und zentralnervös begründet ist. Die Lernstörung besteht trotz hin-reichender allgemeiner Intelligenz und normaler familiärer und schulischer Lern-anregungen. Das Versagen im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens ist nicht durch eine klassische neurologische oder andere Erkrankung oder Behinderung, Seh- oder Hörstörung erklärbar. Als ausschlaggebend gelten biologische Reifungs-prozesse des zentralen Nervensystems.“[23]

Einschränkungen in der Reifung sollen bereits vor der Geburt genetisch festgelegt sein oder während der Schwangerschaft durch Schädigungen wie z.B. durch Sauer-stoffmangel entstehen.[24]

2.1.7 Linguistisch-orientierter Ansatz

Nähern wir uns der linguistischen Sichtweise, auf die sich diese Arbeit stützen wird. Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gehen die Linguisten von der Tatsache aus, dass es sich beim Erlernen des Lesens und Schreibens um einen Entwicklungspro-zess handelt, der sich wie jeder andere Lernprozess in bestimmten Stufen vollzieht und dass die Legasthenie demnach eine Entwicklungs- bzw. Lernverzögerung ist.[25]

Deshalb wird das Lesen und Rechtschreiben seitdem in Form von Prozessanalysen untersucht: Mit Hilfe kognitiver Informationsverarbeitungsmodelle strukturiert man den Prozess des Lesens und Schreibens und bildet ihn in Funktionsmodellen ab.[26]

„Der Unterschied zu früheren Untersuchungen liegt darin, dass hier nicht nach den Ursachen der Legasthenie gefragt wird, sondern danach, welche Voraussetzungen Kinder zum erfolgreichen Lesen- und Schreibenlernen brauchen. Dies kennzeichnet eine entscheidende Wende in der Legasthenieforschung.“[27]

Legasthenikern fehlen also bestimmte Voraussetzungen, die einen erfolgreichen Er-werb des Lesens und Rechtschreibens erst ermöglichen:

„Die Leserechtschreibschwäche wird als eine sensorische Informationsverarbei-tungsstörung auf verschiedenen Verarbeitungsniveaus betrachtet, wobei lese- und rechtschreibschwache Kinder insbesondere Defizite in der Sprachwahrnehmung und der Phonologischen Bewusstheit aufweisen. Während wir beim Lesen vor allem Pro-bleme in der Lautsynthese vorfinden, bereitet den Kindern beim Rechtschreiben die Segmentation von gesprochenen Wörtern in einzelne Laute große Schwierigkeiten. Das lautierende Lesen und das lautorientierte Rechtschreiben stellen hohe Anfor-derungen an die Lautverarbeitung.“[28]

Dieses Konzept der sprachlich-phonologischen Störung, welches von allen gerade genannten Konzepten empirisch am Besten abgesichert werden konnte,[29] wird Grundlage dieser Arbeit sein.

2.1.8 Resümee und aktueller Stand

Das erste, gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstandene medizinische Konzept, das die Hauptursache für Legasthenie in unterdurchschnittlicher Intelligenz suchte, konnte erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts durch Psychologen widerlegt werden. Pädagogen stellten danach eine Formel auf, nach der nur „intelligente Legastheniker“ gefördert werden sollten und benachteiligten somit alle restlichen Kinder mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. Daraufhin schuf die Kultusministerkonferenz von 1987 den Begriff Legasthenie ab und bestand auf die künftige Förderung sämtlicher Kinder mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. Gleichzeitig kam der Verdacht auf – der 1993 auch explizit beschrieben wurde –, dass die Schwierigkeiten nicht nur mit dem Individuum, sondern auch mit bestimmten Umwelteinflüssen zusammenhängen könnten, wobei sich herausgestellt hat, dass diese nicht als Ursache, sondern nur als verstärkende Faktoren wirken. Auch die Weltgesundheitsorganisation sieht nicht irgendwelche Umweltfaktoren als Ursache der Legasthenie, sondern biologische Reifungsstörungen im Zentralnervensystem: Die neurobiologische Forschung konnte wesentliche Befunde erbringen, die im Kapitel über die aktuell angenommenen Ursachen angesprochen werden.

Als das am meisten abgesicherte Konzept hat sich jedoch das Linguistische erwiesen, das sich hauptsächlich mit den Voraussetzungen für einen erfolgreichen Schrift-spracherwerb beschäftigt und daraus Identifikations- und Fördermaßnahmen ab-leitet.

Obwohl diese Variante eines geschichtlichen Rückblicks einerseits zwar den Ur-sprung der vielfältigen Ansichten bezüglich der Legasthenie hat erahnen lassen, stif-tet sie andererseits vielleicht auch Verwirrung bezüglich der genannten Begriffe. Deshalb soll die Legasthenie, von der hier gesprochen wird, im Folgenden nochmals von den übrigen Problemen beim Lesen und Rechtschreiben abgegrenzt werden: Le-gasthenie ist eine spezifische Schwäche im Lesen und Rechtschreiben, die weder mit überdauernden Schwächen auf Grund einer allgemeinen Minderbegabung noch mit vorübergehenden Schwierigkeiten, die auf Umwelteinflüsse zurückzuführen sind, zu tun hat.

Diese Ansicht wird auch in der Definition des Bundesverbands Legasthenie deutlich:

„Als Legasthenie wird eine ausgeprägte Lernstörung in den Bereichen Lesen und Rechtschreiben bezeichnet, die nicht auf mangelnde Beschulung, niedrige Intelligenz oder fehlende Lernbereitschaft zurückzuführen ist.“[30]

Doch worauf ist die Legasthenie zurückzuführen? Mit anderen Worten: Wo liegen ihre Ursachen nach aktuellem wissenschaftlichem Stand?

2.2 Ursachen der Legasthenie

Wie der geschichtliche Rückblick des vorherigen Kapitels deutlich machte, gab es hinsichtlich der Ursachenzuschreibung bezüglich der Legasthenie lange Zeit sehr kontroverse Auffassungen, von denen sich viele als ungültig oder zumindest als un-spezifisch herausgestellt haben.

Wesentliche Befunde zu den Ursachen der Legasthenie konnte jedoch die neuro-bio-logische Forschung in den letzten Jahren auf den Gebieten der Genetik, der audi-tiven und der visuellen Wahrnehmung gewinnen.[31]

2.2.1 Befunde zur Genetik

Die molekulargenetische Forschung vermutet zur Zeit mehrere „Legasthenie-Gene“ auf den Chromosomen 15 und 6, geht jedoch davon aus, dass diese nicht direkt die Ursache der Legasthenie sind, sondern dass sie bestimmte Hirnfunktionen regulieren, die für den Erfolg beim Schriftspracherwerb verantwortlich sind. Da der genetische Anteil an der Lese- und Rechtschreibfähigkeit bei 60% liegt, kommt Legasthenie innerhalb der Familie oft gehäuft vor: Ist ein Elternteil legasthenisch, so liegt die Wahrscheinlichkeit für das Kind eine Lese-Rechtschreibstörung zu entwickeln, bei fast 50%. Sind beide Eltern Legastheniker, dann steigt das Risiko weiter. Als sehr wahrscheinlich hat sich jedoch das Zusammenwirken von genetischen und umwelt-bedingten Faktoren herausgestellt.[32]

2.2.2 Befunde zur auditiven Wahrnehmung

Bei der auditiven Wahrnehmung handelt es sich um eine sehr komplexe Fähigkeit, in dessen Mittelpunkt die Lautbewusstheit bzw. die phonologische Bewusstheit steht. Hinter diesem empirisch sehr gut belegtem Faktum verbergen sich die Fähigkeiten zur Lautwahrnehmung und -verarbeitung, die zentrales Thema dieser Arbeit sein werden und deshalb an dieser Stelle noch nicht genauer erläutert werden. Unter-suchungen zeigen, dass Legastheniker in diesem Bereich eine Schwäche haben, die auf deutlich geringere Aktivität bestimmter Gehirnareale zurückzuführen ist.[33]

2.2.3 Befunde zur visuellen Wahrnehmung

Auch bei der visuellen Wahrnehmung zeigen Legastheniker eine geringere Aktivität in gewissen Gehirnabschnitten als Nicht-Legastheniker. Diese Abweichung wird unter zwei Gesichtspunkten erforscht: Im Vordergrund stehen Hirnareale, deren große Nervenzellen gestört sein sollen, wobei der Bezug zum Schriftspracherwerb noch ungeklärt ist. Ein weiterer Ansatz ist die gestörte Steuerung der Blickbewe-gung, wobei sich die Frage stellt, ob sie als Ursache oder Folge der Legasthenie zu verstehen ist.[34]

2.2.4 Resümee

Zu den neurobiologischen Erkenntnissen lässt sich Folgendes festhalten. Erstens kann die Legasthenie selbst zwar nicht vererbt werden, jedoch gewisse Veranla-gungen, die zu Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb führen können. Und zwei-tens verlieren die Befunde zur visuellen Wahrnehmung neben denen der auditiven Wahrnehmung an Bedeutung, da die phonologische Bewusstheit – die Fähigkeit zur Lautwahrnehmung und -verarbeitung – als Ursache der Legasthenie empirisch be-sonders gut belegt werden konnte. Da ihr in der Sprachwissenschaft ebenfalls eine sehr bedeutende Rolle zukommt, wird sie zentrales Thema dieser linguistisch orien-tierten Arbeit sein.

2.3 Symptomatik der Legasthenie

In Anknüpfung an die Sekundärursachen der Legasthenie erfolgt nun eine Beschrei-bung der Erscheinungsbilder legasthenischer Kinder. Dazu werden zunächst die ein-zelnen Symptome der Kategorien „Lesen“, „Rechtschreibung“, „Gesprochene Spra-che“, „Merkfähigkeit“, „Motorik“ und „Verhaltensauffälligkeiten“ aufgezeigt und anschließend – zur Veranschaulichung – einige legasthenische Kinder und ihre Er-scheinungsbilder vorgestellt.

2.3.1 Kategorielle Symptome der Legasthenie

Bevor die einzelnen Symptome im Detail dargestellt werden, sollte man sich folgen-de Fakten vor Augen führen:

Erstens sind Legastheniker keine homogene Gruppe, d.h. jedes legasthene Kind hat seine eigenen Probleme mit Lesen und Rechtschreiben, die zusammen sein indivi-duelles Erscheinungsbild ergeben.

Und zweitens gibt es keine typischen legasthenischen Fehler. Sie werden auch von guten Schülern in früheren Phasen ihres Schriftspracherwerbs oder von insgesamt schulschwachen Kinder mit ähnlichen Schwierigkeiten produziert. Prinzipiell können solche Fehler, die im Folgenden dargestellt werden, also bei jedem Kind auftreten, ohne dass es sich in Folge dessen um Legasthenie handeln muss. Der Unterschied liegt demnach nicht in der Qualität, sondern in der Quantität, denn Legastheniker produzieren diese Fehler in einem wesentlich größeren Umfang.[35]

2.3.1.1 Lesen

Bezüglich des Lesens treten bei Legasthenikern folgende Fehler gehäuft auf:

- „Häufige Fehler beim lauten Lesen
- Zahlreiche Selbstkorrekturen
- Langsames bzw. mühsames Erlesen von Wörtern
- Silbenweises Lesen von Wörtern
- Wortweises Lesen von Sätzen und Texten
- Probleme bei der Verschmelzung von Einzellauten zu Lautfolgen
- Probleme bei der Sinnentnahme“[36]

2.3.1.2 Rechtschreibung

Bei der Rechtschreibung lässt sich folgende Fehleransammlung beobachten:

- „Häufige Fehler beim Abschreiben
- Zahlreiche Fehler in Diktaten oder Aufsätzen
- Verwechslung visuell ähnlicher Buchstaben (z.B.: "dlau" statt "blau")
- Verwechslung von Buchstaben, die ähnliche Laute repräsentieren
(z.B.: "krün" statt "grün")
- Auslassung von Buchstaben, so dass sich die Klanggestalt des Wortes ändert (z.B.: "Apfe" statt "Apfel")
- Auslassung von ganzen Wörtern und längeren Wortteilen

(z.B.: "Fernseh" statt "Fernsehzeitung")

- Vertauschung der Buchstabenreihenfolge (z.B.: "Fabirk" statt "Fabrik")
- Häufige Fehler aufgrund der Nichtbeachtung bestimmter Rechtschreibregeln (z.B.: "Bager" statt "Bagger")
- Schreibhemmung“[37]

2.3.1.3 Gesprochene Sprache

Ein Grund für die schlechten Leistungen im Lesen und Rechtschreiben findet man bei legasthenischen Kindern z.B. in einer mit Mängeln behafteten gesprochenen Sprache:

- „Verwaschene Artikulation
- Stockendes Sprechen
- Wortschatzarmut
- Wortfindungsstörungen
- Häufige Bildung von grammatisch bzw. syntaktisch inkorrekten Ausdrü-cken“[38]

2.3.1.4 Merkfähigkeit

Auch die gering ausgebildete Merkfähigkeit, die man wie folgt differenziert, steuert ihren Beitrag zu den schlechten Lese- und Rechtschreibleistungen bei:

- „Geringe auditive Merkfähigkeit (z.B. beim Vokabellernen)
- Geringe visuelle Merkfähigkeit (z.B. beim Einprägen von neuen Wortbil-dern)“[39]

2.3.1.5 Motorik

Nachstehende häufig auftretende Merkmale der Bewegung eines legasthenischen Kindes sind auf eine mangelnde Grob- und Feinmotorik zurückzuführen:

- „Allgemeine Ungeschicktheit
- Verkrampfte Schreibhaltung
- Undeutliches Schriftbild
- Langsames Schreiben“[40]

2.3.1.6 Verhaltensauffälligkeiten

Während man die bislang genannten Merkmale als primäre Symptome bezeichnen kann, die direkt mit den Lese-Rechtschreibschwierigkeiten zusammenhängen, han-delt es sich bei den Verhaltensauffälligkeiten eher um Sekundärsymptomatiken, die als Reaktionen auf die Primärsymptome verstanden werden können:

- „Reduziertes Selbstwertgefühl
- Schulangst
- Aggressivität
- Clownerie
- Hyperaktivität
- Konzentrationsschwäche
- Andere psychosomatische Störungen“[41]

2.3.2 Beispielhafte Erscheinungsbilder von Legasthenikern

Um einen Eindruck davon zu gewinnen, aus welchen Teilproblemen sich eine Legas-thenie zusammensetzen kann, werden im Folgenden drei Fallbeispiele vorgestellt. Hierbei handelt es sich um die Jungen Peter, Tim und Felix, die sich in der ersten bzw. zweiten Klasse der Grundschule befinden. Diese Auswahl kann auch stellver-tretend dafür gesehen werden, dass wesentlich mehr Jungen als Mädchen unter einer Legasthenie zu leiden haben.

2.3.2.1 Fallbeispiel Peter (1. Klasse)

Peter wächst bei seinen berufstätigen Eltern, seiner älteren legasthenischen Schwes-ter und seinen Großeltern auf; die wirtschaftlichen Verhältnisse, die sozialen Be-ziehungen und das Erziehungsverhalten der Eltern sowie der Großeltern sind unauf-fällig.

Das schriftsprachliche Erscheinungsbild von Peter sieht so aus, dass er bei Diktaten Schwierigkeiten hat Silben und Laute zu erkennen und aufzuschreiben. Auch mit Hilfe der Anlauttabelle entstehen Fehler beim Niederschreiben gewünschter Wörter, die sich meist in Buchstabenverdrehungen wie bei /b/ und /d/ bemerkbar machen. Des Weiteren zeigt Peter eine Hemmung im Bezug auf das freie Schreiben.

Im Bereich der gesprochenen Sprache zeigt er Schwierigkeiten bei der Aussprache von Zischlauten: /s/ und /sch/ spricht er interdental aus.

Motorische Defizite weist Peter – ein körperlich durchschnittlich entwickelter Junge – nur dann auf, wenn seine Konzentration nach langer Beschäftigung mit einer Sache nachlässt und er dann zu langsamem Schreiben und undeutlichem Schriftbild neigt.

Peter ist ein aufgeweckter Junge, der trotz seiner Schwierigkeiten im sprachlichen Bereich ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl hat sowie laut eigener Aussage gerne zur Schule geht und lernmotiviert ist. Zuweilen verspürt er jedoch in seinem Problem-fach Deutsch eine gewisse Unlust, die sich immer mehr auf seine allgemeine schu-lische Leistungsmotivation auswirkt. Sein Verhalten im Unterricht ist unauffällig: Er beteiligt sich aktiv am Unterricht, hat keine Disziplinschwierigkeiten und ist durch seine Kontaktfreudigkeit gut in die Klassengemeinschaft integriert.

Seine Leistungen in anderen Fächern sind u.a. wegen seiner durchschnittlichen in-tellektuellen Befähigung gut.[42]

2.3.2.2 Fallbeispiel Tim (1. Klasse)

Tim lebt mit seiner ganztägig berufstätigen Mutter, seinen Großeltern und seiner Tante in einer oft spannungsgeladenen, aber finanziell abgesicherten Gemeinschaft. Er übernimmt die sehr undeutliche Aussprache des Großvaters aufgrund eines pfäl-zischen Dialekts, so dass er zu Beginn mehrere Laute nicht aussprechen kann.

Des Weiteren hat er große Probleme beim Zusammenziehen von Lauten zu Silben und von Silben zu Wörtern, weshalb er Wörter oft errät statt zu lesen. Versucht er dennoch, die Wörter und Sätze bewusst zu analysieren, entsteht ein technisch-me-chanisches Lesen, welches das stille, sinnentnehmende Lesen verhindert.

Wie bereits erwähnt weist Tim auf Grund seiner stark dialektgefärbten Aussprache Schwierigkeiten bei der Artikulation mehrerer Laute auf: Verbindungen der Laute /ch/, /g/, /k/ und /r/ mit Konsonanten sind besonders problematisch. Meist fällt es ihm auch schwer, gesprochene Wörter sprachlich korrekt zu durchgliedern.

Ein weiteres Defizit bei Tim ist das Einprägen und Behalten von Wörtern, wobei die meisten Speicherfehler im Bezug auf Hauptmorpheme, Signalgruppen, Anfangs- und Endmorpheme und Konsonantengruppen auftreten.

Tim zeigt trotz seiner motorischen Ungeschicktheit Freude am Sport.

Im sozialen Umgang ist er eine scheue, freundliche, einsichtige, angepasste und hilfsbereite Persönlichkeit. Bemängelt werden kann jedoch seine unzureichende selbstständige Mitarbeit, die auf ein reduziertes Selbstwertgefühl bezüglich seiner Aussprache zurückzuführen ist. Dennoch liegen seine schulischen Leistungen in den anderen Fächern im guten bis befriedigenden Bereich und stellen einen Kontrast zu den mangelhaften bis ungenügenden Leistungen in Deutsch dar.

Tims Intelligenz wurde als durchschnittlich befunden.[43]

2.3.2.3 Fallbeispiel Felix (2. Klasse)

Felix wächst als Einzelkind in einer durchschnittlichen deutschen Familie auf, in der die berufstätigen Eltern alles Mögliche tun, um ihren Sohn bei seinen schulischen Problemen zu unterstützen.

Seine Symptome sind u.a. die Verwechslung visuell ähnlicher Buchstaben und Schwierigkeiten mit der Groß- und Kleinschreibung.

Felix weist eine überhastete Sprechweise mit einem stark ausgeprägten Lispeln auf, die nicht selten dysgrammatische Einschübe mit einschließt.

Die Ergotherapeutin diagnostizierte bei Felix Konzentrationsstörungen im auditiven Bereich, Gleichgewichtsstörungen, eine instabile Rumpf-Sitz-Kontrolle, Störungen der Bewegungs- und Auge-Hand-Koordination sowie eine unzureichende Koordi-nation von rechter und linker Körperhälfte. Seine Feinmotorik entspricht nicht sei-nem Alter und führt u.a. auch durch seine unsichere Stifthaltung zu einem kaum les-baren Schriftbild.

Im Unterricht ist Felix ein ruhiger und aufmerksamer Junge, der bei Wortmeldungen jedoch durch Aufregung zu schnellem, wenig artikulierendem Sprechen neigt. Da ihm insbesondere beim Schreiben jegliche intrinsische Motivation fehlt, geht er nur ungern zur Schule. Trotzdem ist seine Mitarbeit gut und sein ausgeprägtes Sozial-verhalten verschafft ihm auch einen relativ guten Stand innerhalb der Klassen-gemeinschaft. Manchmal versetzt er sich aber durch seine geringe Kooperation bei Partner- und Gruppenarbeiten, seine Selbstgespräche und seine Artikulation in eine Außenseiterrolle. Ansonsten ist Felix ein aufgeweckter Junge, der überdurchschnitt-lich intellektuell befähigt ist. Seine weiteren Noten sind gut und die Probleme in den Fächern Bildende Kunst und Sport lassen sich auf motorische Defizite zurückführen. Wie seine Deutschnoten zeigen – ausreichend bis mangelhaft in Rechtschreiben und gut bis sehr gut in Aufsatzerziehung und Lesen – liegen seine Probleme hauptsäch-lich im Bereich der Rechtschreibung.[44]

2.3.3 Resümee

Legastheniker sind also keine homogene Gruppe, sondern – wie Peter, Tim und Felix – Kinder mit individuellen Problemen beim Lesen und Schreiben. Die Symptome, die generell bei jedem Kind auftreten können, sind in den Bereichen „Lesen“, „Rechtschreibung“, „Gesprochene Sprache“, „Merkfähigkeit“, „Motorik“ und „Ver-haltensauffälligkeiten“ anzusiedeln, müssen aber nicht zwingend in jedem Bereich auftreten. Oft haben auch emotionale und soziale Faktoren eine verstärkende Wir-kung auf die Symptomatik. Des Weiteren konnte dargestellt werden, dass Legas-thenie nicht auf eine mangelnde intellektuelle Befähigung zurückzuführen ist, da in den anderen Fächern meist gute bis befriedigende Leistungen erbracht werden.

3 Der Schriftspracherwerb und die damit verbundenen Schwierigkeiten

Nachdem die Legasthenie nun in ihren wesentlichsten Merkmalen dargestellt wurde, geht es im Folgenden speziell um die linguistische Betrachtungsweise.

Wie bereits aus dem historischen Überblick über Forschung und Begriffsverständnis entnommen werden konnte, versucht der linguistisch orientierte Ansatz die Voraus-setzungen für einen erfolgreichen Schriftspracherwerb zu identifizieren, um in Folge dessen auf die Schwierigkeiten zu schließen, die Legastheniker offensichtlich haben. Deshalb soll es zunächst darum gehen, anhand von ausgewählten Modellen darzu-stellen, welche Prozesse beim Lesen und Schreiben ablaufen und wie es zur Aneig-nung der dafür erforderlichen Fertigkeiten kommt. Diese Modelle dienen dann als Grundlage zur Aufdeckung der Schwierigkeiten, die mit dem Erlernen des Lesens und Schreibens verbunden sind und auf Defizite bestimmter Voraussetzungen zu-rückgeführt werden können, die zum Schluss beschrieben werden.

3.1 Was geschieht beim Lesen und Schreiben?

Betrachtet werden zunächst die Prozesse, die beim Lesen und Schreiben ablaufen. Um diese zu verdeutlichen, wird das Zwei-Wege-Modell des Lesens von COLT-HEART (1978) und das Rechtschreibmodell von SIMON & SIMON (1973) vorge-stellt. Ausgewählt wurden die Modelle aus einer Vielzahl von möglichen Varianten, da sie als zwei ursprüngliche Modelle oft als Grundlage für die Entstehung neuer Konzepte dienen und somit einen hohen Bekanntheitsgrad genießen, weil sie die we-sentlichsten Teilprozesse übersichtlich darstellen und insbesondere weil sie die für diese Arbeit wichtigen Aspekte explizit behandeln.

3.1.1 Zwei-Wege-Modell des Lesens von COLTHEART

Unter dem Begriff „Lesen“ versteht man einen „Analyse-Synthese-Prozeß der inter-pretativen Umsetzung schriftlicher Zeichen(ketten) in Informationen.“[45]

Ein klassisches Modell, das diese Umsetzung beschreibt, ist das Zwei-Wege-Modell des Lesens von COLTHEART (1978):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1 nach: SCHULTE-KÖRNE, Gerd: Lese-Rechtschreibstörung und Sprachwahrnehmung, S. 10

Hierbei gibt es einen direkten und einen indirekten Weg, wie man von einem ge-schriebenen Wort zu dessen Aussprache und Bedeutung gelangen kann. Identifiziert die visuelle Analyse ein bekanntes Wort, so kann ein direkter Zugriff auf das ortho-graphische Lexikon im Gedächtnis erfolgen. Dort sind sämtliche orthographische, se-mantische und phonologische Informationen, mit denen man zur Aussprache und Be-deutung des Wortes gelangt, gespeichert und sofort abrufbar. Erfahrene Leser kön-nen diesen Weg öfter einschlagen als Leseanfänger, da ihr Lexikon bereits über eine gewisse Bandbreite verfügt. Leseanfängern bleibt auf Grund ihres noch gering ausge-statteten Lexikons meist nur der indirekte Weg übrig, den übrigens auch die er-fahrenen Leser nutzen, wenn sie unbekannten Wörtern begegnen. Bei diesem indi-rekten Weg muss jeder einzelne Buchstabe (Graphem) zunächst in den entsprechen-den Laut (Phonem) übersetzt werden, bevor diese Einzellaute schließlich zu einem ganzen Wort zusammengezogen werden. Nach dieser Leistung, die das Kurzzeit-Ge-dächtnis in Anspruch nimmt, kann der Leser das Wort aussprechen und somit seine Bedeutung entschlüsseln. Hierbei handelt es sich zunächst um einen sehr umständ-lichen und zeitintensiven Prozess, dessen Geschwindigkeit aber durch regelmäßiges Üben gesteigert werden kann, was insbesondere in der Grundschulzeit zu beobachten ist.[46]

3.1.2 Rechtschreibmodell von SIMON & SIMON

„Beim Schreiben werden Informationen durch bestimmte Zeichen verschlüsselt, d.h. die semantische Information wird in einen Begriff übertragen und in einem tech-nischen Vorgang in Buchstaben umgesetzt.“[47]

Bezüglich der Rechtschreibung existieren mehrere Modelle, die – vergleichbar mit dem Leseprozess – prinzipiell immer zwei Teilprozesse beschreiben: Einerseits kann man auf die Schreibweisen einzelner Wörter zurückgreifen, wenn diese bereits im orthographischen Lexikon gespeichert sind und andererseits kann man Wörter ent-schlüsseln, indem man die Phoneme in die Grapheme rekodiert.

Als die bekannteste Darstellung der beim Rechtschreiben ablaufenden Prozesse gilt das Rechtschreibmodell von SIMON & SIMON (1973):[48]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2 nach: KÜSPERT, Petra; SCHNEIDER Wolfgang: Hören, lauschen, lernen, S. 9

Bei der Aufnahme eines gesprochenen Wortes wird zu Beginn überprüft, ob dessen Bedeutung im Gedächtnis vorhanden ist. Ist dies nicht der Fall, so muss das Wort zunächst ohne Bedeutung lautlich festgehalten werden. Diese Information gelangt in den Rechtschreibgenerator, wo nach bereits gespeicherten Phonem-Graphem-Asso-ziationen gesucht wird. Scheitert auch dieser Abrufversuch, wird das Wort über die Silben in die einzelnen Phoneme zerlegt.

Anschließend werden den Phonemen die entsprechenden Buchstaben zugeordnet, die als Buchstabenfolge im Gedächtnis abgespeichert und im darauf folgenden Recht-schreibversuch niedergeschrieben werden.

Um schließlich das geschriebene Wort auf seine Korrektheit hin zu überprüfen, kommt der „Erkenner“ zum Einsatz, worunter man einen Testprozess versteht, der unter Zuhilfenahme gespeicherter visueller Erkennungsinformationen abläuft. Ist die Überprüfung (Passung) erfolgreich, gilt der Schreibprozess im Bezug auf dieses Wort als abgeschlossen. Kommt es zu einer erfolglosen Passung, muss ein neuer Versuch gestartet werden, der nochmals beim Rechtschreibgenerator ansetzt.[49]

[...]


[1] BUßMANN, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 723

[2] Vgl. BUßMANN, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 723f.

[3] Vgl. MATTHYS-EGLE, Markus: Diagnose „Legasthenie“, S. 62

[4] DUDEN: Band 5, Fremdwörterbuch, S. 570

[5] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 11

[6] Vgl. MATTHYS-EGLE, Markus: Diagnose „Legasthenie“, S. 59f.

[7] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 11

[8] GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 11

[9] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 11f.

[10] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 12

[11] GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 12

[12] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 12

[13] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 13

[14] GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 14

[15] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 13f.

[16] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 14f.

[17] GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 15

[18] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 14

[19] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 15

[20] GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 15

[21] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 15f.

[22] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 17f.

[23] GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 18

[24] Vgl. http://www.duden.de/schule/legasthenie/legas1_definition-welt.html

[25] Vgl. ALBERT, Lothar: Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, S. 32

[26] Vgl. KÜSPERT, Petra: Phonologische Bewußtheit und Schriftspracherwerb, S. 51

[27] RAMACHER-FAASEN, Nicole: Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, S. 44

[28] GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 19

[29] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 19

[30] http://www.legasthenie.net/main.php?zwei=true&index=./content/legasthenie/symptomatik.htm

[31] Vgl. BUNDESVERBAND LEGASTHENIE und DYSKALKULIE e.V.: Legasthenie, S. 8

[32] Vgl. BUNDESVERBAND LEGASTHENIE und DYSKALKULIE e.V.: Legasthenie, S. 8f.

[33] Vgl. BUNDESVERBAND LEGASTHENIE und DYSKALKULIE e.V.: Legasthenie, S. 9f.

[34] Vgl. BUNDESVERBAND LEGASTHENIE und DYSKALKULIE e.V.: Legasthenie, S. 10f.

[35] Vgl. http://www.cp-zentrum.ch/seiten/3_angebo/4_medien/seiten/lega.html

[36] http://www.lrs-online.de/Infos/Wasist/wasist.html

[37] http://www.lrs-online.de/Infos/Wasist/wasist.html

[38] http://www.lrs-online.de/Infos/Wasist/wasist.html

[39] http://www.lrs-online.de/Infos/Wasist/wasist.html

[40] http://www.lrs-online.de/Infos/Wasist/wasist.html

[41] http://www.lrs-online.de/Infos/Wasist/wasist.html

[42] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 24ff.

[43] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 27ff.

[44] Vgl. GÜNTHER, Herbert: Leserechtschreibschwache Kinder in der Grundschule, S. 30ff.

[45] BUßMANN, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft, S. 446

[46] Vgl. KÜSPERT, Petra; SCHNEIDER, Wolfgang: Hören, lauschen, lernen, S. 8

[47] WALTER, Jürgen: Förderung bei Lese- und Rechtschreibschwäche, S. 73

[48] Vgl. WALTER, Jürgen: Förderung bei Lese- und Rechtschreibschwäche, S. 73

[49] Vgl. KÜSPERT, Petra; SCHNEIDER, Wolfgang: Hören, lauschen, lernen, S. 8f.

Ende der Leseprobe aus 108 Seiten

Details

Titel
Theoretische und praktische Aspekte der Legasthenie aus linguistischer Sicht
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Institut Germanistik)
Note
2,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
108
Katalognummer
V23011
ISBN (eBook)
9783638262200
Dateigröße
1682 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Theoretische, Aspekte, Legasthenie, Sicht
Arbeit zitieren
Dagmar Kuhn (Autor:in), 2003, Theoretische und praktische Aspekte der Legasthenie aus linguistischer Sicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23011

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