Zur Psychodynamik des Suizids

Eine metapsychologische Betrachtung


Diplomarbeit, 2013

70 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Psychodynamik
2.1 Die fünf zum Suizid führenden Phantasien
2.2 Die Stadien des suizidalen Prozesses

3. Erste Ansätze bei Freud

4. Weitere Arbeiten zum Aggressionskonflikt und zur Feindseligkeit
4.1 Klinische Implikationen

5. Objektbeziehungstheorie
5.1 Fallbeispiel

6. Narzissmus und narzisstische Suizidalität
6.1 Die Motivstruktur suizidalen Handelns

7. Interaktionalität und Intersubjektivität
7.1 Exkurs: Die Vaterübertragung im präsuizidalen Zustand

8. Zusammenfassung und Diskussion

9. Abbildungsverzeichnis

10. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Während meines Studiums der Psychologie habe ich mich mit der Psychodynamik und ihrer Wirkung auf das Seelenleben des Menschen und seinem Soma auseinandergesetzt. Das Verständnis seelischer Erkrankungen, deren Symptomatik Ausdruck innerer wie äußerer Konflikte sein kann, war für mich, der ich damals als Biologiestudent aus den Naturwissenschaften kam, ebenso neu wie aufregend. Nach und nach erfuhr ich, wie sich mit diesem Ansatz immer weitere klinische Phänomene verstehen ließen. Ja, sogar vor dem Suizid, als schwerste aller seelischen Erkrankungen, macht diese Sichtweise keinen Halt.

Nach Stavros Mentzos (1982, 2009) hat ein Symptom einen Sinn. Es stelle aus der Sicht des Patienten die jeweils bestmögliche Lösungsform unter den gegebenen Bedingungen dar. Nach Kind (1992) kann Suizidalität sogar eine stabilisierende Wirkung haben. Sie sei in manchen Fällen eine „sinnvolle Lösung“ und habe eine regulierende Funktion, wenn intrapsychische und interpersonelle Krisen, die aus dem Umgang mit inneren und äußeren Objekten herrühren, nicht anders bewältigt werden können.

Angesichts derartig mächtiger Wirkungskräfte entstand bei mir der Wunsch, die Psychodynamik der Suizidalität anhand ausgewählter psychoanalytischer Konzepte zu untersuchen und die ihr zugrundeliegenden metapsychologischen Stränge der Es- und der Ich-Psychologie im Rahmen einer Diplom-Arbeit zu erläutern. In der vorliegenden Abfassung setze ich mich deshalb mit dem Melancholiekonzept Sigmund Freuds, dem Aggressionskonflikt, der Objektbeziehungstheorie, dem Narzissmuskonzept und Aspekten von Interaktionalität und Intersubjektivität auseinander. Alle Konzepte werden in ihren wissenschaftshistorischen Kontexten dargestellt und anhand geeigneter Fallbeispiele veranschaulicht. Ich gehe der Frage nach, welche Beiträge die einzelnen theoretischen Konzepte für das Verständnis der suizidalen Psychodynamik leisten können und widme mich ausführlich den mit diesen Konzepten in Zusammenhang stehenden Psychopathologien und deren Ätiologie. In Kap. 2 führe ich das Beispiel eines Morphinisten an, der sich aus einem Versündigungswahn heraus als sexuell aktives und vitales Menschenkind auslöscht. Ich erläutere Allgemeines zur Psychodynamik und gehe in Teilen auf deren Bezüge zur Suizidalität ein. Kap. 3 beschreibt die grundlegenden Arbeiten Freuds zur Suizidologie. Die von ihm entworfenen Konzepte des Aggressionskonfliktes, des Ambivalenzkonfliktes und des Objektverlustes nach narzisstischer Objektwahl (Freud, 1916-17g) werden bezüglich ihrer Wertung als maßgeblich für das Zustandekommen einer Melancholie, aus der Suizidalität folgen kann, im wissenschaftlichen Diskurs der folgenden 100 Jahre beibehalten. Das Kapitel über den Aggressionskonflikt, Kap. 4, versehe ich mit dem Fallbeispiel eines US-Amerikaners aus den 1930er Jahren, der aus Protest gegenüber seiner Mutter einen erfolglosen Selbstmordversuch unternimmt. Nachdem seine Mutter ihn gegen ärztlichen Rat aus der Psychiatrie mit nach Hause nimmt, erschlägt er seine Tochter und hackt sich darauf hin die rechte Hand ab. Die Objektbeziehungstheorie in Kap. 5 skizziere ich anhand einer Textarbeit am Fallbeispiel einer Frau mit Borderline-Diagnose, die als „überflüssiges Kind“ von ihren Eltern verraten wird, indem diese sie ihrer Karriere wegen in die Obhut einer sadistischen Tante geben. Im Kap. 6 reflektiere ich über die klinischen Implikationen von nicht positiv integriertem Narzissmus (i.S. Kernbergs) und einem Nicht-Abtrauern-Können von einem grandiosen Größenselbst (i.S. Kohuts) in Bezug auf die Berufswahl und das Erwachsenwerden. In Kap. 7 erläutere ich Aspekte von Interaktionalität und Intersubjektivität im Kontext von Triangulierung, System, Gruppe, Lebenssinn und Entfremdung.

Des Weiteren setze ich mich mit den klinischen Implikationen der Suizidalität auseinander und diskutiere diese anhand von Übertragung und Gegenübertragung im psychoanalytischen Setting.

Suizidalität ist ein multikausales Phänomen. Man hat es mit einem „zu viel an belastenden Faktoren“, „einem Fass, welches im Begriff ist, überzulaufen“ zu tun. Im klinischen Zusammenhang stellt dies eine schwerwiegende Belastung für den behandelnden Therapeuten oder das behandelnde Team dar. Für meinen zukünftigen Weg zum psychologischen Psychotherapeuten, möchte ich mich auf zukünftige Anforderungen vorbereiten, in dem ich die der Suizidalität zugrunde liegenden psychodynamischen Wirkmechanismen durcharbeite und eine Reihe damit in Berührung stehender metapsychologischer Gedankenstränge nachvollziehe.

Ein Großteil von Suizidalität wird durch psychotherapeutische Intervention aufgefangen. Die Arbeit mit dem Patienten impliziert eine theoriegeleitete aber auch nicht theoriegeleitete, individuelle Rezeption der Probleme des Patienten, dessen Innenwelt sowie dessen Interaktionsschwierigkeiten mit der Außenwelt (und einer Arbeit an diesen). Diese Ausarbeitung stellt somit eine Vorarbeit auf meine Ausbildung zum psychologischen Psychotherapeuten dar.

Nicht bearbeiten werde ich den Suizid in hohem Alter bei Vorliegen einer schweren Diagnose mit unheilbarem Verlauf sowie die von Till (1998) beschriebene (sozial) erzwungene, politische, rituelle und Bilanz-Suizidalität. Den von Améry (1976) geprägten Begriff des Freitodes lehne ich ab[1], verweise aber darauf, dass dieser Begriff sehr kontrovers diskutiert wird.[2]

2. Psychodynamik

Wirft man einen Blick auf gängige Diagnosemanuale wie ICD 10 und DSM IV, so erfährt man viel über Symptomatik, wenig jedoch über deren Entstehen und deren innerer Bedeutung. Dieser reduktionistischen Betrachtungsweise seelischer Erkrankungen von der Oberfläche der Symptomebene her steht die Psychoanalyse mit ihrer Lehre der Psychodynamik entgegen.

Freud, hat ausgehend von seiner Ausbildung zum Mediziner und Naturwissenschaftler, versucht, die Gesetze der Physik auf die der Seele zu übertragen, indem er für den von ihm postulierten seelischen Apparat einen innerseelischen Raum aufspannte, in welchem Kräfte biologisch-triebhaften Ursprunges wirken (siehe dazu auch Kap.3). Diese Kräfte wirken im Zusammenspiel mit Topiken, Strukturen und Instanzen, welche Freud durch seine beiden Topiken[3] beschreibt: Erste Topik syn. topisches Modell: Unbewusstes, Vorbewusstes, Bewusstes (Freud 1900a, sowie seine metapsychologischen Schriften von 1915); zweite Topik syn. Strukturmodell: Bestehend aus den Instanzen Es, Ich und Über-Ich (1923b). Kommt es in diesem Feld zu Stauungen, übermäßigen Reibungen, etc. können daraus (neurotische) Konflikte entstehen, die sich dann auf der Symptomebene als seelische Störung oder auch als Psychosomatik zeigen. Durch das Aufdecken und Verstehen derartiger krankheitsbedingender Faktoren lässt sich Symptomatik auf der Konfliktebene behandeln.

Das Modell psychodynamischen Verstehens wird sehr anschaulich von Stavros Mentzos erläutert, welcher Störungen als Dysfunktionalitäten betrachtet, die eine Funktion haben (vgl. hierzu beispielsweise Mentzos, 2009 oder Mentzos, 1982). Er geht davon aus, dass Störungen einen Sinn haben, dass sie Kompromissbildungen darstellen, die dem Individuum unter den gegebenen Bedingungen als die bestmöglichen erscheinen. Es handele sich dabei um aktiv (wenn auch unbewusst) mobilisierte Reaktionen, Mechanismen und Strategien. In der Tat wird einem jeder Psychoanalytiker aus der eigenen Praxiserfahrung heraus berichten können, dass die Frage „Welchen Sinn ergibt die Störung für den Patienten?“ überaus hilfreich bei der Aufdeckung der Erkrankungsursachen ist. So würden beispielsweise Zwänge ein symbolisches Ausgleichen von Schuldgefühlen darstellen.[4] Schuld ist auch für die Psychodynamik der Suizidalität ein entscheidender Faktor, wie wir in den nächsten Kapiteln, insbesondere Kap. 4 sehen werden. Selbstverletzendes Verhalten entpuppe sich teils als effektive Methode gegen Panikangst. Das unter der Oberfläche stattfindende Kräftespiel von bewussten und unbewussten Motivationen, Emotionen und kognitiven Prozessen bleibe somit von den oben genannten Klassifikationssystemen unberücksichtigt. (Mentzos, 2009)

Sigmund Freud und seine Nachfolger der ersten und zweiten Generation bereicherten mit psychodynamischen Annahmen und Konzepten in Bezug auf Ätiopathogenese eine psychoanalytisch untermauerte Krankheitslehre. Für nosologische Entitäten wie Hysterie, Zwangsneurose oder Phobie wurde nicht nur wie früher aufgrund von charakteristischen äußeren Symptomen, sondern auch unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Konflikte oder der dahinter stehenden Abwehrmechanismen oder sogar anhand charakteristischer therapeutischer Schwierigkeiten oder Übertragungs- und Gegenübertragungskonstellationen ein Verständnis entwickelt. Die Psychodynamik der Suizidalität zeigt im Bereich der Übertragung und Gegenübertragung ein erhebliches, teils für Patient und Therapeut schwer zu ertragendes Maß an Aggressivität. So finden sich Anklagen an (und un- vor- oder bewusste Vernichtungswünsche gegen) primäre Bezugspersonen (Mütter) und Autoritätspersonen (Väter: Ödipuskomplex). Die Dynamik des klinischen Phänomens der Suizidalität zeigt häufig, dass sich derartige Vernichtungswünsche gegen das Selbst des Patienten richten. Psychodynamisch relevant könnten auch unreflektierte Todeswünsche der Eltern gegen ihre Kinder werden, wenn diese langfristig und latent vorhanden sind. Führt inadäquates, ständig abweisendes, nicht intrinsisch motiviertes Verhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern in eine Depression, so kann es sein, dass ein Suizidant die unreflektierten Todeswünsche der Eltern letzten Endes selbst ausführt.

In der Gegenübertragung bei der Behandlung suizidaler Patienten zeigt sich in der Regel eine weitere Ambivalenz: Auf der einen Seite wird vom Patienten Hilfe gewünscht, auf der anderen Seite steht die ständige latente Drohung der Selbstvernichtung, mit der der Patient nicht nur sich selbst vernichtet, sondern gleichzeitig auch den Behandelnden als potentes und zur Hilfe fähiges Objekt (Fonagy in Briggs, Lemma, Crouch 2012).[5]

Ein von mir ausgewähltes Beispiel illustriert sehr anschaulich die dynamische Verlagerung von Kräften innerhalb der Psyche und dem Soma: Ein Mann verlobt sich mit seiner langjährigen Partnerin und gibt ihr somit ein Ehe- und ein lebenslanges Beziehungsversprechen. Daraufhin entwickelt er einen Schiefhals, welcher dergestalt ist, dass sein Gesicht von der Halsmuskulatur zur Seite gezogen wird und er sein direktes Gegenüber nicht mehr anschauen kann. Somit kann er auch seiner Braut nicht mehr direkt ins Gesicht sehen. Nachdem verschiedene Behandlungsversuche fehl schlagen, versucht man schließlich eine Behandlung mit Botoxin, die am Schiefhals beteiligten Muskeln werden gelähmt. Die Drehung des Kopfes geht zurück, der Patient kann anderen Personen sowie seiner Braut wieder direkt ins Gesicht blicken. Jedoch: Nach wenigen Tagen wird er psychotisch. (Spitzer, C.; mündlich, Hamburger Symposium Persönlichkeitsstörungen, 3.9.2011)

Es lässt sich hier sehr gut zeigen, wie ein innerer Konflikt (welcher Art er auch immer er sein möge, ob Angst vor Bindung verbunden mit Autonomie- und Kontrollverlust oder Angst vor der endgültigen Trennung von der Mutter oder etwas anderes) erst zu einem somatischen bzw. psychosomatischen Symptom führt, sich dann aber, nachdem dieses aber erfolgreich behandelt wurde, in ein psychiatrisches Symptom wandelt. Es befindet sich eine krankheitsbedingende Energie im seelischen Apparat des Patienten, die aus einem unbehandelten Konflikt hervorgeht und zu einem Symptom führt. Wird nun aber weiterhin nicht der Konflikt sondern das Symptom behandelt, besteht die Gefahr der Symptomverlagerung. Wird nun, wie in der somatischen Medizin oder in der Verhaltenstherapie nur das Symptom behandelt, kann die über sich das ganze Leben hinziehende Verlagerung einer sich teils auch verstärkenden Symptomatik den Patienten derart entmutigen, dass dieser letzten Endes suizidal werden kann.[6]

Besonders häufig lassen sich bei depressiven Erkrankungen mit suizidaler Tendenz Selbstanklagen, Selbstverachtung und Bestrafungs- oder gar Selbstbestrafungswünsche feststellen. Diese können unbehandelt in suizidalen Handlungen münden, insbesondere dann, wenn sich der Patient in einem malignen sozialen System befindet oder dessen soziales System bereits wegen ausgesprochen starker Rückzugstendenzen oder aggressiver Depression zusammengebrochen ist. Kommt ein suizidaler Patient jedoch in Behandlung, so lässt sich dessen Symptomatik, insofern sie aus einer mittelgradigen depressiven Erkrankung herrührt, sehr gut therapieren. Dabei kommt es nicht auf die Art des Settings an, sondern auf die Qualität der Beziehung zum Therapeuten und ggf. zu Gruppenmitgliedern und einem insgesamt wertschätzenden und stützendem Umfeld, in dem genauestens auf die Einhaltung von Feedbackregeln geachtet wird. Ist eine Stabilisierung erst einmal erfolgt, kann freilich aufdeckend gearbeitet werden, vorausgesetzt, der Patient wünscht dies und eine entsprechende (regressive) Arbeit ist indiziert.

Besonders gefährlich sind die bipolaren Erkrankungen.[7] Bei diesen sind sowohl die depressiven als auch die manischen Episoden häufig recht stark ausgeprägt. Tritt nun ein Patient aus seiner depressiven Episode heraus, in der er tiefste Verzweiflung und Selbstzerstörungswünsche verspürt, diese aber wegen der depressiven Aktivitätsminderung nicht ausführen kann, besteht beim Übergang in die manische Phase die Gefahr, dass ein gewünschter Suizid in die Tat umgesetzt wird. Die notwendige Aktivität für die Durchführung eines Suizids ist in der Übergangsphase vorhanden, die depressiven Affekte hingegen konnten noch nicht von den Hochgefühlen der Manie hinweggefegt werden. Besonders kritisch zu betrachten ist der Umstand, dass der sich in der Übergangsphase befindende Patient dem Therapeuten häufig als sich auf dem Wege der Besserung befindend erscheint (Brücher; mündlich, Ameos-Klinik Dr. Heines, September 2010).

Eine weitere Erklärung, weshalb es sein kann, dass Selbstmörder diese zutiefst unangenehmen und beängstigen suizidalen Handlungen am eigenen Körper vollführen, liefern verschiedene dynamische Theorien. Sie gehen davon aus, dass der Suizid in einem psychotischen Moment oder Geisteszustand erfolgt (Briggs, Lemma, Crouch 2012).

Nicht zuletzt die Erotisierung des eigenen Todes ist möglich. In paraphilen Dynamiken wird durch autoerotische Praktiken (Herbeiführen einer temporären Hypoxie des Gehirns zur Steigerung des Lustgewinns) mit dem eigenen Tod gespielt oder es wird dieser als letzte Steigerung der Lust bewusst in Kauf genommen. Darüber hinaus treten kannibalisch-aliphatische Phänomene auf. (Sich töten zu lassen, um sein eigenes Genital verspeisen zu lassen.[8])

Briggs et al. (2012) weisen darauf hin, dass Menschen, die versuchen sich zu suizidieren, häufig irgendwann in ihrem Leben traumatisiert worden sind.

Asch (1980) beschreibt einen Mechanismus bei dem der suizidale Patient andere, häufig den Therapeuten, „rekrutiert“ um seinen Suizid zu rechtfertigen oder zu ermöglichen. Durch sein Agieren erzeuge er eine derart negative Gegenübertragung, deren Wahrnehmung schließlich seinen Suizid rechtfertige.

Maltsberger (1988) betont die Wichtigkeit des Aufdeckens letaler Affekte für die Beurteilung der Suizidalität. Häufig würde mörderische Wut als derartig unerträglich empfunden, dass der Patient lieber sich selbst angreife, um somit andere vor seiner todbringenden Feindseligkeit zu schützen.

Laut Hale (2012) sind Phantasien hinter Suizidhandlungen vielfältig, komplex und überdeterminiert. Am auffälligsten sei aber der Widerspruch zwischen Sterben- und Überleben-Wollen. Er führt das Beispiel eines Statistikers an, der 199 Tabletten Aspirin schluckte. Auf die Frage, weshalb er nicht auch die 200. nahm antwortete er: "Sie war auf den Boden gefallen und wahrscheinlich bakterienverseucht."

Hale betrachtet den Suizid als eine Form des Agierens. In 'Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten' beschreibt Freud (1914g) das Agieren als eine Symbolisierung unbewusster Inhalte, die sich der Patient in der Behandlung nicht bewusst zu machen oder in Worte zu fassen vermag. Mittlerweile hat der Begriff eine erweiterte Bedeutung und zwar als Abfuhr intrapsychischer Spannung. Man könnte auch von einem unbewussten Versuch, ein passiv erlittenes Kindheitstrauma in aktives Handeln umzuwandeln, sprechen. Somit bleibt ein schmerzhaftes Erinnern erspart. Das innere Drama wird direkt in Aktion umgesetzt, sobald sich der unbewusste Impuls regt, und zwar unter Umgehung des bewussten Denkens und Fühlens. Laut Hale soll der innere Konflikt unter häufig destruktiver oder erotisierender Verwendung des eigenen Körpers ausgelöst werden. Das Agieren weitet sich zu einer großen Inszenierung verdrängter Dramen aus, welche im damaligen Familien- oder sozialen System des Patienten vorherrschten. Dies soll Entlastung schaffen. Personen, mit denen der Patient in der Gegenwart interagiert, werden mittels Projektion und projektiver Identifikation Rollen aus seinem ehemaligen Familiensystem zugewiesen. Er zwingt die Beteiligten dazu, die Gefühle zu empfinden, die er selbst als Kind empfand und verdrängen musste. Sobald die Mitspieler jedoch die ihnen zugewiesenen Rollen abstreifen, scheitert der Projektionsmechanismus, die projizierten Inhalte fallen auf den Patienten zurück. Da ihm ohne Analyse der Weg der Aufdeckung nicht zur Verfügung steht, muss er das gleiche Szenario auf einem neuen Feld eröffnen. Freud (1920g) spricht in 'Jenseits des Lustprinzips' vom Wiederholungszwang.

2.1 Die fünf zum Suizid führenden Phantasien

Hale (2012) beschreibt fünf zum Suizid führende Phantasien:

1: Die Rachephantasie

Mit der tatsächlich durchgeführten Selbstvernichtung rächt sich ein Mensch an den Personen aus seinem sozialen Umfeld, die vermeintlich oder real für sein Leid verantwortlich sind. Dies können Freunde, die ihm nicht geholfen haben, verfolgende Institutionen wie Gerichte oder auch Gläubiger, verlorene Objekte wie Partner, die ihn verlassen haben, sein. In aller Regel gilt die Rache aber den eigenen Eltern. Für sie stellt (trotz gelegentlich vorhandener unbewusster oder bewusster Vernichtungswünsche) der Verlust des eigenen Kindes eine harte Strafe und eine maximale narzisstische Kränkung dar. Von einer ein Leben lang andauernden Trauerphase ist auszugehen.[9] Die bewusste Vorstellung der Patienten lautet häufig, "sie werden es bereuen", verbunden mit der impliziten Botschaft, die Eltern haben ein Kind großgezogen, das sich selbst hasst, weil sie es nicht genug liebten.

2: Die Selbstbestrafungsphantasie

Suizidalität oder selbstzerstörerisches Verhalten als Selbstbestrafung ist ein Verhalten, welches zu den eigenen Moralvorstellungen, den Über-Ich-Instanzen, im Widerspruch steht. Daraus entstehen Schuldgefühle, die nur durch selbstbestrafende Handlungen erträglich sind.[10] Nicht selten sind inzestuöse Masturbationsphantasien oder auch eine Erotisierung von Schmerz und Tod mit auslösend. In der sadistischen Handlung des eigenen Körpers findet das überlebende Selbst seine Befriedigung. Es ist mit dem passiven, hilflosen, nicht aufbegehrenden Körper identifiziert. Hierdurch können auch masochistische Impulse abgeleitet werden.

Fallbeispiel:

Ein Patient aus religiösem Elternhaus konsumiert mit Anfang 20 über Jahre hinweg Heroin. Er schafft den Entzug und lebt längere Zeit drogenfrei. Trotzdem stellt sich aufgrund seiner Konstitution und als Nachwirkung des jahrelangen Drogenmissbrauchs eine psychotische Episode mit Versündigungswahn ein. Der Patient gelangt zu der Auffassung, seine Genitalien gehörten entfernt, andernfalls würde etwas Schlimmes mit ihm geschehen.[11] Er konsultiert mehrere Ärzte, Chirurgen und Urologen mit der Bitte, ihm die Genitalien zu amputieren, um ihn vor den zu erwartenden schrecklichen Vorfällen zu schützen. Er wird überall abgelehnt. Schließlich besorgt er sich Skalpell, Verbandsmaterial sowie eine Dosis Heroin und entfernt sich eigenhändig Penis und Hoden. Er verbindet die Wunden sorgfältig und begibt sich in die Notaufnahme der Urologie, wo er nochmals operiert wird. Im Anschluss daran wird er auf die akutpsychiatrische Station verlegt, erhält ein Neuroleptikum und äußert den Wunsch, den Rest seines Lebens in einem Kloster zu verbringen. (Keine Quellenangabe aus Gründen der Anonymisierung.)

Anhand dieses sehr anschaulichen Fallbeispiels wird deutlich, wie sich ein Patient zwar nicht vollständig tötet, sich aber doch als sexuell aktives und vitales Wesen vernichten kann. Ein selbstbestrafender Charakter seiner Pathologie könnte in einem Tribut zu sehen sein, den er als Sünder und Drogenkonsument für sein verpfuschtes Leben zu zahlen habe, welches er sicherlich nicht im Sinne seiner streng gläubigen Eltern geführt hat. Denkbar, wären jedoch auch hirnorganische Veränderungen im Lustzentrum oder den Neurophysen in Folge des über Jahre andauernden Missbrauchs von Heroin, welches ebenfalls auf das Lustzentrum wirkt. Häufig wird beobachtet, wie bei Patienten hirnorganische Degeneration und psychopathologische Dynamiken ineinandergreifen, um dann in die gleiche Richtung wirken.

3: Die Attentatsphantasie

In einigen Fällen kann der Körper als einen fremd, verwirrend oder bedrohlich wahrgenommenen Wahnsinn erzeugend wahrgenommen werden. In dem der Körper getötet wird, kann so ein Überleben des Selbsts phantasiert werden, die Tat erfolgt als "Selbstschutzmaßnahme".[12]

4: Die Spiel-mit-dem-Tod-Phantasie

Andere Patienten wiederum inszenieren ihre suizidalen Handlungen dergestalt, als dass eine Rettung oder ein glimpfliches Ausgehen möglich ist, in Abgrenzung zur Parasuizidalität aber nicht unbedingt wahrscheinlich, sein muss. Der Ausgang der Handlung hängt somit vom Schicksal ab. Das Balancieren auf dem Grat zwischen Leben und Tod kann für den Patienten ein existentielles Erlebnis darstellen, bei dem er sich besonders deutlich spürt. Mit der Verlagerung seines persönlichen Schicksals in den Bereich des Zufalls, kann er die Verantwortung für sein Leben ablegen und sich so entlasten. Überlebt er, hat es das Schicksal entschieden. Ein Weiterleben fällt ihm dann womöglich leichter.

5: Die Verschmelzungsphantasie

Sind Patienten nicht in der Lage, Verschmelzung und die damit verbundenen seinerzeit von Rolland (1927) und Freud (1930a) als ozeanische Gefühle bezeichneten Erlebnisse durch ausreichend reife und erfüllende Sexualität, Religiosität oder andere Handlungen zu erlangen, kann es sein, dass sich diese Verschmelzungswünsche in den Bereich der Suizidalität verlagern. Hierbei kann eine Umkehr der Ontogenese, ein Zurück in den mütterlichen Uterus, ein Verschmelzen und Teil-Werden mit der anorganischen Substanz von "Mutter Erde" und ein Eingehen in die Ewigkeit phantasiert werden. Derartige Zustände wirken in aller Regel sehr beruhigend, da sie als frei von Verantwortung, Angst und Bedrohung phantasiert werden können. Einem toten Patienten kann eine Vernichtungsdrohung logischer Weise nichts mehr anhaben, Abwesenheit von Leben bedeutet auch Abwesenheit von Schmerz und Angst und selbst die hiesige Rechtsordnung schreibt vor, dass gegen Tote nicht mehr ermittelt werden darf.

2.2 Die Stadien des suizidalen Prozesses

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Stadien des suizidalen Prozesses, nach Hale (2012)

Hale (2012) zeigt Stadien suizidalen Geschehens auf, die auch psychodynamische Aspekte berühren. An den Anfang stellt er einen Verrat: Irgendetwas passiert, was der Patient als Vertrauensbruch erlebt, in der Regel ein Verlassen werden. Daraufhin entwickelt sich der präsuizidale Zustand. Dieser kann Stunden oder Tage andauern. Kommt es dann zu einem finalen Auslöser, werden sämtliche Ich-Kontrollen zerstört, die Psyche fragmentiert, ein Zustand der Verwirrtheit tritt ein.[13] Wie wir unten noch sehen werden, können psychotische oder präpsychotische Momente die Folge sein. Durch den Verwirrtheitszustand wird die Körperschranke, der Widerstand in jedem von uns, der sich gegen die Gewaltausübung am eigenen Körper richtet, herabgesetzt. Mit dem Herabsinken dieses Widerstandes, wird es zunehmend leichter, intrapsychische Spannungen über den eigenen Körper abzuführen.

[...]


[1] Denn auch im sog. Freitod kann ich einen Rest von psychodynamisch wirksamen Mechanismen erkennen. Die unten von mir beschriebene Ambivalenz von Sterben-Wollen und Nicht-Sterben-Wollen lässt sich auch hier wiederfinden.

[2] Z.B. in der von mir belegten Studieneingangsphase, in der diese permanent aktuelle Debatte geführt wurde.

[3] Die Topi (griech: topoi) sind Orte innerhalb des seelischen Apparates und als solche durch Zensoren getrennt. In der Regression werden die Zensoren durchlässig und die entsprechenden Inhalte für die Analyse beobachtbar.

[4] Nach Cassierer (1944) ist die Fähigkeit zur Symbolbildung eines der entscheidenden Merkmale, welches den Menschen vom Tier unterscheidet (animal symbolicum).

[5] 83 Prozent der Menschen, die sich das Leben nahmen hatten im Jahr vor ihrem Tod Kontakt zu einem Arzt, 66 Prozent im letzten Monat ihres Lebens (Andersen et al. 2000; Luoma et al. 2002).

[6] Vgl. hierzu auch Peter Detert mit Ingeborg Priol (2008): Ein Mann mit Borderline-Diagnose begeht schwerste Delikte, wird in geschlossene Anstalten eingewiesen und flieht aus diesen knapp ein duzend Male. Schließlich gelangt er auf eine DBT-Station, er wird stabilisiert, macht eine Ausbildung zum Optiker und findet einen Job. Er wird wieder rückfällig, zieht mit gestohlenen Maschinenpistolen als Einbrecher und Einmietbetrüger durchs Land und wird polizeilich als Terrorverdächtiger gesucht. Er gelangt wieder auf eine DBT-Station, wird wieder stabilisiert und gibt ein Buch über seinen Lebensweg heraus. Eine Internetrecherche zeigt, dass er sich im Mai 2010 das Leben nahm. Es gelang nicht, seine inneren Konflikte aufzuarbeiten.

[7] So sind mehr als die Hälfte aller suizidalen Erkrankungen mit affektiven Störungen assoziiert (Fonagy in Briggs, Lemma, Crouch 2012).

[8] Z.B.: Jürgen Armando Brandes und Armin Meiwes, dem Kannibalen von Rotenburg.

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Armin_Meiwes Zugriff am 8.6.2013

[9] So stellt der Anteil an Frauen mittleren Alters auf psychotherapeutischen Stationen, die ein Kind verloren haben, einen erstaunlich hohen Anteil dar. (Eigene Beobachtung des Autors. Helios-Klinik Bad Grönenbach, 2008.)

[10] Aus den Religionen sind vielfältige Rituale bekannt, wie Selbstkasteneiungen, kilometerlange Strecken auf den Knien rutschen, etc.

[11] Er äußert keine transsexuellen Tendenzen, keine Vorstellungen, als Frau im falschen Körper eines Mannes geboren worden zu sein.

[12] Die Dynamik des Selbstschutzes ist auch bei Suizidalität im Zusammenhang mit schweren unheilbaren Erkrankungen zu beobachten.

[13] Dieser kann auch Drogen induziert sein oder durch Drogen verstärkt werden.

Ende der Leseprobe aus 70 Seiten

Details

Titel
Zur Psychodynamik des Suizids
Untertitel
Eine metapsychologische Betrachtung
Hochschule
Universität Bremen  (Studiengang Psychologie)
Note
2,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
70
Katalognummer
V229890
ISBN (eBook)
9783656451730
ISBN (Buch)
9783656452331
Dateigröße
1047 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
suizidal, Psychoanalyse, Psychodynamik, Metapsychologie, Suizidalität
Arbeit zitieren
Thomas Weber (Autor:in), 2013, Zur Psychodynamik des Suizids, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/229890

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