Skeptizismus in Wissenschaft und Forschung


Essay, 2013

11 Seiten, Note: bestanden


Leseprobe


Einleitung:

Betrachtet man die Etymologie des Wortes „Skepsis“, so verfolgt man den Bedeutungswandel eines Begriffs, der sich erstmals in der griechischen Antike unter Pyrrhon von Elis 300 v. Chr. als einflussreiche philosophische Schule manifestierte und sich über Jahrtausende hinweg in seiner Konnotation zu einer negativen Geisteshaltung voller Misstrauen und Zweifel veränderte. Sowohl im alltäglichen als auch im historischen Sprachgebrauch wird der Skeptiker personifiziert als rückständig und regressiv, erfüllt von Idealen der Vergangenheitsrestauration und Zukunftsresignation, einer Ideologie des Kultur- und Erkenntnispessimismus verfallen, kurzum eine Person, die den Glauben an das Gute in die Welt und deren Fortschreiten verloren hat.

Doch betrachtet man die bedeutenden Intellektuellen hinter diesem Stereotyp und begibt sich auf eine wissenschaftshistorische Ebene der kritischen Auseinandersetzung, so wird zwangsläufig eine Revision zweier bestehender Meinung notwendig: Weder ist der Skeptizismus diachron betrachtet ein anachronistisches und unbedeutendes Phänomen, noch treffen jene stereotype Attributionen auf seine Vertreter zu. Der französische Humanist Michel de Montaigne, der deutsche Aufklärer Immanuel Kant und der amerikanische Freidenker Michael Walzer als eine epochenübergreifende Auswahl an skeptischen Lichtgestalten führen vor Augen, dass gerade aus der Wissenschaft der Skepsis eine konstruktive Philosophie und Geisteshaltung entstanden ist, die weniger mit Pessimismus am Menschen und der Gesellschaft als mit jenem „schöpferischen Geist“ in Verbindung zu bringen ist, der „seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt“ und das Leben bejaht in seiner ganzen Wirklichkeit (Nietzsche, 1984, S.295).

Der deutsche Philosoph Markus Gabriel beschreibt das initiale Moment der Skepsis und ihren Ausgangspunkt als die Auseinandersetzung mit der„Härte der Endlichkeit […] in unseren epistemischen Anstrengungen“ (2008, S.9). Ausgehend von diesem Leitgedanken der kritischen Selbstreflexion soll im vorliegenden Essay die Bedeutung des Skeptizismus in Wissenschaft und Forschung dem Leser näher gebracht werden. Hierfür begibt sich der Autor an die Wurzel des Skeptizismus in die antike Lehre der pyrrhonischen Skepsis von Sextus Empiricus und zeigt anschließend dessen Spuren und Einflüsse in zwei der bemerkenswertesten Wissenschaftstheorien des 20. Jahrhunderts, die sich trotz ihrer Gegensätzlichkeit in ihrem tiefsten Kern auf jenen Gedanken der antiken Skeptiker aufbauen. Entgegen der vorherrschenden Meinung entsteht so durch eine kritische Auseinandersetzung mit der absoluten Wahrheit eine Betrachtungsweise von Wissenschaft und Forschung, die dank ihrer Produktivität und konstruktiven Denkanstöße in der Erkenntnistheorie unverzichtbar ist.

Hauptteil:

Sextus Empiricus errichtete seine Lehre des neopyrrhonischen Skeptizismus auf der Grundlage des mentalen Repräsentationalismus der Kyrenaiker. Diese postulierten im Zuge ihres metaphysischen Solipsismus, dass es außerhalb des eigenen Ichs keine Erkennbarkeit der Wirklichkeit gebe, sodass nur das individuelle Innere Zugang zur Erkenntnis ermöglicht und folglich auch als ausschließliche existierende Entität betrachtet werden muss (vgl. Gabriel, 2008). Sextus Empiricus negierte jedoch bereits die Behauptung der Nichtexistenz der Außenwelt als eine Form der äußeren Erkenntnis und errichtete auf der Grundlage der Lehre von Pyrrhon von Elis die bis heute radikalste epistemologische Schule des Skeptizismus. Nach dieser sei der Mensch grundsätzlich zu keinem normativen Urteil fähig, da jede existierende Argumentation oder Begründung einer Behauptung bei näherer kritischer Auseinandersetzung auf einem Fehlschluss beruhe. Sextus Empiricus beschränkte sich hierbei nicht auf die Darbietung einzelner Beispiele, sondern verfasste einen systematischen Katalog von Argumentationsfiguren (Tropen), die die Unmöglichkeit der Erkenntnis des wahren Seins aufdecken sollen. Neben dem Tropos der Meinungsverschiedenheit und dem Tropos der Relativität nennt er folgende drei Fehlschlüsse, auf die sich alle Thesen zurückführen lassen (vgl. Hossenfelder, 1985):

1. Beim infiniten Regress wird eine These A mit einer zweiten These B begründet, die ihrerseits selbst begründungsbedürftig ist. Alle weiteren Thesen, die zur nachfolgenden Begründung angeführt werden, verlangen ebenfalls nach zusätzlicher Begründung, sodass eine Verkettung der Argumentation erfolgt. Diese Konkatenation setzt sich ins Unendliche fort und verhindert so die Möglichkeit eines schlüssigen Beweises.
2. Die zweite Art eines Fehlschlusses ist der sogenannte logische Zirkelschluss (Diallele). Eine These A wird mit der These B begründet, diese wiederum erhält ihre Legitimation umgekehrt aus der These A. Die Beweiskette erfolgt somit kreisförmig und hat als circulus vitiosus keinerlei erklärende Kraft.
3. Als drittes führt Sextus Empiricus den Tropos der grundlosen Behauptung an. Eine Argumentation wird hierbei durch einen dogmatischen Abbruch beendet, der eine scheinbar apodiktische Aussage darstellen soll. Da sich grundsätzlich jedoch jede These als Dogma präsentieren lässt, kann dies keinerlei argumentativer Beleg sein.

Im Gegensatz zu den Kyrenaiker und anderen Vertretern des antiken Skeptizismus bringt diese Aufstellung der Tropen nach Sextus Empiricus die zwingende Notwendigkeit mit sich, die Aussagekraft von Thesen an sich in Frage zu stellen. So seien alle normativen Urteile aus logischer Sicht als problematische Sätze zu betrachten, die zwar durchaus wahr sein können, aber im Bezug auf ihre Wahrhaftigkeit nicht beurteilt werden können. Mit der Dekonstruktion der Begründbarkeit aller Aussagen endet jede Auseinandersetzung zweier Meinungen aus Ermangelung weiterer Erkenntnismöglichkeiten vorerst mit der gleichwertigen Gegenüberstellung verschiedener Argumente, die sich nicht gegeneinander weiter abwägen lassen. Diese Isosthenie stellt nach Sextus Empiricus mangels gültiger Urteilskriterien keinen befriedigenden Zustand dar, sodass die Sinnhaftigkeit von Aussagen über die Wirklichkeit an sich in Frage gestellt wird.

An dieser Stelle der skeptischen Lehre wird Sextus Empiricus oftmals vorgeworfen, eine realitätsferne und nicht praktikable Ethik entworfen zu haben, da der Mensch in seinem Leben tagtäglich auf Entscheidungen und normative Urteile angewiesen ist. Dieser Einwand offenbart allerdings ein unzureichendes Verständnis für die Argumentation der Skepsis. Der Skeptizismus ist sich der Entscheidungsnotwendigkeit des menschlichen Daseins vollkommen bewusst und spricht der anthropogenen Natur durchaus die Eigenschaft des Verstandes und die Befähigung zur Vernunft zu. So lehnt er zwar Werturteile im Bezug auf ihre normative Begründbarkeit grundlegend ab, jedoch ist es durchaus möglich, auf Basis von Erfahrungen Erkenntnisse zu gewinnen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit als gut oder schlecht angesehen werden. Im Zuge dieser essentiellen Unterscheidung wäre es beispielsweise geradezu fahrlässig einem schwerkranken Patienten eine Medizin zu verweigern, falls sie empirisch betrachtet mit Heilung oder Linderung jener Erkrankung in Verbindung gebracht wird. Ein weiteres von ihm angeführtes Beispiel betrifft die Essgewohnheiten verschiedener Kulturen: Während Juden strikt auf den Verzehr von Schweinefleisch verzichten, ist es in Libyen gesellschaftlich verpönt Schaffleisch zu sich zu nehmen. In Europa bilden jedoch sowohl Schaf als auch Schwein ein übliches Produkt in der Gastronomie. Als Folge dieser interkulturellen Differenzen fordert Sextus Empiricus dezidiert nicht, kulturelle Konventionen und tradierte Normen aufgrund ihrer mangelnden Begründbarkeit abzulegen, sondern empfiehlt im Sinne des Ideals der Seelenruhe eine Haltung der Unterschütterlichkeit (ataraxia) und Gelassenheit (epoché) gegenüber Andersartigkeit.

Das essentielle Moment der skeptischen Betrachtungsweise lässt sich somit abschließend folgendermaßen zusammenfassen: Ausgehend von der Überzeugung, dass Normativität sich aufgrund des fehlenden epistemischen Zugangs zur Außenwelt nicht begründen lässt und Werturteile (Thesen) folglich willkürlich sind, ist es nicht Bestandteil der Skepsis sich von jeglichen weltlichen Belangen zu enthalten, sondern mit Wissen um die isosthenische Struktur jeder Argumentation einen deskriptiven Standpunkt einzunehmen, der sich der indifferenten Gleichwertigkeit von Meinungen und Kulturen bewusst ist.

[...]

Ende der Leseprobe aus 11 Seiten

Details

Titel
Skeptizismus in Wissenschaft und Forschung
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Psychologisches Institut)
Veranstaltung
Einführung in die Erkenntnistheorie
Note
bestanden
Autor
Jahr
2013
Seiten
11
Katalognummer
V229678
ISBN (eBook)
9783656449614
ISBN (Buch)
9783656449997
Dateigröße
575 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
skeptizismus, wissenschaft, forschung
Arbeit zitieren
Moritz Elsaeßer (Autor:in), 2013, Skeptizismus in Wissenschaft und Forschung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/229678

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