Tanz als Protestform


Examensarbeit, 2003

79 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Entstehung des Themas
1.2 Problemstellung und Zielsetzungen
1.3 Vorgehensweise zur Untersuchung von “Tanz als Protestform
1.4 Definition von Tanz
1.5 Definition von Protest
1.6 Historischer exemplarischer Abriss von “Tanz als Protestform

2 Tanz als Protestform an einzelnen Beispielen
2.1 Physischer Protest am Beispiel des Kampftanzes Capoeira
2.2 Moderner Tanz als Protest gegen den standardisierten traditionellen Tanz
2.2.1 Cakewalk
2.2.2 Marie Louise Fuller
2.2.3 Ruth Saint Denis
2.2.4 Isadora Duncan
2.3 Tanz als ästhetischer gesellschaftlicher Protest
2.3.1 Swing
2.3.2 Rock 'n' Roll
2.3.3 Punk
2.3.4 Hip Hop
2.4 Tanz als Teil eines faschistoiden Protestes in Teilen der Dark-Wave und Gothic Szene
2.5 Individueller Protest aus persönlicher Perspektive

3 Zusammenfassung und Ergebnis

4 Literaturverzeichnis

5 Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Entstehung des Themas

Das Thema für meine Examensarbeit ist aus verschiedenen Beweggründen entstanden. Tanz ist für mich eine immer wieder faszinierende und großartige Möglichkeit, einen Bezug zu mir selbst herzustellen. Besonders im freien Tanz kann ich meine Lebendigkeit spüren und tanzend meine Gefühle und Stimmungen zum Ausdruck bringen. Mein diesbezüglich tiefes Interesse am Tanz wurde in vielfältigen praktisch-theoretischen Tanz-Veranstaltungen während meines sportwissenschaftlichen Studiums intensiviert und genährt. Ich habe unterschiedliche Ausdrucksformen wie z.B. Afrikanischen Tanz, Hip Hop und Rock ’n’ Roll in ihren freien und gebundenen Formen kennen gelernt und so in

„bewegter“ Auseinandersetzung die besondere Wirkungsweise und Bedeutung von Tanz-Bewegungen in ihren jeweiligen Zusammenhängen erfahren und zum Teil auch nacherleben können. Für mich persönlich ist das Faszinierende, dass sich trotz aller Bestrebungen, Tanz zu formalisieren und zu standardisieren, Individualität und Freiheit im Tanz immer wieder bahnbrechend durchgesetzt haben. Dadurch entsteht etwas Neues und der eigenen „Seele“ wird Raum verschafft. So ist beispielsweise der Rock ’n’ Roll in seinen Anfängen wild, individuell, zügellos und ungebunden gewesen, bevor er sich zu einer standardisierten, sportiven Form entwickelte, die den Tanz in seiner grundlegenden Bewegungsform festlegte. So existiert Tanz in seinen Erscheinungsformen meist in gebundenen und freien Formen. Vor diesem Hintergrund entfaltete sich bei mir der Wunsch, auch in meiner praktischen Tanzprüfung etwas Eigenes und sehr Persönliches zu entwickeln. Indem ich zwei gegensätzliche Musikstile, wie Industrial Music und Reggae, miteinander verbunden habe und diese improvisierend auf eine eigene Art und Weise interpretierte, formte sich der Wunsch, von gängigen Musik- und Tanzmustern abzuweichen und ein eigenes Stück zu entwerfen. In diesem Prozess spürte ich so etwas wie eine Protesthaltung im Tanz. Ich erkannte, dass ich durch diesen Tanz meine eigenen zwei Seiten darstellen wollte: Einerseits die harte, unnahbare, flippige Seite, die sich in sehr abgedrehten abgehackten und schnellen Bewegungen zu harter Industrial Music äußerten, und andererseits meine weiche1

melancholische Seite, die sich in weichen, fließenden Bewegungen zu Reggaemusik äußerte. Bei dieser tänzerischen Inszenierung wurde mir bewusst, dass ich mich über alle tänzerischen und musikalischen Normen hinwegsetzte. Ich stellte in meinem Tanz einen Protest in dem Sinne dar, dass ich gegen etwas opponierte und dies sichtbar machte. Gleichzeitig mit der Erkenntnis, dass ich im Tanz Protest äußerte, begann ich - durch den Tanz inspiriert - mich mit Formen der Jugend- und Protestkultur zu beschäftigen. Dabei faszinierten mich vor allem antifaschistische und antirassistische Jugend- und Protestkulturen, da diese sich gegen Ideologien richten, die die eigene individuelle Freiheit ablehnen und alles genetisch und kulturell Andersartige bekämpfen. Jedoch gibt es auch im antifaschistischen und antirassistischen Umfeld dogmatische, ideologisierte und unfreie Tendenzen, sodass ich in einer Gruppe mitarbeitete, die faschistische Tendenzen untersuchte, ohne dabei dogmatisch, unsachlich oder ideologisch zu werden.

In diesem Bereich habe ich mich privat besonders mit der Problematik „Rechte Tendenzen in der Dark Wave und Gothic Szene“ beschäftigt. Dabei geht es darum, wie eine Jugendkultur in Teilen in bedenklicher Weise von faschistischer Ideologie unterwandert wird. Bewegt durch mein in der dargelegten Form entstandenes Interesse für Tanz, Protest und Jugendkultur entstand die Thematik dieser Examensarbeit.

1.2 Problemstellung und Zielsetzungen

In dieser Arbeit möchte ich untersuchen, wie sich Protest im Tanz äußert. Welche Formen des Protestes lassen sich im Tanz ausdrücken und wie lassen sich diese Protestformen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang erklären? Dabei werden die Begriffe „Tanz“ und „Protest“ nicht im engeren Sinne verwendet, sondern sehr weit gefasst. „Tanz“ wird von mir in dieser Arbeit als eine Umsetzung der inneren Gefühlswelt, mit oder ohne Musik als Auslöser, in Bewegungen definiert. Dieser individuelle „Tanz“ ist eingebettet in eine „Kultur“. Den Kulturbegriff definiere ich nach Peter Weinberg als „…kollektive Form der Gesellschafts- und Subjektaneignung mit dem Ziel der Selbstorganisation des Subjektes“. 1 „Tanzkultur“ ist demnach etwas, bei dem der Mensch seine eigenen2 inneren Gefühle durch den Tanz ausdrückt, um sich und die Gesellschaft zu gestalten. Wenn ich „Protest“ sowohl in der Definition „etwas öffentlich bezeugen“ als auch in dem Sinne „sich gegen etwas verwahren“ verwende, ist in jeder „Tanzkultur“ ein „Protest“ vorhanden.2 Auf „Tanz“ und „Protest“ wird in den Kapiteln 1.3 und 1.4 noch detaillierter eingegangen. „Musik“ wird von mir als ein möglicher, aber nicht zwingender Auslöser für „Tanz“ definiert. Das bedeutet, dass „Musik“ ein stimulierendes Moment darstellen kann, um die innere Gefühlswelt in Bewegungen umzusetzen. Daher untersuche ich in meiner Arbeit auch Aspekte, die formal zunächst eher der „Musikkultur“ als der „Tanzkultur“ zugeordnet werden.

Anzumerken bleibt weiterhin, dass alle hier untersuchten Protestformen im Tanz - mit Ausnahme von Teilen des Capoeira - im 20. Jahrhundert verwurzelt sind.

1.3 Vorgehensweise zur Untersuchung von „Tanz als Protestform“

In dieser Arbeit soll versucht werden, Tanz (definiert als Symbiose von Bewegung, Musik, Kultur und eigenem individuellem Erleben) als Protestform genauer zu betrachten. Dabei werden verschiedene Arten des Protestes an unterschiedlichen Tanz- und Bewegungsformen untersucht. Auf Grund der vorher skizzierten unterschiedlichen Protestformen in der Tanzgeschichte und den vielfältigen Ergebnissen, die ich bei einer Umfrage unter Sportstudenten zur Verquickung von Tanz und Protest erhalten habe (von verschiedenen Tänzen –

„Pogo, Tango, Ritualtänze, Rock `n` Roll, Charleston, Hip Hop, Kriegstänze und Ballett“ über „Protest gegen die Eltern, Protest von tanzenden Kurden und Protest gegen sich selbst“ bis zum „Universellen Protest im Tanz“),3 ist zu folgern, dass es viele verschiedene Tanzprotestformen geben muss.

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Diese Arbeit erhebt jedoch keinesfalls den Anspruch auf eine vollständige Darstellung aller Protestformen und der entsprechenden Tanzmuster; es sollen vielmehr an exemplarisch ausgewählten Tanz- und Musikformen einzelne Protestformen analysiert werden. Da die Abgrenzung zwischen den unterschiedlichen Mustern nicht immer eindeutig ist, kann es bei der nachfolgenden Untersuchung durchaus zu Überschneidungen kommen.

Bei der Analyse der verschiedenen Protestformen des Tanzes sollen jeweils folgende Fragestellungen untersucht werden:

- Um was für eine Protestform handelt es sich?
- Wie ist dieser Protesttanz historisch entstanden?
- Welche Umstände haben dazu geführt, diese Art von Protest zu äußern?
- Ist die ursprüngliche Protestform umgewandelt worden?

Der Aufbau meiner Untersuchung „Tanz als Protestform“ wird in folgende Abschnitte gegliedert:

Zunächst soll in Kapitel 2.1 der physische Protest - als härteste Form - behandelt werden. Dabei handelt sich um Tanzmuster, die körperliche Gewalt beinhalten. Ein Beispiel ist der Kampftanz Capoeira. Dieser Tanz war ein Mittel von Sklaven, um sich gegen Ausbeutung und Unterdrückung durch ihre Besitzer zu verteidigen.

Danach geht es in Kapitel 2.2 um eine Art von „tanzinternem“ Protest. Innerhalb der Tanzformen wird durch eine neue Tanzkultur Protest gegen eine frühere Tanzkultur ausgedrückt. Am Beispiel des cakewalks sowie den drei einflussreichsten Begründerinnen des modernen freien Tanzes (Loie Fuller, Ruth Saint Denis und Isadora Duncan) wird dargestellt, wie am Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen von freieren, weniger standardisierten Tänzen afro-amerikanischen Ursprungs gegen die alten traditionellen, stark tradierten europäischen Tänze protestiert wurde.

In einer weiteren Analyse in Kapitel 2.3 soll der gesellschaftspolitische Protest betrachtet werden. Dabei wird den einflussreichsten Tänzen, Musikstilen und Jugendkulturen des 20. Jahrhunderts (Swing, Rock ´n´ Roll, Punk und Hip Hop) auf den „Protestzahn“ gefühlt werden.

Das Kapitel 2.4 beschäftigt sich mit Tanz als Teil einer Indoktrination von Ideologie. Hier werden Teile der „Dark Wave“ und „Gothic-Szene“ im Hinblick auf rechte reaktionäre Tendenzen untersucht, die sich u.a. auch im Tanz als Protest gegen ein4 demokratisches System äußern.

In Kapitel 2.5 wird Tanz als individueller Protest aus persönlicher Perspektive untersucht. Hier beschreibe ich aus einem ganz individuellen Blickwinkel, wie ich durch Tanz als Protest bei einem Konzert der Punkband „Dead Kennedys“ und der pantomimischen Tanzperformance ihres Sängers Jello Biafra aus der Sicht eines Zuschauers über das Medium Video mitgerissen wurde, und wie ich Tanz als Protest bei einem Konzert der Industrial-Metal- Band „Ministry“ selbst erlebt und gestaltet habe.

In der abschließenden Zusammenfassung werden die verschiedenen Protestformen im Tanz kurz skizziert und verglichen. Abschließend versuche ich zu definieren, was die Grundlagen von Protest im Tanz sind.

1.4 Definition von Tanz

Nähert man sich der Tanzdefinition zunächst über allgemeine Lexika an, so fällt auf, dass bei der Tanzdefinition fast immer Tanz mit Musik und Bewegung in einer Symbiose betrachtet wird: Tanz, rhythm. geregelte Körperbewegung zu Musik- oder Geräuschbegleitung…“ 4, Tanz, meist von Musik begleitete rhythm. Körperbewegungen…“5, „Tanz ist eine rhythmische Körperbewegung, die meist von Musik begleitet wird.“ 6, „…seelisch – geistige Vorgänge durch Bewegungen des Körpers, durch Gestik und Mimik zu versinnbildlichen; meist von Musik begleitet (Tanzlied, Tanzmusik).“7

Neben der Symbiose von Tanz, Musik und Bewegung wird Tanz als ein angeborenes natürliches Ausdruckmittel definiert: „Tanz ist alltägliche Bewegung und begleitet seit jeher das Leben der Menschen in allen möglichen Lebenssituationen“8, „ … eines der ursprünglichsten, naturtriebhaften

Ausdrucksmittel des Menschen…“9, „Der Tanz ist eine der ältesten Ausdrucksweisen und ein Grundbedürfnis des Menschen.“10 , „…elementares u. u rspr. Ausdrucksmittel des Menschen…“11

Tanz ist jedoch auch ohne Musik, formale Vorgaben und gesellschaftliche Normen denkbar, so dass es sich als sehr schwierig gestaltet, das Phänomen Tanz greifbar zu machen. Tanz gestaltet sich in so vielfältigen kulturhistorischen Erscheinungsformen, dass, wie angedeutet, eine allgemeine Definition nicht möglich ist. So sind beispielsweise in vielen außereuropäischen Tanzformen religiöse und soziale Funktionen sowie künstlerische Ambitionen des Tanzes untrennbar miteinander verkoppelt, wohingegen in der europäischen abendländischen Kultur diese Funktionen in verschiedenen Tanzformen und Tanzkulturen separat existieren oder gar nicht vorhanden sind. So übernimmt in unserem Kulturkreis der „Volks-“ und „Gesellschaftstanz“ weitgehend die soziale Funktion des Tanzes. Der rituell-sakrale Tanz existiert kaum und künstlerische Ambitionen werden größtenteils im professionellen standardisierten Tanzbetrieb umgesetzt.12

Alle diese Tanzdefinitionen sind jedoch sehr allgemein und im Endeffekt nichts sagend, da sich der Tanz, wie er in dieser Arbeit definiert wird, um sein Protestpotential zu analysieren, als individueller Ausdruck eigener Gefühle durch Bewegung darstellt. Er ist somit nicht bloß eine rhythmische Körperbewegung, sondern eine Mitteilung der Innenwelt an die Außenwelt, eine Ausdrucksform der innersten Sehnsüchte und des eigenen Protestes. Die Vielfältigkeit der Interpretation des Begriffes Tanz belegen die Antworten von Studenten am Fachbereich Sport der Universität Hamburg, die über die Bedeutung von Tanz für sich persönlich und ihr persönliches Erleben befragt wurden. Die Spannweite reichte von „Tanz als Zeichen von Leben“, „Tanz als Grundbedürfnis wie Essen und Trinken“, „Körperwahrnehmung, die durch keine andere Tätigkeit zu bekommen ist“ und „Gefühl zu schweben“ über „Spaß an der Bewegung“,

„Durch Rhythmus den Körper formen“, „Lachen“ und „Abreagieren und Stressbewältigung“ bis hin zu „Ausdrucksform des Zeitgeistes“, „Individualität ausdrücken“, „Geschichten erzählen“, „Kontaktaufnahme“ und „Ausdruck der

K ultur, die man lebt“ . 13

Tanz reicht demnach vom essentiellen Grundbedürfnis über Bewegung und Körperformung bis hin zu einer Gebundenheit, bei der ein Inhalt dargestellt wird. Mit diesem letzten Bereich der Tanzdefinitionen werde ich mich in der vorliegenden Arbeit beschäftigen.

Ein in diese Richtung tendierender, gesellschaftstheoretischer Ansatz zur Definition des Tanzes, den ich in weiten Teilen auch meiner Arbeit zu Grunde lege, stammt von Andrea Hubert . Ihr Ansatz ist praxisorientiert und basiert auf einer tätigkeitsorientierten Forschungsrichtung. Diese untersucht sportliche und bewegungskulturelle Phänomene als Resultate menschlich- gesellschaftlicher Tätigkeit.14

Die aus diesem Ansatz resultierende gesellschaftstheoretischen Tanzdefinition von Andrea Hubert lautet: „...die Zellform von Tanz [ist] eine erfahrungsgestützte und erlebnismäßig-emotional gestaltete Bewegung (im System von Körper und Psyche) zur Realisierung der Innenwelt durch Vergegenständlichung von Körper und Psyche…15

Auf diesem Ansatz fußt auch die Tanzdefinition, die Elske Seidel ihrer Examensarbeit „Das Lebendige des Tanzes“ zu Grunde legt. Für sie ist Tanz etwas, das nicht nur rational ist, sondern den Menschen emotional als Ganzes anspricht. Die Sprache des Tanzes birgt nach diesem Ansatz eine Tiefschichtigkeit, die die gesprochene Sprache nicht erreichen kann. Im Tanz wird für Seidel die Innenwelt des Menschen gestaltet. Für diese Darstellung ist es wesentlich, dass sich die tänzerischen Bewegungen der Innenwelt des Menschen unterordnen. Das heißt, dass vorherige Eingrenzungen, Einengungen und Festlegungen tänzerischer Bewegungen dieser Tanzdefinition diametral entgegenstehen. „Weite“ und „Freiheit“ gehören somit zu den höchsten Prioritäten im Tanz.16

Daraus folgt meine dieser Arbeit zu Grunde liegende Tanzdefinition getreu dem

Ausspruch „Tanz ist Leben, Tanz ist Bewegung“.17 Die innere Gefühlswelt des Menschen formt tänzerische Umsetzung. Das heißt für mich, dass der Mensch in seinen tänzerischen Bewegungen seine innersten Gefühle der Außenwelt wie in einer Art „Code“ mitteilt. Dieser kann je nach Wissen und Zugehörigkeit zu einer bestimmten „Tanzkultur“ durch die „Öffentlichkeit“ dechiffriert werden oder nicht. Das bedeutet: Tanz funktioniert in diesem Kontext nur optimal, wenn die Zuschauer die Mitteilung des Tänzers, die dieser in seiner Bewegung verschlüsselt, verstehen können. Tanz ist also in meiner Definition das Medium, durch welches der Außenwelt etwas über den Tänzer mitgeteilt wird. Der Tänzer eröffnet den Zuschauern bewusst oder unbewusst einen Teil von dem, was ihn innerlich bewegt.

1.5 Definition von Protest

Das etymologische Wörterbuch definiert den Begriff Protest wie folgt: „ Protest Einspruch, Widerspruch; aus frz. protester „öffentlich beteuern, versichern; sich (gegen etwas) verwahren“, aus lat. protestari „öffentlich bezeugen; zum Zeugen anrufen“, aus pro „vor“ und testariZeuge von etwas zu sein, bezeugen“, zu testis „Zeuge“ “18

Da Protest laut Definition immer etwas darstellt, bei dem öffentlich Zeugnis abgelegt und dadurch Einspruch oder Widerspruch eingelegt wird, untersuche ich Tanz - in der von mir erwähnten erweiterten Definition - als eine Protestform, in der öffentlich etwas bezeugt und somit gegen etwas - in welcher Art und Weise auch immer - Widerspruch oder Einspruch eingelegt wird.

In der heutigen Zeit wird „Protest“ im alltäglichen Sprachgebrauch enger gefasst als in der ursprünglichen Definition. „Protest“ wird nicht nur als „öffentlich bekunden“ oder „öffentlich bezeugen“ verwendet, sondern immer als „gegen etwas sein“ und dies öffentlich - meistens in Form einer Demonstration - zur Schau stellen. „Protest“ wird daher fast ausschließlich mit „Demonstration gegen gesellschaftspolitische Zustände“ gleichgesetzt. Ich möchte jedoch den Begriff

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„Protest“ nicht ausschließlich in diesem Sinne definieren, sondern diesen Aspekt nur als eine mögliche Form des Protestes verstehen. Allgemein werde ich

„Protest“ in seiner erweiterten etymologischen Bedeutung verwenden.

1.6 Historischer exemplarischer Abriss von „Tanz als Protestform“

In diesem Abschnitt möchte ich für jede Epoche der Menschheitsgeschichte (Frühgeschichte, Antike, Mittelalter, Neuzeit) ein signifikantes Beispiel für „Tanz als Protestform“ geben.

Früheste Darstellungen von menschlichen Bewegungen, die als eine Form von Tanz gedeutet werden können, finden wir in steinzeitlichen Höhlenmalereien. Tänzerisch anmutende Nachahmungen von tierischen Bewegungen durch Menschen sind hier bildlich festgehalten. Diese hier dargestellten „Tänzer“ waren Zauberer, die dadurch, dass sie sich durch diese Tanzimitationen in die Physis und Psyche des zu erbeutenden Tieres hineinversetzten, den Jagderfolg steigern sollten.19 Diese tänzerischen Tieranimationen durch Zauberer in der Frühgeschichte beinhalten eine Art Protest. Die Zauberer bezeugten dadurch öffentlich in der Stammesgemeinschaft, dass sich die Stammesmitglieder in das Tier hineinversetzen sollten, um den Jagderfolg zu steigern. Es war also ein öffentliches Bekunden gegen den mangelnden Jagderfolg und somit für den Wunsch nach ausreichender Versorgung mit Nahrung, um zu überleben.

Der Tanz ist laut griechischer Mythologie göttlichen Ursprungs. Alten Erzählungen zufolge ist die Herkunft bewusst geformter Bewegungen auf der Insel Kreta zu suchen. Nach diesen Überlieferungen war es ein Kreter mit dem Namen Meriodes, der in der kargen, schroffen und einsamen Inselbergwelt als erster den Vorteil körperlicher Geschmeidigkeit beim Umgang mit Waffen erkannt hatte. Durch beständiges Wiederholen immer gleicher Bewegungen war er in kämpferischen Auseinandersetzungen erfolgreicher als jeder andere. Die Idee, seine gemachten Erfahrungen an die anderen männlichen Mitglieder seiner Siedlung weiterzugeben - und wiederum deren Weitergabe über Generationen hinweg - erwies sich als so erfolgreich, dass der Ort von da an als uneinnehmbar galt. In den folgenden Generationen begannen die Männer des Dorfes damit, die bewusst geformten Bewegungen zu erweitern. Schnelle Wendungen und hohe Sprünge befähigten sie dazu, Wurfgeschossen der Gegner geschickter auszuweichen. Schließlich fasste man die Bewegungsabläufe in einer langen

Reihenfolge zusammen und erreichte dadurch eine bessere Kondition für lang andauernde Kämpfe. Nach immer wieder erfolgreicher Anwendung der Bewegungsabfolge im Kampf erhielt diese den Namen Pyrrhiche, was soviel bedeutet wie Waffentanz.20 Auch in diesem Waffentanz ist ein Protest verankert. Es wird öffentlich durch den Tanz die eigene körperliche Stärke und Gewandtheit bezeugt und dadurch gegen die Stärke des Gegners protestiert, für den eigenen Mut und den erhofften Sieg im Kampf.

Im späten Mittelalter ( 14. und 15. Jahrhundert ) häuften sich in den Quellen der abendländischen europäischen Geschichte Berichte über Ausbrüche von Massenhysterie, die sich in ganzen Bevölkerungsgruppen der unteren Schichten in einer Art Tanzekstase entlud. Diese manifestierte sich in vorchristlichen Tänzen. Diese verzückten Tänze des ausgehenden Mittelalters waren einerseits ein „Protest“ gegen die kirchlichen Tanzverbote und andererseits ein „Protest“ in Form einer Darstellung der Todesangst vor der damals überall grassierenden Pest.21

Ein signifikantes Beispiel für „Tanz als Protestform“ in der Neuzeit bietet sich in Bezug auf die Veränderung des Balletts in Frankreich durch die Französische Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts. Dadurch, dass nach der Französischen Revolution die Aristokratie ihre uneingeschränkte politische und gesellschaftliche Herrschaft verlor und breite Kreise des Bürgertums in einflussreiche Positionen im Staate aufstiegen, veränderte sich auch das Milieu, in dem das theatralische Ballett spielte. Ging es vorher thematisch fast ausschließlich um die Darstellung des höfischen Lebens, war nun mit dem Zugang der bürgerlichen Schichten zu politischer Macht und gesellschaftlichem Leben zusehends eine Umsetzung des Balletts im bürgerlichen Milieu zu verzeichnen. Daraus folgt: Im Tanz wird eine gesellschaftliche Veränderung dargestellt und somit ein Protest (gegen das Alte) ausgedrückt.22

An diesen Beispielen von „Tanz als Protestform“ in der Tanzgeschichte wird deutlich, dass im Laufe der historischen Entwicklung viele verschiedene Formen von Protest in unterschiedlichen Tänzen zu finden sind.

2 Tanz als Protestform, Betrachtung an einzelnen Beispielen

2.1 Physischer Protest am Beispiel des Kampftanzes Capoeira

„Junge, wer tat Dir dies, wer gab Dir so viel Schutz,

wer zeigte Dir die Schönheit zu tanzen mitten im Kampf. Junge, wer tat Dir dies,

wer „besprach“ Deinen Kopf, wer klopfte Dir die Beine,

wer heilte Dich vom Leiden.“

… Capoeira

„Das Rad“, Einzugslied für die Capoeira – Angola, von Ronaldo Santos23

In diesem Lied wird Capoeira als eine Art universelles Lebenselixier beschrieben . Ähnlich antwortete ein Mestre (portugiesisch für Meister) auf die Frage, was unter dem Begriff Capoeira zu verstehen sei: „Capoeira e´ Tudo“ („Capoeira ist alles“). Diese beiden Beispiele zeigen, welche Bedeutung Capoeira in der farbigen Bevölkerung Brasiliens hat. Capoeira wird nicht nur als Sport und Tanz begriffen, sondern vielmehr als lebendige Lebensphilosophie, die sich in Rhythmus, Bewegung, Musik und Liedern manifestiert. Da Capoeira so vielschichtig ist, hat auch jeder eine andere Definition dafür.

Ebenso schwierig wie der Versuch einer Begriffsbestimmung von Capoeira ist die Suche nach dem Ursprung des Wortes. Einige leiten es von einer Vogelart ab, die im Lateinischen „odonto – phorus capoeira spix“ heißt, und deren Männchen als besonders eifersüchtig und streitbar gilt. Andere vermuten den Ursprung in der Tupi-Guarani-Sprache. (Die Guarani-Indios gehören zu den Ureinwohnern Brasiliens.) Dort bedeutet es soviel wie „abgeholzter Wald“, was auf die Dynamik und das zerstörerische Potential des Capoeira hinweisen mag. Es kann sich aber auch auf die gerodeten Urwaldflächen beziehen, auf denen die entflohenen Sklaven siedelten. Eine weitere Interpretation führt das Wort

Capoeira auf den portugiesischen Begriff „capao“ (Kapaun) zurück und weist die Ursprünge dem Hahnenkampf zu. 24

Die Uneinigkeit bezüglich der Definition und des Ursprungs des Capoeira resultiert aus der kaum dokumentierten Geschichte der Sklaven in Brasilien. Zwar findet man reichlich Material über die portugiesische Kolonialgeschichte Brasiliens, doch die Sklaven, die der Kolonialmacht durch ihre zermürbende Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern zu großem Reichtum verhalfen, blieben von der Geschichtsschreibung nahezu ausgeschlossen. Dass die afro-brasilianische Kultur und somit auch die Kultur des Capoeira bis heute überlebt hat, ist der reichen oralen Tradition in der Weitergabe von Wissen unter den Afro-Brasilianern zu verdanken. Somit ist Capoeira untrennbar mit ihrer Geschichte und ihrer Jahrhunderte langen Auflehnung gegen Ungerechtigkeit und Diskriminierung verbunden.25 Hieraus kann man in Bezug auf Capoeira als Protestbewegung folgern, dass der Kampftanz Capoeira nicht einen isolierten Tanz bzw. Sport um seiner selbst willen darstellt, sondern dass ihm eine Protestkultur immanent ist.

Der Capoeira wird in den authentischen Capoeiraschulen auch nur in seiner Gesamtheit als Kultur unterrichtet. Das bedeutet , dass Capoeira sozusagen ein politischer Tanz bzw. eine politische Bewegungskultur ist, die ohne ein Bewusstsein über die historischen und sozialen Hintergründe nicht praktiziert werden kann. Daher vermittelt ein Mestre den Schülern nicht nur die Bewegungen, den Rhythmus und die Musik, sondern stets auch die Geschichte und damit das Wesen des Capoeira . Dabei erzählt er von den afrikanischen Sklaven und ihrer Arbeit auf den Feldern, von den Folterungen und Hinrichtungen, von Sklavenaufständen sowie den Formen der Diskriminierung, denen die Afro-Brasilianer bis heute ausgesetzt sind. 26

Bis heute wird, wie schon die vielfältigen Definitionen des Begriffes vermuten lassen, der Ursprung des Capoeira kontrovers diskutiert.27

Ist der Capoeira schon in einer frühen Form in Afrika praktiziert worden, oder wurde er erst in Brasilien geschaffen?

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Da sich die Quellenlage zur Geschichte des Capoeira vor 1800 als sehr fragmentarisch darstellt, bleibt eine Aussage darüber, inwieweit er vor dieser Zeit

als etwas praktiziert wurde, das in Ansätzen mit seiner heutigen Form zu vergleichen ist, sehr im Bereich der Spekulation.28 Eine Ursprungstheorie besagt, dass der Capoeira eine aus verschiedenen afrikanischen Tanzstilen, Tänzen und Ritualen bestehende Mischung ist, die in Brasilien zusammengeführt wurde. Eine andere, weniger glaubwürdige aber sehr populäre Theorie vermutet, dass er eine Kampfkunst war, die sich als Tanz tarnte, damit die afrikanischen Sklaven, die auf den Zuckerrohrplantagen der portugiesischen Großgrundbesitzer in Brasilien arbeiteten, der Verfolgung durch die Verwalter und Besitzer der Plantagen entgehen konnten. Diese populäre Theorie, ist jedoch auf Grund der Tatsache, dass zu dieser Zeit in Brasilien auch afrikanische Tänze unterdrückt wurden , unwahrscheinlich. Eine dritte Theorie sieht den Ursprung des Capoeira noch in Afrika. Danach fußt er auf dem n’golo ( Tanz der Zebras ).

Dieser n’golo war ein Brautwerbungstanz, den junge Mukupe –Krieger während der Enfundala ( der Feier, bei der die Mädchen den Rang einer Frau erhielten ) aufführten. Der Krieger, der sich beim n’golo am meisten hervortat, konnte eine Braut erwählen, ohne den üblichen Brautpreis an den Vater zu zahlen. Dieser n’golo soll , der Theorie zufolge, der eigentliche Capoeira gewesen sein, der schon in Afrika ausgeübt wurde.29

Eindeutig ist jedoch, dass der Capoeira von Afrikanern, die aus ihrem Heimatkontinent von Portugiesen nach Brasilien verschleppt wurden, entwickelt worden ist. In den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts wurde eine große Anzahl von Arbeitskräften auf den brasilianischen Plantagen der Portugiesen benötigt. Die einheimischen Indios, die als Halbnomaden oder Jäger nur sporadisch Ackerbau betrieben, waren für diese Arbeit ungeeignet. Daher wurden von 1538 bis zur Aufhebung der Sklaverei im Jahre 1888 zwischen 2,3 Millionen und 18 Millionen Sklaven vom afrikanischen Kontinent nach Brasilien verschleppt. Genaue Angaben sind nicht zu ermitteln, da der Landwirtschaftsminister im Jahre der Aufhebung der Sklaverei sämtliche Dokumente, die darüber Aufschluss hätten geben können, verbrannte. Die Sklaven waren größtenteils Angehörige der Sudanesen- und der Bantugruppen, die entlang des Nigers, in Angola, in Mozambique und im Kongo lebten. Der größte Teil dieser Sklaven arbeitete

zunächst unter den unmenschlichsten Bedingungen auf den Zuckerrohrfeldern im Nordosten Brasiliens.30 Durch die grausamen Arbeitsverhältnisse und die schweren Strafen (Folterungen und Verstümmelungen) bei Missachtung von Vorschriften war die Lebenserwartung der Sklaven sehr gering, bei Beginn der Sklaverei in Brasilien etwa 5 Jahre (gerechnet vom Anfangszeitpunkt der Gefangenschaft). Neben der niedrigen Lebenserwartung ereilte die Sklaven meistens auch das Schicksal des Auseinanderreißens von Familien- und Stammesgemeinschaften, was zur Folge hatte, dass ihre Kultur fast vollständig zerstört wurde. Nur in der Religion konnten verschiedene Elemente der eigenen Kultur bis heute überleben. Insbesondere in der Stadt Salvadore da Bahia, die auch als „schwärzeste Stadt“ Brasiliens bezeichnet wird, werden die afro- brasilianischen Religionen Candomble, Umbanda und Macumba in ihren verschiedenen Kulten ausgeübt. Die Religion konnte wahrscheinlich deshalb bis heute überdauern, weil den Afro-Brasilianern auch in der Sklavenzeit (bis ins 19.Jahrhundert) die Ausübung religiöser Rituale und Gebräuche erlaubt war. Dies hatte mehrere Gründe : Zum einen war es der Reiz des Unbekannten, der die Kolonialherren beeindruckte, zum anderen blieb eine Missionierung zum Katholizismus wegen sprachlicher Probleme und auf Grund der Befürchtung aus, dass die Teilnahme der Sklaven am eigenen religiösen Alltag den Unterschied zwischen Herren und Sklaven aufweichen könnte.31

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts flohen einige Dutzend afrikanischer Sklaven von den nordostbrasilianischen Zuckerrohrfeldern in die Wälder von Palmares. Sie gründeten dort im Jahre 1597 die ersten Siedlungen, die quilombos genannt wurden . Dies markierte den Beginn eines hundertjährigen Kampfes der entflohenen Sklaven der Wälder von Palmares gegen die portugiesischen und holländischen Kolonialherren Brasiliens. Die quilombos wuchsen rasch an und zu ihrer Blütezeit lebten dort 50 000 Menschen in mehreren Ansiedlungen, deren

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„Hauptstadt“ und Sitz des Königs das Dorf Macaco war. Der Grund für die lange Periode des autonomen Widerstandes dieser Gemeinden war zum einen der ernorme Freiheitswille der Entflohenen, der diese zu einem erbitterten Widerstand befähigte, dem die Kolonialherren über lange Jahre nichts entgegenzusetzen hatten. Zum anderen waren die Siedlungen gut im Schutze der Wälder versteckt und in der Lage, sich weitgehend autark mit Lebensmitteln zu versorgen. Zur

Blütezeit der Siedlungen wurden außerdem Güter der Weißen überfallen und die dort arbeitenden Sklaven befreit. Zu dieser Zeit wurde zum ersten Mal eine Urform des Capoeira praktiziert. Diese Form, die mit dazu beitrug, dass der Widerstand gegen die Kolonialherren eine so lange Zeit überstand, konnte jedoch nicht verhindern, dass der Widerstand der Siedlungen von Palmares 1695 nach vielen Kämpfen gebrochen wurde. Geblieben ist jedoch der Mythos dieses längsten in der Geschichte bekannten Befreiungskampfes. In vielen Liedern, Tänzen und Erzählungen findet sich die Erinnerung an die quilombos . Dieser Begriff ist bis heute - verbunden mit dem Capoeira - das Symbol der Farbigen Brasiliens für ihren Kampf gegen Diskriminierung und Unterdrückung.32

Das Wort Capoeira in Zusammenhang mit einer bestimmten Aktivität von Sklaven taucht in den Quellen der portugiesischen Obrigkeit erstmals 1808 in Rio de Janeiro auf, nachdem das gesamte portugiesische Königshaus fluchtartig in die Stadt am Zuckerhut umgesiedelt war. Hier wird in Zusammenhang mit Capoeira sowohl von einer spezifischen Kampftechnik berichtet, die sich vor allem durch Schläge mit den Füßen und dem Kopf auszeichnete, bei der aber auch Waffen (Messer, Steine und Flaschenscherben) gebraucht wurden. Die Personengruppen, die diese Technik beherrschten, waren laut diesen Quellen vor allem Bantusklaven, aber gelegentlich wurde auch schon Weißen das Beherrschen dieser Technik nachgesagt. Des Weiteren wurden auch kriminelle Randgruppen der Gesellschaft als Capoeiras bezeichnet.33

Der Zeitraum vom Anfang des 19. Jahrhunderts - damals wurden die ersten schriftlichen Quellen über den Capoeira verfasst - bis zum Jahr 1930 wird die Zeit des „Untergrunds“ genannt. Vorher waren die kulturellen Ausdrucksformen und somit auch der Capoeira erlaubt. Doch nachdem der portugiesische Hofstaat nach Rio de Janeiro emigriert war, setzte sich die Auffassung durch, dass man die Afro-Brasilianer nur beherrschen kann, wenn man ihre Kultur unterdrückt und zerstört. Das hatte zur Folge, dass Anfang des 19. Jahrhunderts der Capoeira in Brasilien verboten wurde.34 In der ersten Periode des „Untergrunds“, von etwa 1800 bis 1850, bestanden die Capoeiras ausschließlich aus afro-brasilianischen Sklaven, die hauptsächlich in den großen Städten Rio, Salvador und Recife als Banden oder Einzelgänger - oft bewaffnet - die Straßen unsicher machten. Der

Capoeira wurde in dieser Zeit hauptsächlich gegen die Polizei aber auch bei Kämpfen untereinander angewendet.35

Aus den Quellen dieser Zeit, die hauptsächlich von den Portugiesen stammen und natürlich deren Sichtweise vertreten, geht hervor, dass der Capoeira damals nie als Spiel oder Tanz dargestellt wurde sondern immer als Kampf. 36

Ab 1824 wurde die Bestrafung der Capoeira- Sklaven sehr viel härter. Das bedeutete : Dreihundert Peitschenschläge (die in einigen Fällen tödlich waren) sowie drei Monate Zwangsarbeit.37 Ein Ereignis, über das die brasilianischen Quellen in der ersten Phase des „Untergrunds“ berichten, lässt die Capoeiras aber auch in einem positiven Licht erscheinen, da sie die „nationalen Interessen“ verteidigt haben: Im Jahr 1828, als deutsche und irische Söldner auf Grund mangelnden Soldes meuterten und die Zivilbevölkerung von Rio tyrannisierten, sollen die Capoeiras dazu beigetragen haben, diesen Aufstand niederzuschlagen. In der zweiten Phase des so genannten „Untergrunds“, von 1850 bis 1930, verbreitete sich der Capoeira und zog auch andere Gruppen als die Afro- Brasilianer an. Dazu gehörten arme und reiche portugiesische Einwanderer, Ausländer verschiedener Nationalitäten, Polizisten, Soldaten aller Truppenteile, Intellektuelle sowie Teile der Jugend der Elite des Staates.38

[...]


1 Peter Weinberg, Sport als kulturelle Tätigkeit oder Bewegungskultur, in : Bewegungskultur als Gegenstand der Sportwissenschaft – Fachbereichsinterne Publikation, 1995, S. 17

2 Ursula Hermann u.a., Herkunftswörterbuch – Etymologie, Geschichte und Bedeutung interessanter Wörter der deutschen Gegenwartssprache, Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh, 1998, S.502

3 Fragebogen zum Thema „Tanz als Protest“ (siehe Anlage)

4 Bibliographisches Institut Mannheim/Wien/Zürich, Meyers großes Taschenlexikon in 24 Bänden, Meyers Lexikonverlag, Mannheim, 1981, Band 21, S.333

5 CD ROM „Infopedia“, Compact Verlag, München, 1997, Suchbegriff „Tanz“

6 CD ROM „Enzyklopädie 2003“, WISSEN digital Software Verlag GmbH, München,2002, Suchbegriff „Tanz“

7 CD ROM „Bertelsmann Discovery’ 99“, Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh, 1998

8 Andrea Hubert, Das Phänomen Tanz – Gesellschaftstheoretische Bestimmung des Wesens von Tanz, Czwalina Verlag, Ahrensburg, 1993, S.13

9 „Bertelsmann Discovery’ 99“, Suchbegriff „Tanz“

10 Enzyklopädie 2003“, Suchbegriff „Tanz“

11 „Infopedia“, Suchbegriff „Tanz“

12 Sybille Dahms,Tanz, Bärenreiterverlag, Kassel,2001, S.6

13 Fragebogen zum Thema „Tanz als Protest“, Seminar „Tanzprojekt“, Sommersemester 2003, 10.04.2003 (siehe Anhang)

14 Das Phänomen Tanz, S.12

15 Das Phänomen Tanz, S.84

16 Elske Seidel, Das Lebendige des Tanzes, Staatsexamensarbeit an der Uni Hamburg, 1999, S.1

17 Das Phänomen Tanz, S.12

18 Ursula Hermann u.a., Herkunftswörterbuch – Etymologie, Geschichte und Bedeutung interessanter Wörter der deutschen Gegenwartssprache, Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh, 1998, S.502

19 Giovanni Calendoli, Tanz – Kult Rhythmus Kunst, Westermann Verlag, Braunschweig, 1986, S.14

20 Marianne Wick,…und wir tanzen immer noch – Von der griechischen Bewegungskultur zum experimentellen Tanztheater, Ulrich Steiner Verlag, Bergisch Gladbach, 1996, S.12 -14

21 Sybille Dahms, Tanz, S.54

22 Tanz – Kult, Rhythmus, Kunst, S.158

23 Nestor Capoeira, Capoeira - Kampfkunst und Tanz aus Brasilien,Verlag Weinmann, Berlin, 2001, S.1

24 Dirk Hegmanns, Capoeira – Die Kultur des Widerstandes, Schmetterling Verlag, Stuttgart, 1998, S.11 - 12

25 Capoeira - Die Kultur des Widerstandes, S.12

26 Capoeira - Die Kultur des Widerstandes, S.12 -14

27 Capoeira - Kampfkunst und Tanz aus Brasilien, S.29

28 Matthias Röhrig – Capoeira zur Geschichte einer afro – brasilianischen Kunstform zwischen Anpassung und Widerstand, in : Dietmar Rothermund (Hg.), Aneignung und Selbstbehauptung in der Geschichte der europäischen Expansion, Oldenburg Verlag, München, 1999, S.324

29 Capoeira – Kampfkunst und Tanz aus Brasilien, S.32

30 Capoeira – Die Kultur des Widerstandes, S.15 - 16

31 Capoeira - Die Kultur des Widerstandes, S.16 - 17

32 Capoeira – Die Kultur des Widerstandes, S.8 - 10

33 Matthias Röhrig, Capoeira, S.324

34 Capoeira – Kampfkunst und Tanz aus Brasilien, S.30

Ende der Leseprobe aus 79 Seiten

Details

Titel
Tanz als Protestform
Hochschule
Universität Hamburg
Note
1,5
Autor
Jahr
2003
Seiten
79
Katalognummer
V229484
ISBN (eBook)
9783656453147
ISBN (Buch)
9783656453345
Dateigröße
755 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
tanz, protestform
Arbeit zitieren
Frank Uhlig (Autor:in), 2003, Tanz als Protestform, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/229484

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