Privatheit in Notunterkünften? Die Lebenssituation ihrer Bewohner und die Folgen


Hausarbeit, 2002

24 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Privatheit
2.1 Definition
2.2 Privatheitskonzept nach Altman (1975) – strukturelle Aspekte
2.2.1 Privatheit als Zugangskontrolle
2.2.2 Privatheit als Optimierungsprozess und Mechanismen der Privatheitsregulation
2.2.3 Privatheit als dialektischer Prozess
2.3 Privatheitskonzept nach Westin (1967) – strukturelle Aspekte
2.4 Funktionen von Privatheit
2.4.1 Funktionen von Privatheit nach Altman (1975) – funktionale Aspekte
2.4.2 Funktionen von Privatheit nach Westin (1970) – funktionale Aspekte

3. Leben in Notunterkünften
3.1 Unterscheidung zwischen Wohnung und Notunterkunft
3.2 Wer lebt in Notunterkünften?
3.3 Die Wohnsituation in Notunterkünften
3.4 Wohnrecht in Notunterkünften?

4. Folgen des Lebens in Notunterkünften
4.1 Fehlende Privatheit und Engeerleben (Crowding)
4.2 Ausgrenzung durch Vertreibung
4.3 Soziale und räumliche Isolation
4.4 Fehlende Autonomie
4.5 Fehlendes Territorium
4.6 Bewältigungsstrategien

5. Zusammenfassung

6. Literaturverzeichnis

7. Erklärung

1. Einleitung

Die meisten Menschen haben eine Notunterkunft noch nie von innen gesehen.

Als Verfasserin dieser Arbeit muss ich gestehen, auch ich war nur einmal, zu Zeiten des Jugoslawienkrieges, in einer Wohncontainersiedlung. Die bedrückende Atmosphäre dort habe ich nie vergessen.

Auf Grundlage dieser Erfahrung und in Zusammenhang mit der Bearbeitung der Studienbriefe 3230 „Räumliches Verhalten“ von Dr. Jürgen Schultz-Gambard (1985) und 3240 „Psychologische Aspekte des Wohnens“ von Dr. Antje Flade (1985) entstand die Idee zu dieser Arbeit.

Thematische Grundlage ist die Frage, ob es für Menschen, die in Notunterkünften leben, überhaupt so etwas wie Privatheit gibt.

Hierzu werden die Privatheitsmodelle von Altman (1975) und Westin (1970) als analytische Leitfäden zugrunde gelegt und in Kapitel 2 zunächst kurz vorgestellt.

In Anlehnung an Altman wird der Begriff der Privatheit als eine Art konzeptioneller Überbau für die Konzepte Persönlicher Raum, Territorialität und Crowding dienen und als Thematik im Vordergrund stehen. Auf diese Weise wird sowohl ein Bezug zum Studienbrief 3230 als auch zum Studienbrief 3240 hergestellt.

Die Kapitel 3 und 4 bilden den Hauptteil der Arbeit und befassen sich mit der Lebenssituation von Notunterkunftsbewohnern und ihren Folgen.

Den Abschluss der Arbeit bildet eine kurze Zusammenfassung, innerhalb welcher die Ergebnisse aus Kapitel 3 und 4 in Hinsicht auf die Fragestellung der Arbeit mit den vorgestellten Privatheitsmodellen in Zusammenhang gebracht und kurz resümiert werden.

2. Privatheit

2.1 Definition

Die meisten Menschen assoziieren mit dem Wort „Privatheit“: Alleinsein, Ruhe haben, Türen hinter sich zumachen können, die eigene Wohnung oder das eigene Haus, Rückzugsmöglichkeiten, Erholung und Intimsphäre.

Vergleichbar dazu schreibt Flade: „Der Wohnbereich ist inzwischen ganz und gar zum Synonym für Privatheit geworden“ (1985, Kurseinheit I, S. 74).

Altman (1977) definiert Privatheit als „a boundary control process wherely people sometimes make themselves open an accessible to others and sometimes close themselves off from others“ (1977, S. 67, zitiert nach Flade 1985, Kurseinheit I, S. 31) und beschreibt damit das Dialektische, Dynamische und Prozesshafte des Begriffes Privatheit.

2.2 Privatheitskonzept nach Altman (1975) – strukturelle Aspekte

Kruse bezeichnet Altmans Monografie „The Environment and Social Behavior. Privacy – Personal Space – Territory – Crowding“ (1975) als „die äußerlich umfangreichste Schrift zum Thema Privatheit“ (Kruse, 1980, S. 129). Sie ist weiterhin der Auffassung, dass, obgleich Altman im Untertitel seines Buches vier Konzepte nennt, „es doch in der Hauptsache um Privatheit, um Privatheitsmechanismen wie personaler Raum und Territorialität und um Mangel an Privatheit in Form von Enge und Beengtheit“ (Kruse, 1980, S. 129 – 130) geht. Privatheit umschließt bei Altman also als integratives Konzept die anderen Konzepte des räumlichen Verhaltens.

Sein Modell wird im folgenden kurz dargestellt.

2.2.1 Privatheit als Zugangskontrolle

Privatheit wird bei Altman bipolar betrachtet. Es können die Pole „Input“ und „Output“ unterschieden werden. „Input“ steht für das, was durch andere, von außen an das Selbst herangetragen wird, „Output“ für das, was das Selbst nach außen über sich preisgibt. Der Zugang des Selbst zu anderen unterliegt dabei einer selektiven Kontrolle - Altman spricht von „interpersonal boundary-control process“ (1975, S. 10) - , die je nach Situation individuell variieren kann (vgl. Altman, 1975, S. 18).

Von Zugangskontrolle kann aber nur dann die Rede sein, wenn dass Individuum tatsächlich selbst Einfluss darauf hat, zu entscheiden, ob es in einer beliebigen Situation Zugang zu sich selbst gewähren möchte oder nicht (vgl. Kruse, 1980, S. 141).

Hat es diese Freiheit nicht, liegt ein Kontrollverlust vor. Es geht nicht mehr um Privatheit, sondern um einen Übergriff auf das Selbst, dem es mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert ist.

Altman selbst vergleicht den Mechanismus der Zugangskontrolle mit der Permeabilität einer Zellmembran (vgl. 1975, S. 10). So wie in einem Organismus die Zellmembran als Schnittstelle zwischen innen und außen fungiert, wobei jeweils nur bestimmte Stoffe die Zellmembran passieren können, so gilt es, bestimmte Regulationstechniken einzusetzen, um über das gewünschte Maß an Privatheit die Kontrolle zu behalten.

Der Wunsch nach „Input“ oder „Output“ tritt je nach Situation oder Zeitpunkt unterschiedlich stark hervor und kann im Idealfall als Intensitätsregler der Interaktion mit anderen betrachtet werden.

2.2.2 Privatheit als Optimierungsprozess und Mechanismen der Privatheitsregulation

Funktioniert die Zugangskontrolle optimal, stimmt zu einem bestimmten Zeitpunkt die gewünschte Interaktionsintensität mit der tatsächlichen überein (vgl. Altman, 1975, S. 10), und ein homöostatischer Zustand - Altman verwendet den Begriff „equilibrium“ (1975, S. 25) - tritt ein. Das soziale System befindet sich im Gleichgewicht.

Altman geht in seinem Modell also davon aus, dass es einen optimalen Privatheitszustand gibt. Um diesen zu erreichen bzw. aufrechtzuerhalten, werden verschiedene Kontrollmechanismen angewandt. Dazu zählen z.B. verbale und non-verbale Verhaltensweisen, Persönlicher Raum und Territorialverhalten und bestimmte kulturelle Normen (vgl. Altman, 1975, S. 32).

Deutlich wird hier nochmals der bereits erwähnte Zusammenhang der Einzelkonzepte für das übergreifende Konzept der Privatheit. Auch Altman hebt dies explizit hervor indem er betont: „And most important, these different behaviors operate as a unified system, amplifying, substituting, and complementing one another“ (Altman, 1975, S. 12).

Kommt es trotz Einsatz dieser Kontrollmechanismen nicht zum angestrebten Gleichgewicht, findet entweder ein Übermaß an unerwünschter Interaktion statt und es entsteht ein Gefühl von Beengtheit (Crowding), oder die Interaktion ist so gering, dass ein Gefühl der Isolation entsteht. (vgl. Altman, 1975, S. 25 - 26).

In beiden Fällen wird das angestrebte Optimum an Privatheit nicht erreicht.

2.2.3 Privatheit als dialektischer Prozess

In Hinsicht auf die Regulation des gewünschten Input oder Output ist Privatheit für Altman ein dialektischer Prozess. Privatheit bedeutet sowohl, für andere offen und zugänglich zu sein, aber auch sich zu verschließen und somit unzugänglich zu sein (vgl. Altman, 1975, S. 11).

Das Dialektische der Privatheit bezeichnet somit die prinzipielle Variabilität des Wunsches nach Kontakt mit anderen, wohingegen der Optimierungsprozess den eher qualitativen Aspekt der verfügbaren oder nicht verfügbaren Kontakte kennzeichnet und über die verschiedenen Kontrollmechanismen versucht wird, einen Idealzustand zu erreichen.

2.3 Privatheitskonzept nach Westin (1967) – strukturelle Aspekte

Eine der ersten Analysen zum Privatheitsphänomen in westlichen Ländern aus dem Jahr 1967 stammt von Alan Westin (vgl. Kruse, 1980, S. 105).

Er unterscheidet dabei vier Grundtypen von Privatheit:

1. Alleinsein: Steht für den „vollkommensten Zustand von Privatheit“ (Westin, 1970, S. 31, zitiert nach Kruse, 1980, S. 107). Der Mensch ist alleine, ohne die Gegenwart anderer und ohne unter ihrer Beobachtung zu stehen.
2. Intimität: Bezeichnet das „enge, entspannte und offenherzige“ (Westin, 1970, S. 31, zitiert nach Kruse, 1980, S. 107) Miteinander in einer Dyade oder Kleingruppe, die sich von der Außenwelt abschottet.
3. Anonymität: Gewährleistet den Aufenthalt in der Öffentlichkeit ohne erkannt zu werden, man ist „lost in a crowd“ (Altman, 1975, S. 18) und dadurch für eine begrenzte Zeit frei von sozialen Normen (vgl. Kruse, 1980, S. 107).
4. Zurückhaltung oder Reserviertheit: Hier handelt es sich um die Errichtung einer „psychologischen Barriere“ (Westin, 1970, S. 32, zitiert nach Kruse, 1980, S. 107) gegen die Außenwelt, die allerdings nur dann funktioniert, wenn die Umwelt über genügend Diskretion verfügt, den Wunsch, nicht kommunizieren zu wollen, auch zu berücksichtigen (vgl. Kruse, 1980, S. 107).

Westins Betrachtungsweise der Privatheit ist normativ. Er betrachtet es als Recht des Einzelnen, „Gruppen oder Institutionen, zu entscheiden, wann, wie und in welchem Ausmaß Informationen über sie an andere weitergegeben werden“ (Westin, 1970, S. 7, zitiert nach Kruse, 1980, S. 105).

In Bezug auf die Interaktion des Einzelnen mit seiner sozialen Umwelt „ist Privatheit der freiwillige und zeitweilige Rückzug des Individuums aus der allgemeinen Gesellschaft, “ (Westin, 1970, S. 7, zitiert nach Kruse, 1980, S. 105), der jedoch niemals absolut zu sehen ist. Denn das Individuum trachtet ebenso nach Kontakt und Austausch mit anderen (vgl. Kruse, 1980, S. 105). So ist auch bei Westin das Individuum bemüht, ein Gleichgewicht zwischen Privatheit und sozialer Interaktion „unter Berücksichtigung der Umweltgegebenheiten und der sozialen Normen der Gesellschaft“ (Kruse, 1980, S. 105) herzustellen. Wobei „der Druck, die Zwänge, die durch die Neugier der anderen geschaffen werden, sowie die Überwachungsprozesse, die jede Gesellschaft einsetzt, um die von ihr festgesetzten sozialen Normen durchzusetzen“ (Kruse, 1980, S. 105) immer neue Anpassungsprozesse erforderlich machen (vgl. Kruse, 1980, S. 105).

2.4 Funktionen von Privatheit

2.4.1 Funktionen von Privatheit nach Altman (1975) – funktionale Aspekte

Altman unterscheidet drei Funktionen von Privatheit:

1. Beziehungen der Person bzw. Gruppe zur sozialen Welt:

Hierbei geht es neben der Regulation der Interaktion mit der Umwelt auch um die Selbstidentität des Individuums. Die Identität wird wesentlich durch die Sozialisation geprägt. So wächst im Laufe der Sozialisation durch die Interaktion mit anderen ein zunehmendes Verständnis dafür, wer man selbst ist und wo die Grenze zu anderen liegt bzw. wodurch man sich von ihnen unterscheidet.

Weiterhin entscheidend ist, ob man sich überhaupt als mächtig erlebt, die Interaktion mit anderen zu steuern. Ist dies nicht der Fall, entsteht ein negatives Selbstbild (vgl. Altmann, 1975, S. 46 – 47).

2. Die Schnittstelle zwischen dem Selbst und der sozialen Welt:

Dieser Punkt ähnelt dem der Selbstbewertung bei Westin. Altman geht aber noch darüber hinaus, indem er stärker die Relevanz der Privatheit für die sozialen Beziehungen des Individuums hervorhebt. Also einerseits den Rückzug ins stille Kämmerlein, um über Erlebtes zu reflektieren. Andererseits die Möglichkeit der kontrollierten Kontaktaufnahme mit der Umwelt, um zu überprüfen, ob die subjektive Selbstbewertung oder die eigene Bewertung anderer Personen oder Situationen mit der durch die Umwelt übereinstimmen (vgl. Altmann, 1975, S. 47 – 48).

3. Selbstdefinition und Selbst-Identität:

Zu berücksichtigen ist hier, dass die Selbstdefinition durch Selbstbeobachtung zur Identitätsbildung und Erhaltung wesentlich beiträgt (vgl. Altman, 1975, S. 48).

Ein Beispiel für Selbstbeobachtung wäre ein Geschäftsmann, der vor einer Besprechung im Spiegel des Aufzugs, von der Umwelt unbeobachtet, noch einmal die Krawatte richtet und sein Haar ordnet.

Altman schreibt dazu: „Such self-observations are in the service of self-worth and self-identity“ (Altman, 1975, S. 49).

Übertragen auf das gewählte Beispiel bedeutet dies, dass der besagte Mann nicht nur sieht, dass er nun nach außen ordentlich wirkt, sondern auch das Gefühl hat, innerlich vorbereitet, ein Gewinnertyp zu sein oder ähnliches.

Die Wichtigkeit eines solchen positiven Selbstverständnisses geht aus dem folgenden Zitat Altmans hervor:

For a person to function effectively in interaction with others requires some understanding of what the self is, where it ends and begins, and when self-interest and self-expression can be exhibited. If one’s self is perceived as worthless and if the self has no boundaries and no control over who has access, then the person is literally ‚nothing’. It is difficult to conceive of a person with such feelings as being able to function very well. (Altman, 1975, S. 50)

[...]

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Privatheit in Notunterkünften? Die Lebenssituation ihrer Bewohner und die Folgen
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Ökologische Psychologie)
Note
2
Autor
Jahr
2002
Seiten
24
Katalognummer
V22568
ISBN (eBook)
9783638258630
ISBN (Buch)
9783656523017
Dateigröße
592 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Privatheit, Notunterkünften
Arbeit zitieren
Yasmin Stiwitz (Autor:in), 2002, Privatheit in Notunterkünften? Die Lebenssituation ihrer Bewohner und die Folgen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22568

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