Sekundäre Viktimisation von sexuell missbrauchten Kindern


Diplomarbeit, 2003

136 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.0. Vorwort

2.0. Zur Begrifflichkeit sexueller Missbrauch

3.0. Definitionen
3.1. Definition des Begriffes „Kind“
3.2. Definition des Begriffes „sexueller Missbrauch“
3.3.Eigene Forschungsdefinition
3.4. Formen des sexuellen Missbrauchs
3.5. Definition von primärer und sekundärer Viktimisation

4.0. Darstellung der Wormser Prozesse als Ausgangspunkt der Überlegungen zur sekundären Viktimisation

5.0. Primäre und sekundäre Viktimisierung von sexuell missbrauchen Kindern
5.1. Primäre Folgen sexuellen Missbrauchs
5.2. Sekundäre Folgen sexuellen Missbrauchs
5.3. Die Situation des kindlichen Opferzeugen vor Gericht

6.0. Zwischenresümee`

7.0. Sekundäre Viktimisation durch Glaubhaftigkeitsgutachten
7.1. Begrifflichkeiten im Bereich der aussagepsychologischen Begutachtung
7.2. Die wesentlichen Elemente eines Glaubhaftigkeitsgutachtens
7.3. Die historische Entwicklung der Glaubhaftigkeitsbegutachtung
7.4. Rolle und Situation des Gutachters

8.0. Der aktuelle wissenschaftliche Stand
8.1. Die Criteria Based Content Analysis
8.2. Der Validity Check
8.3. Ergänzungen zur Zusammensetzung eines umfassenden Gutachtens nach Fiedler und Steller
8.4. Kurze zusammenfassende Darstellung

9.0. Praxis der Begutachtung
9.1. Richtlinien für die Zeugenbefragung im Zuge der aussagepsychologischen Begutachtung
9.2. Richtlinien der Polizei zur Befragung kindlicher Opferzeugen sexuellen Missbrauchs

10.0. Konsequenzen aus den Wormser Prozessen

11.0. Ausblick auf die Zukunft

12.0. Fazit

Anhang I Interview mit Dipl. Psych. Frau Klein

Anhang II Interview mit Dr. Motzkau

Anhang III Statistiken und Tabellen

Anhang IV Struktur eines aussagepsychologischen Gutachtens

Anhang V BGH- Urteil vom 30.7.99

1.0. Vorwort

Die Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Viktimologie und sexueller Missbrauch zieht sich wie ein roter Faden durch mein Studium[1], woraus sich für mich in letztendlicher Konsequenz ergab, mich mit diesem Bereich auch in meiner Diplomarbeit zu beschäftigen. Mein besonderes Interesse galt dem Versuch, eine (zumindest literarische) Schnittstelle zwischen viktimologischer Wissenschaft (Arbeit) mit psychologischer und juristischer Praxis zu schaffen. Insbesondere habe ich versucht, Antworten auf folgende Fragen zu finden:

- Wo wird das sexuell missbrauchte Kind sekundär viktimisierenden Einflüssen ausgesetzt?
- Wie können diese Einflüsse vermieden oder zumindest reduziert werden?

Um die allgemeine Fragestellung einzugrenzen, werde ich mich vor allem auf das Strafverfahren und dessen Umfeld konzentrieren. Als Fallbeispiel dienen mir hierbei die Wormser Prozesse[2], deren Verlauf nach Meinung vieler Beobachter, als Negativbeispiel für den Umgang mit Zeugenaussagen von Kindern als deklarierte Opfer sexuellen Missbrauchs gelten.

In diesem Zusammenhang werde ich ausführlicher auf die mögliche Sekundärviktimisation durch sogenannte aussagepsychologische Gutachten (auch bekannt als Glaubwürdigkeitsgutachten) und deren mögliche Reduzierung eingehen.

Indem ich die derzeitigen strukturellen Gegebenheiten darlege, möchte ich die Leser für die Situation des Kindes als Opfer sexuellen Missbrauchs im Strafverfahren sensibilisieren.

Ich werde des weiteren über die Probleme in der momentanen Verfahrensweise reflektieren und versuchen, daraus Lösungsvorschläge abzuleiten.

Dabei bin ich mir der Emotionalität, die mit diesem Themenkomplex verbunden ist, bewusst, versuche aber dennoch, meinen Diskussionsbeitrag hierzu auf eine sachliche Ebene zu stellen.

2.0. Zur Begrifflichkeit „Sexueller Missbrauch“

Der Begriff „sexueller Missbrauch“ ist zwar der Gebräuchlichste für den von mir dargestellten Themenbereich , des weiteren existieren aber noch andere Termini, weshalb ich im Folgenden kurz darüber reflektieren möchte, ob dieser Begriff wirklich am besten geeignet ist, den von mir betrachteten Sachverhalt widerzuspiegeln, und ihn auch von alternativ möglichen Begrifflichkeiten abgrenzen möchte.

Für die Verwendung des Begriffes „sexueller Missbrauch“ sprechen im Wesentlichen drei Argumente:

- Er wirkt jeglichen Assoziationen entgegen, die eine Verantwortung der betroffenen Kinder an den Geschehnissen beinhalten
- Er entspricht der juristischen Terminologie[3] (siehe „juristische Definition), welches gerade für eine Diplomarbeit, die diesem Bereich eine hohe Bedeutung beimisst, nicht unwichtig ist.
- Er hat sich nicht nur generell in der Öffentlichkeit, sondern auch in der Fachwelt (Fachöffentlichkeit) durchgesetzt.[4]
- Er stellt das Vorhandensein eines Machtgefälles dar

Als ein möglicher Kritikpunkt hingegen könnte gesehen werden, dass der Begriff Missbrauch in seiner Wortbedeutung auch die Möglichkeit eines richtigen „Gebrauchens“ oder „Benutzens“ von Kindern impliziere[5]. Gerade dieser Aspekt des „Benutzens“ verdeutlicht die Ohnmacht des Opfers, kann auch einen stigmatisierenden Effekt haben.

Alternative Begriffe wären zum Beispiel „sexuelle Gewalt“ oder „sexuelle Ausbeutung“, welche eigentlich besser dazu geeignet sind, die oft vorherrschenden Gefühle der Betroffenen wiederzuspiegeln und darüber hinaus Bezug auf die gesellschaftliche Ebene nehmen, für unsere Zwecke aber den Nachteil haben, sowohl etwas zu weit und offen formuliert zu sein und des weiteren der Kompatibilität zur juristischen Begrifflichkeit entbehren, die aus oben genannten Gründen für uns von Bedeutung ist.

„Sexuelle Misshandlung“ ein vor allem im medizinischen Bereich gängiger Terminus, ordnet das Geschehen als eine von mehreren Formen der (Kindes-)misshandlung ein, verweist indirekt also noch auf andere Formen der Gewalt gegen Kinder, mit denen er in einem logischen Konstrukt verbunden ist. Es ist hier kritisch anzumerken dass prägnante Unterschiede zwischen sexueller und körperlicher Kindesmisshandlung existieren, vor allem was die Motivation betrifft, die hinter den verschiedenen Formen der Misshandlung steht. So geschieht die körperliche Misshandlung oft im Affekt, wohingegen die sexuelle Misshandlung in der Regel gut vorbereitet ist. (Erschleichen des Vertrauens etc.) Da im allgemeinen Sprachgebrauch oft einfach nur der unbestimmte Überbegriff „Misshandlung“ für eine körperliche Misshandlung gebraucht wird, könnte „sexuelle Misshandlung“ mitunter als ein Unterpunkt der körperlichen Misshandlung verstanden werden, was aber den besagten Unterschieden nicht genug Rechnung trägt.

Der Begriff „Inzest“, auch in einigen Fällen als Synonym für sexuellen Missbrauch benutzt,[6] beschreibt jeglichen sexuellen Kontakt zwischen Verwandten, unabhängig vom Verwandtschaftsgrad. Ein möglicher Kritikpunkt hieran ist, dass er auch sexuellen Kontakt zwischen Gleichaltrigen beinhaltet ,den man oft nicht als missbräuchlich in unserem Sinne klassifizieren kann. Für uns ist er auch deshalb nicht geeignet, da er sich nur auf die besagten Sexualkontakte in Verwandtschaftsverhältnissen bezieht was allerdings nur einen Teil des in dieser Arbeit betrachteten Themenkomplexes ausmacht.

In der Diskussion zum Thema gibt es darüber hinaus noch viele stark wertende Termini, wie zum Beispiel die Bezeichnung „Seelenmord“[7].Begriffe wie dieser schliessen in meinen Augen eine sachliche Auseinandersetzung mit diesem Thema aus. Deshalb werde ich sie hier weder alle aufzählen noch im weiteren Verlauf der Arbeit berücksichtigen.

Als Fazit aus den oben dargelegten Argumenten, ergibt sich gemeinsam mit der hohen interdisziplinären Kompatibilität, für mich die logische Konsequenz, mich auf den Begriff „sexueller Missbrauch“ festzulegen.

3.0. Definitionen

Da in der Viktimologie Definitionen nicht immer so klar und unstrittig wie in der Mathematik sind, möchte ich zu Beginn dieser Diplomarbeit die Definitionen erläutern, welche ich in deren weiteren Verlauf benutzten werde.[8]

3.1. Definition des Begriffes Kind

Da es auch hier, wie bereits erwähnt, keinen wirklich einheitlichen Konsens über die Altersgrenzen gibt, möchte ich mich bei dieser Arbeit an den juristischen Alterseinstufungen[9] der Begrifflichkeiten in Deutschland orientieren und „Kind“ als einen jungen Menschen bis hin zum vollendeten 14. Lebensjahr definieren. Da ich als einen zentralen Punkt auf die Rolle des Kindes im Umfeld des Strafverfahrens eingehen werde, erscheint es mir, nicht zuletzt aus Gründen der fachlichen Verständigung auf einer gemeinsamen Basis geraten, mich hier an der juristischen Definition zu orientieren.

3.2. Definition des Begriffes sexueller Missbrauch

Es gibt eine Vielzahl von Herangehensweisen, den Begriff sexueller Missbrauch zu definieren, aus denen eine entsprechend grosse Anzahl unterschiedlicher Definitionen resultiert. Der folgende Unterpunkt soll einen kurzen Überblick über verschiedene Kategorisierungsmodelle von Definitionen geben.

3.2.0. Möglichkeiten der Kategorisierung von Definitionen

In der Fachwelt wird zwischen verschiedenen Arten der Definition von sexuellem Missbrauch unterschieden.

Eine Möglichkeit der Kategorisierung ist die Unterscheidung zwischen „engen Definitionen“ und „weiten Definitionen“. Letztere beziehen alle für Kinder potentiell schädlichen sexuellen Handlungen mit ein, auch solche ohne direkten Körperkontakt oder sogenannte „gewaltfreie“[10] Handlungen, bei denen eine zwangsläufige Primärschädigung noch umstritten ist. „Enge Definitionen“ hingegen beziehen nur bereits als negativ identifizierte, bzw. auf breitem fachlichen Konsens als für das Opfer schädlich bewertete Handlungen ein.[11]

Um eine gewisse Übersichtlichkeit zu gewährleisten und den ohnehin sehr breiten Themenkomplex etwas einzugrenzen, werde ich meiner Arbeit eine Definition der letzteren Kategorie zugrunde legen.

Des weiteren existieren auch Einteilungen in „normative Definitionen“, „klinische Definitionen“ und „Forschungsdefinitionen“:

Normative Definitionen schliessen das traumatisierende Moment bewusst aus, beinhalten von vorneherein festgelegte Normen und Werte, wie zum Beispiel in der juristischen Definition von sexuellem Missbrauch durch den Paragraph 176 STGB.

Klinische Definitionen beinhalten in der Hauptsache eben dieses traumatisierende Moment und die klinischen Folgen des sexuellen Missbrauchs. Hier geht es in erster Linie nicht um soziale Missbilligung und Normverstösse, sondern um das Hilfebedürfnis des Opfers als Basis für eventuell einzuleitende Massnahmen.

Forschungsdefinitionen können sowohl normative als auch klinische Aspekte beinhalten, abhängig von den Vorraussetzungen, die für das jeweilige Forschungsfeld erforderlich sind. Hiermit ermöglichen sie eine Verbindung der Definitionen verschiedener Fachrichtungen und Forschungsfelder. Diese Art der Definition ist als Basis für die vorliegende Arbeit meiner Meinung nach am geeignetsten, da ein im Vorwort formulierter Anspruch an diese Arbeit ist, eine Verbindung zwischen den verschiedenen Fachrichtungen Psychologie, Rechtswissenschaft und Viktimologie einzugehen.

Unsere Arbeitsdefinition sollte deshalb den normativen Aspekt, das traumatisierende Moment, das vorhandene Machtgefälle zwischen Opfer und Täter, sowie die mentale Situation und den Entwicklungstand des Opfers beinhalten.

Einige Definitionen, welche eine gewisse Bandbreite der möglichen Nuancen bei der Definitionsfindung vertreten, möchte ich im Folgenden darstellen:

3.2.1. Juristische Definition

Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern nach §176 STGB

„(1) Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einem Dritten vornimmt, oder von einem Dritten an sich vornehmen lässt.

(3) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt

2. ein Kind dazu bestimmt, das es sexuelle Handlungen an sich vornimmt, oder
3. auf ein Kind durch Vorzeigen pornographischer Abbildungen oder Darstellungen, durch Abspielen von Tonträgern pornographischen Inhalts oder durch entsprechende Reden einwirkt

(4) Der Versuch ist strafbar; dies gilt nicht für Taten nach Absatz 3 Nr.3.

3.2.2. Definition nach Kempe 1980

„Unter sexuellem Missbrauch versteht man die Beteiligung abhängiger, noch unausgereifter Kinder und Jugendliche an sexuellen Aktivitäten, denen sie deshalb nicht verantwortlich zustimmen können, weil sie sie in ihrer Tragweite nicht voll erfassen können. [12]

3.2.3. Definition nach T. Hülshoff, Lehrbuch der Sozialmedizin 1998

(Beim sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen) “... wird gegenüber einem Kind ein sexuelles Verhalten erzwungen, oder es kommt zu sexuellen Aktivitäten zwischen einem Kind und deutlich älteren Menschen unter Ausnutzung der Abhängigkeit und der relativen seelischen Unreife des Kindes,

das noch nicht zu einer abgewogenen Zustimmung zu diesen sexuellen Verhaltensweisen in der Lage ist. Verschiedene Formen des sexuellen Missbrauchs können sein:

Zurschaustellung sexueller Handlungen, Pornographie, Berührung kindlicher Genitalien, Aufforderung zur Masturbation, Vaginal-/Oral-/Analverkehr und Vergewaltigung.“[13]

3.2.4. Definition nach Ursula Enders[14]

„Sexueller Missbrauch ist immer dann gegeben, wenn ein Mädchen oder Junge von einem ---erwachsenen oder älteren Jugendlichen als Objekt der eigenen sexuellen Bedürfnisse benutzt wird. Kinder und Jugendliche sind aufgrund ihrer kognitiven und emotionalen Entwicklung nicht in der Lage, sexuellen Beziehungen zu Erwachsenen wissentlich zuzustimmen. Fast immer nutzt der Täter ein Macht- oder Abhängigkeitsverhältnis aus und zwingt das Opfer zur Verschwiegenheit...“

3.3. Eigene Forschungsdefinition oder Arbeitsdefinition

Die aus diesen Definitionen herauskristallisierten, für meine Arbeit zentralen Elemente einer Definition für sexuellen Missbrauch sind folgende:

Sexueller Missbrauch bedeutet:

- Eine sexuelle Handlung
- Eine Abhängigkeitsbeziehung
- Die Bedürfnisbefriedigung des Mächtigeren
- Die mangelnde Einfühlung in das Kind
- Das Gebot der Geheimhaltung
- Eine (mögliche) psychische oder somatische Schädigung des Opfers

3.4. Formen des sexuellen Missbrauchs

Verschiedene Formen des sexuellen Missbrauchs können sein:

„Zurschaustellung sexueller Handlungen, Pornographie, Berührung kindlicher Genitalien, Aufforderung zur Masturbation, Vaginal-/Oral-/Analverkehr und Vergewaltigung.“[15]

„Genitale, orale und anale Praktiken einschliesslich Geschlechtsverkehr

Herstellung pornographischen Materials mit Kindern

Anleitung zur Prostitution

Sexuelle Berührungen

Präsentation pornographischen Materials

Exhibitionismus oder anzügliche Bemerkungen.“[16]

3.5. Definition von primärer und sekundärer Viktimisation

Stern und Stern 1931:

„ Die Viktimisierung ist eine psychische Gleichgewichtsstörung, die beim Opfer dazu führt, dass alles getan wird, um die Traumatisierung zurückzuhalten. Hiergegen verstösst oft die Art der Zeugenvernehmung“[17] (-> sekundäre Viktimisierung)

3.5.1. Stufen der Viktimisation

„Primäre Viktimisation:

Unter primärer Viktimisation versteht man die Tathandlung selbst und ihre Auswirkung auf das Opfer.

Sekundäre Viktimisation:

Unter sekundärer Viktimisation versteht man die im Anschluss an die, oder neben der primären Viktimisation wirkenden Einflüsse, die das Opfer schädigen..

Diese Einflüsse haben lediglich einen indirekten Bezug zur eigentlichen Tathandlung.

Als sekundär schädigend treten häufig nahe bekannte oder Verwandte des Opfers auf, sowie Vertreter der Instanzen der formellen Kontrolle, wie z.B. Polizeibeamte, Richter und Anwälte.

Das Opfer wird also oftmals zusätzlich zum ursprünglichen traumatischen Erlebnis viktimisiert, und zwar paradoxerweise dann, wenn es seinen Opferstatus deklarieren will. Das Opfer „bezahlt“ dafür, dass es seine Opferrolle bekannt gibt.

(...)

Bei der sekundären Viktimisierung im engeren Sinn, bei der sich Personen der Vertreter von Institutionen nach der primären Opferwerdung in einer Weise verhalten, dass sie zusätzlich schädigend auf das Opfer wirkt, geschieht diese sekundäre Viktimisation meist unwillentlich, häufig unbewusst, manchmal fahrlässig.“[18]

3.5.2. Wesentliche Charakteristika von sekundärer Viktimisation:

Aus den oben aufgeführten Zitaten möchte ich folgende Punkte zu meiner eigenen Arbeitsthese zusammenführen. Sekundäre Viktimisation lässt sich folgendermaßen charakterisieren:

- Sie geschieht parallel zur, oder im Anschluss an die primäre Viktimisation.
- Es besteht meist nur ein indirekter Bezug zur eigentlichen Tathandlung
- Bei der sekundären Viktimisierung handelt es sich um eine zweite „Opferwerdung“ zusätzlich zum eigentlichen traumatischen Erlebnis
- Sie tritt (meist) im Zusammenhang mit der Deklarierung des Opferstatus auf.
- Sie wird oft durch Vertreter von Institutionen oder einzelnen (Bezugs)Personen unwillentlich, unbewusst oder fahrlässig hervorgerufen.

3.5.3. Was ist sekundäre Viktimisation?

Sekundäre Viktimisation bezieht sich auf Benehmen und Ansichten von sozialen Hilfeanbietern, welche das Opfer beschuldigen („blaming the victim“), unsensibel sind und die Opfer von Gewalttaten, welchen sie helfen sollten, zusätzlich traumatisieren. Institutionelle Arbeitsweisen und Werte, welche die Bedürfnisse der Organisation oder Institution über die Bedürfnisse der Klienten stellen sind ein weiterer Bestandteil dieses Problems. Wenn Hilfeanbieter die Bedürfnisse und psychologischen Grenzen von z.B. Vergewaltigungsopfern den Bedürfnissen der Institution unterordnen, fühlt sich das Opfer verletzt. Ausprägungen dieser sekundären Viktimisierung können sein:

- der Glaube in Vergewaltigungsmythen die das Opfer selber für den Übergriff verantwortlich machen und welche dafür sorgen, dass die Aussagen des Opfers angezweifelt werden.
- Verweigerung von Hilfe für die späteren Folgen des Übergriffes, keine Unterstützung bei der gesetzlichen Verfolgung der Straftat
- Die Art, Dienstleistungen in einer Weise auszuführen welche dem Opfer ein Gefühl gibt noch einmal vergewaltigt worden zu sein, oder die anderweitig die psychologische Gesundheit des Opfers schädigen[19]

4.0. Darstellung der Wormser Prozesse als Ausgangspunkt der Überlegungen zur sekundären Viktimisation

Vor dem Landgericht Mainz wurden in den Jahren 1994 bis 1997 drei Großverfahren verhandelt, die mutmaßlichen massenhaften Kindesmissbrauch (u.a. Herstellen von Pornovideos) in Worms zum Gegenstand hatten.

Es wurden vor allem Familienmitglieder und Bezugspersonen der insgesamt 16 Kinder[20] angeklagt.

Dies geschah auf Veranlassung von Mitarbeitern der Kinderschutzorganisation Wildwasser[21], welche schon im Vorfeld eigene Befragungen der Kinder durchführten. Dies wurde unter anderem auch von der Fachwelt extrem kritisiert, da diese Befragungen in hohem Masse den Verdacht aufwarfen, suggestiv zu sein, nicht zuletzt weil die Befragerinnen und Befrager keine entsprechend fundierten Kenntnisse der Aussagepsychologie aufwiesen, welche notwendig sind, um eine weitgehende Suggestionsfreiheit zu garantieren.

Die drei Verfahren endeten mit Freisprüchen für alle 24 Angeklagten (eine Angeklagte verstarb in der Untersuchungshaft).

Von Mitte 1993 bis zum Frühjahr 1995 wurden Gespräche und Befragungen mit den Kindern über den möglichen sexuellen Missbrauch durchgeführt. Dies sind zwei Jahre, in denen jedes Kind durchschnittlich 23 mal befragt wurde, also immer wieder mit dem Vorgang des sexuellen Missbrauchs, sei er jetzt tatsächlich erlebt oder nicht, konfrontiert wurde.

Nach den Befragungen im Vorfeld zeichnet sich nach Prüfung verschiedener Veröffentlichungen von Beteiligten und Beobachtern folgendes Bild ab[22]:

Die Befragungen der Kinder fanden auf eine Art und Weise statt, die zur Folge hatte, dass die Kinder nachträgliche Informationen über die mutmasslichen Vorfälle erhielten. Dies geschah sowohl durch die befragenden Erwachsenen selbst, als auch durch Mitteilungen der Erwachsenen über die Aussagen anderer Kinder. Es wurden Kontakte zwischen den Kindern ermöglicht teilweise forciert, bei denen über die mutmasslichen Missbrauchsvorfälle gesprochen wurde. Einige dieser Kontakte hatten angeblich den Charakter einer Art Gruppentherapiesitzung für Kinder.

Wie allein diese Punkte schon andeuten, trugen, nach vorherrschender Expertenmeinung, die durchgeführten Befragungen ein hohes suggestives Potential in sich. Dies lässt sich nach Schade und Harschneck kausal an folgenden Punkten festmachen:

Die Risiken und Möglichkeiten einer Verzerrung und Verfälschung der kindlichen Aussagen durch suggestive oder zumindest den Verdacht der Suggestion nicht ausschliessende Befragungstechniken sowie auch deren Folgen, wurden von den „Aufdeckern“ entweder nicht gesehen oder nicht hoch genug eingeschätzt.

Es bestand eine sowohl persönlich als auch gesellschaftlich bedingte hohe Bereitschaft, sämtliche einen Missbrauch beschreibende Aussagen der Kinder ohne weiteres zu glauben, selbst solche, die extreme nahezu ungeheuerliche Formen des Missbrauchs beschreiben. Des weiteren waren die Befragenden grösstenteils voreingenommen. Sie waren der Überzeugung, dass der Verdacht gegen die Beschuldigten uneingeschränkt begründet ist und es jetzt nur noch darum geht, Aussagen der Kinder zu sammeln, die dieses untermauern.

Vorgefasste Meinungen führten zu einem Verhalten, das ausschliesslich darauf gerichtet ist, Beweise für eben diese Überzeugungen, die eigenen Hypothesen zu finden und gegenteilige Indizien bei deutlicher Effektbeteiligung zurückzuweisen. Dies wird in der Psychologie durch die sogenannte Dissonanztheorie[23] beschrieben.

In allen Verfahren waren aussagepsychologische Gutachter tätig, die bereits von der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren beauftragt worden waren und auf Grundlage der vorhandenen Akten jeweils eine Teilgruppe der insgesamt 15 kindlichen Zeugen in Bezug auf ihre Glaubhaftigkeit begutachtet hatten.

In den Verfahren Worms II und III wurde je ein zusätzlicher aussagepsychologischer Gutachter mit der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussagen sämtlicher kindlicher Zeugen der jeweiligen Verfahren vom Gericht beauftragt, im Verfahren Worms I ging dies von der Verteidigung aus.

Unabhängig voneinander kamen die in der Hauptverhandlung bestellten Sachverständigen zu der Schlussfolgerung, dass die belastenden Aussagen der Kinder das Produkt langfristiger (zum Teil monatelanger) und intensiver suggestiver Einflussnahme auf die Kinder im Rahmen sogenannter Aufdeckungsarbeit darstellten

Eine erstbegutachtende Psychologin (Dipl.-Psych. M.-B.) und ein Psychologe (Dr. H).) im Ermittlungsverfahren nahmen die Glaubwürdigkeit der Aussagen bezogen auf die Mehrzahl der belastenden Angaben an, revidierten diese Beurteilung im Verlauf der eigentlichen Verhandlung allerdings teilweise wieder. Sie erhielten aber dennoch die positive Glaubwürdigkeitsbeurteilung für andere anklagerelevante Aussageinhalte aufrecht. Eine weitere Psychologin (Dipl.-Psych. H.) revidierte ihre im Ermittlungsverfahren geäußerte positive Glaubwürdigkeitsbeurteilung bei den von ihr begutachteten Kindern vollständig, u.a. mit der Begründung, dass ihr im Ermittlungsverfahren nur ungenügende Informationen zur Verfügung gestellt worden seien.

Der Aussagepsychologe Max Steller war beispielsweise einer der zusätzlich vom Gericht beauftragten aussagepsychologischen Sachverständigen, und zwar im Verfahren Worms III für zehn Kinder. Knapp ein Jahr vor Abschluss der Beweisaufnahme beschrieb er im Rahmen eines vorläufigen Gutachtens in der Hauptverhandlung von Worms III im Januar 1996 für eine wichtige kindliche Zeugin den suggestiven Prozess der Aussageentwicklung und bewertete die aus diesem Prozess entstandenen Aussageinhalte als durch Suggestion entstanden. Der erstgutachtende Dipl.-Psych. Dr. H. stellte in der Hauptverhandlung für dasselbe Mädchen zwar auch suggestive Einflüsse fest, nahm aber nur teilweise Einschränkungen vor, die er im Ermittlungsverfahren im wesentlichen als glaubhaft eingestuft hatte. Ein prozessbeobachtender Journalist sah den Ausbruch eines Krieges zwischen den Gutachtern gekommen (Allgemeine Zeitung Mainz vom 26. Jan. 1996). Nach Wertung dieses Journalisten handelte es sich um einen Meinungsstreit von Sachverständigen derselben Profession, nicht etwa um eine Frage von "richtig oder falsch", sondern darum wer mehr Recht hat. Hier lag natürlich die Gefahr dass, der allgemeine Ruf der Aussagepsychologischen Begutachtung durch Sachverständige unter dieser Uneinigkeit und Undurchsichtigkeit litt. In den Augen der Öffentlichkeit, aber auch vieler Juristen und anderer Fachleute drohte die momentane Praxis der Glaubhaftigkeitsbegutachtung unglaubwürdig zu werden. Ein trauriges Paradoxon...

Zusammenfassend lässt sich aus meiner Sicht sagen, dass die Wormser Prozesse wahrscheinlich aus folgenden Gründen einen so unglücklichen Verlauf nahmen:

- Es wurde schon im Vorfeld eine unkontrollierte Aufdeckungsarbeit betrieben, die ein hohes Suggestionspotential in sich trug.
- Sowohl diese Aufdeckungsarbeit als auch die Ermittlungsarbeit von offizieller Seite ist nicht hinreichend genug dokumentiert worden.
- Da den Erstgutachtern aus diesem Grund nicht genug Informationen zur Verfügung standen, entbehrten die Gutachten zwangsläufig der notwendigen Basis um wirklich fundiert zu sein
- Des weiteren ist diese Aufdeckungsarbeit nicht hinreichend dokumentiert worden.
- Nicht alle Akten und Befragungsprotokolle, welche sowohl die Ermittlungsarbeit von offizieller Seite, als auch die mehr oder weniger eigenmächtige Aufdeckungsarbeit diverser Mitarbeiter von Kinderschutzvereinen betrafen, waren für die Erstgutachter verfügbar.
- So konnten die Erstgutachter in ihren Gutachten nicht adäquat sowohl auf die Prozesse der Aussagegenese, als auch auf mögliche Suggestionsmomente eingehen, diese einschätzen und in ihre Arbeit integrieren.
- Es mag sein, dass es auch zu einem guten Teil an mangelnder fachlicher Kompetenz einiger Gutachter gelegen haben könnte, dass diese Gutachten im weiteren Verfahren keinen Bestand mehr hatten, andererseits ist aber auch zu sehen, dass weitere Informationen zum Befragungsgeschehen im Vorfeld immer wieder in kleinen Einheiten zum Vorschein kamen, und daraufhin die einzelnen Gutachten immer wieder stückweise revidiert werden mussten. Das durch solche Zustände die Arbeit aller Gutachter extrem erschwert wird und auch an Substanz verlieren muss scheint mir nur eine logische Konsequenz aus der mangelnden Kommunikation aller am Verfahren und Vorverfahren beteiligten Mitarbeiter zu sein
- Daraus folgt für mich der Punkt, dass eine „Schadensbegrenzung“, auch im Sinne einer befriedigerenden und würdigeren Situation für alle am Strafverfahren Beteiligten, die Angeklagten und aus meiner Sicht natürlich auch besonders die kindlichen Zeugen, durch einen besser strukturierten und effizienteren Informationsfluss und genauere Absprachen zwischen den Beteiligten möglich gewesen wäre. Hier hätte persönlichen Unstimmigkeiten

zwischen einzelnen Beteiligten und ermittlungs- oder eher aufdeckungstechnischen Alleingängen einzelner Personen Vorschub geleistet werden können und müssen.

In allen weiteren Publikationen, die ich zu diesem Thema zusammentragen konnte wurde nur darauf eingegangen, welche Konsequenzen diese Verfahren für die Psyche und das weitere soziale Leben der Angeklagten hatten, die Folgen für die Kinder wurden nicht erwähnt.

5.0. Primäre und sekundäre Viktimisierung von sexuell missbrauchten Kindern

5.1. Primäre Folgen sexuellen Missbrauchs

In einer Vielzahl von Fällen führt sexueller Missbrauch bei den Opfern zu negativen Primärfolgen. Die Untersuchungen von Baurmann zur sexuellen Gewalt und psychischen Folgen , auf die im nächsten Abschnitt noch eingegangen wird zeigen allerdings auch dass die Opfer nicht immer über Primärfolgen klagen. So sind unter den Formen des sexuellen Missbrauchs auch so genannte „gewaltfreie“ Sexualdelikte aufgelistet, wie zum Beispiel „Exhibitionismus“ oder „anzügliche Bemerkungen“, welche nach Baurmanns Untersuchungen in einem Grossteil der Fälle eine wesentlich höheres Mass an sekundärer Viktimisation durch das zur Umfeld zur Folge hatten, als die eigentliche primäre Viktimisation ausmachte.[24]

Die häufigsten, möglichen Primärfolgen sexuellen Missbrauchs lassen sich am sinnvollsten in die Kategorien der Kurzzeitfolgen und der Langzeitfolgen unterteilen. Allerdings ist es angezeigt, hier im Gedächtnis zu behalten, dass diese Folgen nicht als typische Symptome oder gar Realkennzeichen für sexuellen Missbrauch zu sehen sind, sondern es sich hierbei um weitgehend unspezifische Symptome handelt. Es lässt sich also nicht von ihrem Vorhandensein kausal auf einen Missbrauch schliessen.

5.1.1. Kurzzeitfolgen

Unter Kurzzeitfolgen versteht man zum einen die unmittelbaren psychischen und physischen Reaktionen des Kindes auf den sexuellen Missbrauch.

Zum anderen werden darunter mittelfristige Folgen gefasst, die innerhalb der ersten beiden Jahren bei den Opfern auftreten.

Diese Kurzzeitfolgen lassen sich in vier Symptomgruppen einteilen:

- Emotionale Reaktionen: Angststörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, niedriges Selbstwertgefühl, Schuldgefühle, Schamgefühle, Suizidgedanken, autoaggressives Verhalten, allgemeine Störungen der Gefühlsregulation[25]
- Somatische und psychosomatische Folgen: Verletzungen im genitalen, analen und oralen Bereich, Schwangerschaften während der Adoleszenz, Geschlechtskrankheiten, psychosomatische Beschwerden (z.B. chronische Bauchschmerzen ohne körperlichen Befund), Essstörungen, Schlafstörungen, Bettnässen bzw. Einkoten
- Unangemessenes Sexualverhalten: Ausufernde Neugier auf Sexualität, frühe sexuelle Beziehungen, offenes Masturbieren oder Exhibitionismus, unangemessenes sexualisiertes Verhalten im Sozialkontakt
- Auffälligkeiten im Sozialverhalten: Weglaufen von zu Hause, Schulschwierigkeiten, Schulverweigerung, Rückzugsverhalten, Hyperaktivität, delinquentes Verhalten, aggressives Verhalten, übermässiger Konsum von Suchtmitteln

Innerhalb dieser Aufteilung lassen sich die Kurzzeitfolgen weitergehend in internalisierende Faktoren, welche gegen die eigene Person gerichtet sind (z.B. Depression, Schamgefühle), und in externalisierende Faktoren, welche gegen die Aussenwelt geregelt sind (z.B. sexualisiertes Verhalten im Sozialkontakt), einteilen.

5.1.2. Langzeitfolgen

Wie schon oben erwähnt sind diese Störungen und Auffälligkeiten sexuell missbrauchter Kinder im Erwachsenenalter unspezifisch, so dass sich allein von ihnen kein „Missbrauchssyndrom“ ableiten liesse. Dennoch lässt sich eine relative Häufung der unten angenannten Folgen als Langzeitfolgen bei Fällen von sexuellem Missbrauch feststellen.[26]

- Posttraumatische Belastungsstörung: Beharrliches inneres Wiedererleben der Missbrauchserlebnisse, bewusste Vermeidung von Situationen, die mit diesen Erlebnissen in Verbindung stehen., anhaltende Symptome erhöhten Erregungsniveaus (z.B. Reizbarkeit)
- Emotionale und kognitive Störungen[27]: Depression , Angst- und Zwangsstörungen, Schuld- und Schamgefühle, Einsamkeitsgefühle, Ärgerneigung, negative Selbstwahrnehmung, Unsicherheit, niedriges Selbstwertgefühl, Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle
- Persönlichkeitsstörungen: anhaltende Impulsivität, emotionale Instabilität (z.B. Borderline- Persönlichkeitsstörung)
- Selbstschädigendes Verhalten[28]: Autoaggression (sich selbst verletzen, suizidale Handlungen)
- Psychosomatische Symptome[29]: körperliche Symptome ohne organischen Befund, wie z.B. Bauchschmerzen, Übelkeit, Brust- und Gliederschmerzen, Schmerzen im Genitalbereich
- Dissoziative Störungen: z.B. Gedächtnislücken, Multiple Persönlichkeitsstörungen
- Schlafstörungen[30]: Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen, schlechte Schlafqualität
- Substanzgebundenes Suchtverhalten: z.B. Drogen- Alkoholmissbrauch
- Essstörungen: Magersucht, Ess-Brech-Sucht
- Sexuelle Störungen[31]: sexuelle Funktionsstörungen, unbefriedigende Sexualität, Promiskuität, sexuelle Orientierungsstörungen
- Störungen interpersonaler Beziehungen[32]: Feindseligkeit gegenüber den Eltern, Furcht oder Feindseligkeit gegenüber Männern, chronische Unzufriedenheit in intimen Beziehungen, Misstrauen, Tendenz wieder Opfer zu werden

5.2. Sekundäre Folgen sexuellen Missbrauchs

Aspekte und zentrale Inhalte der Untersuchung von M. Baurmann

Ausgangspunkt der viktimologischen Untersuchung von Michael C. Baurmann[33] war eine vierjährige Fragebogenaktion (1969-1972) bei nahezu allen Sexualopfern, die im Bundesland Niedersachsen bei der Polizei bekannt wurden. Opfer waren bei dieser Untersuchung also Personen, die selbst deklariert hatten, Opfer geworden zu sein, oder Personen, die von anderen als Opfer deklariert worden waren. (Beide werden als "deklarierte Opfer" bezeichnet.) Die weiblichen Sexualopfer waren bis zu 20 Jahre, die männlichen bis zu 14 Jahre alt. Damit wurde der zahlenmäßig bedeutsamste Teil der deklarierten Sexualopfer befragt. Die Aussagen dieser 8058 deklarierten Sexualopfer aus der Totalerhebung wurden viktimologisch ausgewertet und sind von überregionaler Bedeutung. Schlüsse aus der Untersuchung sind nicht auf Niedersachsen zu beschränken.

In einem zweiten Schritt wurden in einer "Panel Study" 112 zufällig ausgewählte Sexualopfer aus dem Total gebeten, an einer Nachuntersuchung teilzunehmen. Diese Nachuntersuchung fand im Einzelfall sechs bis zehn Jahre nach der Selbstdeklaration als Opfer durch eine Anzeige statt, und zwar in den Jahren 1979 und 1980. Die Nachuntersuchung bestand aus einem weitgehend standardisierten Tiefeninterview, in das bewährte Testverfahren aus der Psychologie und viktimologische Fragestellungen integriert waren. Diese Gespräche wurden im Haus des deklarierten Sexualopfers geführt. Die Interviewer waren weibliche und männliche Psychologen.

In einem dritten Schritt wurden die Gerichtsakten von 131 Sexualdelikten aus einer anderen Region untersucht. Bei diesen Fällen war es also nicht nur zur Anzeige bei der Polizei, sondern auch zu einer Verurteilung vor Gericht gekommen. Bei dieser viktimologisch orientierten Aktenanalyse wurden nur Fälle herangezogen, bei denen ein ausführliches psychologisches Glaubwürdigkeitsgutachten vorlag. Diese Fälle waren zu einem vergleichbaren Zeitpunkt geschehen wie die Fälle des Totals. Der Zweck dieses dritten Untersuchungsschritts war der Vergleich zwischen den lediglich angezeigten Sexualkontakten und den verurteilten. Fast alle bisher bekannten Untersuchungen hatten sich hingegen ausschließlich mit verurteilten Sexualkontakten beschäftigt.

Des weiteren weist Baurmann in seiner Studie darauf hin, das es im Bereich der Sexualdelikte eine enorme Bandbreite gibt, und es auf keinen Fall zu einer Verallgemeinerung kommen darf, indem man einfach nur von „der Sexualstraftat“ spricht. Eine genaue Differenzierung zwischen den einzelnen Sexualdelikten ist hier unerlässlich, schon allein weil sie, wie sich noch ergeben wird, einen unterschiedlich hohen Gewaltanteil beinhalten (ein Exhibitionist wirkt mit wesentlich weniger Gewalt auf sein Opfer ein, als zum Beispiel ein Vergewaltiger) und daher elementar verschiedene Auswirkungen auf das Opfer haben können.

Eine Folge solch einer Verallgemeinerung kann sein, dass Personen, die als Opfer von (relativ)gewaltlosen Sexualstraftaten bekannt werden, erleben, dass die Umwelt dem Tatbestand oftmals mehr Bedeutung beimisst, als sie es selbst tun würden, und sie später kaum noch Einfluss auf die Bewertung des indizierten Sexualkontakts haben. Betrachtet man die Aussagen von Personen, die als Sexualopfer bekannt wurden, näher und zieht die psychodiagnostischen Untersuchungen bezüglich der Opferschäden heran, dann muss man feststellen, dass diese Personen nur zum Teil als Opfer bezeichnet werden können und sich selbst häufig auch nicht als Geschädigte empfinden.

Die empirisch nachweisbaren, verschiedenen Falltypen im Bereich der sogenannten Sexualdelikte unterscheiden sich so erheblich voneinander, dass man sie nicht mehr länger als zu einer homogenen Straftatengruppe gehörig betrachten sollte.

Es ist also angezeigt die Sexualdelikte in verschiedene Gruppen einzuteilen:

Die drei wesentlichsten zu unterscheidenden Gruppen lassen sich folgendermaßen beschreiben:

1. Missbrauch von Personen als sexuelle (Ersatz-)Objekte und zur Machtdemonstration, vorwiegend gegenüber weiblichen Opfern (sexuelle Nötigung und Vergewaltigung, sowie entsprechende Missbrauchshandlungen mit Kindern);
2. Nichteinhalten von Sexualnormen, die das Alter und/oder das Geschlecht der Sexualpartner betreffen (gewaltlose sexuelle Kontakte mit Kindern, gewaltlose homosexuelle Kontakte zwischen Männern und Jugendlichen);
3. Verstoß gegen Normen, die ein bestimmtes Sexualverhalten (z. B. in der Öffentlichkeit) als anstößig definieren (Zeigen des Gliedes und Masturbation in der Öffentlichkeit)

Um beim Leser das Problembewusstsein zu diesem Themenkomplex zu schärfen, möchte ich an dieser Stelle die Problematik der Verallgemeinerung und deren Folgen für die Opfer im Zuge der sekundären Viktimisierung darlegen.

Die unkritische Vermischung der drei oben aufgeführten Gruppen, verbunden mit ängstlichen Einstellungen gegenüber der Sexualität, verhindert oft eine dringend notwendige rationale Diskussion über abweichendes Sexualverhalten. Wenn in den Medien über Sexualdelikte berichtet wird, dann enthalten solche Veröffentlichungen häufig vorurteilsbehaftete, emotionale Meinungsäußerungen, die sehr wenig mit der Realität zu tun haben. Diese Art der Berichterstattung zeigt, dass sowohl die Autoren als auch die Leser beim Thema "abweichendes Sexualverhalten" oftmals Vorstellungen haben, die von diffusen Ängsten und Vorurteilen bestimmt sind. Immer wieder wird mit erschreckenden Einzelfällen argumentiert, um zu belegen, dass die hinlänglich bekannte Ängste (z. B. vor dem "fremden Mann") doch berechtigt sind. Viele andere Fälle, die zeigen könnten, dass die wirklich großen Gefahren hingegen seltener sind und vor allem an Stellen lauern, wo man sich eigentlich sicher fühlen sollte (z. B. Gewalt in der Familie), werden bewusst und unbewusst übersehen bzw. heruntergespielt. Dies trägt dazu bei, dass ängstliche Vorurteile und angstmachende Fehlmeinungen erhalten bleiben und somit ein Bewusstsein für die eigentlichen Gefahren als Basis für eine sinnvolle Präventionsarbeit nicht ausgeprägt werden kann.

Wie oben schon angesprochen, fällt im Zuge der Befragungen durch Baurmann bei der Betrachtung der Auswirkungen von Sexualstraftaten auf das deklarierte Opfer auf, dass viele angezeigte Sexualkontakte gar keinen Schaden beim jeweiligen deklarierten Opfer anrichten. Daraus folgt, dass die unkritisch gebrauchten Begriffe „Opfer" und "Geschädigte" für einen großen Teil der Menschen, die als Sexualopfer registriert werden, unangemessen sind. Die Worte "Opfer" und "Geschädigte" suggerieren wie selbstverständlich, dass die Personen geschädigt wurden. Dies traf aber für viele der hier befragten Personen, die als Opfer bekannt wurden, gar nicht zu. Einige von ihnen waren erst sekundär Opfer geworden, weil sie die negativen Auswirkungen von Vorurteilen und die Anwendung des Instruments des Offizialdelikts zu spüren bekamen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich nur ein geringer Teil der zahlenmäßig großen Gruppe der kindlichen Sexualopfer selbst für eine Anzeige entschied. Dementsprechend wurden auch die meisten Anzeigen von den Eltern aufgegeben. Daraus resultiert oft, dass Kinder, die sich nicht geschädigt fühlen, trotzdem als "Geschädigte" behandelt werden. Manchmal werden sie dann im Laufe des weiteren Verfahrens von vorurteilsbehafteten Erwachsenen (die sie eigentlich schützen wollen) tatsächlich geschädigt (z. B. sekundäre Viktimisation durch Dramatisierung, Anzweifeln der Glaubwürdigkeit, Zuweisung einer Mitschuld usw.).

Aufgrund dieser Probleme werden hier folgende Begriffe zur unterschiedlichen Opfersituation verwendet:

- "deklariertes Opfer" (Person, die irgendwie als Opfer bekannt wird),
- "selbstdeklariertes Opfer" (Person, die sich selbst als Opfer bezeichnet ),
- "fremddeklariertes Opfer" (Person, die von anderen, z. B. von den Eltern, den Instanzen der sozialen Kontrolle als Opfer bezeichnet wird)
- "perzipiertes Opfer" (Person, die sich selbst als Opfer empfindet)
Baurmann stellt fest, dass bei etwa 34 % der untersuchten deklarierten Opfer größere Schäden beobachtet werden konnten. Bei weiteren 18 % waren leichtere Schäden festgestellt worden. Etwa 48 % der Personen, die als "Geschädigte" registriert worden waren, berichteten von keinen oder nur minimalen Schäden. Sie nahmen sich selbst auch nicht als "Geschädigte" oder als Opfer einer primären Viktimisation wahr. Unter den angezeigten Sexualkontakten befindet sich - gemessen an den primären schädlichen Auswirkungen auf das deklarierte Opfer - tatsächlich ein sehr großer Teil von Straftaten ohne Opfer, wenn man die subjektive Einschätzung der direkt betroffenen Personen zugrunde legt. Einige der zum Zeitpunkt der Erhebung meist schon erwachsenen deklarierten Opfer berichteten, dass sie sich zwar durch die an ihnen vollzogene Handlung selbst nicht geschädigt fühlten, wohl aber von den anschließenden dramatisierenden Reaktionsweisen der Umwelt (sekundäre Viktimisation).[34]

Um einen besseren Schutz der potentiellen Opfer vor primärer und sekundärer Viktimisation gewährleisten zu können, ist es notwendig, dass Ergebnisse der empirischen Forschung aus den Bereichen Viktimologie, Kriminologie, Sexualforschung, Psychologie und Pädagogik verstärkt veröffentlicht und ernst genommen werden. So könnten sie in opferfreundliche Reaktionsweisen im Bereich der informellen und formellen Sozialkontrolle umgesetzt werden. Wissenschaftler der genannten Disziplinen sollten verstärkt Gelegenheit erhalten, die angesprochenen Problembereiche zu erforschen bzw. sich zu diesen Problembereichen zu äußern, wenn überprüfbare Forschungsergebnisse vorliegen.

Eine Grundaussage der Studie M. Baurmanns ist folgende:

Viele der Personen, die als Opfer deklariert werden, werden erst durch die Existenz bestimmter Gesetze zu Geschädigten.

So fühlte sich ein Fünftel aller traumatisierten Opfer dieser Untersuchung, also einschliesslich der Gewaltopfer, -vordringlich durch das Verhalten der Eltern, der sonstigen Angehörigen, der Lehrer und der Personen aus den Institutionen der Strafverfolgung geschädigt. Demgegenüber konnte beobachtet werden, dass in einer Fallgruppe primäre Schäden nur ausnahmsweise auftraten (Exhibitionismus) und in einer weiteren (gewaltlose, einvernehmliche Sexualkontakte zwischen Kindern und Älteren) selten vorkamen.

Gerade in Bezug auf die sekundäre Viktimisation von Kindern im Zusammenhang mit den sogenannten „gewaltlosen Sexualdelikten“, zeichnen sich in der Studie gewisse Mechanismen ab, in denen das Umfeld des deklarierten Opfers in erheblich stärkerem Masse viktimisierend auf das Kind einwirkt, als der Sexualkontakt an sich. So können sekundäre Schäden sehr leicht auftreten, wenn das Kind aus einer Familie mit besonders engen sexuellen Einstellungen, aus einer Familie, in der vor dem sogenannten "Sittenstrolch" viel Angst gemacht wurde, oder aus einer Familie, in der aus allgemeiner Hilflosigkeit und Angst dramatisierend mit der Viktimisierung umgegangen wird, kommt. Als weitere Quelle sekundärer Schädigungen kann man die Strafverfolgungsbehörden und auch die Polizei nicht ausnehmen[35]. Es ist nach Baurmann -und an dieser Stelle kann ich mich seiner Meinung auch nur anschliessen- „unter dem Gesichtspunkt des Schutzes des Verbrechensopfers und der Aufklärungsquote bei schweren Sexualdelikten unerträglich, wenn einige Opfer Schaden durch die Strafverfolgung erleiden“.

Bezogen auf die angezeigten Sexualkontakte stellte sich in der Studie heraus, dass von den Sexualopfern als hauptsächliche Ursache für ihre Schäden zur Hälfte die sexuelle Handlung selbst, zu einem Drittel das Verhalten des Beschuldigten und zu je etwa einem Zehntel das Verhalten von Verwandten/Bekannten sowie der Polizei gesehen wurde. Damit ist die Polizei zwar seltener als Hauptursache für psychische Schäden bei Sexualopfern verantwortlich als von mancher Seite her angenommen wurde, aber selbst wenige Fälle sollten hier schon nachdenklich stimmen und zu Verbesserungen bei der polizeilichen Arbeit führen. Bei den verurteilten Fällen konnten die Sexualopfer nicht mehr diagnostisch nachuntersucht werden. Es wird in der Literatur jedoch meist angenommen, dass die Gerichtsverhandlungen aus mehreren Gründen traumatisierende Folgen auf das Sexualopfer haben, worauf ich in einem der folgenden Abschnitte noch genauer eingehen werde.

5.2.1. Auswirkungen der Gespräche des Opfers mit seiner Umwelt auf dessen Psyche

Neben den hauptsächlichen Ursachen für den primären oder sekundären Schaden beim deklarierten Sexualopfer, wurden bei der vorliegenden Längsschnittuntersuchung weiterhin die Auswirkungen der Gespräche , die das Opfer mit Personen aus seiner Umwelt führte, erforscht:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Gespräche mit Freundin, Freund, Geschwistern, Lehrern, Psychologen, dem eigenen Rechtsanwalt, dem Sachverständigen und den Interviewern aus dieser Untersuchung wurden eher angenehmer bzw. hilfreich empfunden. Die Gespräche mit Mitschülern und Eltern hingegen wurden im Schnitt als neutral eingestuft. Bei näherer Analyse zeigte sich, dass sich ein Teil der Eltern schädigend, ein anderer Teil dagegen helfend verhalten hatte. Den Eltern kommt in solchen Situationen eine wichtige Rolle zu, weil sie als primäre Bezugspersonen emotional, zeitlich und von den Moralvorstellungen her dem Sexualopfer besonders nahe stehen und somit ganz wesentlich dazu beitragen, ob das Kind, den Vorfall mit oder ohne Langzeitschäden verarbeitet. Die Gespräche mit Ärzten und Beamten von Jugendamt, Polizei und Gericht, sowie mit dem Anwalt des Beschuldigten wurden eher negativ, und zwar meist leicht bis sehr schädigend empfunden. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es bei einem Großteil der angezeigten Sexualkontakte gar nicht erst zu einer Gerichtsverhandlung gekommen ist.

Wenn in einer Straftatengruppe die Wahrscheinlichkeit der individuellen Schädigung des deklarierten Opfers sehr gering ist und gleichzeitig deutlich wird, dass eine Strafanzeige sowohl im Strafverfolgungs- als auch im informellen Bereich sekundäre Schädigungen beim Opfer anzurichten vermag, dann sollte eine Art Aufrechnung der sozialen "Kosten" und "Nutzen" angestellt werden, die die Stellung einer Strafanzeige und ein Verfahren für das Opfer beinhalten würde.

Es sollte vorher abgewogen werden, ob es im Sinne einer Vermeidung zusätzlicher sekundärer Viktimisierung im konkreten individuellen Fall ratsam ist, eine Anzeige zu erstatten. Ein ganz zentraler Punkt ist hier, dass das Opfer nicht zum Objekt in einem Verfahren wird, welches nur das Ziel hat, möglichst den Täter zu bestrafen. Das Opfer muss immer Subjekt bleiben, und die weitere Vorgehensweise immer von seinem Willen abhängen; auch schon relativ kleine Kinder (z.B. mit 4 Jahren) können ihren Willen ausdrücken und der sollte auch unbedingt respektiert werden.

5.3. Die Situation des kindlichen Opferzeugen vor Gericht

Um die eben angesprochene „Kosten-Nutzen Rechnung“ und die Überlegung, ob eine Anzeige sinnvoll ist, noch deutlicher zu untermauern, soll an dieser Stelle versucht werden, einen Einblick in die Situation des kindlichen Opfers von sexuellem Missbrauch in einem Strafverfahren zu geben. Die Untersuchung von Volbert/Steller/Busse über das „Belastungserleben von Kindern in Hauptverhandlungen“[36] gibt hier wertvolle Hinweise auf die Schwierigkeiten, mit denen die kindlichen Opferzeugen während einer Hauptverhandlung zu tun haben. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu erwähnen, dass bislang noch eine Untersuchung zu den Auswirkungen von strafrechtlichen Ermittlungen, in denen es zu keiner Hauptverhandlung kam, fehlt.

5.3.1. Was erwartet die Mädchen und Jungen vor Gericht?

In einem Gerichtsverfahren können erheblich belastende Faktoren auf das Kind zukommen , die sich die anderen an dem Verfahren Beteiligten Personen genauso bewusst machen sollten, wie die Personen, welche das Kind auf das Verfahren vorbereiten oder im Verfahren begleiten. Zusammenfassende Aussagen, welche aus der Untersuchung von Volbert u.a. hervorgehen, sind kursiv gedruckt[37].

- Das Kind wird mit dem Delikt konfrontiert.

Die erneute Erinnerung an die sexuellen Übergriffe ist eher oder sehr belastend.

Das Kind hat keine Möglichkeit mehr, das Geschehene zu verdrängen und muss sich damit zwangsläufig auseinandersetzen, auch wenn ihm in dem besagten Moment vielleicht die Fähigkeit dazu fehlt. Zusätzlich belastend kommt hier unter Umständen noch die Forderung nach Therapiefreiheit durch viele Vertreter der Justiz hinzu, so dass das Kind diese Bewältigungsfähigkeiten mitunter noch gar nicht erlangen kann.[38]

- Das Kind wird mit dem Täter konfrontiert.

Die Kinder haben Ängste vor allem vor dem Täterkontakt. Als am belastendsten wird die Konfrontation mit dem Täter benannt.

Auch wenn es inzwischen in einigen Gerichte die Einrichtung der Zeugenwarteräume gibt, so sind sie noch nicht allzu weit verbreitet. Außerdem wird das Kind spätestens im Gerichtssaal mit dem Schädiger konfrontiert, mitunter auch schon auf dem Weg zum Gericht oder vor der Tür. Diese Konfrontation trägt meist ein enormes Belastungspotential in sich. Oft kommt der Täter aus dem persönlichen Nahfeld des Kindes. Sein Opfer hat meist eine sehr vertrauensvolle, freundschaftliche Beziehung zu ihm und so ist oft ein Loyalitätskonflikt vorhanden, welcher einen enormen Druck auf das Kind ausübt. Das Kind lädt sich in seiner Verwirrung oft einen Teil der Schuld selber auf, übernimmt Verantwortung für die Menschen die es mag und weiß ganz genau, das es diesen Mann nun schwer belastet und dafür sorgen kann, dass er eingesperrt wird.

- Das Kind hat Angst vor dem Täter.

Oft wird den Kindern vom Täter auch mit den schrecklichsten Konsequenzen gedroht, etwa damit, dass die Mutter verhungert und stirbt, wenn der Vater ins Gefängnis kommt und nicht für sie sorgen kann oder damit, dass er das Haustier des Kindes tötet.[39] Den möglichen Spielarten der psychischen Grausamkeit sind hier keine Grenzen gesetzt.

- Fortgesetzte Befragungen forcieren Selbstzweifel und vermitteln Unglaubwürdigkeit

Das Verhalten der Richter- unterstützend, respektvoll korreliert mit der Belastung der Kinder.

Gerade der Bereich der Glaubhaftigkeitsbegutachtung und der Befragung des Kindes und deren Folgen für das Kind ist ein zentraler Punkt dieser Arbeit und wird in den späteren Kapiteln noch ausführlicher dargestellt werden.

[...]


[1] Belege: 4. Semester, Schwerpunkt: Arbeit im Jugend- und
Gesundheitsamt, Vorlesung Viktimologie, 8.Semester: Teilnahme am „Postgraduate Course Victimology and Criminal Justice“ in Dubrovnik, Fachtagungen des Netzwerks gegen sexuelle Misshandlung im Kreis Neuss, in den Jahren 2000 und 2002

[2] In diesen drei Prozessen, die von 1994 bis 1997 dauerten, wurden insgesamt 25 Männer und Frauen des sexuellen Missbrauchs an 16 Kindern angeklagt. Alle Angeklagten wurden freigesprochen.

[3] § 176 STGB

[4] Zur Veranschaulichung hier einige Buchtitel (siehe auch Literaturliste): Handwörterbuch sexueller Missbrauch, Sexueller Missbrauch an Kindern, Sexueller Missbrauch von Mädchen und Jungen, etc.

[5] Vgl. Wipplinger und Amann 1997, S. 15f., (aus Handwörterbuch sexueller Missbrauch)

[6] Vgl.: Bange 2002, S.48

[7] ebenda

[8] Mir ist zwar durchaus bewusst, dass es im Bereich der Jura ein Hauptziel ist, feste Definitionen zu schaffen, doch können diese oft nicht das komplette für eine viktimologische Betrachtung erforderliche Spektrum abdecken können.

[9] Vgl.: § 1 Absatz 1 JGG; § 19 STGB

[10] Vgl.: Baurmann 1983, S. 521

[11] Vgl. Wetzels 1997

[12] Vgl.: Kempe 1980, S. 198

[13] Vgl.: Hülshoff 1998, S. 181

[14] Vgl.: Enders 1990, S. 21

[15] Vgl.: Hülshoff 1998, S.181

[16] Vgl.: Engfer 1997, S. 116

[17] Vgl.: Stern 1931, S.174

[18] Vgl: Baurmann 1983, Seite 39

[19] vgl.: aus dem Englischen Buch???

[20] Hier existierten widersprüchliche Quellen, es wurde auch von 15 Kindern berichtet.

[21] Durch ihre sehr umstrittene Vorgehensweise machten sie sich in der Fachpresse einen Namen als „Aufdeckerverein“

[22] Vgl.: u.a.: Praxis der Rechtspsychologie Sonderheft 1/2000, Heft 2/1999

[23] Vgl.: Schade und Harschneck in Praxis der Rechtspsychologie Sonderheft 1/2000, S. 30

[24] Vgl.: Baurmann 1983, S. 469, 521

[25] Vgl. auch: Anhang III, Tabelle i), S.115

[26] Vgl. Moggi in D. Bange, W. Körner (2002): Handwörterbuch sexueller Missbrauch. Göttingen, Bern,

Toronto, Seattle: Hogrefe Verlag, S.116f.

[27] Vgl. auch: Anhang III, Tabelle a), S.107

[28] Vgl. auch: Anhang III, Tabelle b), S.108

[29] Vgl. auch: Anhang III, Tabelle c), S.109

[30] Vgl. auch: Anhang III, Tabelle d), S.110

[31] Vgl. auch: Anhang III, Tabellen e)+f), S.111f.

[32] Vgl. auch: Anhang III, Tabellen g)+h), S.112f.

[33] Baurmann, Michael C. (1983): Sexualität, Gewalt und psychische Folgen. Eine

Längsschnittuntersuchung bei Opfern sexueller Gewalt und sexuellen

Normverletzungen anhand von angezeigten Sexualkontakten.. Wiesbaden: BKA-

Forschungsreihe

[34] vgl.: Baurmann 1983, S.444f.

[35] Meiner Meinung nach ist das Potential einer sekundären Viktimisierung bei der Befragung eines Kindes durch die Polizei allerdings wesentlich geringer, da hierfür üblicherweise spezielle Beamte mit einer fundierten Ausbildung abgestellt sind.

[36] Busse, Detlef; Volbert, Renate; Steller, Max (1996): Belastungserleben von Kindern in

Hauptverhandlungen, Bonn: Bundesministerium der Justiz

[37] Die folgenden, kursiv gedruckten Texte sind keine Zitate aus Volbert u.a., sondern Komprimierungen

ihrer Thesen.

[38] Vgl. auch Kapitel 11.0

[39] Vgl. auch Interview mit Dr. Motzkau, Anhang II, S. 101

Ende der Leseprobe aus 136 Seiten

Details

Titel
Sekundäre Viktimisation von sexuell missbrauchten Kindern
Hochschule
Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach  (Sozialwesen)
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
136
Katalognummer
V22177
ISBN (eBook)
9783638255912
ISBN (Buch)
9783638687041
Dateigröße
1243 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sekundäre, Viktimisation, Kindern
Arbeit zitieren
Martin Kragl (Autor:in), 2003, Sekundäre Viktimisation von sexuell missbrauchten Kindern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22177

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