Zählt Kafkas ´Verschollener´ zur Gattung der Bildungsromane?


Hausarbeit, 2001

19 Seiten, Note: Gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Aufgabenstellung

3. Der Bildungsroman
3.1 Geschichte
3.2 Motive Themen und Gestalten

4. Kafkas "Verschollener" im Lichte des Bildungsromans
4.1 Vorbemerkung
4.2 Der Lebensweg von Karl Roßmann
4.3 Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
4.4 Das Innenleben Karls

5. Zusammenfassung

6. Ausblick

7. Literaturverzeichnis
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur

1. Einleitung

Im beginnenden 21. Jahrhundert nimmt die Frage nach Qualität und Quantität der Bildung eine zentrale Stellung innerhalb der deutschen Gesellschaft ein. Dies hängt zum einen mit der Problematik der seit Jahrzehnten exponentiell anwachsenden Wissensakkumulation, aber zum anderen auch mit der Orientierungslosigkeit in einer mittlerweile vollkommen technisierten und digitalisierten Welt zusammen. In der Diskussion um den optimalen Bildungsweg, die durch Auseinandersetzungen geprägt ist, ob die Lektüre von Goethes Faust wichtiger ist als das Erlernen internetspezifischer Kenntnisse, verhärten sich die Fronten zunehmend. Während die einen ein klassisch-humanistisches Bildungsideal favorisieren und propagieren, neigen die anderen zu einem rein pragmatischen Umgang mit Bildung, der ausschließlich dazu dienen soll, die Gesellschaft als Ganzes voranzubringen, während gleichzeitig die Belange des Individuums und dessen Entwicklung in den Hintergrund zu treten scheinen. Vereint werden diese Gruppen in der Proklamation des sogenannten Bildungsnotstands einer dekadenten Jugend und in der Forderung nach lebenslangem Lernen. Trotz ihrer konträren Positionen hinsichtlich des Bildungsideals kämpfen sie auf diese Weise Seite an Seite gegen eine "schleichende Verdummung" der Gesellschaft, die ihrer Ansicht nach durch viele Faktoren begünstigt wird. Dazu führen sie unter anderem eine massive Reizüberflutung durch die Medienwelt, ein ausuferndes Angebot an Freizeitaktivitäten oder die exzessive Beschäftigung mit den technischen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts an.

Allerdings beschäftigten sich auch schon die Intellektuellen in der Zeit der Aufklärung sehr intensiv mit der Frage nach dem Wesen und dem Nutzen von Bildung, so daß es nicht weiter verwunderlich ist, daß die Literatur eine eigene Gattung, den Bildungsroman, hervorgebracht hat. Unabhängig von den großen Schwierigkeiten der Subsumption einzelner Werke zu der Gattung des Bildungsromans oder der Definition dieser Gattung an sich, die im folgenden noch besprochen werden, läßt sich sagen, daß es sich bei dieser Romanart um eine transepochale Erscheinung handelt, die die Autoren und Literaturwissenschaftler zumindest bis tief ins 20. Jahrhundert hinein bewegt hat.

2. Aufgabenstellung

In der hier vorliegenden Arbeit soll geklärt werden, ob und inwieweit Kafkas Romanfragment "Der Verschollene" [1] dem Bildungsroman des 20. Jahrhunderts zugeordnet werden kann. Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß es sich schon bei der Definition des Bildungsromans um ein äußerst komplexes Problem handelt, das in der Literaturwissenschaft sehr kontrovers diskutiert wird. Es scheint nahezu unmöglich, die verschiedenen Positionen auf einen Nenner zu bringen und eine einheitliche Begriffsbestimmung zu formulieren. Dies bringt auch Lothar Köhn sehr prägnant in seinem viel zitierten Forschungsbericht zum Entwicklungs- und Bildungsroman zum Ausdruck, in dem er einführend sagt:

"Der Referent [Lothar Köhn] sieht sich also in der merkwürdigen, doch nicht ungewöhnlichen Lage, daß er es mit Begriffen [Bildung, Bildungsroman] zu tun hat, deren Brauchbarkeit einerseits verneint wird, während sie andererseits nahezu unbesehen Verwendung finden." [3]

Da eine ausführliche Erörterung dieser Problematik den Rahmen der Arbeit bei weitem übersteigen würde, sollen hier nur einige grundlegenden Gedanken zum Bildungsroman angestellt werden, um der Aufgabenstellung gerecht werden zu können und eine Diskussion in Bezug auf "den Verschollenen" zu ermöglichen.

3. Der Bildungsroman

3.1 Die Geschichte

Wenn man zunächst als vielleicht allgemeinste Definition des Bildungsromans die Darstellung des Lebens- und Bildungswegs eines jungen Individuums in der Wechselwirkung mit seiner Umgebung wählt, wird klar, warum dessen Entstehung in die Zeit der späten Aufklärung fällt. Vor dieser Epoche wird der Mensch nämlich nur als Teil einer streng nach Ständen differenzierten Gesellschaftsordnung angesehen. Sein Werdegang ist damals aufgrund der von Gott vorgesehenen Lebensumstände bereits bei der Geburt festgelegt und sein individueller Handlungsspielraum minimal. Erst der radikale Wandel im Gedankengut eines sich immer stärker emanzipierenden Bürgertums im 18. Jahrhundert ebnete den Weg, den Menschen als Individuum zu betrachten und ihn unter dem Gesichtspunkt der Freiheit zu analysieren. Im Zentrum dieses Wandels stand eine kritische Auseinandersetzung mit sämtlichen, über die Jahrhunderte hinweg festgefügten Werten, Traditionen und Normen, vor allem aber auch mit den Dogmen, auf die sich die kirchliche Lehre berief. Es war das erklärte Ziel der Intellektuellen, einen totalen gesellschaftlichen Umbruch herbeizuführen, der die Menschen in die Lage versetzen sollte, sich von den Fesseln der Vergangenheit zu lösen und in ein neues Zeitalter der Selbstbestimmung, der Freiheit und der Selbstreflexion aufzubrechen. Dieser Prozeß war allerdings äußerst komplex und für viele alles andere als leicht, wie Gerhart Mayer in seinem Buch zum Bildungsroman richtig erkennt, wenn er sagt:

"Schmerzhaft erfuhr er [der Mensch] infolge der rasch voranschreitenden Säkularisation des christlichen Weltbilds, verbunden mit dem Vordringen des kausal-mechanistischen Denkens, den Verlust der metaphysisch fundierten teleologischen Seinsordnung. Der Mensch suchte daher nach einem neuen Leitbild, um seine persönliche Identität bestimmen und ein gefestigtes individuelles Weltverhältnis begründen zu können" [4]

Unter Berücksichtigung dieses ideengeschichtlichen Hintergrunds und unter Vernachlässigung der exakten Differenzierung zwischen Entwicklungs- und Bildungsroman, wie sie unter anderen Lothar Köhn und Melitta Gerhard [5] unternommen haben, läßt sich die Geburtsstunde des Bildungsromans in Wielands "Agathon" bestimmen, dessen erste Fassung in den Jahren 1766-1767 und dessen Endfassung im Jahre 1794 entstand. Diese Aussage stützt sich auf die von Jacobs und Krause aufgestellte These, daß sich in der Literaturgeschichte der früheren deutschen Aufklärung keine Vorformen des mit Wieland hervortretenden Bildungsromans fänden. [6] In der Literaturwissenschaft herrscht aber zweifelsohne Einigkeit darüber, daß Goethe mit seinem Roman "Wilhelm Meisters Lehrjahre"[2] die hier beschriebene Gattung wie kein anderer geprägt hat. Als einer der Ersten formulierte Dilthey bereits 1870 den oftmals zitierten Satz: "Ich möchte die Romane, welche die Schule des Wilhelm Meister ausmachen (denn Rousseaus verwandte Kunstform wirkte auf sie nicht fort), Bildungsromane nennen." [7]

Auch im 19. und 20. Jahrhundert wurden zahlreiche Werke verfaßt, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Definition mehr oder weniger dem Bildungsroman zugeordnet oder zumindest unter diesem Blickwinkel untersucht wurden. Dazu zählt Gerhart Mayer beispielsweise Jean Pauls "Titan", Adalbert Stifters "Der Nachsommer", Gottfried Kellers "Der grüne Heinrich", Hermann Hesses "Peter Camenzind" oder den Roman "Der Zauberberg" von Thomas Mann.

Gleichzeitig wurde aber gerade im 20. Jahrhundert auch immer wieder das Ende oder der Untergang des Bildungsromans proklamiert. So spricht zum Beispiel Willi Winkler in einem Artikel, der 1995 in der "Zeit" erschienen ist, von der "Vernichtung" des Bildungsromans durch Thomas Bernhards Roman "Der Frost". [8]

3.2 Motive, Themen und Gestalten des Bildungsromans

Aufgrund der enormen Vielfalt an Werken aber auch an Betrachtungsweisen hinsichtlich des Bildungsromans fällt es sehr schwer, hochspezifische und allgemeingültige Motive, Themen und Gestalten zu finden, die ausschließlich den Bildungsroman beschreiben und charakterisieren. Um jedoch überhaupt eine Analyse im Sinne der Aufgabenstellung vornehmen zu können, ist es unerläßlich, diese zumindest innerhalb eines groben Rasters zu benennen, was im folgenden gewissermaßen als Zusammenfassung der im Literaturverzeichnis angegebenen Sekundärliteratur zum Bildungsroman geschehen soll.

Als Fundament eines jeden Bildungsromans kann ohne Zweifel der bereits erwähnte Grundgedanke gelten, daß der Lebens- und Bildungsweg eines jungen Menschen im Wechselspiel mit seiner Umgebung geschildert wird. Dadurch wird eine große Nähe zur Autobiographie erreicht. Allerdings kann es zu einer sehr stark differierenden Gewichtung innerhalb der verschiedenen Erzählungen in Bezug auf die beiden Hauptkomponenten, Gesellschaft und Individuum, kommen. So treten zum einen die Emotionen, die Handlungsmotive oder die Impressionen des Protagonisten gelegentlich in den Vordergrund, während zum anderen auch die äußeren gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Auswirkungen auf das Individuum das Zentrum eines solchen Romans bilden können. Prinzipiell soll der geschilderte Lebensweg mit der Herausbildung der individuellen Fähigkeiten, der Selbstfindung und der daraus resultierenden harmonischen Eingliederung des Menschen in die Gesellschaft einhergehen. Aber selbst im klassischen Bildungsroman zeigt sich immer wieder die Unvereinbarkeit zwischen den Wünschen, Hoffnungen und Vorstellungen des Helden und denen der Gesellschaft. So muß der Held, der sich auf der Suche nach seiner Identität befindet, nur allzu oft sehr schmerzhaft erkennen, daß er sich in einem Spannungsfeld zwischen persönlicher Freiheit und den Sachzwängen einer Gesellschaft bewegt, die den erhofften harmonischen Ausgleich nicht nur erschwert, sondern manchmal auch gänzlich verhindert.

Die Handlung erstreckt sich meist über einen längeren Zeitraum, der viele Jahre dauern kann, da natürlich nur so ein Bildungsprozeß in all seinen Facetten präsentiert werden kann. Als weitere Leitmotive treten im Bildungsroman häufig das Reisen, ständige Ortswechsel und das Knüpfen zahlreicher sozialer Kontakte zu vielen Personen auf, die zum Teil stark voneinander abweichende Positionen innerhalb der Gesellschaft einnehmen. Zudem wird oftmals auf das Vorhandensein von einzelnen Personen oder ganzen Personengruppen hingewiesen, die die Erziehung und den Weg des Protagonisten fördern und verstärken, aber auch behindern können. Köhn führt außerdem aus, daß die Auseinandersetzung mit der Kunst oder dem "Ästhetischen" an sich eine wichtige Rolle spielen [9] und daß Utopien oder utopische Merkmale Wesenszüge des Bildungsromans sein können. Schließlich sei noch erwähnt, daß der Bildungsroman durchaus auch die Unreife eines jungen Menschen herausarbeiten kann, indem er besonders die Schwächen, die Fehler und die Irrtümer aufzeigt, denen der Held der Erzählung in seiner Entwicklung unterliegt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Zählt Kafkas ´Verschollener´ zur Gattung der Bildungsromane?
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Deutsches Seminar II)
Veranstaltung
Einführung in das Studium der neueren deutschen Literatur - Text: Franz Kafka - Der Verschollene
Note
Gut
Autor
Jahr
2001
Seiten
19
Katalognummer
V2200
ISBN (eBook)
9783638113458
ISBN (Buch)
9783638786751
Dateigröße
505 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zählt, Kafkas, Gattung, Bildungsromane, Einführung, Studium, Literatur, Text, Franz, Kafka, Verschollene
Arbeit zitieren
Sascha Fiek (Autor:in), 2001, Zählt Kafkas ´Verschollener´ zur Gattung der Bildungsromane?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/2200

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