Kann Deutschland als 'verspätete Nation' bezeichnet werden?


Hausarbeit, 2002

19 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

„Kann Deutschland als „verspätete Nation“ bezeichnet werden?

Einleitung

1. Der Begriff der „verspäteten Nation“
1.1. Herkunft
1.2. Anhaltspunkte einer „verspäteten Nation“
1.2.1. Territorial-nationale Faktoren
1.2.2. Politisch-mentale Barrieren
1.2.3. Religiöse Spaltung
1.3. Begriffsdefinition

2. Der Stand der wissenschaftlichen Diskussion
2.1. Die zeitliche und inhaltliche Entwicklung des Sonderwegsbegriffs
2.2. Ein Erklärungsmodell für die historische Einordnung

3. Argumentationslinien
3.1. Deutscher „Sonderweg“
3.2. Der „unpolitische Deutsche“
3.3. Der Begriff der Nation
3.4. Ende des „Sonderwegs“?

4. Eigene Stellungnahme
4.1. Contra
4.2. Pro
4.2.1. Diskussion um „deutsche Leitkultur“
4.2.2. Kontroverse um Staatsbürgerschaftsrecht
4.2.3. Fazit

Anhang: Zitate zur Nation

Literaturverzeichnis

Textteil

„Kann Deutschland als „verspätete Nation“ bezeichnet werden?

Einleitung

In der nachfolgenden Arbeit soll versucht werden, einen Begriff zu beleuchten, der in der Diskussion um die jüngere deutsche Vergangenheit weite Verbreitung gefunden hat: den der „verspäteten Nation“. Vorgestellt wird zunächst der Urheber des Begriffs, der Anthropologe Helmuth Plessner, verbunden mit einer Definition, was konkret den Begriff der „verspäteten Nation“ kennzeichnen könnte. Im Anschluss daran werden der Stand der wissenschaftlichen Diskussion zum Thema beleuchtet und wesentliche Argumentationslinien der involvierten Forscher dargestellt. Abschließend nehme ich Stellung zu de Frage, ob und wie weit die Vorstellung von Deutschland als „zuspätgekommener“ Nation heute noch Berechtigung hat.

1. Der Begriff der „verspäteten Nation“

1.1. Herkunft

Im niederländischen Exil veröffentlichte der deutsche Anthropologe Helmuth Plessner (1892-1985) eine Studie unter dem Titel ,,Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche". Die dort vorgestellten Thesen fanden jedoch erst ab 1959 breite Beachtung, als das Werk, diesmal unter dem Titel ,,Die verspätete Nation - Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes" neu aufgelegt wurde und vor dem Hintergrund von NS-Diktatur und Weltkriegs-Trauma die Frage nach dem „Warum“ der Ereignisse im Nachkriegsdeutschland immer lauter wurde. Darin erörtert Plessner die Wurzeln der Ideologie des Dritten Reiches und beschreibt anhand weit in die Geschichte Europas zurückreichender Ereignisse, warum die nationalsozialistische Ideologie bei großen Teilen des deutschen Bürgertums auf breite Zustimmung gestoßen ist.

Der Soziologe Wolfgang Eßbach beispielsweise sieht Plessners Studie entstanden auf der „Grundlage eines deutschen Intellektuellen jüdischer Abstammung, dessen Heimat ihm entzogen wurde und dessen Grundlage sich vom europäischen Humanismus entfernte. Er wollte sein niederländisches und europäisches Publikum auf die besondere Lage Deutschlands aufmerksam machen, und ihm diese auch begreiflich darlegen. Die Frage, die sich ihm stellte lautete, warum sich Deutschland aus der europäischen Zivilisation löste und diesen Bruch als Aufbruch wahrnahm.“ 1)

1.2. Anhaltspunkte einer „verspäteten Nation“

Helmuth Plessner stellt der nationalen Entwicklung Deutschlands in der Neuzeit diejenige anderer westeuropäischer Staaten gegenüber, namentlich Englands, der Niederlande und Frankreichs. Er weist nach, wie in der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundet in diesen Staaten eine verfassungsmäßige Ordnung heranreift, die dem Einzelnen zunehmend mit Freiheitsrechten ausstattet. Der Autor spricht vom Modell des “politischen Humanismus der westlichen Welt” 2), - eine Entwicklung, an der Deutschland nicht in gleichem Maße teilgenommen habe. Aufgrund dieser Vorentwicklung, in die beispielsweise auch die Gedanken der Aufklärung mit eingegangen sind, hätten diese Staaten den gesellschaftlichen Umbruch an der Schwelle des 20. Jahrhunderts hin zur Industriegesellschaft moderater aufgenommen und bewältigt.

In Deutschland dagegen misslang der Versuch, die mittelalterliche universale Reichstradition in der Neuzeit fortzuführen. Ausgehend von den Gedanken Plessners, sollen drei wesentliche Faktoren beschrieben werden, die den Begriff der „verspäteten Nation“ rechtfertigen könnten – die vergleichsweise späte Ausbildung Deutschlands als territoriale Nation, die religiöse Spaltung seit dem 16. Jahrhundert sowie die politisch-mental begründeten Barrieren auf dem Weg zur Nation modernen Zuschnitts.

1.2.1. Territorial-nationale Faktoren

Beschleunigt durch Religionsspaltung, Dreißigjährigen Krieg und die Einflussnahme dritter Staaten wie Frankreich, zerfiel das Heilige Römische Reich Deutscher Nation in über 300 Einzelterritorien. Nach langem inneren Zerfall kam das faktische Ende des Reiches im Jahr 1806, als Kaiser Franz II. die römisch-deutsche Kaiserwürde niederlegte.

Die (Wieder-)Gründung Deutschlands als Kaiserreich erfolgte erst 1871 – und zusätzlich mit einigen Geburtsfehlern behaftet. Ein wesentliches Manko war die Verwirklichung des Reichs als kleindeutsche Lösung: Österreich blieb ausgeschlossen. Der habsburgische Vielvölkerstaat war durch seine Expansion in Südosteuropa einerseits und die sukzessiven Gebietsverluste auf deutschsprachigem Boden andererseits aus Deutschland „hinausgewachsen“. Auch verhinderte die preußisch-österreichische Rivalität, bei zunehmender Dominanz Preußens, eine „großdeutsche“ Lösung. Demnach war Deutschland “das einzige Land in Europa, das noch auf dem Weg ist, ein (echter) Nationalstaat zu werden, weil die Grenzen deutschen Volkstums mit den Grenzen des neuen Reiches nicht zusammenfallen.“3)

Eine zweite Auffälligkeit liegt darin, dass die Reichsgründung von 1871 weniger durch den Einigungswillen der deutschen Fürsten, geschweige denn des Volkes, getragen wurde, sondern vielmehr durch einen gemeinsamen Gegner veranlasst wurde: Die Aggression Frankreichs unter Napoleon III. erst brachte Preußen 1870 mit Bayern, Sachsen und den anderen deutschen Territorialstaaten zu einer gemeinsamen Militäraktion zusammen, an deren Ende die Kaiserproklamation Wilhelms I. im Spiegelsaal zu Versailles (!) stand.

Den maßgeblichen Unterschied zwischen Deutschland und den anderen Völkern Westeuropas, ,,die ihre nationalstaatliche Basis im 16. und 17. Jahrhundert gefunden hatten und auf ´goldene Zeitalter´ zurücksehen können“4) sieht Plessner allerdings in der historisch späten Staatsgründung. Für ihn ist es diese „Zeitverschiebung, die eine innere Verbindung zwischen den Mächten der Aufklärung und der Formung eines Nationalstaates in Deutschland verhindert hat.“5) Die junge, in ihrer Identität noch nicht gefestigte Nation war ,,den Auswirkungen der industriellen Revolution in ganzer Breite ausgesetzt, ohne dass man diese im Rahmen der Aufklärung nach dem westlichen Ideal der Vervollkommnung der menschlichen Zustände noch hätte interpretieren können."6)

Aus dem Bewusstsein des bisher zu kurz Gekommenen, zu spät Gekommenen erklärt sich für Plessner der nationalistische Übereifer der Deutschen, nun auch einen „Platz an der Sonne“ (Kolonialpolitik ab ca. 1884) zu gewinnen und im Konzert der europäischen Mächte dabei zu sein, ja: den Ton. Plessner konstatiert, dass die Deutschen „eine Vorstellung von sich als Nation zu gewinnen suchten, um endlich nachzuholen, was den anderen Völkern (bereits) vor ihnen gelungen war.“7)

1.2.2. Politisch-mentale Barrieren

Mit dem Spätstart Deutschlands in den Nationalstaat macht Plessner zugleich einen Mangel an Erfahrung, an Werten bezüglich nationaler Identität aus: ,,Im Vergleich zu den anderen großen maßgebenden Staatsvölkern der neueren Zeit steht es traditionslos da."8) Weder das Kaiserreich unter der politischen Regieführung Otto von Bismarcks, noch die Weimarer Republik nach 1918, konnten demnach auf eine ,,organisch gewachsene moderne politische Tradition noch ein ebensolches nationales Bewußtsein“9) zurückgreifen. Plessner beklagt das Fehlen einer demokratisch-parlamentarischen Tradition und einer leitenden Staatsidee – Mängel, die letztlich zum Scheitern der demokratisch verfassten Weimarer Republik geführt und dem nachfolgenden NS-Regime den Weg geebnet hätten. So ist die „Demokratie ohne Demokraten“ geblieben, die Weimarer Republik ohne breiten Rückhalt im Volk.

Wie schon der Untertitel seines Werks andeutet, sieht Plessner im Verhalten des Bürgertums die Schlüsselrolle für den fatalen Weg Deutschlands in die NS-Diktatur. Wohl gab es auch in Deutschland Bestrebungen, eine nationale Einigung unter freiheitlichen Vorzeichen zu erreichen, doch scheiterten diese letztlich sowohl 1848/49 (Verfassungsverhandlungen in der Frankfurter Paulskirche) als auch in entsprechenden Vorstößen unter der Reichskanzlerschaft Bismarcks. Die Eliten des Bürgertums, die eigentlich im 19. Jahrhundert Speerspitze einer demokratisch verfassten Nation hätten sein sollen, haben dafür nach Plessners Einschätzung in Deutschland nicht die nötigen Voraussetzungen. Seine Begründung dafür: „Vergegenwärtigt man sich das für Deutschland grundlegende Mißverhältnis zur Frühaufklärung, [...], so wird die Verzögerung der politischen Entwicklung, vor allem der bürgerlichen Schicht, verständlich.“10) Das Zeitalter und die Ideale der Romantik werden vielmehr für das deutsche Nationalverständnis von tragender Bedeutung. Mythos statt Ratio bestimmte das Selbstbild – und erschwerte den dynamischen Aufbruch in die Industriegesellschaft an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, verbunden mit gesellschaftlichen Umwälzungen, zusätzlich: „Gegen den romantisch geprägten Humanismus, Liberalismus und Bildungsidealismus der an sich verzweifelnden bürgerlichen Welt Deutschlands beginnen nunmehr drei Radikalismen zu wirken,“ die sich aus dem Gedankengut von Marx, Kierkegaard und Nietzsche speisen. Wenn, so Plessner, Grunddimensionen wie „Vernunft und Geist, Freiheit und Geschichte“ nicht mehr stichhalten sollten, die Selbstentfremdung aus Selbstüberdruss so weit vorangetrieben war, dann „war der Augenblick gekommen, in dem die Freiheit freiwillig kapitulierte“. So sei die Macht 1933 an das „revolutionierte Kleinbürgertum unter Führung einer Handvoll Parias“11) übergegangen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Kann Deutschland als 'verspätete Nation' bezeichnet werden?
Hochschule
Freie Universität Berlin  (JWB)
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
19
Katalognummer
V21715
ISBN (eBook)
9783638252690
ISBN (Buch)
9783640652969
Dateigröße
469 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kann, Deutschland, Nation
Arbeit zitieren
Hans-Joachim Birk (Autor:in), 2002, Kann Deutschland als 'verspätete Nation' bezeichnet werden?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21715

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