Produktivität der Störung - Über Information, Unfälle und weißes Rauschen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

20 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Kommunikation als kriegsentscheidende Waffe

Der Unfall als Kommunikationsproblem

Kultivierung des Rauschens

Literatur

Einleitung

Vielleicht muss die Liebe unter Weltkriegs- bedingungen aus weißem Rauschen kommen Friedrich Kittler[1]

Draw a distinction, fordert der zu schreibende Text. Am Beginn dieses Mensch-Maschine Zusammenspiels genannt Textverarbeitung steht eine Differenz. Und das auch ganz materiell: Abgesehen von internen Differenzen, an denen sich im Vorfeld die Gedanken des Verfassers herauskristallisiert haben, bedarf es der ganz perfiden Differenz des Tippfingers vom Zeitpunkt 0 zum Zeitpunkt 1, um die erste Taste des Keyboards zu drücken und die binär operierende Universalmaschine bekannt als Computer in Bewegung zu setzten. Diese Arbeit ist demzufolge auch ihr Produktionsprozess. So wie der menschliche Geist nur in Verbindung mit seinem Körper entstehen kann, sind auch die folgende Ausführungen auf ihr Medium angewiesen. Mehr noch, auf einem anderen Medium verfasst würden sie höchstwahrscheinlich andere werden. Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken, um die geniale Umkehrung Nietzsches bezüglich des Glaubens an einen souveränen Autoren zu bemühen. Im Zeitalter der informationstechnologischen Revolution kann man, Friedrich Kittler folgend, noch einen entscheidenden Schritt weiter gehen: Nicht Subjekte, sondern Schaltungen bestimmen heute, was wirklich ist. Dem ist hinsichtlich der Offenlegung des Überzeugungshorizontes dieser Arbeit nichts hinzuzufügen. Daran knüpft sich das trotzdem noch vorhandene Arbeitsziel der folgenden Zeilen an: Angestrebt wird das Aufzeigen von Differenzen, die etwas erzeugen, sowie Materialitäten (von Kommunikation) die etwas bedeuten.

Diese Arbeit ist aber genauso die Folge einiger katastrophaler Unfälle. Ohne den bisher folgenschwersten „Unfall“ der menschlichen Geschichte, den 2. Weltkrieg, wäre der technologische wie auch erkenntnistheoretische Horizont des Menschen höchstwahrscheinlich ein anderer, und diese Arbeit dem-zufolge niemals entstanden. Die Verquickung von technischem Fortschritt und eroberungsgeilem Machtwahn bekannt als 2. Weltkrieg diente bekanntlich auch als Nährboden für Abwehrhaltungen in Form von geistigen Höchst-leistungen, wie es beispielsweise die Ausformulierung einer allgemeinen Informationstheorie von Shannon und Weaver war. Dieses Theoriegebilde nutzend soll verständlich gemacht werden, warum Unfälle abseits massen-medialen Sensationsgeschrei informationstheoretisch gefasst als simple Störung von Kommunikation verstanden werden können. Dem Theorem folgend, dass der Informationsgehalt einer Nachricht um so größer wird, je gestörter der Übertragungskanal ist, soll das Produktivitätspotential von Störungen aufgezeigt werden. Das weiße Rauschen als der notwendige Differenzraum für Fortschritt wird exemplarisch im Operationssystem „audioelle Künste“ aufgezeigt werden. Denn in den progressiven Gefilden moderner elektronischer Musik, in den Sphären von Noisemanipulation und clicks´n´cuts Minimalismus haben die Maschinenmitarbeiter (mancher nennt sie noch Musiker) schon lange verstanden: Nicht mehr communication in the presence of noise ist angesagt, sondern communication because of the presence of noise.

Kommunikation als kriegsentscheidende Waffe

Ein modernes Kommunikationssystem

minimiert den Eingabefehler Mensch.

Axel Roch / Bernhard Siegert[2]

Während auf den Schlachtfeldern Europas noch der blutige Ernstfall des 2. Weltkriegs tobte, machten sich im Kriegsentscheiderland USA in den behüteten Environments cleaner Forschungslabors naturwissenschaftlich gebildete Männer daran, der nächsten Evolutionswelle der Mensch-heitsgeschichte ihre Operationssysteme wie auch ihren Erkenntnishorizont zu geben. Die Geburtsstunde der mathematischen Informationstheorie in den Bell Laboratories der AT&T Company war maßgeblich durch die Probleme der Verbündeten im alten Europa beeinflusst.[3] Hatten der 1. Weltkrieg und sein technisches Rüstzeug durch apokalyptische Materialschlachten nicht nur Ernst Jünger gehörigen Respekt abgerungen, wurde im 2. Weltkrieg der Mensch endgültig von der Maschine überholt. Ein Schauplatz dieses Machtwechsel war der Luftkampf über England.[4] Deutsche Bomber waren zu schnell für die von menschensinnnen betriebene Abwehrflak geworden. Hatte es bisher ausgereicht, Flakgeschütze durch eine Mannschaft von Tabellenkalkulierern und Zielanpeilern bedienen zu lassen, die noch auf mechanische und optische Feuerleitungskomponenten rekurrierten, bedurfte es zum Abschuss des Feindes nun der Integrierung elektrischer und computergestützter Steuersysteme. Die Rettung für die Engländer vor Nazideutschland war die Schaffung einer intelligenten Maschine mit der Fähigkeit zur Vorhersage der zukünftigen Position des zu treffenden Objektes. Geistige Vaterschaft für das letztendlich realisierte Kommandogerät M-9 konnte die Forschergruppe Shannon, Blackmann und Bode der Bell Labs für sich reklamieren. Mit ihrer Methode der geometrischen Vorhersage erhielten sie den Vorzug gegenüber Wiener und Bigelow, die den Weg einer versuchten statistischen Prädiktion eingeschlagen hatten. Interessant an der M-9 ist die Tatsache, dass ihr Grundaufbau aus Richtgerät, Prädiktor (Computer) und Flak letztendlich dem Shannonschen Kommunikationsmodell aus Sender, Kanal und Empfänger entspricht.

Aus den eingegebenen Signalen des Richtschützen, das heißt der Verfolgung des Flugvehikels, bestimmt der Kontrollrechner (fire control director) die Feuerbefehle der Flugabwehrkanone. Der Richtschütze als Sender benachrichtigt über die Recheneinheit als Kommunikationskanal das Abwehrgeschütz als Empfänger. Eingabe, Verarbeitung und Ausgabe stehen dem Kommunikationsmodell Sender, Kanal und Empfänger gegenüber.[5]

Aus der ballistischen Flugbahn der deutschen Bomber entsprang durch die M-9 ein nachrichtentechnischer Code, der unabhängig von menschlichen Subjekten operierte.[6] Entscheidendes Merkmal der Herangehensweise Shannons an das Kommunikationsproblem zwischen Waffensystemen war also die radikale Eliminierung menschlicher Faktoren. Shannon schreibt ein System an, indem nur noch Maschinen miteinander kommunizieren. Dem Mensch bleibt ein Randdasein als Störgröße, die aber weitgehend vernachlässig werden kann. Nicht mehr der Wunsch eines Piloten ist Orientierungsmaßstab der Zielanpeilung, sondern die errechneten materiellen Möglichkeiten des fliegenden Objekts. Diese folgenreiche Ausklammerung menschlicher Faktoren taucht in der von Shannon und Weaver in Koautor-schaft verfassten Schrift „Mathematische Grundlagen einer Informations-theorie“ von 1949 erneut auf und hat auch hier weitreichende Konsequenzen. Mussten im ersten Fall massenweise deutsche Bomberpiloten auf Grund der geistigen Überlegenheit der Herren Ingenieure bei AT&T verfrüht in die ewigen Jagdgründe wechseln, wurde im zweiten Fall gleich die gesamte Menschheit und ihr Glaube an die Dominanz des souveränen Subjekts getilgt.[7] Die semantische Bedeutung von Nachrichten, also die in der Geistesgeschichte so leidenschaftlich diskutierte Kategorie Sinn, klammert Shannon als technisch Irrelevant von vornherein aus. Das Zeitalter der Information wird mit einer schroffen Frontstellung gegenüber traditioneller Philosophie und ihrer Vorliebe für hermeneutische Deutungskonzepte eingeläutet.

Oft haben die Nachrichten Bedeutung, das heißt, sie beziehen sich auf gewisse physikalische oder begriffliche Größen oder sie befinden sich nach irgendeinem System mit diesen in Wechselwirkungen. Diese semantischen Aspekte der Kommunikation stehen nicht im Zusammenhang mit den technischen Problemen.[8]

[...]


[1] Kittler 1991, 257.

[2] Roch/Siegert 1999, 224.

[3] Ganz ähnlich wie die Kybernetik Norbert Wieners, der am M.I.T. zeitweise an genau dem selben Flugabwehrproblem parallel zu Shannon arbeitet.

[4] Für die folgenden Darstellung des Flugabwehrproblems: Vgl. die Texte Roch/Siegert 1999 und Marsch 2001.

[5] Roch/Siegert 1999, 223.

[6] Vgl. Maresch 2001, 8.

[7] Die explizit technische Ausrichtung des Aufsatzes verhinderte aber nicht, dass in der Folge ganze Scharen von Wissenschaftlern unterschiedlichster Fachrichtungen eben jenen (den selbsterschaffenen Maschinen hoffnungslos unterlegen) Menschen zu retten versuchten, sicherlich auch begünstigt durch die Herangehensweise des einstigen Shannon Konkurrenten Wieners, der „Menschen und andere Tiere“ im Rahmen der Kybernetik als Maschinen behandelte und anschließend keinen relevanten Unterschied mehr feststellen konnte. (vgl. Maresch 2001, 8.)

[8] Shannon/Weaver 1949, 446.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Produktivität der Störung - Über Information, Unfälle und weißes Rauschen
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Kulturwissenschaftliches Seminar)
Veranstaltung
HS Medialität des Unfalls
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
20
Katalognummer
V21544
ISBN (eBook)
9783638251310
ISBN (Buch)
9783638801850
Dateigröße
466 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kybernetik, Informationstheorie, Medientheorie, Musik, white noise, Kittler, Unfälle, Collins, Pinch, Technologie, Electronica
Schlagworte
Produktivität, Störung, Information, Unfälle, Rauschen, Medialität, Unfalls
Arbeit zitieren
Caspar Borkowsky (Autor:in), 2002, Produktivität der Störung - Über Information, Unfälle und weißes Rauschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21544

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