Focus Allgemeinmedizin. Auf den Punkt gebracht

Das Wunder von Göttingen 1949 und die kranke Therapie in Göttingen 2013


Essay, 1976

108 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil A: Beziehung Medikament – Arzt – Patient
1. Herstellung und Vertrieb von Medikamenten
1.1. Charakteristika pharmazeutischer Unternehmen
1. 1. 1. Wachstum
1.1. 2. Monopolspezialisierung
1.1. 3. Preisgestaltung
1. 2. Neue Präparate und die Zulassungskontrolle
1. 3. Werbung
1. 3. 1. Ausgaben für die Werbung
1. 3. 2. Funktion der Werbung
1. 3. 3. Materialien zur Werbung
2. Spezifische Eigenschaften von Medikamenten
2.1. Nebenwirkungen in einer Klinik
2. 2. Nebenwirkungen bei ambulanten Patienten
2. 3. Nebenwirkung bei Kindern
2. 4. Krankheiten durch Arzneimittel bei Neugeborenen
2. 5. Spezielle Reaktion auf Sedative und Tranquilizer
3. Ärzte
3. 1. Das Problem
3. 2. Auswirkungen des Numerus Clausus
3. 3. Das Medizinstudium
3. 4. Die Zeit nach dem Examen
3. 5. Resultate der organzentrierten Ausbildung und Berufsorientierung
4. Der Weg zum Patienten - Wie wird der Mensch krank
4.1. Nikotin
4. 1. 1. Problem
4. 1. 2. Folgen
4. 1. 3. Prophylaxe
4.2. Alkohol
4. 2. 1. Problem
4. 2. 2. Folgen
4. 2. 3. Prophylaxe und Behandlung
4. 3. Fettsucht
4. 3. 1. Problem
4. 3. 2. Folgen
4. 3. 3. Prophylaxe und Behandlung
5. Selbstmedikation
5. 1. Ausmaß der Selbstmedikation
5. 2. Folgen der Selbstmedikation
6. Der Weg zum Arzt – Wie kommt der Kranke zum Arzt
6. 1. Was heißt „Krank“?
6. 1. 1. Berufliche Faktoren
6. 1. 2. Psychische Faktoren
6. 1. 3. Wann geht ein Patient ( Mensch mit organischer Krankheit) zum Arzt?
7. Das Verhältnis Arzt – Patient
7. 1. Die Stellung des freiberuflich tätigen Arztes und seines Patienten
7. 2. Das Verhalten von Arzt und Patient bei „kleineren Erkrankungen“, „minor illness“
7. 3. Die medikamentöse Therapie des Arztes
7. 3. 1. Das Problem der Psychopharmaka
7. 3. 2. Kriterien für die Wahl eines Medikamentes
7. 4. Der Krankenhausaufenthalt
7. 4. 1. Die Überweisung
7. 4. 2. Nebenwirkungen des Krankenhaus-Aufenthaltes
8. Zusammenfassung der Beziehung Medikament – Arzt – Patient

Teil B. SozioPsychologische Aspekte einzelner Krankheiten
1. Der Schmerz und seine Behandlung
1. 1. Schmerzfaktoren
1. 2. Unterbehandlung bei Unkenntnis dieser Schmerzfaktoren
1. 3. Schmerzlinderung durch Angstlösung
1. 4. Wirkung von Information allein
1. 5. Variable bei der Verabreichung von Schmerzmitteln
1. 6. Modifikation des Schmerzverhaltens
2. Diabetes
2. 1. Problem
2. 2. Emotionale Faktoren bei der Behandlung
2. 3. Durch den Diabetes bedingte emotionelle Störungen
2. 4. Altersdiabetes: Tabletten versus Diät
3. Hypertonie
3. 1. Hypertonie, die unerkannte Krankheit
3. 2. Modelle zur Lösung des Behandlungsproblems
4. Herzerkrankungen
4. 1. Problem
4. 2. Herzchirurgie
4. 3. Konservative Therapie von Herzinfarkt-Patienten
4. 4. Rehabilitation von Herzinfarktpatienten
5. Lungenerkrankungen
5. 1. Mukoviszidose
5. 2. Tuberkulose
5. 3. Chronische unspezische Lungenerkrankung
6. Terminale Niereninsuffizienz, Dialyse
6. 1. Auswirkungen psychischer Probleme auf die Therapie
6. 2. Das Objekt der Therapie: Der Patient
6. 3. Subjekte der Therapie: Das medizinische Team
6. 4. Zusammenarbeit von Patient und medizinischem Team
7. Neurologische Erkrankungen bei Kindern
7. 1. Das Problem
7. 2. Die Polio-Lähmung und ihre Folgen
7. 3. Kinder mit Hirntumoren und die Ansicht des Todes
8. Krebs
8. 1. Häufigkeit
8. 2. Faktoren, die die Mortalität beeinflussen
8. 3. Soziale und psychologische Probleme des Tumorleidens
9. Der Tod
9. 1. Krankheitsverlauf und das Problem der Therapie
9. 2. Die Diagnose, das Gespräch mit den Eltern
9. 3. Die Diagnose, das Gespräch mit dem Kind
9. 4. Die Gruppentherapie für die Eltern
9. 5. Auswirkungen auf das Klinikpersonal
9. 6. Drei verschiedene Arten, mit dem Sterben fertig zu werden
10. Zusammenfassung der sozio-psychologischen Aspekte von Krankheit und Tod

Teil C. Gesundheit. Problem und Lösung
1. Gesundheit in den Entwicklungsländern
1. 1. Problem, Hunger und Infekte
1. 2. Lösungen
2. Die Gesundheit in der BRD und den westlichen Ländern
2. 1. Lage in der Kinderheilkunde
2. 2. Lage in der Erwachsenenmedizin
2. 3. Prävention und Therapie: Grenzen und Aufgaben der Medizin
2. 4. Lösungsmodelle

Teil D. Epilog

Literatur

Einleitung

Eigentlich wollte ich nur etwas über die Placebowirkung und ihr Pendant, das Nichteinnehmen von Medikamenten wissen. Eine Untersuchung der Komponenten der Beziehung Medikament-Arzt-Patient sollte eine Betrachtung ihrer Wechselwirkung ermöglichen und Auskunft über den Umgang mit Medikamenten geben.

Im Verlauf des Literaturstudiums wurde mir dann klar, wie wichtig psychische Faktoren beim Krankheitsverhalten sind, und so entwickelte sich, ausgehend von dem Problem der Therapiebefolgung, der zweite Teil: Soziopsychologische Aspekte einzelner organischer Krankheiten.

Um die Bedeutung der Befunde zu erfassen, wurde im dritten Teil versucht, die Lage der Gesundheit in der dritten Welt kurz zu skizzieren und zu prüfen, ob es analoge Probleme auch bei uns gibt.

Inwieweit für Probleme innerhalb des Gesundheitssystems Lösungsmodelle existieren, wird schließlich im letzten Abschnitt des dritten Teil dargestellt.

(Zur Einführung eine Pressemeldung vom 27. 4. 1976 im Göttinger Tageblatt:

„Mit ihren Vorschlägen zur Eindämmung der explosionsartig steigenden Ausgaben für die medizinische Versorgung haben der DGB und die Bundesvereinigung der Arbeitgeben nach Auffassung der Zahnärzte „lediglich an Symptomen zu kurieren versucht, ohne auf die wahren Ursachen hinzuweisen.““)

Teil A: Beziehung Medikament – Arzt – Patient.

1. Herstellung und Vertrieb von Medikamenten.

1. 1. Charakteristika pharmazeutischer Unternehmen.

1. 1. 1. Wachstum.

Bei 690 im Rahmen einer EWG-Studie untersuchten pharmazeutischen Unternehmen der BRD stieg der Umsatz von

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die 50 größten Firmen hatten ein Wachstum von

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. 1. 2. Monopolspezialisierung.

Eine dänische Analyse ergab, dass verschiedene Unternehmen in verschiedenen Produktmärkten predominant sind, so dass keine einzelne Firma beherrschenden Einfluss auf den ganzen dänischen Markt hat.[2]

Der BRD-Markt mag vergleichbar sein:

Schering (Hormone), Hoffmann La Roche (Tranquilizer), Merck (Vitamine), Hoechst und Boehringer Mannheim (orale Antidiabetica); eine genaue Analyse liegt mir leider nicht vor.

1. 1. 3. Preisgestaltung.

Wie sehr vom Beginn der Herstellung der wichtigsten Analgetika an Konventionen und Absprachen für die Festsetzung des Preises bestimmend waren, konnte Schmidt am Beispiel Phenacetin zeigen[3] :

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Preise bis 1900 gelten für das Bayer-Präparat.

Danach drückt scharfe Konkurrenz den Preis.

Später Abschluss einer Konvention, Sprengung der Konvention, Abschluss einer neuen Konvention.

Aus der Gegenwart stammt das Beispiel Valium.[4]

In Italien bezahlt man für den Rohstoff des Valiums nur 20 Lire pro Kg. Da die italienischen Unternehmen die pharmakologischen Substanzen nicht selbst entwickelten, belastete die englische Monopolkommission die italienischen Marktpreise mit einem kostendeckenden Forschungszuschlag von 226 Lire pro Kg Valium.

Die auf diese Weise errechneten Lieferpreise unterschieden sich immer noch von den englischen Preisen für Roche-Valium: 246 Lire statt 922.

Trotzdem waren in England die Endpreise niedriger als in der BRD:

Im April 1973 kosteten in GB 10 mg Dragees in 100 Packung 7,12 DM,

in der BRD 10,98 DM (bei Librium).

Die Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung für Valium betrugen 1973 64 Millionen DM. Würde man die durch die englische Monopolkommission erreichten Preissenkungen zugrunde legen, ergäbe sich eine jährliche Ersparnis von 48 Millionen DM.

1. 2. Neue Präparate und die Zulassungskontrolle.

Nach Angaben der pharmazeutischen Industrie[5] waren bis zum 30. April 1972

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

sind 17 % verschiedene Darreichungsformen und 10 % verschiedene Stärken, es bleiben also

1791 verschiedene Präparate.

Ausserdem ist eine unbekannte Anzahl von sogenannten Altspezialitäten auf dem Markt, der Rest jener 55 000 Präparate, die 1961 gemeldet wurden, von denen 13 671 beim BGA registriert, 2 234 dann wieder gelöscht wurden, so dass ein Rest von 41 329 verbleibt.

Das Arzneimitteltelegramm berichtet[6], dass 1974 beim Bundesgesundheitsamt in Berlin 1 612 neue Arzneimittelspezialitäten für die Humanmedizin registriert wurden, darunter 52 neue Stoffe in 152 Präparaten.

Die Kontrolle wurde von 8 Pharmakologen durchgeführt.

In den USA wurden 1974 10 neue Stoffe zugelassen, deren Prüfung die Aufgabe von 175 Wissenschaftlern war. Präparate mit bekannten Inhaltsstoffen werden durch einen Stab von mehreren hundert akademischen Mitarbeitern bearbeitet.

Den 500 Millionen Dollar, die die Industrie für Forschung ausgibt, stehen 1 750 Millionen Dollar der Regierung für das Testen der Medikamente gegenüber.[7] Die Prüfung und Beurteilung von Medikamenten basiert weitgehend auf den Forderungen der „Kefauver-Harris Drug Amandments“ vom 10. 10. 1966:

Ein neues Medikament muss von der FDA (Food and Drug Administration) als sicher und wirksam bei gegebener Indikation beurteilt werden, bevor es in den Handel kommt.

Die FDA überwacht Verteilung und Gebrauch von Medikamenten, die sich in klinischer Prüfung befinden.

Neue Medikamente werden nach der Verkaufszulassung durch die FDA weiter überwacht.

Die Fachreklame wird den FDA-Vorschriften unterstellt.

Verschiedene Aspekte der Herstellungskontrolle werden definiert.

Die Prinzipien der klinischen Prüfung eines Medikamentes am Menschen nach den Vorstellungen der WHO sind:

Phase 1 (Periode der Vorsicht):
Pharmakokinetik, Metabolismus, Verträglichkeit, sicherer Dosisbereich.

Hauptfrage: Wirkung des gesunden Körpers auf das Medikament.

Phase 2 (Periode des Optimismus):

Wirkung und Wirkungsmechanismus, optimale Dosierung, potentielle Toxizität, „drug interaction“.

Hauptfrage: Wirkung des Medikamentes auf den kranken Körper.

Phase 3 (Periode der Unschuld):

Verträglichkeit, unerwünschte Wirkung, praktische Anwendung, Dosierungsformen.

Hauptfrage: Unerwünschte Wirkungen.

Preissig schrieb auf die Schweiz bezogen: „Leider aber zeigt sich, dass in praxi zu oft noch sogenannte klinische Prüfungen durchgeführt werden und Ergebnisse sogar zur Publikation akzeptiert werden, ohne dass diesen Richtlinien entsprochen worden wäre.

Dafür mag es verschiedene Gründe geben; zwei davon seien kurz erwähnt.

Es betrifft dies einerseits die Frage der Kompetenz der Untersuchen. Auch heute noch setzen Ärzte ohne besondere Ausbildung (z. B. ohne die präklinischen Unterlagen beurteilen zu können) ihre Patienten den potentiellen Gefahren der Prüfung eines noch wenig studierten Präparates aus. Ein zweiter Grund – eng verknüpft mit dem genannten – liegt im Besitzstand- und Prestigedenken.“[8]

1864 schrieb ein Dr. Watson aus Glasgow:

„the constant introduction of new remedies is one of the peculiar features of present day.

Ever and anone a new drug is announce which is to act in such a wonderful manner that was formerly considered a most fatal diesease shall turn out to be a mild and altogether insignificant complaint, under the benign influence of this new agent. Such assertions, of course, attract notice, are put to the test, and usually, I am sorry to say, are found by the competent judges altogether untrue. But, nevertheless, such is the careless and slowly way in which many practitioners test new remedies, that in a few weeks after the first announcement of the great curative discovery, there will be found testimonials advertised in the medical and surgical journals, from duly qualified and respectable medical man, speaking in the highest terms of the results achieved by the new agent. That such is the case, anyone can convince himself by looking at the advertising columns of pharmaceutical and medical journals.“[9]

1. 3. Werbung.

1. 3. 1. Ausgaben für die Werbung.

Schon vor dem 1. Weltkrieg waren Anteile von einem Drittel bis zwei Fünftel der Gesamtausgaben in der Heilmittelbranche nichts ungewöhnliches.[10]

In der Zeit bis 1930 dürfte der Anteil eher noch gewachsen sein, einzelne Firmen gaben bis zu 70 Prozent des Umsatzes für Werbung aus.

Der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie gibt für 1969 folgende Ausgaben an[11] :

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Insgesamt entfallen 11,5 Prozent der Gesamtkosten auf die ärzliche Information, 5 Prozent auf die Werbung.

Der Verband der Werbewirtschaft gibt für 1972 an[12], dass die Werbeaufwendungen der Produktgruppen Pharmaziepublikumswerbund bei 147.147.200 DM lagen und auf folgende Medien verteilt waren:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Fernsehwerbung für Heil- und Stärkungsmittel betrug 14 28o Seckunden.

In den USA gibt es folgende Daten[13] :

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Ausgaben für die Werbung betragen das vierfache der Ausgaben für die Forschung.

Pro Arzt werden 4 000 Dollar pro Jahr ausgegeben, die 21 000 Ärzte-Besucher (Pharma-Referenten) kosten 35 000 Dollar/Jahr.

In der BRD gab es 1971 acht Tausend Ärzte-Besucher.[14]

Vertreter der Industrie halten ihre „information mammouth“, 120 Kg Korrespondenz pro Jahr, für legitim und unabdingbar.[15]

1. 3. 2. Funktion der Werbung.

Was sind also nun die Ziele, wenn eine elementare Werberegel ist:

„Der Werbekostenanteil muss so hoch sein, dass das jeweils festzulegende Betriebs- und Werbeziel erreicht wird!“[16]

Nach Eigenaussagen der Werbeschriften:

„Die Werbung erfüllt also eine gesundheitspolitische Pflicht zur Hilfeleistung auf dem Gebiet der Selbstbehandlung.“[17]

„Ihre Hauptfunktion ist die Erinnerung des Arztes an ein bewährtes Medikament. (...)

Da das Durchschnittsalter der niedergelassenen Ärzte bei über 50 Jahren liegt, der Grossteil der heute verwendeten Medikamente mithin erst nach Abschluss seiner Ausbildung auf den Markt kam, wird die essentielle Funktion der wissenschaftlichen Information sichtbar.“[18]

Der Nationalökonom K. Galbraith fand für die USA heraus, dass man die Funktion der Werbung in zwei Teil aufgliedern kann:

Das erste Ziel der Werbung ist es, das einzelne Produkt zu verkaufen, neue Kunden zu werben, Kunden anderer Firmen abzuwerben und die eigene Kundschaft angesichts gleichartiger Bemühungen der anderen Firmen zu erhalten.

Als Gesamtergebnis der Werbeaktionen aller Firmen zeigt sich das zweite Ziel:

Die Kontrolle über die Reaktionen der Verbrauchen.

Denn wichtiger als das erste ist, das die ganze Werbung sehr nachdrücklich bekräftige, dass der „Besitz und Gebrauch von Waren Glück bringt und zwar um so mehr, je mehr Waren produziert und konsumiert werden.“[19]

Auf die Medizin übertragen heißt das, die Werbung möchte erreichen, dass sowohl die Ärzte als auch (zukünftige) Patienten in der Einnahme von Medikamenten die Lösung aller Probleme sehen.

1. 3. 3. Materialien zur Werbung.

Mit welchem Zynismus das Geschäft (nur von manchen?) betrieben wird, mögen die Regeln aus dem Buch „Geständnisse eines Werbefachmannes“ zeigen[20]

„Eine gute Anzeige für Arzneimittel weist auf jeden Fall auf den „wesentlichen“ Unterschied hin, der zwischen Ihrer Marke und der Konkurrenz besteht.

Eine gute Anzeige für Arzneimittel enthält eine Neuigkeit.

Diese Neuigkeit kann ein neues Produkt sein, die neue Anwendung eines bereits bestehenden Produktes, ein neues wissenschaftliches Ergebnis, ein neuer Name.

Eine gute Anzeige für Arzneimittel muss viel Verständnis und Seriosität ausstrahlen. Krankheiten sind kein Spaß für den, der unter ihnen leidet, und er schätzt es sehr, wenn man seine Leiden ernst nimmt.

Eine gute Anzeige für Arzneimittel muss eine gewisse Autorität ausstrahlen. Ein Arzt-Patient-Verhältnis spielt im Text für eine solche Anzeige eine große Rolle, nicht nur für das Verhältnis Käufer-Verkäufer.

Die Anzeige sollte nicht nur die Vorteile Ihres Produktes darlegen, sondern sie sollte sich mit der Krankheit selbst befassen. Der Kranke soll, wenn er die Anzeige liest, das Gefühl haben, dass er nun etwas über sein Leiden erfahren hat.

Seien Sie nicht grausam.

Ein leidender Mensch ist dankbar, wenn er das Gefühl hat, dass ihm jemand helfen will

Und dieses Produkt trägt zur Wirkung des Produkts, das Sie verkaufen, bei.“

Auf welche ausgefeilte wissenschaftliche Vorarbeit sich die Industrie stützen kann, zeigen folgende Beispiele:

Eine Aufschlüsselung des Werbeverhaltens deutscher Frauen in einer Stichprobe von 3053 Frauen über 14 Jahre fand, dass Leserinnen von Frauenzeitschriften folgenden Kriterien entsprechen. Das Interesse an Werbung für Medikamente, Anregungs- und Stärkungsmittel war in den unterschiedlichen Zeitschriften folgendermaßen verteilt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ziel dieser Studie des Verlagshauses Gruner und Jahr war es, eine Brücke zwischen produktbezogenen Interessen und der Meinungsbildung zu schlagen.[21]

Jeder Medizinstudent kann sich nach bestandenem Physikum den „Siegenthaler“ von der Firma Hoffmann La Roche schenken lassen, der im Geschäft über 100 DM kostet.

Die werbepsychologische Begründung für die Generosität der Firma liefert der Fachmann[22] :

„Betrachtet man den Normalfall einer ungestörten Rezeption, so werden in der Identifikationsphase subjektive und objektive Variable wirksam. Die zunächst objektiv nach Inhalt und Gestalt aufgenommene Botschaft tritt in Auseinandersetzung mit dem Perzeptionsmusterspeicher. Der Perzeptionsmusterspeicher unterliegt insofern subjektiven Ausgestaltungskriterien, als er sich aus Mustern und Elementen vergangener Wahrnehmungsprozesse zusammensetzt. Muster und ihre Elemente sowie Teilmuster und einzelne Elemente entstammen als subjektive Variable des Bedeutungsspeicher, bzw. der Erinnerung oder dem Gedächtnis. Dabei ist zunächst an die Fälle zu denken, bei eine Total- oder Teilidentifikation gegeben ist. Totalidentifikation liegt dann vor, wenn der umworbene Rezipient eine bereits wahrgenommene Werbebotschaft zumindest kognitiv gespeichert hat; Teilidentifikation bezieht sich lediglich auf das Erkennen von Elementen der Werbebotschaft. In der Regel kann man hier von Ergebnissen vorgelagerter Rezeptions- und Apperzeptionsprozesse sprechen, z. B. die Kenntnis bestimmter Markennamen, typischer Gestaltungsmuster z. B. bei immer verwendeten Farben etc..

Die Fälle, bei denen keine Identifikation stattfindet, muss man als relativ selten ansehen;

zwei Unterfälle sind denkbar:

Bei der Einführung neuer Produkte. Produkt und Produktnamen sind unbekannt, sie müssen erst gelernt werden; häufig werden hier jedoch Identifikationshilfen z. B. in Form persönlicher oder sozialer Produktumfelder gegeben.

Bei umworbenen Patienten, die bislang von bestimmten Werbebotschaften über die Massenmedien nicht erreicht wurden. Auch hier können Identifikationshilfen wirksam werden.“

Das wissenschaftliche, seriöse Werk, in dem das Wörtchen Valium wahrscheinlich nicht einmal vorkommt, dient der Firma als Identifikationshilfe bei späteren Werbebemühungen.

Aus der Sicht eines Pharmakologen entwirft Herxheimer das Modell einer Werbung für Arzneimittel[23] :

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Überdosierung

Pharmazeutische Informationen.

Packungsgrößen.

Preise.

Name und Adresse des Herstellers bzw. Importeurs.

Zum Schluss dieses Abschnittes sollen noch einige weitere Aspekte der Einwirkung der pharmazeutischen Produktion auf die Gesellschaft in Form von Zitaten angerissen werden.

Umweltverschmutzung

(Nach der Werbeschrift „Von der Merckschen Engel-Apotheke zum pharmazeutisch-chemischen Großbetrieb“)[24]

Das heutige Wasserwerk könnte mit seiner Jahresfördermenge von 7,3 Millionen cbm eine Stadt von 100.000 Einwohnern versorgen.

Unser Kraftwerk wäre in der Lage, immerhin eine Stadt von 50.000 Einwohnern mit Fernwärme und elektrischem Strom zu beliefern.

Bei der Herstellung eines bestimmten Vitamins fallen insgesamt 34 verschiedene Abwässer an.

Die AOK ergänzt[25] :

„Millionenverluste am Volksvermögen entstehen alljährlich dadurch, dass Medikamente nicht oder nur teilweise eingenommen werden und dann im Mülleimer landen. Im Jahre 1980 wird die Menge des Arzneimittelmülls voraussichtlich 1 900 Tonnen betragen. Das hat eine Untersuchung des Bundesinnenministeriums ergeben.“

In 500 Haushalten man sich eine Kollektion von 43 554 Tabletten und Kapseln.[26]

2. Spezifische Eigenschaften von Medikamenten.

2. 1. Nebenwirkungen in einer Klinik.

Smith[27] beobachtete in einem Jahr 900 Patienten einer Klinik und fand bei 119 Personen 151 Nebenwirkungen. 35 Patienten kamen mit einer Nebenwirkung, 15 wurden spezifisch wegen einer Nebenwirkung in die Klinik eingeliefert.

Eine genauere Analyse zeigte, dass die Zahl der Nebenwirkungen exponentiell zur Zahl der verabreichten Medikamente anstieg.

2. 2. Nebenwirkungen bei ambulanten Patienten.

1970 befragte Stewart[28] 75 ambulante Patienten, ob sie in der Vergangenheit Nebenwirkungen von Medikamenten gehabt hätten.

38 (50,6 %) bejahrten, 11 (16 %) gaben sogar mehr als eine Nebenwirkung an.

Die 4 Patienten, die Reaktionen auf 4 Medikamente gehabt hatten, verbrauchten in den letzten 30 Tagen doppelt soviel verschreibungspflichtige Medizin wie die anderen.

2. 3. Nebenwirkung bei Kindern.

Von 1466 ambulant behandelten Kindern nahmen 35 % ein oder mehrere Präparate ein.

32 % davon waren Vitamine, 10 % Analgetika, 10 % Erkältungsmittel, 3 % Antibiotikum.

Mehr als die Hälfte aller Medikamente und 90 % der Analgetika waren nicht verordnet.

In der Klinik behandelte Kinder, 361 an der zahl, nehmen in durchnittlich 9 Tagen jeweils 4 verschiedene Medikamente zu sich. Bei 13 % traten Nebenwirkungen auf, pro Medikament in höherer Prozentzahl als bei den Erwachsenen. 3,6 % hatte lebensbedrohliche Nebenwirkungen. Ein Experte stellt fest:

Die bekannten Medikamentennebenwirkungen können als Gipfel eines Eisbergs angesehen werden und der größte Teil des Problems bleibt außer Sicht.[29]

2. 4. Krankheiten durch Arzneimittel bei Neugeborenen.

In den USA verbrauchten während der Schwangerschaft die Mütter durchschnittlich 4 rezeptierte und mindestens ebensoviel eigenverordnete Medikamente, in der BRD lag die Zahl der Verordnungen bei fünf bis acht, speziell im ersten Trimenon wurden in zehn Prozent der Fälle 13 (!!!) und mehr Medikamente genommen.[30]

Bei einer Dauertherapie der Mutter mit Valium ist neben einer Neugeborenendepression (der Mutter) mit Entzugssymptomen bei den Neugeborenen zu rechnen, bei denen nur rechtzeitiges Eingreifen den tödlichen Ausgang unter Krämpfen und Koma abwenden kann.

2. 5. Spezielle Reaktion auf Sedative und Tranquilizer.

Sedativa und Tranquilizer waren in einer Studie[31] die Medikamenten-Gruppe mit dem höchsten Prozentsatz an Nebenwirkungen. Ein Drittel der Reaktionen wurde durch die Kombination von Barbiturat und Tranquilizer hervorgerufen, die eine ausgeprägte ZNS-Depression verursachten und sogar einen Todesfall verschuldete.

Bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion und solchen mit febriler Pneumonie zeiten sich mehr oder stärkere Nebenwirkungen.

3.Ärzte.

3. 1. Das Problem.

Vaillant[32] befragte eine Auswahl von 135 Kollegeabsolventen, die damals als vergleichsweise frei von physische, emotionellen und akademischen Problemen beschrieben wurden, seit 1949 kontinuierlich über ihren Verbrauch an Drogen, Alkohol und Zigaretten.

25 Jahre nach dem Examen war der berufliche Erfolg und die physische Gesundheit der Studienteilnehmer signifikant besser als die der übrigen Klassenmitglieder.

69 % der Ärzte graduierten an Eliteuniversitäten, die Hälfte erreichte den Rang eines assistant clinical professor oder höher. Die beruflichen Erfolge der Vergleichsgruppe waren ähnlich.

Die 45 Ärzte der Gruppe zeigten sowohl auf dem gesunden als auch auf dem pathologischen Ende des Kontinuums einen relativen Exzess an Drogengebrauch (Tranquilizer, Sedativa, Alkohol). Das führte dazu, dass die Selbstmedikation mit Drogen oder Alkohol zu Krankenhaus-Behandlungen Ursache für ein Drittel der stationären Behandlungs-Zeit dieser Gruppe war.

Was können die Gründe dafür sein, dass bei 2 363 Studenten der Medizin in Australien währende des ganzen Studiums ein ständiger und signifikanter Anstieg des Neurotizismus festgestellt wurde?[33]

Und warum führte eine vergleichende Betrachtung der Zulassungssysteme von 18 europäischen Ländern, wo die Auslesefrage sehr stark betont wird und Zulassungsbeschränkungen rigide gehandhabt werden, zu einer Ähnlichkeit der Probleme in der medizinischen Versorgung:

Kluft zwischen Stadt und Land, höherer und niederer sozialer Klasse, Arbeitsüberlastung der Ärzte?[34]

3. 2. Auswirkungen des Numerus Clausus.

Die Problematik des Auswahlverfahrens kann hier nicht erörtert werden, als Resultat dieses Verfahrens kann aber ähnlich wie in Australien[35] angenommen werden, dass mehr Leute als früher Medizin nur deshalb studieren, weil sie ein sehr gutes Abitur-Zeugnis hatten. Es scheinen mehr „convergers“ aufgenommen zu werden, die „generally conventional and prone to emotional inhibition“ sind. Dies „carries a particular vulnerability with it. Convergers are also likely to be obedient, to have low opinion of themselves and to be ready to accept expert advice.“

Ein Vergleich der Harvard-Studienanfänger zeigt, dass bei Verschärfung der Zulassungsbedingungen der Anteil der praktisch-orientierten Studenten von 49 % im Jahre 1962 auf 36 % im Jahre 1966 abfiel. Zum Zeitpunkt der Graduierung hatten sich nur noch 30 % bzw. 25 % nicht zu wissenschaftlichen oder psychiatrischen Zielen umentschlossen.[36]

3. 3. Das Medizinstudium.

Die medizinische Ausbildung ist eine naturwissenschaftliche, auf Prüfungskataloge, Skripten zu Prüfungskatalogen und viele Prüfungen, die detailliertes Einzelwissen abfragen, ausgerichtetes Studium.

Die Probleme, die der einzelne Student mit der Dekapitation des Frosches, der offenen Herzmassage des Hundes, dem Präparierkurs, den sterbenden Patienten während der Praktikantenzeit hat, werden von ihm und allen anderen verleugnet oder durch makabre Feste wie Leichenwendfeiern überspielt.

Wie weit die Verleugnung des Todes geht, mag ein Beispiel aus meinem Chirurgiekurs zeigen: Eine Gruppe von acht Studenten steht um das Bett eines Patienten, der einen Unfall hatte und auf der Wachstation liegt. Daneben liegt ein Patient mit Leberzirrhose im Koma.

Im Laufe des Vortrages des Patienten hört die Anzeigt auf dem EKG-Bildschirm auf zu zeichnen: Tod. Der Vortrag geht weiter, ich versuchte die anderen darauf aufmerksam zu machen, keine Reaktion, der Unterricht geht weiter. Im nächsten Bett liegt ein junger Mann, 18 Jahre alt, dessen linker Oberarm bei einem Mopedunfall durch einen stammnahen Plexusabriss (die Neurochirurgen nähen dann nicht) gelähmt worden war. Am linken Arm fehlte der Puls. Dieses Symptom führte zur Kontrastmitteldarstellung der Gefäße des linken Armes (Arteriographie mit Seldingerkatheter), es ergibt sich kein pathologischer Befund, man diagnostiziert eine Intimaschädigung unbekannter Ätiologie, die zu Pulsverlust geführt habe, die Funktion aber nicht einschränke. Die Kontrastmittelinjektion führt zu Thrombosierung der Arteria Basilaris mit resultierendem Erblinden, Krämpfen etc.. Die antitrhombotische Streptokinasebehandlung führt zu einer Blutung retroperitoneal. Wegen des Verdachts auf Nierenblutung wird das Nierenlager eröffnet, kein Befund. Diagnose: Die Kontrastmittelinjektion führte zur Schlitzung der hinteren Arterienwand und dadurch zur Blutung. Die Infektion der Wunden führt zu Fieberschüben, Diagnose: Sepsis.

Blutproben ergeben Klebsiella und Hefe. Die Meningitis führt zum Wegdämmern, eine Tachycardie führt zur Diagnose Myocarditis. Das Diskussionsthema war „Wie ernähren Sie den Patienten? Wie ist die Konzentration der Fette und Aminosäuren in der parenteralen Zufuhr?“ Eine bewusste Auseinandersetzung mit den Fragen nach Problemen und Gefahren und Kosten der spezialisierten medizinischen Diagnostik der modernen Medizin findet ebenso wenig statt wie die Auseinandersetzung mit dem Leiden, dem Tod, der chronischen Krankheit und ihren therapeutischen Problemen.

Rothenberg[37] beschreibt die Situation der Studenten so:

„Wie eine Ratte im Labyrinth ist er auf folgenden Stimulus-und-Antwortmechanismus dressiert: Der Stimulus ist eine Frage: „Was ist das?“ oder „Wie erklärt man das?“ oder

„Was würdest du dagegen tun?“ und wenn er nicht antworten kann, fällt er durch.

So darf er niemals sagen: „Ich weiß es nicht!“ oder niemals bewusst die Tatsache akzeptieren, dass er nichts tun kann, oder dass es keine Antwort auf etwas gibt.“

Theologides[38] beschrieb die Situation während des Studiums folgendermaßen: Der Medizinstuden beschäftigt sich vorwiegend mit der diagnostischen Medizin der seltenen Syndrome. Dieser spezielle Typ der Medizin, der sehr wichtig für die Entwicklung diagnostischer Kompetenz und Fähigkeiten sein mag, ist sehr verschieden von den Realitäten und den Forderungen der Praxis der Medizin in der Gemeinschaft.

Nach einer genauen Diagnose wird Betonung auf die anatomischen, physiologischen und biochemischen Besonderheiten der Krankheit und auf die Prinzipien der Therapie gelegt.

Es gibt keine adäquate Möglichkeit der Teilnahme und keinen eingeplanten Unterricht übe die Langzeitbehandlung einer chronischen Krankheit. Als Resultat nimmt der Student die Haltung ein, entweder totale Heilung oder man kann nicht viel machen.

3. 4. Die Zeit nach dem Examen.

Rothenberg[39] meint, es sei furchtbar hart für den jungen Arzt, wenn er keine Autorität oder Magie dem Patienten bieten kann.

Theologides[40] beschreibt ein Gefühl der Frustration und Wirkungslosigkeit, das aufkommt, wenn der angehende Praktiker mit einer großen Zahl von Patienten mit chronischen und unheilbaren Krankheiten konfrontiert wird.

95 australische Junior-Residents (Berufsanfänger) bezeugten, dass vielen zum ersten Mal bewusst wird, dass man viele nicht heilen kann und dass die Rolle des großen Heilers ein Mythos ist. Die Unsicherheit in einfachen Fertigkeiten, die Angst sich zu blamieren, wenn man jemanden fragt, die Unsicherheit im Umgang mit Patienten und die Schwierigkeit in einem Team mitzuarbeiten hatte verschiedene Folgen:

Weil sie unsicher sind, werden sie aggressiv gegen die Schwestern, vor denen sie Angst haben.

Das Gefühl des Unfähigseins im Umgang mit anderen lässt sie die Haltung annehmen, dass der Status des Doktors sehr hoch ist.

Diese Haltung drückt sich aus in der Zurückhaltung und Aggression gegen die anderen Mitglieder des Teams und die Patienten.[41]

3. 5. Resultate der organzentrierten Ausbildung und Berufsorientierung.

Neben der Flucht in die Technik[42] oder dem Zeitmangel und der Überarbeitung[43] sind außer den oben beschriebenen Verhaltensweisen der Drogenmissbrauch Folge des Ausblendens psychologischer Probleme.

Bei 20 % der Ärzte ist ein Missbrauch von chemischen Agentien festzustellen und zwei Prozent sterben durch eigene Hand. (Vielleicht nur in Australien, wie Ellard berichtet?)[44]

In den USA befragte Lipp[45] 2 652 Ärzte. Von den 1 314, die antworteten, gaben an:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bei der Auswertung von 406 498 Todeszertifikaten des Staates Kalifornien fand Rose[46], dass in den Jahren 1959-1961 die Selbstmordrate von Ärzten doppelt so hoch war wie die der Normalbevölkerung (77/100.000 vs. 38/100.000).

Main[47] fand heraus, dass Schwestern Sedativa nur dann geben, wenn sie die Grenzen ihrer menschlichen Fähigkeiten erreicht hatten und nicht länger fähig waren, die Probleme der Patienten ohne Angst, Ungeduld, Schuldgefühle, Ärger oder Verzweiflung zu ertragen.

Ein Sedativum würde jetzt die Situation ändern und für sie einen Patienten produzieren, der, wenn nicht tot, so zumindest ruhig und zum Liegen gezwungen war, und der sie nicht mehr belästigen würde. Es war immer der Patienten und nie die Schwester, die das Sedativum nahm.

Elsasser[48] berichtet von einer aggressiven und agitierten Patientin, die der Umgebung das Zusammenleben und die Pflege recht schwer machte. Sie wurde mit hohen Dosen Sedativa behandelt. Als sich der behandelnde Arzt dann einmal zu ihr setzte, stellte die Patientin die Frage, wie sie selber wohl einmal sterben werde. Nach der sachlichen Information des Arztes und wohl auch durch die neue emotionale Zuwendung des Arztes wurde die Patientin sofort ruhig und völlig entspannt. Dem Arzt aber blieb ein Ausspruch der Patientin unvergesslich.

Sie erklärte nach der Beantwortung ihrer brennenden Frage, dass sie jedes Mal, wenn sie den Mund zu dieser Frage aufgetan habe, immer wieder eine Tablette mehr erhalten habe.

4. Der Weg zum Patienten - Wie wird der Mensch krank.

Nikotin, Alkohol und Fettsucht sind drei Faktoren, die Menschen mit der Zeit zu Patienten machen; rezeptfreie Medikamente werden von Leuten eingenommen, die sich als Patienten fühlen und eventuell durch ihre Medikation zu Patienten werden.

Eines kurze Skizzierung dieser Probleme wird dann gefolgt von der Analyse des Verhaltens von organisch kranken Menschen, bevor sie zum Arzt gehen.

4.1. Nikotin.

4. 1. 1. Problem.

Mehr als 126 Milliarden Zigaretten wurden zusammen mit 2,6 Milliarden Zigarren, 7 548 Tonnen Feinschnitt zum Selberdrehen und 1 960 Tonnen Pfeifentabak im Jahre 1975 in der BRD versteuert, insgesamt ergaben sich 15,9 MRD DM Tabak-Steuern.[49]

Die Publikumswerbung für Zigaretten kostete 1972 144 Millionen DM.[50]

38,5 % von 2000 Oberschülern bezeichneten sich als regelmäßige Raucher.

Antwort auf die Frage „Warum rauchst Du?“ waren

“Um anzugeben.“ „Nachahmungstrieb.“ „Verführung durch die Werbung.“[51]

4. 1. 2. Folgen.

In einer Periode von 8,5 Jahren waren bei 293 958 US-Veteranen die Todesraten derer, die Zigaretten rauchten, im Vergleich zu denen, die gar nicht rauchten, um folgende Faktoren höher[52] :

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

4. 1. 3. Prophylaxe.

Walker[53], Mitglied des Editorial Board des Journal of the American Medical Association, untersuchte den Zusammenhang zwischen sinkendem Verbrauch von Zigarettentabak im Zeitraum von 1961 – 1971 (Reduktion der Menge um 21 %, der gerauchten

Zigaretten um 9 %) und dem Abfall der Mortalitätsrate durch peptische Ulcera (Von einem Maximum 1962 innerhalb von 7 Jahren eine Verminderung um 30 %) sowie durch koronare Herzerkrankungen, die von 1950 – 1963 um 19 % gestiegen waren und von 1963 – 1971 um 10,5 % abfielen. Die Todesrate der chronischen Lungenerkrankungen stieg 1958 – 1964 um 45 % und die nächsten 6 Jahre nur um 13 %.

„Dieser dramatische Durchbruch ist offensichtlich vorwiegend Resultat einer mäßigen Reduktion des Tabakverbrauchs. Sicherlich könnte eine weit größere Senkung durch mehr und effektivere Preventions- und Erziehungsprogramme erreicht werden. Schätzungsweise wurden 11,5 MRD Dollar jährlich in den USA für die Folgezustände des Zigarettenrauchens ausgegeben. Das ist mehr als das Fünffache der Steuern für alle Tabackprodukte.“

Walker beschließt seinen Artikel mit einem Aufruf an die organisierte Ärzteschaft, Druck auf den Kongress auszuüben, damit dieser die Förderung der Tabakindustrie mit Steuergeldern einstelle und stattdessen mehr Druck auf diese ausübe.

4.2. Alkohol.

4. 2. 1. Problem.

In den USA sind rund 9 Millionen Personen vom Alkoholismus betroffen.[54]

Die Todesrate an Leberzirrhose, die in den USA zu 90 % alkoholbedingt ist, stieg 1973 um 67,1 %, während die Todesraten durch Krebs, Herzkrankheiten und die meisten anderen Krankheiten um 15 % abfielen.[55]

Zwei epidemiologische Studien ergaben, dass in einer Londoner Vorstadt das Verhältnis der Zahl aller irgendeiner „agency“ bekannter Alkoholiker zu der Zahl der durch Haus-zu-Haus-Befragung ermittelten Personen zwischen 4:1 und 9:1 liegt. Die Zahl der Problemtrinker über 18 Jahre lag bei 61,3/1000 für Männer und 7,7/1000 für Frauen (Durchschnitt 31,3 %).

Den agency’s bekannt waren 8,6/1000 (m) und 1,3/1000 (w), Durchschnitt 4,7 %.[56]

Die Werbekosten in der BRD für Bier, Sekt und Wein sowie Spirituosen lagen 1972 bei 324 392 000 DM, die Fernsehwerbung für Alkohol beanspruchte 50 330 Sekunden.[57]

4. 2. 2. Folgen.

„Alkoholismus ist eine chronische Krankheit.

Der erste Schluck ist soweit von der letzten Konsequenz entfernt wie die erste Streptokokkeninfektion in dem empfänglichen Wirt von dem letzten Stadium der rheumatischen Herzkrankheit.“[58]

Von 122 chronischen Alkoholikern, die in eine Entgiftungsklinik in Harlem eingeliefert

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

4. 2. 3. Prophylaxe und Behandlung.

Um dem Problem näher zu kommen, sollen einige Thesen von Heath[60] zitiert werden:

„Trinken ist normalerweise ein sozialer Akt, eingebettet in einen Kontext von Werten, Einstellungen und Konzeptionen der Realität.

Trunkenheit hat nicht nur verschiedene Bedeutungen und Werte in verschiedenen Kulturen, sondern beinhaltet auch signifikant verschiede Arten von Verhalten; Trunkenheitsverhalten ist einem solchen Ausmaß vorgezeichnet, dass es vorwiegend Resultat eines Lernprozesses zu sein scheint.

Alkoholismus – auch in der Bedeutung von Problemen verbunden mit Trinken – ist selten in der überwiegenden Mehrzahl der Gesellschaften der Welt. Man kann sogar soweit gehen und feststellen, dass er fast völlig unbekannt außerhalb des Einflussgebietes der westlichen Kultur ist, obwohl er ein weitverbreiteter Begleiter der Akkulturation wird, der oft den Zusammenstoß mit der modernen Industriegesellschaft begleitet.“

Bezüglich der Behandlung gibt es vielleicht zwei Richtungen:

Mit Bezug auf die Alkoholiker in Harlem kam German[61] zu dem Schluß, dass ökonomische und sozial Rehabilitation auf lange Sicht gesehen für die Behandlung der Mehrheit dieser Alkoholiker effektiver sein wird als medizinisch und psychiatrisch orientierte Programme, so nötig diese auch im Augenblick sein mögen. In Übereinstimmung mit Richards[62], der meint, dass Umstände immer noch stark genug seien, um die bestgeplanten Erziehungsanstrengungen abzuschwächen oder zu neutralisieren, schlägt die Kommission on Marihuana Abuse[63] vor, dass „Drogenpreventionsstrategien, statt Gelder darauf zu konzentrieren, Leute zu überzeugen und erziehen, keine Drogen zu gebrauchen, andere Wege aufzeigen sollten, das zu erreichen, was die Verbrauchen von Drogen suchen;

Wege, die besser für User und Gesellschaft sind.

Das Ziel von Preventionsstrategien sollte sein, die Fähigkeiten auszubilden, mit den Problemen des Lebens, speziell von jungen Leuten, fertig zu werden.

Informationen über Drogen und die Gefahren ihres Gebrauches sollten in umfassendere Programme eingebaut werden, die Nachdruck auf Vorteile legen, mit denen Drogenkonsum unvereinbar ist.“[64]

Nach Studium der englischsprachigen Literatur seit 1953 über die Behandlung von chronischem Alkoholismus stellen Baekeland et al.[65] Fest, dass sie sich nicht fähig fühlen, die Frage zu beantworten, warum Behandlungsarten funktionieren und was sie gemeinsam haben. Es kann lediglich festgestellt werden, dass, wenn ein Patient hospitalisiert ist, er entgiftet wird, von verschiedenen Belastungen entlastet wird und praktische Hilfe und Führung in Hinsicht auf einige Probleme seines täglichen Lebens bekommt und etwas Hoffnung dadurch gewinnen kann, dass jemand an ihm und seiner Zukunft interessiert ist.

Seixas[66], der medizinische Direktor des National Council on Alcoholism, beschreibt die spezielle Kliniksorganisation, in der Alkoholiker nach der akuten Phase der Detoxifikation die Art von aktiver Rehabilitation und neuem sozialen Lernen erhalten, die sie brauchen, um wieder in ihr „normales“ Leben zurückzukehren: Die Patienten machen ihre eigenen Betten, nehmen Kaffeeteria-ähnlich ihr Essen ein und gehen zur Krankenschwester, um sich ihre Medikamente zu holen. Sie können sich auf das Wiedererlernen der Aktivitäten des täglichen Lebens konzentrieren und sich, wenn es sich um andere Krankheiten handelt, nach einem Schlaganfall physisch rehabilitieren, Experten im Management ihres Diabetes werden oder Sicherheit nach einem Herzinfarkt gewinnen.

Eine solche Behandlung von Alkoholikern würde nicht weitere Patienten schaffen, sondern nur die bisherige Behandlung der organischen Schäden des Alkohols effektiver mache.

Weitere Bedingungen einer erfolgreichen Behandlung sind eine Intensivierung der Teamarbeit und bessere Kommunikation zwischen Medizinern und den alten „paraprofessionellen“ Agenturen (Sozialarbeiter und andere). Falls diese ärztlichen Schritte nicht unternommen werden, ist es wahrscheinlich, dass sich der Trend in Richtung auf ein völlig separates Gesundheitssystem für Alkoholiker entwickelt.

„Wenn so etwas passiert, getrennt von der Medizin, und begleitet von Ignoranz und Widerstand gegen die „comprehensive care“ für Alkoholiker, wie sie heute noch einem Teil der „medical community“ existieren, können wir viele Katastrophen, unnötige Todesfälle und eine ungeheure Geldverschwendung voraussagen.

If every physician throughout in the country takes his part of the burden of treating alcoholism, learns to share appropriately with paraprofessionals and endorses the needed institutional changes without divorcing them from the health-care system, we may find that a disease once thought hopeless is under controll.“[67]

Etwas eingeschränkt wird dieser Optimismus durch Chesher[68], der wie German[69] auf die drogeninduzierten Veränderungen in der Gehirn-Struktur hinweist, die bei drogenabhängigen Patienten auch nach dem Entzug vielleicht für länger als ein Jahr drogensuchendes Verhalten mitverursachen sollen.

4. 3. Fettsucht.

4. 3. 1. Problem.

10 000 Akten über abgeschlossene Heilverfahren und 10 000 Rentenakten aus den Jahren 1965/66 bildeten die Grundlage für eine Untersuchung der Landesversicherungsanstalt Baden-Würtenberg.

Übergewicht (110 % und mehr des Idealgewichtes nach Broca) fand sich bei den Heilmaßnahmen bei 41,5 % der Männer und 56,3 % der Frauen,

bei den Rentenakten bei 43,9 % der Männer und 72,1 % der Frauen.

Fettsucht (120 % und mehr des Idealgewichtes nach Broca) fand sich bei den

Heilmaßnahmen bei 19,5 % der Männer und 38,4 % der Frauen,

bei den Rentenakten bei 23,5 % der Männer und 55,1 % der Frauen.[70]

4. 3. 2. Folgen.

Der Adipöse ist nur bedingt gesund, zumindest bis zum Auftreten von Komplikationen.

Übergewicht ist selbst nicht Krankheit im eigentlichen Sinne, sondern Vorläufer anderer Krankheiten.

Fettsucht allerdings, das heißt Übergewicht von 20 % und mehr gegenüber dem Sollgewicht, sollte man schon als Krankheit betrachten.

Denn eins ist sicher: Der Beschwerdefreiheit bei Scheingesundheit folgt ein Stadium vermehrter Arztinanspruchnahme – zumeist schon wegen der Sekundärfolgen des Grundleidens Fettsucht. Dem folgen gehäufte Arbeitsunfähigkeitszeiten und schließlich führen Herzinfarkt, Hypertonie, Apoplexie, Diabetes als Sekundärfolgen zu vorzeitiger Berufs- und Erwerbsunfähigkeit, letztlich bei der nachgewiesenermaßen verkürzten Lebenserwartung auch zu vorzeitigem Tod.

Den Anteil der Übergewichtigen und Fettsüchtigen bei verschiedenen Krankheiten zeigt die folgende Tabelle:

Diagnose Übergewicht Fettsucht (Heilmaßnahmen) Übergewicht Fettsucht (Rente)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Degenerative Skeletterkrankungen)

4. 3. 3. Prophylaxe und Behandlung.

Silverstone[71] zeigte, dass von 329 zufällig ausgewählten Patienten zweier praktischer Ärzte in London 37 % der Männer und 49 % der Frauen ein Übergewicht von 120 % und mehr hatten.

Die Prävalenz war klassenspezifisch.

72 % der Unterschicht-Frauen gegenüber 39 % der Oberschicht-Frauen hatten Übergewicht.

Pudel[72] berichtet über eine Studie in den USA, die nachwies, dass sechsjährige Mädchen der unteren Sozialschicht neunmal häufiger übergewichtig waren als Mädchen gleichen Alters der oberen Sozialschicht. Er kommt zu dem Schluß, das psychosoziale Faktoren für die Genese der juvenilen Fettsucht von größerer Bedeutung sind als bei der Fettsucht Erwachsener seien.

Vorwiegend Adipöse reagieren auf emotionale Belastung, aktuellen oder chronischen Stress, Konflikte, Ärger, soziale Frustrationen und Langeweile mit einer „Hyperphagen Reaktion“, einer Appetitssteigerung.

Die Berufsabhängigkeit der Fettsucht konnte vom vertrauensärztlichen Dienst[73] gezeigt werden. Prävalenz-Maxima finden sich bei den Sparten Textilverarbeitung (vorwiegend Frauen), Lebensmittel (Arbeitsmaterial), Wächter (Bewegungsmangel).

Ätiologie und Pathogenese sind auf jeden Fall multifaktoriell.

Im Vorgehen gegen Übergewicht fehlt allerdings bisher Methodik und Pragmatik.

Stunkard[74] meint, dass das „Ausmaß des Versagens ärtzlicher Führung nirgends besser illustriert worden ist als hier.“

Die Behandlung kann von nichtprofessionellen Kräften zudem für einen Teil der Kosten traditioneller Leistungen durchgeführt werden.

Den Weg zur Behandlung wies zuerst die Selbsthilfeorganisation TOPS (take off pound sensibly). Die private Unternehmung Weight Watchers wuchs von 1962 (0) bis 1973 auf 2,4 Millionen Mitglieder an. Sie versucht die Übergewichtigkeit durch Verhaltenstherapie zu beseitigen und das Problem durch „therapeutische Intervention in die soziale Umgebung von Fettsüchtigen zu bewältigen.“[75]

Zum Schluss soll noch einmal der Effekt einer Gewichtsreduktion bei einer Gruppe von nichtdiabetischen Männern und Frauen gezeigt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

5. Selbstmedikation.

5. 1. Ausmaß der Selbstmedikation.

1971 sind für ca. 2 Milliarden DM nicht verschriebene Medikamente in der BRD verbraucht worden![76] In den USA wurden 2,9 Milliarden Dollar für Medikamente ausgegeben, deren Wirkung, obwohl stark für sie als wirksame Mittel gegen viele Leiden geworben wird, kaum objektiv bewiesen ist.[77] In Kanada[78] gaben 1971/72 bei einer Befragung 58 % der interviewten Personen an, zumindest ein nichtverschriebenes Medikament innerhalb der letzten 48 Stunden eingenommen zu haben. Von diesen hatten 60 % ein Medikament eingenommen, 25 % zwei und 15 % drei oder mehr.

In einer Teilgruppe waren die Prozentzahlen der Leute, die nicht verschriebene Medikamente einnahmen zu denen der Leute, die verschriebene Medizin verbrauchten, folgende:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bei einer Gruppe von 1 399 Erwachsenen und 1 056 Kindern fand Jefferys[79] folgendes:

Zwei Drittel nahmen nichtverschriebene Medizin, ein Viertel verschriebene Medikamente.

Die meisten ergänzten die ärztliche Verordnung mit eigenen Präparatatn.

30 % der Erwachsenen und 40 % der Kinder, die keine Krankheit oder Symptome innerhalb der letzten 4 Wochen angaben, hatten trotzdem nicht verschriebene Medikamente genommen.

Aspirin wurden gegen Arthritis, Anämie, Bronchitis, Rückenschmerzen, Erkältungen und Katarrh und Schlaflosigkeit eingenommen und außerdem gegen Kopfschmerzen und Rheumatismus.

53 % der 25-34 Jahre alten Frauen, 40 % aller Erwachsenen und 22 % der Kinder hatten innerhalb der letzten 4 Wochen Aspirin eingenommen.

5. 2. Folgen der Selbstmedikation.

Auch rezeptfreie Medikamente können Nebenwirkungen haben.

Aminopyrin, beliebte Komponente vieler Kombinationspräparate, führt zum Verschwinden der weissen Blutkörperchen, zur Agranulozytose.

Die Agranulozytose-Morbidität in Dänemark stieg bis 1934 parallel zum Aminopyrin-Verbrauch an. Nachdem 1934 Rezeptzwang für die Aminopyrin-Arzneimittel eingeführt worden war, nahm die Agranulozytose-Morbidität in gleicher Weise wie der Verbrauch dieses Mittels rasch wieder ab.[80]

Die in Deutschland rezeptfreien Schlafmittel aus der Gruppe der bromierten Sulfonylharnstoffe halten den traurigen Rekord als häufigste Ursache für akute Schlafmittelvergiftungen in der BRD.[81]

6. Der Weg zum Arzt – Wie kommt der Kranke zum Arzt.

Wenn ein Mensch krank ist, geht er zum Arzt.

Er wird zum Patienten, seine Krankheit diagnostiziert und (meist medikamentös) behandelt.

Um diesen Satz auf seine Wahrheit zu überprüfen, soll zuerst der Begriff Krankheit genauer untersucht werden.

6. 1. Was heißt „Krank“?

„Ich wünschte, ich würde wirklich wissen, was Sie mit krank sein meinen.

Manchmal fühlte ich mich so schlecht, dass ich hätte umfallen und sterben mögen, aber ich musste weitermache, weil die Kinder versorgt werden mussten und außerdem, hatten wir nicht das Geld für den Arzt.

Wie hätte ich krank sein können?

Wie wissen Sie, wann Sie krank sind?

Einige Leute können zu Bett gehen, fast zu jeder Zeit mit irgendeiner Sache, aber die meisten von uns können nicht krank sein, selbst wenn wir es sein müssten.“[82]

Ist dies Zitat wegen der in den USA fehlenden Krankenversicherung mit der BRD nicht vergleichbar?

Eine Untersuchung aus Baden-Würtenberg an 31 476 erwerbstätigen Sozialversicherten zwischen 15 und 60 Jahren alt ergab ein ähnliches Bild[83] :

„Von den 63 % der zur Untersuchung Gebetenen, die gekommen waren, standen 65,4 % der Männer in ihrer beruflichen Tätigkeit ständig unter schweren Belastungen, 33,3 % arbeiteten ganztägig im Akkord.

Bei 63,9 % der Männer und 71,7 % der Frauen wurde es für erforderlich gehalten, sofort mit therapeutischen Massnahmen zu beginnen. Sie wurden weitergeleitet zum Hausarzt (42,8 % der Männer, 47,7 % der Frauen. Zum Facharzt mussten 19,5 % der Männer, 22,1 % der Frauen. Ins Krankenhaus wurden 1,6 % der Männer und 1,3 % der Frauen geschickt.

Die Erkrankungen bestanden zum größten Teil aus Herzkreislauf-Erkrankungen und Erkrankungen des Stützapparates.

Bei 13,3 % der Frauen und 14,4 % der Männer aller Alterschichten wurden Erkrankungen erstmals diagnostiziert.“[84]

6. 1. 1. Berufliche Faktoren.

Berufliche Einflüsse auf den Entschluß „Krank“ zu werden, sind nach Lehr[85] Momente des Betriebsklimas, des Kontaktes zum Vorgesetzten, des Kontaktes zu den Mitarbeitern, der Mitverantwortung und Gruppenentscheidung, des Zufriedenheitsindexes mit der Tätigkeit, der Art der Tätigkeit, der Aufstiegsmöglichkeit und des Verdienstes.

Die Angst vor der Entlassung speziell bei älteren Arbeitnehmern spielt eine große Rolle in Zeiten der Rezession mit Arbeitslosigkeit oder bei Rationalisierungsmaßnahmen im Betrieb.

Die Sprachregelung „Krank-Feiern“ ist also vielleicht doch zu ungenau.

Zumindest, wenn sie so im folgenden Zitat verwendet wird, welches das Verhalten nach einem Arbeitsunfall beschreibt:

„Als Folge eines Unfallereignisse hat der Verletzte die Möglichkeit,

entweder den Unfall gar nicht zu melden, ihn zu melden, aber nicht krank zu feiern,

die für die Heilung der Verletzung gerade notwendige Zeit zu feiern

oder so viele Tage herauszuholen, wie nur eben möglich ist.“[86]

6. 1. 2. Psychische Faktoren.

Am Anfang standen Einzelbeobachtungen[87] :

Nach dem Tode ihres Mannes, mit dem sie 55 Jahre verheiratet gewesen war, versank die Ehefrau in Trauer und entwickelte 3 Tage später fulminante Symptome, die als akute Leukämie diagnostiziert wurden.

Die Bewertung von Ereignissen des Lebens mit Punkten wurde dann „life change units“[88] genannt. Der Tod des Ehepartners wurde mit 100 Punkten bewertet, Ehescheidung 73 Punkte,

Wohnungswechsel 20 Punkte.

Eine Anwendung dieses Systems im Rahmen einer prospektiven Studie bei den Mannschaften von drei Marineschiffen zeigte eine positive Beziehung zwischen den für sechs Monate vor der Reise gesammelten Punkten und der Zahl während der Fahrt auf dem Schiff gemeldeten

Krankheiten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Schmale[89] bezeichnet Hilf- und Hoffnungslosigkeit, Erfahrungen des sich Aufgebens (giving up) als einen Zustand, der wichtig sein kann zu Erscheinen von Symptomen oder Zeichen, die zur Diagnose einer somatischen oder psychischen Krankheit führen.

Kasl[90] meint, dass ein starkes, unterstützendes soziales System die Einflüsse anderer Variablen moderieren und verringern kann. Nicht die Symptome, sonder die Reaktion auf sie ist für das Krankheitsverhalten relevant.

Spilken[91] und Canter[92] stellen übereinstimmend fest, dass Lebensstress vielleicht nicht zur Krankheit, sondern zu behandlungssuchendem Verhalten führt.

6. 1. 3. Wann geht ein Patient ( Mensch mit organischer Krankheit) zum Arzt?

Zola[93] berichtet, dass in den USA und Großbritannien der Arzt keinen Kontakt mit zwei Drittel aller Krankheitsperioden hat. Bei einigen Untergruppen (alte Menschen, junge College-Studenten und Mütter mit jungem Kind) lag das Verhältnis sogar bei 1/10!

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

S und R bewirken die Suche nach medizinischer Hilfe.

H, I und DT resultieren in Nichtaufsuchen der Behandlung.

DT, der Vektor, der wahrscheinlich der stärkste einzelne abschreckende Faktor ist, hat

folgende Komponenten: Kosten, Schmerz, Angst, persönliche Abneigung gegen den Arzt,

Zeitopfer, Verdruss über Wartezeiten, Angst vor den medizinischen Instrumenten, Angst vor

Klinikeinweisung, Befürchtung über Geldverlust bei der Arbeit oder Verlust der Arbeit etc..

Korsch[95] fügt eine Beobachtung hinzu:

Das Gesundheitsverhalten (auf lange Sicht gesehen) und die Bereitschaft zum Arzt zu gehen

ist abhängig von der Zufriedenheit mit der vorherigen medizinischen Betreuung.

Das Zusammenspiel der Vektoren soll einmal an einer Kampagne zur Erfassung der Zuckerkrankheit durchgespielt werden.

Wird nur die Möglichkeit der Entdeckung des Diabetes betont (I verstärkt), so wird sich die Bereitschaft an einem Test teilzunehmen eher sinken.

Eine Betonung der Aussicht nach Entdeckung durch Behandlung eine fast vollständige Rückkehr zur Gesundheit erreichen zu können (RH verstärkt) hat mehr Aussicht auf Erfolg.

Der Satz „Es ist eine gute Idee auch für gesunde Leute zur Diagnostik zu gehen“ würde den Faktor H betonen und dadurch eher vom Arztbesuch abhalten.

[...]


[1] Commision des Communautes Europeenes

[2] Jörgensen

[3] Schmidt

[4] Kippenberg

[5] Pharmadaten

[6] AT 2/76

[7] Goddard

[8] Preissig, S. 19.

[9] Mc Gregor.

[10] Schmidt

[11] Pharmadaten

[12] ZAW

[13] Goddard

[14] Pharmadaten

[15] Mach

[16] Mischligk, S. 305

[17] ZAW, S. 24

[18] Pharmadaten, S. 26

[19] Galbraith, S. 166

[20] Ogilvy, S. 177

[21] Hess, Gruner und Jahr

[22] Hermanns, S. 18

[23] Herxheimer

[24] Ebner

[25] AOK

[26] Nicholson

[27] Smith

[28] Stewart

[29] Bleyer

[30] Jansen

[31] Smith

[32] Vaillant

[33] Ellard

[34] Schott

[35] Ellard, S. 319

[36] Asche

[37] Rothenberg

[38] Theologides

[39] Rothenberg

[40] Theologides

[41] Ellard

[42] Laxenaire

[43] Buser

[44] Ellard

[45] Lipp

[46] Rose

[47] Main

[48] Elsasser

[49] GT 5. 3. 1976

[50] ZAW 72

[51] Stern Heft 16/1976, S. 94

[52] Rogot

[53] Walker

[54] German

[55] Seixas

[56] Edwards

[57] ZAW 72

[58] Seixa, S. 503

[59] German

[60] Heath

[61] German

[62] Richards

[63] Globetti

[64] Globetti, S. 118

[65] Baekeland

[66] Seixas

[67] Seixas, S. 505

[68] Chesher

[69] German

[70] VÄD

[71] Silverstone

[72] Pudel

[73] VÄD

[74] Stunkard, S. 230

[75] Stunkard, S. 233

[76] Kruse

[77] Goddard.

[78] Chaiton

[79] Jefferys

[80] Müller

[81] Grünberg.

[82] Zola, S. 226

[83] Strotzka

[84] Strotzka, S. 407

[85] Lehr

[86] Burkhardt, S. 408

[87] Greene

[88] Rahe

[89] Schmale

[90] Kasl

[91] Spilken

[92] Canter

[93] Zola

[94] Shontz

[95] Korsch

Ende der Leseprobe aus 108 Seiten

Details

Titel
Focus Allgemeinmedizin. Auf den Punkt gebracht
Untertitel
Das Wunder von Göttingen 1949 und die kranke Therapie in Göttingen 2013
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen  (Insitut für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (Frau Prof. A. Heigl-Evers))
Veranstaltung
Psychosomatische Medizin
Autor
Jahr
1976
Seiten
108
Katalognummer
V215085
ISBN (eBook)
9783656471110
ISBN (Buch)
9783656471240
Dateigröße
839 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Medizin ist langwierig und das Leben ist kurz. 1949 war Penicillin das Wunder der Medizin. 1976 war es scheinbar unwesentliches Beiwerk der Medizin. 2012 wird Penicillin als Unwort geächtet: Kranke Therapie. Die vorliegende Arbeit aus dem Jahre 1976 war der Versuch einer Doktor-Arbeit. Im Verlauf der praktischen Arbeit als Arzt im Krankenhaus wurde nach dem Examen 1977 hieraus die Dissertation: "Angstursachen und Angstreaktionen als Erklärung für Verhaltensweisen bei sogenannter körperlicher Krankheit". Die Probleme der Medizin sind seit 1976 gleich geblieben und grösser geworden.
Schlagworte
Penicillin, Streptokokken, Medizin
Arbeit zitieren
Dr. med. Friedrich Flachsbart (Autor:in), 1976, Focus Allgemeinmedizin. Auf den Punkt gebracht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/215085

Kommentare

  • Friedrich Flachsbart am 19.8.2013

    "Seit dem 1. August steht Tony Craggs Bronzeskulptur "Domagk" vor den historischen Zoosälen in Wuppertal" schreibt das Deutsche Ärzteblatt vom 19. August 2013 (1).
    80 Jahre zuvor hatte sich das Wunder von Elberfelder Städtischen Krankenhaus ereignet, "wo man 1933 um das Leben einer 18-jährigen kämpfte. Sie war an einer schweren septischen Streptokokkenangina mit riesigen Abszessen, Nierenversagen und Jugularveneninfektion erkrankt". Erstmalig wurde das Antibiotikum Prontosil eingesetzt, die Patienin genas innerhalb weniger Tage.
    Drei Jahre später rettete Prontosil dem Sohn von amerikanischen Präsidenten, Franklin D. Roosevelt Jr., das Leben. Auch er litt unter einer schweren, septischen Halsentzündung. Am 28. Dezember 1936 schrieb die Time darüber (2).
    1939 sollte Domagk den Nobelpreis für Medizin bekommen.
    Deutschland hat es ihm verwehrt, erst 1947 bekam Domagk den Preis.
    1939 schrieb Veil sein Buch über den "Rheumatismus und die streptomykotische Symbiose".
    Und die Wahrheit dieser beiden Ärzte gilt immer noch.

    1. J. Vesper: Gerhard Domagk. Eine bahnbrechende Erfindung.
    Deutsches Ärzteblatt 2013;110:A 1573

    2. Medicine: Prontosil.
    Time vom 28. Dezember 1936.
    http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,771900,00.html

  • Friedrich Flachsbart am 31.7.2013

    Gute Medizin fordert ein Artikel im Stern vom 25. 7. 2013:
    "Die Medizin ist seit drei Jahrzehnten Dauerthema im Nachrichtengeschehen: Kostenexplosion und Reformspirale, Ärzteschwemme oder Ärztemangel, Weltniveau oder Sparzwang.
    Genau genommen aber wird zu wenig von Medizin gesprochen.
    Tatsächlich redet die Politik bevorzugt über Gesundheitsökonomie.
    Die Leitfrage jedoch, die Ärzte wie Patienten gleichermaßen umtreibt ist eine andere:
    die nach der Qualität.
    Seit wenigen Jahren rückt sie zögerlich in den Vordergrund - und mit ihr die Notwendigkeit, öffentlich über die richtigen Prioritäten zu debattieren:
    Dienen Ärzte den Patienten oder blühenden Verwaltungslandschaften?
    Was ist es uns wert, Bedingungen zu schaffen, unter denen Mediziner mit Courage und Verantwortungsbewusstsein gute Ärzte sein können?" (1)

    In dem Artikel sehe ich heute, am Tag der Veröffentlichung meines Buches zur Allgemeinmedizin,
    zum ersten Male den Namen John Lykoudis.
    Ein griechischer Hausarzt hatte erkannt, dass Magengeschwüre Folge einer Infektion sind.
    Eben finde ich in der Fachzeitschrift Lancet die Geschichte von John Lykoudis (2).
    50 Jahre vor dem Nobelpreis für Helicobacter pylori, das Magenulcusbakterium, hatte der Hausarzt die Infektion als Ursache erkannt und behandelt.

    1939 hat Professor Wolfgang Heinrich Veil die Infektion durch Streptokokken als Ursache für viele Erkrankungen bei seinen Patienten erkannt.
    1999 ist mir das auch langsam klar geworden.

    Literatur:
    1. B. Albrecht: Von Ärzten, die alles geben.
    Stern Nr. 31 vom 25. 7. 2013, S. 80-83
    2. B. Rigas, C. Feretis, E. Papavassiliou: John Lykoudis: an unappreciated discoverer of the cause and treatment of peptic ulcer disease.
    The Lancet 1999;Vol.354, Issue 9190:1634-1635

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